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Stella wird als Schutzengel in Menschengestalt zum ersten Mal auf die Erde entsandt. Dabei büßt sie wie alle "Frischlinge im Erdeinsatz" die Fähigkeit, sich zu beflügeln, und ihre Flugerlaubnis ein. Ihr Auftrag lautet, dass Leben von Magdalena Zindler nach einem schweren Unfall zu beschützen, bei der Heilung zu helfen und ihr Leben neu zu ordnen. Das ist eine vielseitige Aufgabe. So muss sie sich auch um Magdalenas Freunde auf zwei und vier Beinen und um ihre Liebe zu Leo Bass kümmern. Auch Stellas Tarnberuf als esoterische Beraterin ist eine Herausforderung und zwingt Stella sich mit ihren Selbstzweifeln zu befassen, die vorwiegend auf den Erfahrungen mit ihrem früheren Chef und dem Ausbilder für Schutzengel herrühren. Wird Stella ihre Selbstzweifel überwinden, damit sie alle ihre Aufgaben erfüllen kann? Und wird sie am Ende vielleicht sogar ihre Flugerlaubnis wieder erlangen?
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Stella auf Erden
© 2020 Paula Grimm 2. Auflage Alle Rechte vorbehalten.
Text:Paula Grimm
Umschlagbild:Mira Alexander, http://www.miraalexander.de
Illustration:Mira Alexander, http://www.miraalexander.de
Satz:Mira Alexander, http://www.miraalexander.de
Kontakt: Christiane Quenel, Eyller Straße 31, 47647 Kerken
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Stella wird als Schutzengel in Menschengestalt zum ersten Mal auf die Erde entsandt. Dabei büßt sie wie alle „Frischlinge im Erdeinsatz“ die Fähigkeit, sich zu beflügeln, und ihre Flugerlaubnis ein. Ihr Auftrag lautet, dass Leben von Magdalena Zindler nach einem schweren Unfall zu beschützen, bei der Heilung zu helfen und ihr Leben neu zu ordnen.
Das ist eine vielseitige Aufgabe. So muss sie sich auch um Magdalenas Freunde auf zwei und vier Beinen und um ihre Liebe zu Leo Bass kümmern. Auch Stellas Tarnberuf als esoterische Beraterin ist eine Herausforderung und zwingt Stella sich mit ihren Selbstzweifeln zu befassen, die vorwiegend auf den Erfahrungen mit ihrem früheren Chef und dem Ausbilder für Schutzengel herrühren.
Wird Stella ihre Selbstzweifel überwinden, damit sie alle ihre Aufgaben erfüllen kann? Und wird sie am Ende vielleicht sogar ihre Flugerlaubnis wieder erlangen?
Paula Grimm ist eine Autorin und ursprünglich Diplompädagogin von Beruf.
Lasst uns den Engel preisen,der wie ein Bruder stillauf Erden mit uns reisenund uns behüten will.Er schaut in ewgen Freudendas abendlose Lichtund will auch uns geleitenvor Gottes Angesicht.Marie Luise Thurmair
Bereits in Menschengestalt warte ich geduldig vor Gabriels Arbeitszimmer. Noch bin ich überhaupt nicht aufgeregt, obwohl ich natürlich weiß, dass mir jetzt die offizielle Verabschiedung und die Erteilung meines ersten Auftrags bevorsteht. Als Mensch bin ich weiblich, rothaarig, habe grüne katzenartige Augen, einige wenige Sommersprossen, bin 1,80 m groß, schlank und sehe aus wie 20. Im Großen und Ganzen bin ich mit meiner menschlichen Gestalt sehr zufrieden. Und auf den Heiligenschein kann ich gut und gern verzichten. Was ich allerdings jetzt schon schmerzlich vermisse, sind meine Flügel. Das ist der einzige Makel, den es hat, wenn man als Schutzengel anfängt. Man bekommt alle Fähigkeiten und Möglichkeiten eines Schutzengels, aber man verliert zunächst die Flugerlaubnis und kann sich nicht wie sonst selbstständig beflügeln.
