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Gabe Habash erzählt eine Geschichte über das Alleinsein, die Besessenheit, das Ringen und den Wunsch, etwas Großes zu Schaffen. Sein Held Stephen Florida hat nicht sehr viel, er hat z.B. keine Eltern mehr. Aber er hat einen Sport, den er liebt, das Ringen. Eine letzte Saison noch liegt an seinem College in North Dakota vor ihm. Während Stephen sich müht, von Sieg zu Sieg zu eilen, gelingt ihm abseits der Matte gar nichts: Sein einziger Freund ist auf dem Sprung, seine Freundin eine Ablenkung, die er sich nicht erlauben kann. Als eine Verletzung ihn zu einer Winterpause zwingt, ringt er alleine mit sich und seinen Traumata.
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Seitenzahl: 511
Gabe Habash
Stephen Florida
Roman
Aus dem Englischen von Hannes Meyer
Ihr Verlagsname
Stephen Florida hat nicht sehr viel, z.B. hat er keine Eltern mehr. Aber er hat einen Sport, den er liebt, das Ringen. Eine letzte Saison noch liegt an seinem College in North Dakota vor ihm; ein College an das niemand will, in einer Gegend, in die niemand will. Aber immerhin mit einer herausragenden Ringer-Mannschaft! Während Stephen sich müht, von Sieg zu Sieg zu eilen, gelingt ihm abseits der Matte gar nichts mehr: Sein einziger Freund ist auf dem Sprung, seine Freundin eine Ablenkung, die er sich eigentlich nicht erlauben darf. Stephen taumelt, weil Verlustangst und Eifersucht an ihm zehren. Als eine Verletzung und sein harter Coach ihn zu einer Winterpause zwingen, ringt er einsam mit sich und seinen Traumata: «Meine Mutter hatte zwei Plazentas, und ich habe mich von beiden ernährt. Ich hätte einen Zwilling haben sollen. Als der Arzt mich holte, sagte er: ‹Es kann gut sein, dass das Kind ziemlich kräftig wird.› Das haben mir meine Eltern erzählt, aber ich habe ihnen nie so recht geglaubt.»
Gabe Habash hat einen beeindruckend geradlinigen Helden erschaffen, dessen Verletzlichkeit, Weisheit und Humor sich durch Eiweißpulver und Muskelmasse behutsam Bahn brechen.
Gabe Habash ist Redakteur des Publishers Weekly. Er lebt mit seiner Frau, der Autorin Julie Buntin, in Brooklyn, New York. Sein Debutroman «Stephen Florida» ist für den New York Public Library’s Young Lions Fiction Award nominiert.
Für Julie
The mind is the limit.
Arnold Schwarzenegger
Meine Mutter hatte zwei Plazentas, und ich habe mich von beiden ernährt. Ich hätte einen Zwilling haben sollen. Als der Arzt mich herausholte, sagte er: «Es kann gut sein, dass das Kind ziemlich kräftig wird.» Diese Geschichte haben mir meine Eltern immer erzählt, aber ich habe ihnen nie so recht geglaubt.
Gleich, wenn ich mir den Klettverschluss über die Schnürsenkel gezogen habe, werde ich von meinem Klappstuhl aufstehen. Ich werde mir die Eier unter dem Trikot richten und jeden Träger schnalzen lassen, das bringt Glück. Und wenn ich die Zuschauer auf der Tribüne gezählt habe (siebzehn), werde ich Coach Hargraves bitten, mir auf die Ohrenschützer zu hauen. Das macht er. Dann werde ich auf die braune Matte gehen und in den weißen Kreis treten, diesem armen Richard die Hand schütteln, und wenn der Kampfrichter mich loslässt, stürze ich mich mit allem auf ihn, was ich habe. Lärm. Und in der Sekunde, in der ich ihn schultere, höre ich es in seinem Arm knacken. Das ist wie Atmen.
Ihr wart noch nie in North Dakota, aber wenn doch, wüsstet ihr, dass man dort in dieser Jahreszeit gut den Kopf freibekommen kann. Ich werde drei Minuten lang draußen auf dem Parkplatz bei einem Schneehaufen stehen bleiben, nach Vögeln Ausschau halten und mich bei dem Gedanken entspannen, dass endlich November ist und die Saison erst im März aufhört, mir meinen erschöpften, verschwitzten Abschied von alldem vorstellen, bevor er endgültig in mich hineingesaugt wird.
In meinem Kurs zu Mannschafts- & Gruppendynamik habe ich mal vom Konzept des internen Alters gelesen. Ich habe da eine 3+ bekommen. Das kann man sich so vorstellen: Man hat einen harten, kleinen Pfirsichkern in seinem Inneren, in den eine Zahl geritzt ist, und die gibt einem das Alter seines besten Selbst vor. Immerzu jammern die Leute, dass sie noch nicht oder nicht mehr ihr internes Alter haben. Ich nicht. Ich bin in meinem goldenen Alter.
Ich glaube ans Ringen, und ich glaube an die Vereinigten Staaten von Amerika.
Ich bin ein verdammter Astronaut.
Mein Name ist Stephen Florida, und ich werde den NCAA Championship der IV. Division in der Gewichtsklasse 60 Kilo gewinnen.
Das ist alles. Glaubt ihr mir, wenn ich sage, dass ich in jeder Stunde an jedem Tag mindestens zwanzigmal daran denke? Das ist die Wahrheit. Ich lüge zwar manchmal, aber bei so was lüge ich nicht. Wenn man etwas so sehr will, dass man dafür hungert, weiß man nicht, wie es wirklich ist, bis es endlich passiert. Ich weiß, dass es ein weißes Siegerpodium mit acht Stufen gibt und dass man für die Fotografen mit seinem Pokal posiert, der exakt die Größe einer hübschen Schreibtischuhr hat. Das Ganze läuft in der Kenosha Arena in Kenosha, Wisconsin, ab, wo es sechs Matten in unterschiedlichen Farben gibt und die zweitausend blauen Sitze bis auf den letzten besetzt sind. Unter der Arena ist ein Keller mit alten Lampen und genug Platz, damit jeder Ringer, ob Sieger oder Verlierer, seine eigene dunkle Ecke zum Weinen findet – vor Glück oder weil seine Saison gelaufen ist. Da gehen danach alle hin. Das ist Tradition. Aber bis dahin dauert es noch, und ich bin noch nicht so weit.
Naiv, wie ich im ersten Studienjahr war, habe ich das immer allen auf die Nase gebunden und gemeint, ich könnte das Schwert sofort aus dem Stein ziehen, stellt euch das mal vor. Jetzt behalte ich das Ganze für mich. Ich überarbeite und kürze im Kopf. Wenn es jemand wissen will, fragt er schon, aber ich habe einen kahlgeschorenen Schädel und ein Äußeres, das selbst entspannt fies aussieht, und ich werde schnell wütend, was ich von meinem Vater habe und was mir beim Ringen hilft, aber nicht bei der interpersonellen Kommunikation. Auch dazu habe ich mal einen Kurs belegt.
Jetzt überstürze ich nichts mehr. Daran habe ich gearbeitet. Trotzdem denke ich noch an die Arena, die Matten, das Treppchen. Ich kann nicht anders. Ich habe ekstatische Visionen davon, wie ich runter in den Keller steige. An all das denke ich, wenn ich mit dem Mannschaftsbus fahre, wenn ich meine Wäsche falte, wenn ich mir den Wundschorf abreiße, wenn ich scheiße, wenn ich eine Vorlesung in einem zu heißen Hörsaal absitze und so tue, als würde ich runter in mein Lehrbuch schauen, während ich die Augen eigentlich bei einem seichten Dösen in ferner Konzentration geschlossen habe.
Auch jetzt denke ich daran. Eines Tages wird jeder wissen, wer ich bin.
Denn wenn ich es schaffe, erzählen sie meine Geschichte womöglich in der New York Times!
Wann immer ich nicht an all das denke, denke ich daran, wie ich dort hinkomme. Ideen sind einfach nur Neuronen im Gehirn, die Chemikalien auf andere Neuronen spritzen. Träumt ihr von Armhebeln und Kopfklammern? Vom eigentümlichen Quietschen und Wummern beim Training, den Geräuschen der schwitzigen Verausgabung eures Fleisches? Habt ihr schon mal ausführlich einen Schweißfleck auf der Matte angestarrt und beschlossen, ihn aufzulecken, nur weil er aus euch herauskam? Übt ihr euren Stand und humpelt alleine herum wie Quasimodo, bis euch die Knie steif werden? Sind Haare für euch bloße Eitelkeit? Lenkt ihr euch mit einem verdammten fünfhundertseitigen Barron’sSAT-Wörterbuch ab, das die Benotung für euren Wortschatz bis zur Prüfung garantiert um hundert Punkte erhöht?