Dann geht die Tür von Gabriels Arbeitszimmer auf und gleich wieder zu. Das bedeutet, dass ich noch ein bisschen warten muss. Das stört mich nicht. Was mich aber nervt, ist, dass ich plötzlich bemerke, wie mich jemand skeptisch anstarrt. Ich sehe mich um und sehe in das Gesicht eines anderen Engels in Menschengestalt. Sie ist blond und etwa in meinem Alter. Sie hat blaue Augen, ist 1,70 m groß, und sie trägt sehr exklusive Menschenkleidung. Ich erkenne sie nicht. Aber sie war bestimmt in meinem Kurs zur Vorbereitung für Schutzengel. In der Vorbereitungsphase auf unsere Umwandlung zu Menschen und für den Erdeinsatz waren wir 24 Engel. Aber wir haben einander nie in Menschengestalt gesehen, obwohl es in diesem Unterricht auch darum geht, ein menschliches Profil zu entwickeln. Damit wir unter den Menschen nicht auffallen, dürfen wir in unserer Ausbildungszeit alles ausprobieren, was Menschen tun. Wir dürfen wirklich alles testen, aber wir sehen einander zum ersten Mal bei der offiziellen Verabschiedung in unserer Menschengestalt. Darum erkenne ich mein Gegenüber erst, als sie mich anspricht. Dass sie mich erkennt, liegt sicherlich daran, dass ich in ihren Augen verrückt aussehe. Für verrückt und ausgeflippt haben mich die anderen Auszubildenden während des gesamten Seminars gehalten.
„Übrigens, Derila, du bist die Letzte!“, sagt sie mit einem schadenfrohen Ton in der Stimme. Sie haben mir den Spitznamen Derila, die Verrückte oder Spinnerin, verpasst, weil das menschliche Profil, das ich entwickelt habe, sehr widersprüchlich und chaotisch ist. Ich fahre Motorrad, habe den schwarzen Gürtel in Karate, mache aber auch Qi Gong, stricke gut und leidenschaftlich gern, liebe Rockmusik und starke Frauenstimmen wie Giana Nanini und Tina Turner, skate, knüpfe und koche gern. Und ich mag scharfe Sachen aus aller Herren Länder. Lesen und Schreiben machen mir Spaß und inspirieren mich genauso wie lange Spaziergänge bei jedem Wetter.
„Macht doch gar nichts, dass ich die Letzte bin. Es heißt ja, die Letzten werden die Ersten sein“, erwidere ich und lächele sie verschmitzt an.
Ich merke, dass sich mein Gegenüber über meine Gelassenheit ärgert. Sie, denkt aber nicht daran, wegzugehen. Sie redet einfach weiter.
„Ich bin wirklich gespannt, was sie dir aufbrummen.“
„Das möchte ich auch gern wissen, aber ich habe immer noch keine Angst, dass mir ein Auftrag erteilt wird, der nicht zu mir passt.“
„Du wirst nicht glauben, wie ich jetzt heiße und was mein erster Auftrag ist.“ Mir fällt auf, dass sie furchtbar nörgelt.
„Ich heiße ab jetzt Dorothea Glück. Und ich komme als Kindermädchen in einen sehr wohlhabenden Haushalt mit drei Kindern. Die Mutter wird sterben und zumindest zwei von den Kindern sind sehr verwöhnt. – Gleich am Anfang mehrere Kinder!“
Sie schluckt. Um sie aufzumuntern und zu ermutigen, sage ich: „Du hast Zeit, alles in Ordnung zu bringen, zum Beispiel, weil die Frau nicht gleich sterben wird. Und im Grunde passt dieser Auftrag sehr gut zu dir und deinem exklusiven Geschmack.“
Ich weiß nicht, was es ist. Vielleicht will sie sich von mir einfach nicht ermutigen lassen und hat nur Lust zu jammern. Jedenfalls wendet sie sich ab und murmelt: „Man sieht sich bei der offiziellen Verabschiedung.“ Dann stolziert sie davon.
Einen Augenblick später öffnet sich die Tür zu Gabriels Arbeitszimmer wieder und ich darf eintreten.
„Sei herzlich gegrüßt, Herr und Meister“, sage ich, als ich eintrete, und mache einen Knicks.
„Sei auch ganz herzlich gegrüßt, Stella Engel. Ich heiße Gabriel und nicht Herr und Meister!“, erwidert Gabriel mit seiner tiefen, freundlichen Stimme.
„Sei herzlich gegrüßt, Gabriel!“
„Na, geht doch!“
Ich frage mich, ob ich jemals wirklich begreifen werde, dass eine gesunde Hierarchie keine Förmlichkeiten braucht. In dieser Hinsicht habe ich wohl einen richtigen Schaden genommen durch meinen ersten Vorgesetzten. Seinen Namen habe ich nie erfahren, weil er von Anfang an auf der Anrede „Herr und Meister“ bestand.
Bevor ich zum Schutzengel ausgebildet wurde, war ich ein Seelenbegleiter. Meine Aufgabe war es, die Seelen Verstorbener auf dem Weg zu Gott zu begleiten. Das ist auch eine wichtige und schöne Aufgabe, die ich getan habe, seit es Menschen auf der Erde gibt. Seelenbegleiter arbeiten immer zu zweit. Es ist wichtig, dass jede Seele den Weg in die Ewigkeit geht, diesen Weg selbst zurücklegt, aber dabei an jeder Seite von einem Engel geschützt wird. Es heißt nicht umsonst, dass die Seele zu Fuß geht. Und für die Reise in das ewige Leben, in die sie geht, ist zu Fuß gehen die einzig mögliche Geschwindigkeit. Der Weg in die Ewigkeit ist vor allem für eine geschundene Seele lang und beschwerlich. Und doch muss sie ihn zu Fuß zurück legen, um ihre ursprüngliche Kraft und Würde Schritt für Schritt wieder zu erlangen. Damit sie dabei nicht von ihren Erinnerungen an ihr irdisches Sein überwältigt wird, stehen ihr immer zwei Engel zum Trost und als Helfer zur Seite.
Die Arbeit als Seelenbegleiter war eine befriedigende Aufgabe, die mir viel Erfüllung bereitet hat. Aber jedes Wesen braucht auch einmal eine andere Arbeit. Und mein Vorgesetzter war das, was man auf Erden wohl einen Stinkstiefel nennt. Er soll übrigens degradiert und versetzt worden sein. Ich bin wirklich erleichtert, dass Gabriel Geduld mit mir hat, was mein Problem mit Vorgesetzten angeht.
Gabriel gibt mir ein Mäppchen. Es enthält zwei Dokumente. Das eine ist mein Personalausweis, ausgestellt auf Stella Engel, geboren am 5. Januar 1991 in Bochum. Ich bin begeistert, wie gut das Lichtbild getroffen ist. Meine Begeisterung steigt fast ins Unermessliche, als ich das zweite Dokument sehe. Es ist ein brandneuer Motorradführerschein. Er ist selbstverständlich auch auf Stella Engel ausgestellt und trägt als Ausstellungsdatum den 26. April 2012.
Während ich meine neuen Papiere betrachte, beobachtet mich Gabriel wohlwollend, aber ohne jede Spur von Herablassung. Das kenne ich bisher überhaupt nicht. Ich stecke das Mäppchen in die große Brusttasche der schwarzen Lederjacke, die ich trage.
„Stella, einen so sprachbegabten Engel haben wir bislang noch nie im Schutzengelseminar gehabt. Du hast so schnell wie niemand zuvor alle Tier- und Menschensprachen gelernt.“
„Dafür hattet ihr aber auch noch niemanden im Schutzengelseminar, der ein derart chaotisches Profil entwickelt hat.“
Dass Gabriel meinen Gedanken folgen kann, weiß ich. Aber ich wundere mich, dass er überhaupt auf mich reagiert und in herzlichem Ton sagt: „Öfter was Neues. Mir wurde es schon etwas langweilig mit den Yuppie-Engeln.“
Damit ich mich leicht daran gewöhne, hat Gabriel bisher nach Menschenart mit mir gesprochen. Anschließend zeigt er mir die Einzelheiten meines Schutzauftrags auf die Art der Engel. Unsere Verständigung ist eine blitzschnelle Gedankenübertragung. Auf diese Weise zeigt mir Gabriel jetzt im Bruchteil einer Sekunde, wen ich zu beschützen habe, und was sie erlebt hat. Es ist nicht wie in einem Film, in dem man nur hört und sieht, was geschieht.