Aber wie gesagt darf man nichts überstürzen, also halte ich mich an meiner Bank in der Umkleide fest und hefte den Blick auf meine Umgebung, denn das Leben ist nichts als die Gegenwart. Die roten Spinde, die zwei Dutzend Kerle, die Trainer, die mit verschränkten Armen herumstehen, das ist die Gegenwart. Die roten Wände, die Bank, an der meine Haut klebt, das ist die Gegenwart. Die fünfzig Jahre toter und lebender Männer, die in dieser Umkleide waren, die sind Vergangenheit. Sie waren alle mal einen Augenblick lang wichtig, aber der ist vorbei. Wichtig ist der Geruch von oxidierter Haut, dieser Geruch wie nasses Aluminium, auch das ist die Gegenwart.
«Stephen kriegt beim Abendessen ein Stück Hühnchen extra dafür, dass er dem Kerl den Arm gebrochen hat.»
Coach Hargraves ist ein netter Mann, aber ich höre nicht auf ihn. In dem Jahr, als mir mein Trainer sagte, ich soll «den perfekten Kampf visualisieren und alles dafür tun, ihn zu realisieren», habe ich mehr Kämpfe verloren als in jedem anderen. Jetzt spare ich mir die Energie auf, die das Zuhören kosten würde, während mir Hargraves’ kehliges Gebrumme um die Ohren dröhnt und mein Gehirn sich verkriecht. Einfache Gedanken sprießen in meinem Schädel wie Pflanzen, stehen wie einzelne, kopflastige Sonnenblumen, die sich neigen und umknicken, wenn sie das Gewicht nicht mehr tragen können. Neben Hargraves stehen die Assistenten. Eerik, Fink, Whiting, Farrow und Lee. Ich unterscheide eigentlich nicht zwischen ihnen, bis sich mal einer absondert. Sie stehen in einer Reihe in ihren weißen Hemden mit dem kleinen roten George-Washington-Kopf auf der Brust, «Presidents Assistant Coach». Kann sich einer vorstellen, dass die nach Hause zu ihren Kindern fahren? Selbst irgendwelche Hoffnungen haben? Bei klassischer Musik weinen? Ich nicht.
«Florida?»
«Mm?»
«Ein paar Worte zum Ansporn?, habe ich gefragt. Für die Jüngeren?»
Ich schüttele den Kopf, zucke die Schultern und schüttele den Kopf weiter.
Der Trainer hat uns an der großen Tafel alle unsere Kurse anschreiben lassen. Warum, weiß ich nicht. Einer der Assistenten, ich weiß nicht, welcher, hat uns allen Kassetten mit Meditationsmusik mitgegeben, die wir uns im Schlaf anhören sollen. Sie faseln alle dauernd von einer «Verantwortung gegenüber der Gemeinschaft», also von einer Theorie, dass man sich eher selbst treu bleibt und sich höhere Ziele setzt, wenn man die Herde nicht im Stich lassen will (Tiervergleiche werden hier oft gezogen). Damit soll uns Ringern Angst gemacht werden, bloß nicht das schwächste Glied zu sein, aber das bin ich sowieso nicht, ich bin überhaupt kein Teil der Herde, ich kümmere mich um mich selbst, und das braucht meine ganze Anstrengung und Zeit. In dem Spind neben meinem (der im Moment Ellis gehört) steht in uralter Schrift: Wer will meinen Pentis sehen? Der Spind vier weiter hat mal Mycah irgendwas gehört, wir waren nur ein Jahr lang gleichzeitig hier, und die ganze Zeit wollte er eigentlich hinschmeißen, weil er mit seiner Mattenherpes nicht klarkam. Sie haben aber so lange auf ihn eingeredet, bis er doch blieb. Der Spind zwei weiter (im Moment der von Sherman) hat letztes Jahr und die drei davor Flores gehört, der die ganze Zeit noch gewachsen ist, ein mexikanischer Farmjunge aus Illinois, der seine Größe andauernd mit Filzer an der Innenwand des Spinds markiert hat. Während seiner Zeit am Oregsburg College ist er von der 60-Kilo-Klasse bis zur 71 hochgegangen. Seit Mai habe ich nichts mehr von ihm gehört. Hat keiner von uns. Flores, der kleine Füße und schlechte Zähne hatte und sich im Voraus für seinen Mundgeruch entschuldigte, der mindestens dreien seiner Dozenten den bösen Blick zuwarf und dann zurück nach Illinois ging, das ihn für immer verschluckte.
Leise wird etwas herumgereicht.
Ich habe das Problem, dass ich mir immer die Finger in den Mund stecken will, vor allem dann, wenn ich lange stillsitzen muss. Wenn man sich die Knöchel über die leicht geöffneten Zähne rollt, ist das ein Sinnesvergnügen, das man jederzeit haben kann. Manchmal tut es gut, das Gesicht an etwas zu drücken, das härter ist als es selbst. Dann bekommt man keinen Schreck, wie hart der Kontakt im Kampf ist. Wenn man glaubt, dass das Universum ein Ort des Aufpralls ist, eins kollidiert mit dem anderen, und das setzt sich ewig fort, dann werden die eigenen Arme zur Wiege, und man sehnt sich nach etwas, was einen mit seinen Sinnen verankert. Das soll nicht heißen, dass es immer brutal sein muss. Meine Oma hatte einen Tigerkater namens Poker, der war ihr zugelaufen, und er hat sich mir immer gerne auf den Schoß gelegt und sich hinter den Ohren kraulen lassen.
«In drei Tagen fahren wir nach Miles City», sagt Hargraves.
Miles City ist eine Stadt mit Gebäuden und Leuten in Montana. Dort wird es ein Viererturnier geben, bei dem ich in vier Stunden dreimal ringen muss. Es hilft, wenn man sich diese einfachen Fakten aufzählt, weil man sich so darauf einstellt, sie durchzuziehen. Der schnellste Schultersieg aller Zeiten dauerte nur neun Sekunden. Ich reibe alte Narben auf der Stirn, wo mir vor zwei Jahren mal eine kleine Verhärtung weh getan und ich mir Gedanken wegen irgendeiner problematischen neurologischen Wucherung gemacht hatte, einem Tumor oder Schlaganfallklümpchen, das mich umbringen würde, noch bevor ich nach Kenosha kann. Als ich dann zum Studierendengesundheitszentrum ging und meine Lage darlegte, hieß es, es ist ein Pickel.
Linus legt sich ein Handtuch über den Kopf. Unter dem linken Fuß rollt er einen Lacrosse-Ball hin und her, wegen seiner Plantarfasciitis, die er auf der Highschool vom Crosslauf mit schlechten Schuhen gekriegt hat und die nie ganz weggeht, das weiß jeder. Er hat seinen Kampf heute gewonnen. Er will nach Hause und lesen. Lesen! Ich denke an das eine Feld östlich von Dickinson auf der Strecke nach Miles City, wo man auf absolut jedem Zaunpfahl einen Rotschulterstärling sehen kann.
Fink oder Farrow ergänzt etwas, was Hargraves gerade gesagt hat.
Coach Whiting bemerkt, dass wir etwas rumgeben, aber tut so, als ob nicht. Manche schauen es sich länger an als andere. Es macht die Runde und kommt in meine Richtung.
Es fällt schwer, nicht an die Banane hinter mir im Spind zu denken! Ich brauche was im Mund. Ich verspreche mir die Banane für später. Ich habe noch nie ein Versprechen gebrochen, ich habe mir und meiner Oma versprochen, die Meisterschaft zu gewinnen. Oben, hier in der Achselhöhle der USA, wo mich niemand sehen kann, wechsle ich die Form und werde zu etwas Geiferndem, Wütendem, um zu kriegen, was ich will.
Ich wippe schon die ganze verschissene Zeit mit dem Bein. Ich reiße mich zusammen, um nicht noch mehr Aufmerksamkeit auf mich zu lenken.
Ich lebe am glücklichsten Ort der Welt. Das haben sie in der Zeitung geschrieben. Und es stimmt. Das Einzige, was von mir erwartet wird, ist auch das Einzige, was ich tun will. Das nennt man Glück. Glück ist, wenn man ein tieferes Empfinden der eigenen Existenz hat, eine Stelle in einem selbst, beschützt vor madigen Freunden und zielloser Erschöpfung: Ich fahre auf einer Einbahnstraße in einem dichten metaphorischen Wald ohne Abzweigungen. Ich tue nichts unbeabsichtigt. Das Ende der Straße erreichen heißt, Ehre im biblischen Sinne zu erfahren, seinem eigenen Stempel die Ehre zu erweisen. Ich laufe herum und drücke einen Stempel auf alles. Ich habe die Heiligen zwar nicht viel studiert, aber es hört sich genauso an, wie die gelebt haben. Am Ende seiner guten Taten wurde der heilige Bartholomäus missverstanden und bei lebendigem Leib gehäutet. Bis heute bewahren sie Knochenstücke und Hautfetzen von ihm in Basiliken auf, und sein Arm liegt in einer Kathedrale. Die Heiligen haben ihre Comics überall auf Papyrus geschmiert, und um sie herum schießen die bunten Farben aus dem Nichts, und ich glaube, dass man diese Farben auch in der Wirklichkeit manchmal sehen kann, wenn man richtig hinschaut.
Ich habe keine Geheimnisse. Ich habe nichts zu verbergen. Meine Eltern sind bei einem Autounfall gestorben, als ich vierzehn war, und dann bin ich zu meiner Oma gezogen. Sie ist an einem Herzleiden gestorben. Am Sterbebett habe ich ihr gesagt, dass ich ans Oregsburg College gehen und ringen werde, und sie hat ihr ganzes Geld mit in die Lebensversicherung meiner Eltern gesteckt, und Rudy Unger, der Nachlassverwalter, den mir meine Eltern bestellt haben, kümmert sich darum und sagt mir, was ich damit machen soll.
Der Zettel ist jetzt bei Sherman. Er schaut kurz drauf und gibt ihn an Ucher weiter.
Meine Oma hat sich zwar nicht groß fürs Ringen interessiert, aber sie wusste, was es mir bedeutete, also hat es sie glücklich gemacht. Ich habe ihr gesagt, ich würde ein Stück von meinem Championship-Pokal abbrechen und neben ihr vergraben. Gegen Ende war ihr eigentlich alles scheißegal, aber sie war eine gute Christin, und ihr gefiel das Alttestamentlich-Zeremonielle daran, also hat sie auch das wohl glücklich gemacht.
Und wo wir schon bei Bekenntnissen sind: Ich bin seit drei Jahren hier und jedes davon gescheitert. Ich mag den Ausdruck «letzte Chance» nicht, bin aber auch nicht bescheuert. Ich habe jetzt meine letzte Chance auf das, was ich versprochen habe. Es ist so lange her, dass ich eine Wahl hatte, dass ich nicht mehr weiß, wie sich das anfühlt. Es gibt Wissenschaftler an den Polarkreisen und Missionare in Mikronesien, die sich für die Wissenschaft oder den Dienst an Gott willentlich in fremde, vergessene Gegenden schicken lassen, sie können sich über den Rand ihres aufgegebenen freien Willens beugen, in der Kirche niederknien und ausrufen: «Ich bin bereit zu hören, was Gott mit mir vorhat!», und sich dann das Wasser über den Kopf sprenkeln lassen. Ich bin in North Dakota in einer Stadt namens Aiken, von der ihr noch nie gehört habt, und ich bin nur wegen mir selbst hier. Jeder Trottel weiß, dass man ohne die Möglichkeit zu scheitern nichts Bedeutendes erreichen kann. Mein dreijähriges Scheitern wird aber verblassen im Angesicht meines Erfolgs im vierten Jahr, der immer, immer in Erinnerung bleiben wird.
Ucher gibt mir den Zettel. Ich schlage die Beine übereinander und schaue ihn mir heimlich in meinem Schoß an. Es ist eine weiße Serviette mit schwarzer Tinte: Wir müssen etwas wegen Louise unternehmen. Ich gebe sie nicht an Linus weiter, sondern zerknülle sie und lasse sie unter die Bank fallen.
Es ist ein Geschenk, die Wahl zu haben, und die haben heute immer mehr. Den ganzen Scheiß bringen sie einem an der Uni bei. Weil es heute mehr Optionen gibt, kann man seinen Problemen einfach den Rücken kehren. Aber nicht mit mir. Ich bin in mir selbst eingeschlossen, in diese fünf Monate, ich bin schon mein ganzes Leben lang eingeschlossen und warte nur darauf. Ich will den Stress. Das habe ich ihr versprochen. Meiner Oma. Ich würde das hier zwar niemand anderem wünschen, aber selbst auch nichts anderes wollen.
Hargraves sagt: «Töte den Kopf, und der Körper stirbt.»
Sie nennen mich und Linus aus Quatsch Homos, und hinter unserem Rücken auch weniger aus Quatsch. Das tun sie, weil wir früher vom Abendessen abhauen (jeder Ringer nimmt sich eine Hühnchenbrust – Fat Henry kriegt zwei –, Gemüse, Joghurt, einen Apfel und höchstens 0,6 Liter Wasser), das die Frauen von Eerik und Lee für die Mannschaft ausrichten, zwei Trainerfrauen, die zusammen für uns primitive Mahlzeiten kochen, aber die werden von den anderen nicht gleich Homos genannt. Homos bringen keine Viertel-Arikara-Kinder auf die Welt wie die von Eerik oder weiße wie die von Lee, und Homos kochen auch nicht für die Mannschaft ihres Mannes, dass ihnen warm ums Heteroherz wird. Nur die beiden besten Ringer der Mannschaft, also wir, werden Homos genannt.
Nach dem Essen gehe ich schnell, weil ich wirklich nicht gerne mit anderen esse. Ich bin lieber alleine, und mit Linus zusammen bin ich quasi alleine, aber nicht einsam, in einer positiven Abgeschiedenheit. Linus kommt mit, weil wir Freunde sind. Linus ist eins zweiundsechzig, hat schmale Augenbrauen und Akne. Als ich ihn kennengelernt habe, hat er gerade versucht, Slim John Carpenter den Platz in der Gewichtsklasse 57 Kilo abzunehmen, was er auch ziemlich schnell geschafft hat. Oft kommen die jungen Kerle an und hängen sich nicht richtig rein, wissen nicht, was es braucht, damit man kriegt, was man will – das kapieren sie erst später oder überhaupt nicht. Linus war anders. Er hat Carpenter gleich in der ersten Woche beim Training auf den Rücken gedreht und in die Zange genommen. Er ist im ersten Unijahr, in der einzigen Gewichtsklasse unter mir und der Einzige in der Mannschaft, mit dem ich zusammen sein kann, ohne mich andauernd zu fragen, wie es wäre, tot zu sein. Er kam zur Tür rein, wusste gleich, was er wollte, und ließ sie alle ziemlich schnell faul aussehen. Er ist schlauer, als ihm guttut, sage ich ihm. Ich mache mich über seine Eitelkeit lustig, weil er sich nach dem Training immer von Fink die Ohren spülen lässt, worauf er besteht, obwohl seine Nase seit einem Fahrradunfall krumm nach rechts zeigt. «Alle lieben mein Gesicht genauso wie meine Persönlichkeit», behauptet er. Er hat ein Zimmer auf dem gleichen Flur, aber er sitzt gerne bei mir auf dem Stuhl und kippelt gegen das Heimweh an, dass es knarzt.
Auf dem Hauptweg läuft er rückwärts neben mir her, pfeift und achtet nicht auf die Eispfützen. Er ist noch zu jung, um sich Sorgen wegen Verletzungen zu machen, er hat einen Schwarm Kolibris im Kopf. «Ich weiß gar nicht mehr, wie Eis schmeckt», sagt er. Linus krallt vor den Lippen die Finger zusammen, tut so, als würde er auf Lunge rauchen, und bläst den Atem in die Luft.
Ich selbst vermisse eigentlich gar nichts mehr, aber er ist da noch wie jeder andere und hängt den Sachen hinterher, die er im Leben zurückgelassen hat. Jeder hat nun mal ein Gedächtnis. Aber wenn ich das Gefühl kriege, dass ihn das krank macht, sage ich: Wenn du deine Gedanken auf das Nichts hier konzentrierst, das Nichtsland, die Nichtsleute, die Nichtshäuser, die Nichtsseen, die Nichtskälte in den Nichtsknochen, dann kannst du dein Glück auf eine Nadelspitze zusammenquetschen – du bist hier, um mit anderen Männern zu ringen wie mit deinen Erzfeinden, um sie kaputt oder schlimmer auf der Matte zurückzulassen, bis nur noch du allein da bist. Ich habe es nicht so mit den Erinnerungen. Welcher Teil des Gehirns auch immer für Erinnerungen zuständig ist, ist bei mir wahrscheinlich ein bisschen unterentwickelt. Aber wenn man sich auf die Einfachheit des Rituals konzentriert wie Männer, die vornübergebeugt in lichtlosen Heidenhütten beten, kann man ohne Erinnerungen leben. Sie sind überflüssig.
Ich sage euch, was ich noch weiß: dass die Gebäude vom Oregsburg College in der Woche nach der Zeitumstellung nichts als Schatten sind, ich meins aber an Geruch und Struktur erkenne wie ein Hund. Dass der Froschmann mit seinen geraden Hörnern hinter einer dieser Wände steckt und stumm über mich kichert. Dass Linus schneller geht, weil er zurück zu Shining will. (Er wird sauer, wenn ich meinen Schwanz an seinen Büchern reibe. Dabei mache ich das ja nur durch die Hose.) Dass man um acht Uhr abends kein Geräusch hört, dass niemand draußen ist, was einen glauben lässt, man wäre alleine. Dass es guttut, wenn man auf sein Gebäude zukommt, weil man weiß, dass drinnen das Bett auf einen wartet und man bald darin schläft, bevor man morgen wieder aufwacht, einen härteren Zeitplan vor sich, als ihn die meisten anderen ertragen würden, aber dass vor allem diese Aussicht aufs eigene Bett ein Trost auf Schnullerniveau ist, weil man nicht weiß, was passieren würde, wenn einem das Ziel genommen würde.
Ich sollte mich wohl mal beschreiben.