Ich sehe und höre nicht nur, was Magdalena Zindler, die ich beschützen und deren Leben ich neu ordnen soll, erlebt hat. Ich fühle auch, wie sie den Unfall erlebt und überlebt hat, den sie vor 40 Jahren hatte, bei dem sie ihr Augenlicht verloren hat. Ich schmecke die Medizin, die sie für ihren Magen bekommen hat, um ihn von den Nebenwirkungen der anderen Medikamente zu heilen. Ich nehme daran teil, wie sie Punktschrift lernt. Und ich spüre, wie sie den Kontakt zu ihren Mitmenschen, den Tieren und den Dingen ihrer Umgebung erlebt hat.
In der Ausbildung zum Schutzengel habe ich gelernt, dass das Erleben dessen, was Schutzbefohlene erlebt haben, nicht nur unserer Information dient. Jede Träne, jedes Lachen, jeder Zweifel, jede Hoffnung, einfach alles Erlebte geht auf den Schutzengel über und in ihn hinein. So kann jedes Erleben bei Bedarf wieder zurückgegeben und aktiviert werden. Oder man kann als Schutzengel den Menschen selbst oder seine Mitmenschen mit dem Erlebten konfrontieren.
Gabriel zeigt mir natürlich auch einen Teil dessen, was in der nächsten Zeit geschehen wird. Aber davon berichte ich später, wenn es an der Menschenzeit dafür ist.
Magdalena ist 45 Jahre alt, so groß wie ich, hat schwarzes Haar und blaue Augen. Sie arbeitet als Übersetzerin für Deutsch, Russisch, Spanisch und Englisch. Sie ist ledig und hat keine Kinder. Sie ist Russlanddeutsche und lebte in den ersten fünf Jahren bei ihrer Mutter, die bei dem Unfall, durch den sie erblindete, starb. Danach nahm ihre Tante Nadeschda sie bei sich auf. Sie lebt inzwischen zusammen mit ihrer Freundin Lea Hafenmeister in einem kleinen Haus, das sie von Nadeschda geerbt hat.
Nachdem ich alles, was ich über Magdalena wissen muss, erfahren habe, zeigt mir Gabriel meine eigenen Lebensumstände auf Erden. Ich werde in einer Wohngemeinschaft mit einem anderen Engel in Menschengestalt leben. Sie heißt Raela Fried, ist als Mensch fünf Jahre älter als ich und arbeitet als Krankenschwester. So weit so gut. Aber ich wundere mich doch sehr darüber, dass ich meine Brötchen als Mensch bei einem Esoterikportal verdienen soll. Nachdem mir Gabriel alles Wesentliche gezeigt hat, lässt er eine Pause entstehen, damit ich mich sammeln kann.
„Hast du noch Fragen, Stella?“
„Ja, ich habe eine Frage, Herr und Meister.“
„Stella, ich heiße Gabriel“, erwidert mein neuer Vorgesetzter freundlich.
„Ja, ich habe eine Frage, Gabriel.“
„Na, geht doch!“
Der Erzengel sieht mich an und nickt mir zu. Dabei leuchten seine Augen und sein Heiligenschein besonders freundlich.