Nein, das will ich nicht. Aber um mir das Interesse potenzieller Zuhörer zu erhalten, kann ich doch vielleicht etwas Persönliches preisgeben. Mein Name ist nicht der, den alle kennen. In der dritten Woche des letzten Highschool-Jahres, als ich noch in Hillsboro bei meiner Oma wohnte, setzte ich mich an meinen Labortisch zur ersten Stunde Physik, der Lehre vom Regelwerk der Welt. Es war ein Dienstag. Mrs. Cosgrove kam herein und gab mir einen Umschlag mit rotem Siegel in der oberen rechten Ecke, auf dem OREGSBURG COLLEGE stand. Der Name kam mir bekannt vor, aber vielleicht bilde ich mir das jetzt auch ein. Auf dem Umschlag stand mein richtiger Name, aber der Brief drinnen von Coach Hargraves richtete sich an Stephen Florida. Es war eine Einladung, gegen ein Vollstipendium beim Oregsburg College zu ringen. Aber weil die IV. Division keine Sportstipendien vergeben darf, hatten sie ein geeignetes Unterstützungspaket für Bedürftige (reiner Zuschuss, kein Kredit) mit dem Harriet-Howard-Leadership-Stipendium kombiniert. Das habe ich bekommen, weil ich «außerordentliche Führungsqualitäten unter Beweis gestellt und meinen Mitschülern an der Hillsboro High School als Beispiel gedient» habe. Wenn man mit solchen Worten in den Himmel gelobt wird, glaubt man es auch. Das Ganze stand auf hochwertigem Papier, das jetzt in einem Karton in meinem Schrank liegt. Diesem offiziellen Schreiben zufolge war die einzige Bedingung für das Stipendium, dass ich «im März des Abschlussjahres ein Referat über ein beliebiges Thema» halte. Es war das einzige richtige Uni-Angebot, das ich bekommen habe. Bevor ich den Brief erhalten hatte, waren eigentlich nur ein paar Community Colleges in der Nähe in Frage gekommen. Meiner Oma ging es zu dem Zeitpunkt schon schlecht, sonst wäre ich sofort hingefahren, um mich mit Coach Hargraves zu treffen und die Uni anzuschauen. Das soll nicht heißen, dass ich noch darüber hätte nachdenken müssen. Ich hatte meine Chance erkannt und wollte sie beim Schopfe packen. An einem Montag im September wusste ich nicht, was ich nach der Highschool machen würde. Am Dienstag hatte ich auf einmal einen Schrieb, der mir vier weitere Jahre Ringen versprach. Ich rief während der Pause nach der dritten Stunde an, und sie schickten mir die Bewerbungsunterlagen. Es ging sehr schnell. Sie sagten, meine SAT-Noten gingen schon klar, alles wäre geregelt, und sie nannten mich immer noch Stephen Florida. Oma, die mir versicherte, sie leide wirklich nicht allzu sehr, und die tatsächlich vollkommen schicksalsergeben wirkte, während ihre Zeit verstrich, und immer und immer wieder das erste Kapitel von Thomas Manns Zauberberg las, starb Ende November mit dem Buch auf dem Schoß und nahm alles Tageslicht mit sich.
Die Zusage bekam ich in der ersten Dezemberwoche, und gleich am Wochenende fuhr ich mit dem Greyhound auf der ND-200 drei Stunden Richtung Westen nach Aiken, ein Städtchen, das noch kleiner als Hillsboro ist. Ich traf mich mit Coach Hargraves. Er schüttelte mir die Hand und sagte: «Stephen Florida. Der Mann, der uns helfen wird, das Ringen am Oregsburg College groß zu machen.» Das hörte sich gut an und machte mich stolz. Er nannte mich einen «Grundstein». Er war ein alter Trainer, aber neu an der Uni, und das Programm selbst wurde gerade erst wieder angeschoben, nachdem es Jahre vorher wegen neuer Gesetze zur Gleichberechtigung im Sport gekippt worden war. Ich machte mir keine großen Gedanken, wie oder warum sie mich gefunden hatten. Es war mir egal. Er brachte mich zum Einschreiben in die Verwaltung, wo ich weit im Voraus für meine Kurse angemeldet wurde. Dort fand ich auch heraus, wie sich mein Name geändert hatte. Hinter dem Tresen saß eine nette ältere Dame und hielt sich ein Blatt Papier dicht unter die Nase. Sie hieß Ms. Rutledge, und als sie das Blatt senkte, sah sie so mürbe aus, als könnte sie jeder über zwölf einfach durchbrechen, und sie hatte, kein Witz, die dicksten Brillengläser, die ich je gesehen habe. Sie ragten aus ihrem Gesicht heraus wie Fernrohre. Sie waren milchig gelb. Ich wusste, was passiert war, es hätte nämlich ein Angebot an Steven Forster an der Hillsboro High School rausgehen sollen. Und diese Frau, Ms. Rutledge, hatte meinen Namen falsch gelesen. «Hallo, junger Mann», sagte sie. «Wie kann ich dir helfen?» Ich unterschrieb, ich unterschrieb alles mit Stephen Florida.
Was gab es da noch abzuwarten? Gar nichts. Ich fuhr bei der ersten Gelegenheit zum Oregsburg College, mit dem Bus einen Tag nach dem Highschool-Abschluss. Es war Juni. Niemand war da. In meinem Zimmer in der McCloskey Hall, das die kommenden vier Jahre mir gehören würde, packte ich meine Klamotten aus und hängte die guten Hemden auf Bügel. Ich wollte loslegen. Ich zog Sportsachen an und ging draußen laufen. Es war nicht so warm, wie ich es gerne gehabt hätte, vielleicht zwanzig Grad, aber es war unheimlich hell, von überall her schien das Licht, sodass ich die Augen zusammenkneifen musste. Ich kam an einem Feld voller Weihnachtsbäume vorbei, sie waren so klein, dass sie aussahen wie Broccoli. Ein paar Autos fuhren vorbei. Ich lief auf unvertrauten Straßen, alles war mir fremd. Ich schwitzte auf neuen Straßen durch meine Klamotten und blinzelte. Es kam mir vor, als wäre ich irgendwo angekommen, wo es sonst niemanden gab oder wo noch niemand gewesen war, aber vor allem: Ich hatte es mir ausgesucht. Es war meine bewusste Entscheidung gewesen. Mehrere Kilometer von der Uni entfernt hielt ich an einem Ort an, den ich nicht kannte, der mir aber irgendwie vertraut vorkam wie eine verzerrte Ansicht der Vergangenheit, in jeder Richtung Felder. Ein winziges Sprühflugzeug surrte darüber hinweg und dann noch eins hinten am Horizont. Auf einem der Felder an der Straße sah ich einen Hunderte Meter langen Metallarm, der Wasser über hektarweise Mais spritzte. Das hatte etwas von einem eiszeitlichen Vorgang. Überall pumpten noch etliche dieser Bewässerungssysteme in weitem Abstand zueinander, und als ich jetzt stillstand, spürte ich die Bewegungen zu allen Seiten, und auch wenn ich noch nie in einem Flugzeug gesessen hatte, wusste ich, dass man von oben riesige grüne Kreise sehen konnte. Ich verliebte mich sehr schnell in Oregsburg.
Ich nahm drei Jahre meines Lebens und opferte sie wie hübsche Jungfrauen, die in einen Vulkan geworfen werden. Und ich will nicht lügen, also behaupte ich nicht, ich hätte nicht schon längst mit einem Championship-Titel gerechnet. Leicht würde das natürlich nicht werden. Das wird einem aber erst später klar. Ich rang und rang stur vor mich hin und stellte mich drei Jahre lang blöd an, bis ich endlich kapierte, dass ich den Pokal niemals kriegen würde, weil er mir zustand, während ich oft so müde und unglücklich war, dass ich kotzen wollte. Dabei habe ich wohl die ganze Zeit abgewartet, was im vierten Jahr passiert, dem allerletzten Jahr meines Lebens, das mir so lang und intensiv vorkommt wie eine Schwangerschaft oder eine Nordpol-Expedition, und weil es so lang ist, verbringe ich es teilweise mit Zehennägel-Schneiden auf dem Bett, während Linus auf meinem Schreibtischstuhl Stephen King liest. Teilweise male ich mir aus, wie es wäre, wenn Leute aus dem Nirgendwo North Dakotas die Schauplätze meiner Ringkämpfe überrennen würden, die schlecht belüfteten Brutkästen, die hauptsächlich nach Reinigungsspray und Beton riechen, wenn auch nur ein paar von ihnen mich erkennen würden, wenn eine lebenslustige Witwe mich von hinten sähe und riefe: «Hey, das ist ja Stephen, guckt euch mal den Knackarsch an!», oder wenn vielleicht Kinder nach Fan-Andenken schrien und ich einem meine Ohrenschützer zuwerfen und einem kleinen Mädchen meine Schuhe geben würde, sie würde sie anziehen und lächeln, weil sie noch schweißnass sind. Ich könnte meinen Fans nach jedem Kampf ganz persönliche Souvenirs schenken.
«Ich wäre gerne in Maine», sagt Linus. «Kleinstädte finde ich gruselig.»
Das wird alles natürlich nicht passieren. Für die neuen Ohrenschützer und die Schuhe fehlt das Geld, also ist das alles nichts als Träumerei. In winzigen Sporthallen gibt es keine Kinder, die nach Helden suchen, keine notgeilen Hausfrauen. Ich behalte meinen Blödsinn für mich und versuche immer, nicht auf den Blödsinn anderer reinzufallen.
Seitlich am großen Zeh ist eine Blase, die ich aufknipse, und eine stinkende Flüssigkeit kommt heraus. Ich sage mir, dass ich kein verdammter Feigling bin.
«Alter», sagt Linus. «Den Nägeln zeigst du es aber.»
Fünf Monate, ein Winter, können auf einen bedrückend lang wirken, nicht nur auf Trinker. Man kann aus dem Fenster schauen, kilometerweit Land, angelegt, um Leere zu demonstrieren, Erdölpumpen, Matsch, verrostete Anlagen, Äcker, auf denen mal Hartweizen, Flachs und Raps gestanden haben. Ein Loch einer Ölbohrung: So sieht hier der Winter aus. Farmer, Wassertransporter und reiche Bohrarbeiter fahren mit ihren Autos oder gehen durch diese Landschaft und schlafen dort in Häusern, und wann immer man aus dem Fenster schaut, drückt sich das alles direkt ans Glas wie ein Kobold, der nur darauf gewartet hat, dass man ihn sieht, damit er einem ins Gesicht springen kann.
«Was riecht hier denn so?», fragt Linus. Ohne von seinem Buch aufzuschauen, hebt er das Bein, furzt laut und lacht leise.
Das alles bereue ich: dass ich nicht jeden einzelnen Ringkampf gewonnen habe, dass ich schon zu viele Niederlagen einstecken musste, dass ich mich nicht schon früher im Leben dem Ringen verschrieben habe, dass ich nie erfahren werde, wie viel besser und schneller ich hätte sein können, dass ich keine Geschwister habe, dass ich rechts nie so stark sein werde wie links, dass ich viel zu lange gekämpft habe, um nicht zu verlieren, dass ich zu stürmisch war und ins Leere gestolpert bin, als Derrick Ebersole abgetaucht ist, dass ich bei den Regionalmeisterschaften nach Chris Gomez’ rechtem Knöchel gegriffen und ihn rausgelassen und nicht wieder runtergekriegt habe, und das war’s dann, dass meine Oma den Schlaganfall hatte, dass ich nicht besser beim SAT abgeschnitten habe, dass ich manchmal vergessen habe, wie man fies ist, dass ich den Armhebel nicht halten konnte, dass ich ohne Foto nicht mehr weiß, wie mein Opa ausgesehen hat, dass vor all den Jahren das Eis an dieser einen Stelle war und die Straße dort eine Kurve machte, und dass das andere Auto dann kommen musste, und auch dass ich den Typen ganz alleine ins Krankenhaus geschickt habe, dass seine Eltern nicht hinten im Krankenwagen mitfuhren, und dass er kein Publikum hatte, das ihn beweinte.
«Ich glaube, nach North Dakota würde es keinen Serienkiller verschlagen», sagt Linus. «Vielleicht nach Sioux Falls. Da würde er dann einen kaltmachen, bevor ihm langweilig wird und er sich in Minneapolis spannendere Opfer sucht.»
In mir wächst eine unterdrückte Qual. Ich lenke mich ab, versuche sie zu vergessen, aber in Momenten, in denen ich nicht lügen kann, weiß ich, dass ich ihr immer weniger entgegenzusetzen habe, dass das Elend sich hervorgräbt.
In der Ecke bewegt sich der Froschmann. Ich schaue nicht hin.
Linus sagt: «Was ist der Unterschied zwischen einem Insektenstich und einem Ausschlag? Ich hab da so was am Hals.»
Aber ich weiß auch, dass meine Gedanken manchmal unstet sind. Daran habe ich mich im Laufe der drei Saisons am Oregsburg College gewöhnt. Ich stelle mir diese abgeschlossene Spanne meines Lebens als ein Zimmer vor, und das hier sind eben die schmutzigen Probleme, die ich drinnen vorfinde und erledigen muss. Ich halte hier alles sauber, der Froschmann ist immer bei mir im Zimmer, er ist irgendwann nach dem Unfall gekommen, aber ich halte ihn in den Ecken, so gut es geht, schaue möglichst nicht hin, denn wenn er losgelassen wird, passiert vielleicht etwas.
Linus ist immer noch, wo er war. Das hier ist mein Zimmer. Ich bin noch nicht so weit. Wie immer kehrt das Zielbewusstsein irgendwann zurück, kommt in letzter Sekunde um die Ecke.
Die zwei besten Gründe, etwas zu tun, sind:
sich zu beweisen, dass man es kann,
allen anderen zu beweisen, dass man es kann.
Und wenn ich mich schlafen lege, weiß ich, dass mir diese fünf Monate gewährt wurden. Sie gehören mir, das hier ist mein ganzes Leben. Ich bin ein braver Esel.
Linus sagt: «An deinen Füßen hängt tonnenweise Hornhaut. Ich sag’s ja nur.»
Wofür ich dankbar bin: diese Saison, Antrieb, Motivation, Erfolgshunger, dass ich nicht fett bin, dass ich nicht behindert bin, dass ich keinen verdammten offenen Rücken habe, dass niemand meine Gedanken hören kann außer mir selbst, dass ich für meine Körpergröße große Hände habe, Linus, Oregsburg, dass meine Uropas ihn meinen Uromas reingesteckt haben, dass meine Opas ihn meinen Omas reingesteckt haben und dass mein Vater ihn meiner Mutter reingesteckt hat, dass ich nicht im Kongo oder in Sibirien lebe, dass meine Nebenhöhlen hohe Felskavernen sind, in denen ein kleiner Grendel seine Pilze hegt, dass mir die Zeit nicht lang wird, dass es da draußen andere Ringer gibt, die nur darauf warten, dass ich sie runterreiße, meine Oma, dass ich ein Ziel habe.
«Mann, Stephen, eben wollte der Löschschlauch Danny angreifen.» Linus klappt das Buch erst zu, als er die ersten Zeilen des nächsten Kapitels gelesen hat. Wenn er sich wirklich konzentriert, meistens auf Bücher oder aufs Ringen, wird es um seine Lippen herum ziemlich feucht, ist mir aufgefallen, und er wischt sie dauernd mit dem Handrücken ab. «Ich gehe jetzt pennen. Also dann um halb sieben?»
Ich nicke. Ich danke Gott, dass ich ein moderner Waise bin, der eine Chance hat, statt bettelarm und rußverschmiert ausgebeutet zu werden.
«Ich habe jetzt seit zwei Tagen kein Wort von dir gehört, ist dir das klar?»
Ich höre wieder und wieder, wie der Arm von dem Typen bricht. «Mm.»
Er steht mit dem Buch unter dem Arm am Fenster. Er schaut sich das Foto auf der Fensterbank an, auf dem meine Eltern auf dem Sofa im Wohnzimmer sitzen und mich als Baby auf dem Arm halten. Ich vergesse es immer, bis es sich jemand anders ansieht, aber Linus sagt nichts. Stattdessen wischt er mit einem Finger über die Fensterbank und sagt: «Dein Zimmer ist so sauber. Fast nicht mehr normal.»
«Sauber, sauber, sauber, sauber, sauber, sauber, sauber, sauber.»
«Erzähl mir, was in Miles City passiert.»
«Du ringst dreimal, gewinnst dreimal und bist ein 57er mit einem Stand von 4:0.»
«Nein, ich meine … was passiert, wenn ich verliere?»
«Also beim Turnier gibt es eine sogenannte Rückrunde, aber da sind es ja nur vier Unis …»
«Ich weiß, was eine Rückrunde ist. Ich frage mich nur, was dann passiert.»
«Halt dich an die Fakten. Okay, ich fange an. Du bist Linus Arrington. Du sitzt auf einem Stuhl in meinem Wohnheimzimmer, das … fünf Türen von deinem entfernt ist. Es ist November. Einer der kalten Monate. Stalin war Wetterbeobachter, und wegen eines Kutschunfalls war sein linker Arm deutlich kürzer als sein rechter. Du ringst in der Gewichtsklasse 57 Kilo für das Oregsburg College. Du hast heute deinen Kampf gewonnen. Du kommst aus Bellevue, Nebraska.»
«Mein Vater heißt Dale, meine Mutter Tina. Milch ist weiß. Ich ringe, seit ich sieben bin, und habe meinen ersten College-Kampf gewonnen. In drei Tagen bin ich in Montana und ringe in Miles City.»
«Die Halle in Miles City riecht wie jede andere. Hier hast du den ersten Kampf deiner Laufbahn gewonnen. Bei uns stehst du auf 1:0.»
«Wenn ich aggressiv bin, gewinne ich.»
«Du gewinnst in der Halle in Miles City drei Kämpfe hintereinander, weil du ein schrecklicher 57-Kilo-Barbar bist und die anderen alle Puddingärsche.»