„Warum soll ich ausgerechnet in einem dieser Esoterikportale arbeiten?“
„Dafür gibt es verschiedene Gründe. Durch diese Arbeit kommst du direkt in Magdalenas Umfeld. Denn dieser Bendix Krämer, der das Portal leitet, ist, wie du gesehen hast, ein Bekannter von Magdalena. Dazu kommt, dass entschieden wurde, diese Szene vom Himmel aus freundlich, aber bestimmt ein wenig aufzumischen. Ich bin mir sicher, dass dir der eine oder andere Streich für diese Leute einfallen wird.“
Dann sehe ich etwas, was ich noch nie gesehen habe und was man auch als Engel sicherlich äußerst selten zu Gesicht bekommt. Auf Gabriels Antlitz zeigt sich ein verschmitztes Lächeln. Obwohl der Schalk in diesem Lächeln deutlich aufleuchtet, sind in diesem Ausdruck keine Spuren von Bosheit oder Schadenfreude zu erkennen. Nur ein kleiner triumphierender Funke mit einer Art verspielter Freude leuchtet in seinen Augen auf.
Schließlich fragt Gabriel: „Möchtest du sonst noch etwas wissen, Stella?“
Ich schüttele den Kopf. „Dann ist es gut. Und denk immer daran, dass Du Dich jederzeit und von überall mit deiner Gedankenkraft an mich wenden kannst.“
Ich nicke dem Führer der Cherubim und Seraphim dankbar und herzlich zu.
Nachdem ich Gabriels Arbeitszimmer verlassen habe, gehe ich zur großen Halle, in der wir verabschiedet und nacheinander zu unseren Erdeinsätzen entsendet werden. Jetzt wird mir langsam doch mulmig ums Herz.
Einen Augenblick später komme ich in der einzigen Engelhalle des Himmels an. Für Menschen ist es bestimmt erstaunlich, dass wir Engel nur eine Halle haben. Aber diese Halle ist eine Allzweckhalle, die diesen Namen auch verdient. Sie wird je nach Bedarf in Größe und Ausstattung verändert. Die fünfzig Engel im Innendienst, die für Gestaltungsarbeiten zuständig sind, können unsere Halle mit wenigen gekonnten Handgriffen von der großen Flughalle in eine Sporthalle, wie sie auf der Erde üblich ist, umbauen. In dieser Halle habe ich auch Motorradfahren geübt. Zu diesem Zweck war sie zur Stadt umgebaut worden. Andere lernten hier Autofahren.
Als ich die Halle betrete, ist sie als mittelgroßer Festsaal gestaltet. Es gibt eine Empore und eine Bühne. Im Zuschauerraum sind schon viele Engel versammelt. In der ersten Reihe sitzen elf Engel in Menschengestalt, darunter auch Dorothea Glück. Auch ich nehme in der ersten Reihe Platz. Als ich meinen Platz eingenommen habe, sehe ich mich sorgfältig um. Ich ahne, dass nur wir zwölf gleich verabschiedet werden. Meine Unruhe wächst, weil ich mich frage, wo die andere Hälfte von uns geblieben ist. Ich stelle fest, dass wir alle zwölf eine weibliche Menschengestalt bekommen haben.
„Weiß jemand, was mit den anderen aus unserem Seminar geworden ist?“, fragt Dorothea.
„Ja, ich weiß es“, erklärt ein Engel, der ähnlich exklusiv wie Dorothea gekleidet ist. Sie ist auch blond, aber kleiner als Dorothea. „Die Herren der Schöpfung sind schon verabschiedet worden. Sie wurden alle nacheinander nach Ostfriesland oder Bayern entsendet.“ Nachdem sie das gesagt hat, merkt die niedliche Kleine, dass ich auch da bin. „Wie heißt du jetzt, Derila?“
„Stella Engel! – Und du?“
„Ich heiße Raphaela Gottlob. – Findest du nicht, dass für Dich Stella, der Stern, ein sehr hochgegriffener Name ist?“
Auf diese rhetorische Frage fällt mir keine passende Erwiderung ein. Dazu könnte ich höchstens sagen: „Wer weiß, was die Erzengel sich bei meinem Namen gedacht haben.“ Kaum haben sie ihre Menschengestalt, scheinen sie ihre Engelhaltung verloren zu haben und werden schwatzhafter denn je.
Die Aufgeregtheit der anderen erfasst mich ein Stück weit. Doch mir gelingt es zumindest äußerlich ruhig zu bleiben. Ich höre, dass sie reden. Aber ich höre nicht dabei zu, was sie sagen. Plötzlich knufft mich Dorothea in die Seite.