«Ich bin ein schrecklicher Barbar, und ich werde Böses über sie bringen!»
Linus’ Gesicht bekommt einen speziellen Ausdruck, wenn er etwas glaubt. Dann kommt es mir vor, als würde ich ihn schon ewig kennen, als hätte ich mir mit ihm in Nebraska die Milchzähne an Maiskolben ausgebissen, als hätte ich eine andere Babyzeit gehabt, als wäre ich ein ganz anderer Mensch.
Linus sagt: «Fragst du dich manchmal, wie es wäre, wenn du als Mädchen auf die Welt gekommen wärst? Wenn du einen Klumpfuß hättest? Wenn du Asiate wärst? Oder in New Mexico?»
«Ich würde mich umbringen, wenn ich einen Klumpfuß hätte.»
«Ich mich auch, glaube ich.» Manchmal befürchte ich, dass Linus Schwierigkeiten damit hat, sich abstrakte Dinge vorzustellen.
«Ein anderes Leben … ist nicht einfach nur ein anderer Stift zum Schreiben», sage ich. «Ich habe alle meine Arme und Beine. Du auch. Ich kann ringen, du auch. Das sind die Tatsachen. Soll heißen: Der Stift wurde mir gegeben. Und du hast den gleichen gekriegt.»
«Okay.»
«Drück die Stirn gegen meine. Hart wie Stahl?»
«Hart wie Stahl.»
«Dann los, mein Kindchen. Ich bringe dich zu Bett.»
«Kann ich deine Zahnpasta nehmen? Meine Mom hat diesmal keine eingepackt.»
Als er die Tür geschlossen hat, gehe ich den Flur entlang, der leer ist bis auf die Putzfrau am anderen Ende, die Kotze vom Müllschacht schrubbt. Der Gang verläuft im Quadrat, außen die Zimmer, innen die Gemeinschaftstoiletten und -duschen, in die ich hineingehe. Einer aus dem ersten Jahr namens Perry, der mal neunzig wird oder nächsten Sommer stirbt, wer weiß, hinterlässt einen Gestank in der Kabine, aus der er herauskommt. Er nickt, ich nicke, ich weiß seinen Nachnamen nicht.
Ich öffne den Wasserhahn. Im Spiegel suche ich nach Anzeichen von Schleppeiter, Herpes, Ringerpilz. Ich schalte den Rasierer ein. Ich ziehe ihn mir über den Schädel und mähe die kleinen Stoppeln ab, bevor sie lang werden. Insektenzähne auf dem Kopf. Ein Kartoffelschäler.
In meinem Seminar «Kultur des Weltkapitalismus» habe ich über das Abflensen, das Abspecken eines Wals, gelesen. Ich saß aufrecht auf dem Stuhl und stellte mir die Welt vor dreihundert Jahren vor. Ich hatte einen fetten, hässlichen Wal am Strand vor Augen, der mit dem Riesenmaul und den kleinen Augen dämlich grinst, während die Fischer ihm mit ihren Stiefeln über den Rücken stapfen, mit Messern und Haken gerade Linien schneiden und hacken, um Speckrechtecke abzuschälen wie eine Tapete, ich stellte mir das Schmatzen vor, wenn sie sich vom rot-weißen Unterfleisch lösen. Und der Fischer zerrt fester an den Stücken, die am Bindegewebe festhängen, bis sie endlich abreißen. Eine Sauerei im Sand. Und wenn der Speck abgeflenst ist, schaffen ihn die Fischer weg und lassen den dummen, geschälten Wal dort blutig weiß am Strand liegen, ein Muskelskelett mit Glubschaugen und offenem Maul, das immer noch grinst, während die Sonne über den Wellen untergeht.
Es gibt keine Rituale. Das sind einfach die Sachen, die ich zwischendurch mache. Ich verlasse die Dusche und gehe über den Flur zurück zu meinem Zimmer. Für einen Moment kann eine Wolke vor dem Mond vorbeiziehen. In meiner frisch rasierten Kartoffel rechne ich nach. Ich werde diese Saison gut vierundzwanzigmal ringen, wenn alles läuft, wie es soll, und wenn man auf sieben Minuten pro Kampf abrundet, kommt man auf, Moment, insgesamt 168 Minuten. Unter drei Stunden – 168 Minuten –, die werden in die Geschichte eingehen, für immer vom Nachwuchs der Welt studiert werden, der mit dicken Fingern an der Tabelle entlangfährt. Die 168 Minuten sind alles, was zählt. Der Rest, der nicht aufgezeichnet wird, ist Zehennägel schneiden, Gedanken über tote Wale, Abrubbeln toter Hautfetzen, geruchlose Furze von gekochter Hähnchenbrust und ölfreiem Gemüse, Bauchnabel auspulen, vom Bett springen und die Decke streifen, im Schreibtisch unter den Sorgentelefon- und Kirchenbroschüren den Barron’s hervorziehen und die Seite mit den «350 häufigsten Wörtern» aufschlagen. Impetus. Indoktrination. Ineffizient. Infamie. Infantil. Der Rest ist Lenken der Gedanken in die richtigen Bahnen und vor allem weg von den falschen.
Jetzt kommt ein Geheimnis: Denkt mal drüber nach, was den Rest mit diesen 168 Minuten verbindet. Genau. Alles andere ist Abflensen. Die Vergangenheit ist Abflensen. Verlieren ist Abflensen.
Ich mache Liegestütze. Bei zwanzig fällt mir das Handtuch runter. Eins zwei drei vier fünf sechs sieben acht neun zehn elf zwölf dreizehn vierzehn fünfzehn sechzehn siebzehn achtzehn neunzehn zwanzig einundzwanzig zweiundzwanzig dreiundzwanzig vierundzwanzig fünfundzwanzig sechsundzwanzig siebenundzwanzig achtundzwanzig neunundzwanzig dreißig einunddreißig zweiunddreißig dreiunddreißig vierunddreißig fünfunddreißig sechsunddreißig siebenunddreißig achtunddreißig neununddreißig vierzig einundvierzig zweiundvierzig dreiundvierzig vierundvierzig fünfundvierzig sechsundvierzig siebenundvierzig achtundvierzig neunundvierzig fünfzig. Wurmloch, schwarzes Loch. Unsichtbare, ferne Funkfrequenz. Unbekanntes Blubbern aus den Tiefen des Hadals. Ich versuche, zu einem unerforschten Ort vorzustoßen.
Das Training ist genauso langweilig und hart, wie es aussieht. Und es sieht ein bisschen aus wie ein geschäftiger Knastspielplatz: Zwei Dutzend Ringer hantieren herum, ihre Ziele verborgen in der Stille ihrer Köpfe, Led Zeppelin und Cream um halb acht Uhr morgens, Klatschgeräusche. Die trockene Winterhallenheizung geht einem in den Mund und in die Haare. Je länger man darüber nachgrübelt, was zum Teufel man hier macht, umso schlechter geht es einem, da bin ich mir sicher. Es geht einem viel besser, wenn man sich dem Wahnsinn einfach hingibt. Wusstet ihr, dass bei den alten Römern ein Arzt, der es mit einer hysterischen Frau zu tun hatte, seinen Assistenten beauftragte, laute Geräusche zu machen und üble Gerüche im Raum zu verbreiten, um die Gebärmutter wieder an die richtige Stelle zu schrecken? Das ließ sich der Assistent nicht zweimal sagen. Und deshalb hat das Römische Reich fünfzehnhundert Jahre gehalten. Ich habe mich schon vor langer Zeit hingegeben.
Mental bei der Sache zu bleiben, muss man genauso üben wie Wenden und Zangen, aber ich persönlich bevorzuge es zum Beispiel, mir ein Subway-Sandwich vorzustellen, Truthahnbrust, 15 cm, Italian-Brot, ohne Käse, ohne Mayo, das ich mir hinterher genehmigen werde, die gut 280 Kalorien, die ich zurückbekomme, die Chemikalien, die mein Hirn ausschüttet, wenn ich das Subway-Brot rieche. Ich denke gern an das, was vor mir liegt, die zwei Dutzend Kämpfe, über lange Tage verteilt, und daran, dass diese verschwitzten Trainingsstunden der Weg dahin sind. Und Essen brauche ich sowieso nicht, ich schlage mir den Bauch hiermit voll.
Als Partner habe ich Whitey Williams, der wegen eines Propangasflaschen-Vorfalls mit dreizehn aussieht wie ein Zombie. Sein Gesicht hat die Farbe und Textur von rohem Rinderhack. Er ist in der 64er-Klasse und trainiert gerne mit mir, weil er zwar größer ist, ich aber schneller bin. Mich stört es nicht, aber er hat eine seltene Krankheit, ihm sind so gnubbelige Lappen die ganze Wirbelsäule runter aus der Haut gewachsen. Ich habe ihm gesagt: «Dein Rücken sieht aus wie ein verfickter Stegosaurus!» Mindestens siebenmal, seit ich hier bin, habe ich gesehen, dass Whitey einen in der ersten Runde schultert, weil sein Gegner ihm dann an den Stegosaurus-Rücken fasst und sich aus der Kampfstimmung herausekelt, bevor er kapiert hat, dass er verliert, wenn er sich nicht zusammenreißt und gefälligst die Gnubbel in die Hand nimmt.
Er kommt von außen zum Beinangriff, aber ich tauche ab und zur Seite und will ihn am Rücken packen, aber da ist er schon wieder oben, also grabschen wir nur nacheinander. Er erzählt mir von einem Mädchen namens Lauren, das ihn in der Bibliothek angestarrt hat. Er ist hingegangen und hat gefragt: Was starrst du so? Und sie hat gesagt: Weil du das schönste Gesicht hast, das ich je gesehen habe. Darauf Whitey: Dann guck dir erst mal meinen Rücken an. Und als er da mitten in der Bibliothek das T-Shirt hochgezogen und seine Gnubbel gezeigt hat, ist sie ausgeflippt und hat ihn in ihr Wohnheimzimmer geschleift, ich muss dich malen, ich muss dich jetzt sofort malen. Aber als sie dort waren, waren weit und breit keine Malsachen zu sehen, sagt Whitey, und auf einmal hat sie ihn aufs Bett geschubst, ihm aber nur Schuhe und Socken ausgezogen. Er hat einfach gespannt zugeguckt, wie sie ihm die Füße blankgezogen hat.
Er kriegt eine Hand auf meinen Schädel und zieht. «Shrimping. Schon mal gehört? Wenn sich Zehen und Mund im Namen sexueller Lust vereinen.»
Ich streife seine Arme nach außen ab und kriege ihn innen zu fassen. Weil ich weiß, dass Whitey lügt, und weil es eklig ist, sage ich nur: «Na.»
«Das kam einfach aus heiklem Himmel.»
«Heiterem.»
«Was, heiterem?»
«Aus heiterem Himmel, heißt das.»
«Ach, leck mich!»
Und das Ganze bei halber Geschwindigkeit, verlangsamte Achselwürfe und Schlüpfer. Coach Hargraves bläst in die Trillerpfeife, und alle wechseln die Station. Ich liege auf dem Rücken und Coach Whiting hat die Hände auf meiner Stirn, und ich stemme mich gegen den Druck, ich krieche armymäßig durch die ganze Halle, ich springe Seil, ich gehe ans Pegboard, ich mache Rollen seitwärts, ich sprinte die Treppen rauf und runter und halte die Kotze zurück, bis ich beim Mülleimer bin, ich ringe mit Simon Fjelstad und Harry Pfaff und Paul Kryger, der mein Gewicht hat und besser sein will als ich, es aber nie schaffen wird. Alles ist zwingend und zielgerichtet, so wie ich es mag. Wenn sich eine Schraube löst, ziehe ich sie wieder fest, bis sie richtig sitzt. Einer der Trainer läuft herum und sagt: «Miles City, Miles City.» Ich hole Luft und schnäuze mich in den Ärmel. Wenn man es richtig macht, fühlt man sich gefangen in einem kleinen Raum mit Bleichmittelgeruch. Ich habe herausgefunden, dass Durst nur eine Zeitfrage ist und wieder verschwindet, wenn man lange genug wartet. Man gewährt mir eine kurze Pause, und ich starre hoch, vorbei an den Wandmatten und den Leerflächen, wo die Banner hängen sollen. Im stechenden weißen Licht wird die Haut teigig und durchscheinend, der Schweiß sieht ekliger aus, und ich bin konditioniert, auf das zu achten, was ich sehe, so ähnlich wie bei einer Operationsleuchte, die dafür sorgt, dass man aufpasst. Ich passe immer auf. Ich passe auf Linus auf, der zwanzig Klimmzüge macht und kurz wartet, bis er noch mal zwanzig macht. Pete Crest springt von der Matte, wo er sich fast mit Clark Lowe geprügelt hat, zieht das T-Shirt aus und wickelt es sich als Schweißband um den Kopf, und kurz glaube ich, dass er auch die Shorts auszieht, aber dann geht er richtig auf Clark los und will ihn fertigmachen, bis beide getrennt werden. Ich passe auf und höre den Rest der Mannschaft, der hinten im Kraftraum die Gewichte rasseln lässt.
Paul Kryger ist ein feindseliger holländischer Wahnsinniger, aber er sieht nicht, was ich mache, er strengt sich zu sehr an, mich zu besiegen. Keiner kämpft gerne gegen ihn, weil bestimmt die halbe Mannschaft schon mal seine Finger im Arsch hatte – er hat quasi den Weltrekord fürs Ölprüfen aufgestellt. Manche haben sich daran gewöhnt. Auch bei mir hat er schon mal das Öl geprüft, und er versucht es immer noch manchmal, aber er ist nicht so gut, dass es Grund zur Sorge gäbe. Bei meinem Kampf mit ihm ist zu erwarten, dass er auf mich losgeht, was er auch tut. Etwas Spucke aus seinem Mund landet in meinem, als er sich hinter mich drücken will und dabei sagt: «Fick dich, Florida, fick dich!» Die Trainer brüllen ihm zu, er soll mich rumreißen. Aber ich warte darauf, dass sich die Dinge zu meinen Gunsten wenden. Rechts kann er nicht an mir vorbei, weil ich mit der Rechten seinen Kopf runterdrücke und ihn auf meinem Schoß hin und her knote wie einen Schal. Er zischt: «Fick dich, Florida, du scheiß Pussy-Schwuchtel!», und rammt mir den Ellbogen mit voller Kraft in die Rippen, weil er meinen 60er-Platz haben will. Er sticht zwischen zwei meiner unteren Rippen. «Hey», sagt jemand, «hey.» Selbst wenn ich blaue Flecken auf den Rippen habe, wo wäre ich denn ohne sie? Dann wäre ich nicht ich. Und auch wenn Paul Kryger will, dass ich sterbe, dass ich Oregsburg verlasse und nie wiederkomme, damit er der 60er sein kann, wird es niemals so kommen, weil er es nicht so sehr will wie ich. Ich würde ihm eigentlich gerne sagen, dass er besser sein könnte, wenn er nicht so wütend wäre, aber ich lasse es. Ich sage ihm gar nichts. Ich habe kein Mitleid mit Paul Kryger oder Paul Krygers zukünftiger Frau und ihren ungeborenen Enkelkindern, die sicher Bastarde sein und niemals hören werden, dass Paul Kryger der 60er war. Denn ich werde dafür sorgen, dass das nicht eintrifft. Ich werde ihm etwas nehmen, das er niemals haben wird. Und während er mich eine Pussyschlampe nennt und mir in die Rippen prügelt, knie ich nieder und hebe ihn auf die Schultern wie ein Lämmchen, ja, in diesem Augenblick ist er ein Lämmchen. Er wird von meinen Armen auf die Matte geknallt und erfährt dort sein Versagen.
Coach Farrow sagt zu mir: «Mann, Florida, du kannst ihn nicht so hinklatschen, das sehen die doch im Kampf», aber ich weiß, dass er es nicht ernst meint. Kryger hält sich die Hand und wird von Fink in den Trainingsraum geführt, aber ich rechne es ihm an, dass er nicht heult oder so.
Suicide Sprints, Seilspringen, Seilklettern, fünfmal, nur mit den Armen. Zweieinhalb Stunden, nachdem ich angefangen habe, bin ich fertig. Ich gehe in die Dusche und ziehe mich an. Ich bürste mir die Kotze aus den Zähnen und hole meinen Rucksack.
Studenten Dozenten Tische Stifte Papier. Die sind hinter der Wand, ich bin in meinem Garten, schmeiße die Blumenkübel um und zertrümmere sie.
Die ersten beiden Jahre habe ich mehr Kurse belegt, damit ich die letzten beiden Semester nicht mehr so viele machen muss. Diesen Herbst mache ich Zeichnen II, Meteorologie I, Grundlagen des journalistischen Schreibens und «Was ist das Nichts?» Ich habe vorgearbeitet und nutze die freie Zeit fürs Training. Es ist ja nicht so, dass ich mich nicht bilden will, aber ich muss mir meine Energie eben einteilen. In einem anderen Leben, in dem ich nicht so gut mit meinem Körper umgehen könnte, käme ich vielleicht unter die Jahrgangsbesten, anstatt mit minimalem Aufwand im gerade noch guten Bereich zu bleiben. Außerhalb vom Ringen habe ich immer mitgenommen, was eben kam. Sie bieten ein Tutoring an, aber ich nehme nicht teil. Das wäre nur noch ein Kurs, dem man verpflichtet ist, und überhaupt habe ich herausgefunden, dass man gut durchkommt, wenn man sich ein paar spezielle Lieblingsthemen für Hausarbeiten und Klausuren raussucht. Zum Beispiel habe ich in meinem Seminar «Politik der Therapie» alle anderen Theoretiker ignoriert, seit ich von Wilhelm Fließ gehört habe, der im 19. Jahrhundert lehrte, dass die Nase mit den Geschlechtsteilen verbunden ist und manchmal beim Vögeln anschwillt, und manche Leute niesen dabei immer wieder (er entwickelte auch einen chirurgischen Eingriff, um diese Verbindung zu kappen), da wusste ich gleich, dass ich über ihn schreiben musste. Ich habe eine Zwei minus bekommen, und die Hausarbeit hieß «Unsere Zukunft im Spiegel der Vergangenheit». Außerdem kann ich zum Beispiel das AD-AS-Modell aus dem Effeff zeichnen und erklären. College ist leichter als Highschool.