„Sag mal, Derila, äh, Stella, bist du nicht wenigstens auch ein bisschen aufgeregt, oder hast du was von diesem Menschenzeug genommen?“
„Ja, ich bin auch aufgeregt. Und nein, ich habe keine Beruhigungsmittel genommen.“
Dann geht die Tür neben der Bühne auf. Ein Trompetensignal kündigt das Kommen der Musiker und Sänger an. Der Engel mit der Trompete ist der Dirigent. Er schwebt vor den Harfenisten und Sängern in den Saal. Die Sänger und Harfenspieler nehmen auf der Empore Aufstellung. Mir fällt auf, dass es auch im Musikkorps einen Führungswechsel gegeben hat. Der Dirigent ist ein freundlicher, großer Engel, der leicht und beschwingt seine Musiker und Sänger anführt. Dieser Dirigent strahlt so viel Herzlichkeit und Freude aus, dass selbst ich fast glauben kann, dass Musizieren eine schöne, dankbare und einfache Aufgabe ist. Diesem angenehmen Anblick zum Trotz steigen in mir unangenehme Erinnerungen auf.
„Jeder Engel muss einmal das Singen ausprobieren“, behauptete mein damaliger Chef.
Also ging ich zu einem öffentlichen Vorsingen, bei dem ungefähr 25 Engel Testgesänge anstimmen sollten. Ich war die Erste, auf die der Dirigent zeigte. Also ging ich auf die Bühne und sang. Zunächst kam es mir so vor, als sei der Dirigent viel freundlicher als mein Vorgesetzter. Er ließ mich lange vorsingen und schien geduldig zuzuhören. Nach meinem Vortrag hüllte er den Saal auf einen Schlag in vollkommene Dunkelheit. Dann richtete er plötzlich ein gleißendes, gelbes Licht auf mich. Dieses Licht strahlte reine Verachtung aus. Bei dieser Beleuchtung konnten mich alle Anwesenden überdeutlich sehen.
„Das ist das absolut abschreckendste Beispiel für Engelsgesang, dass ich je ertragen musste. Textsicherheit und die Beherrschung der Melodie macht noch keinen Engelsgesang. Das ist nur ein abscheuliches, melodiöses Grollen. Da wird auch nicht mehr draus! Aber, wenn man ein Donnerrollen erzeugen will, muss man keinen Engelschor engagieren. Engelsgesang hat gefälligst immer und überall lieblich zu klingen. – Also sofort abtreten!“
Während ich geduckt davon schwebte, schickte mir der Dirigent eine ganze Zeit lang höhnisches Licht in einem anderen Gelbton hinterher. Niemand, der dabei war, wird diese effektvolle Demütigung jemals vergessen.
Nachdem die Sänger und Harfenisten auf der Empore Aufstellung genommen haben, beginnen sie sofort zu singen und zu spielen. Ich gebe gern zu, dass mir diese Musik sehr gut gefällt, obwohl ich während des Vorbereitungsseminars meine Liebe zur menschlichen Rockmusik entdeckt habe. Ich erfreue mich von Herzen an den himmlischen Klängen. Sie geben mir meine innere Gelassenheit wieder. Noch während das Musikkorps spielt, öffnet sich die Saaltür neben der aufgestellten Bühne abermals, und die vier Erzengel kommen herein. Sie schweben auf die Bühne und stimmen in den Gesang des Chores ein.
Nachdem das Lied verklungen ist, lässt der Erzengel Michael eine kurze Pause entstehen. Dann tritt er feierlich vor und beginnt zu sprechen. Auch seine Stimme klingt sehr freundlich wie die von Gabriel. Sie ist jedoch nicht ganz so tief wie die Stimme meines neuen Chefs, klingt aber etwas klarer.
„Sehr geehrte Kollegen, ich heiße Euch im Namen der Erzengel und des Höchsten herzlich willkommen! Wir sind heute zusammengekommen, um die zweite Schutzengelstaffel des Jahres 2012 zu verabschieden, bevor wir sie auf die Erde entsenden.“