Ich gehe pünktlich zu den jeweiligen Räumen und halte den Kopf über Wasser. Wahrscheinlich hätte ich mehr aus meinen Kursen machen können. Ich verstehe gerne Sachen. Ich suche mir Fragen und versuche, sie zu knacken, und nichts anderes ist Ringen. Wenn Bildung praktisch ist, bin ich absolut dafür: Als ich in der zehnten Klasse zum ersten Mal in einer Bibliothek war, führte das zu der Prügelei mit Maxime, einem großen Franzosen, der immer Skateboard fuhr. Wir konnten nicht so recht miteinander, vor der Schule kam er mir immer mit dem Skateboard in die Quere, und als ich ihm einmal sagte, dass er lieber woanders fahren solle, sagte er etwas auf Französisch, was zu schnell für mich war, aber salaud bekam ich noch zu fassen. Das schrieb ich mir auf. An dem Nachmittag ging ich in die Bibliothek und holte mir ein Französisch-Englisch-Wörterbuch aus dem Regal. Ich ging zu dem Raum, in dem Maxime gerade Unterricht hatte, und als er rauskam, war’s das für ihn. Bei der ganzen Sache kamen am Ende drei Tage Suspendierung und zwei Wochen Nachsitzen heraus, die ich mit nutzlosen Tagträumen verbrachte: ich an Deck eines Boots, und der Wind bläst mir die Mütze vom Kopf! Danach konnte ich den praktischen Nutzen von Büchern nicht mehr so leicht anzweifeln.
Ich komme aus dem Meteorologie-Seminar, bei dem ich in der Vorklausur eine Drei minus bekommen habe, weil ich die Größen und Temperaturen der Atmosphärenschichten durcheinandergebracht und die chemischen Zusammensetzungen vergessen habe – Argon und Neon verwechselt und so weiter. Aber auf lange Sicht glaube ich, dass es ein guter Kurs für mich ist, weil es viel ums Zuordnen geht, dauernd Es-ist-nicht-das-sondern-das. Das ist wie ein mentaler Ausflug an den Angelsee. Leon Battista Alberti hat 1450 das Anemometer erfunden, das Windgeschwindigkeit und Winddruck misst. Das ist ein entspannender Gedanke.
Diese Fakten sammeln sich an einem lichten Ort irgendwo weiter hinten in meinem Gehirn. Essen ist Nebensache, Uni ist Nebensache, menschliche Beziehungen sind Nebensache, Trinken ist Nebensache, Schlafen ist Nebensache.
Ich kürze über das braune Gras ab, als ich zum Zeichenkurs im McKnight Studio gehe, das beim Parkplatz und der Straße am Rande des Campus liegt. Ich komme an totem Gestrüpp vorbei, in dessen Ästen Nylontape hängt. Unter den kahlen Pflanzen findet ein junger Mann einen Schneerest, klaubt einen Ball zusammen, aus dem Mulchstöckchen ragen, und wirft ihn unnötig hart auf eine junge Frau, die vor Schreck schreit, als sie an der Schulter getroffen wird. Als der lachende junge Mann zu ihr kommt, um sich zu entschuldigen, zieht sie sich ein Stück Mulch aus den Haaren und sticht damit nach seinem Ohr. Die beiden rennen an Kyle Glanville vorbei, einem netten Kerl mit Totenkopfgesicht. Er war vor drei Jahren in meiner Einführungsgruppe, und wie sich herausstellte, ist er einer von vielleicht sechzehn Schwarzen von den insgesamt tausendeinhundert Studenten hier.
«Hey, Stephen, was geht?»
«Hey, Kyle. Wo geht’s hin?»
«Scheiße, Mann, ich hab Mathe aufgeschoben, bis es nicht mehr ging. Geometrie. Zum Kotzen.»
«Hab ich vor zwei Jahren gemacht. Hast du auch die, wie hieß sie noch, Corrigan?»
An seinem Gesicht sehe ich, dass wir genau das gleiche Gespräch schon mal geführt haben. «Ja, außer mir sind da nur Leute aus dem ersten und zweiten Jahr im Kurs. Die meinen, ich bin zurückgeblieben, das geht mir auf den Sack!»
«Sekanten. Diskanten. Hab das alles schon wieder vergessen. Ich weiß nur noch, dass bei der letzten Aufgabe eine Parabel war und Corrigan mir ein Viertel der Punkte gegeben hat, weil ich den Scheitelpunkt und dieses Dings an die richtige Stelle auf dem Graphen gezeichnet habe.»
«Scheiße. In der Abschlussklausur sind Parabeln?»
«Ja.» Weil ich nicht weiß, was ich sonst tun soll, schaue ich zum Glockenturm hoch.
«Was ist das denn?»
«Mein Spuckbecher. Hab bald einen Kampf.»
«Ah, cool.»
«Jedes Gramm zählt.»
«Ja.»
«Also dann.» Als ich mich langsam wegdrehen will, rührt er sich nicht. Er hält seine Rucksackriemen in den Händen, und ich weiß nicht, ob er einsam ist oder ob alle ihm gegenüber rassistisch sind oder sich bloß nicht für ihn interessieren. Ob er meint, dass wir Freunde sein müssten, weil wir damals in derselben Einführungsgruppe waren.
Er sagt: «Hey, wollen wir irgendwann mal abhängen?» Kyle Glanville ist wohl einer, der ein wichtigerer Teil meines Lebens hätte sein können, wie auch Ausschlafen oder Zelten wichtigere Teile hätten sein können.
«Kann nicht», sage ich, und er versteht, glaube ich, und als er sagt: «Wir sehen uns», weiß ich, dass er es nicht ernst meint. Sein Ton schließt die Tür.
Ich habe noch fünf Minuten bis zum Kurs, und während die Autos mit achtzig vorbeirasen, wo dreißig erlaubt ist, warte ich auf dem Parkplatz vor dem McKnight Studio, das eigentlich bloß ein Riesenschuppen ist. Zeichnen II! Das Oregsburg College hat mich in seinem geisteswissenschaftlichen Bachelor-of-Arts-Programm versteckt. Intellektuelles Füllwerk für Fortgeschrittene. Es hieß, ich kann meinen Studienplan selbst «entwerfen»! Und das habe ich auch: Ich habe Kurse belegt, die Krisenkommunikation, Menschenrechte in China, Kriegsverbrechen, Physik der Nahrungskette und Führungstheorien heißen. Bevor ich aufgehört habe, mir allzu viel Mühe zu geben, war Geschichte mein Lieblingsfach, vor allem schlechte Geschichte, denn das Wissen über die schlimmsten Sachen, die passiert sind, war irgendwie die einzige Möglichkeit, das Grauen etwas zu mildern. Von Chemie des Lebens weiß ich überhaupt nichts mehr, nicht mal den Namen der Professorin, nur dass sie eben eine Frau war. Da habe ich eine Drei gekriegt. Für all diese Kurse gibt es Lehrbücher. Das konnte ich nicht fassen! Und die soll ich mir alle kaufen und womöglich sogar lesen? Uni ist ein Hobby. Sie lassen einem Jahr für Jahr mehr Spielraum. Das Hin-und-her-Gerenne zwischen den Gebäuden, das kurzfristige Auswendiglernen von Fakten und Meinungen, damit man sie schnell wieder hochwürgen und dann für immer vergessen kann, das alles ist eben ein Zeitvertreib bis zum nächsten Kampf.
In der ersten Woche oder so habe ich Linus kennengelernt, und er sagte: «Findest du es nicht auch ein bisschen … seltsam hier?»
Ich weiß noch, dass ich mir die Beine meines Schreibtischstuhls angeguckt habe, auf dem Linus kippelte. Sie knarzten. «Ich weiß nicht», sagte ich, und das stimmte. Ich wusste es nicht, weil sich mir die Frage gar nicht gestellt hatte, ob die Uni seltsam war oder normal oder irgendwo dazwischen. Ich nutzte Oregsburg zu einem anderen Zweck als jeder andere Student, Linus eingeschlossen. Ich erinnere mich noch an den Gedanken, dass es für mich keinen Unterschied machen würde, ob die Uni hunderttausend Studenten hätte oder nur einen einzigen. Und dann sagte ich: «Du bist eben noch nie hier in der Gegend gewesen. Wahrscheinlich bist du einfach nur an Zu Hause gewöhnt und musst dich erst noch einleben», was vielleicht sogar ein bisschen stimmte, auf jeden Fall reichte es, denn er nickte.
Aber doch setzt sich aus diesen albernen Kursen, die ich belegt habe, meine höhere Bildung zusammen. Sie sind für immer ein Teil von mir, Sachen passieren und vergehen wieder, und sie sind auch nicht weniger dauerhaft als das, was in einem Kampf passiert. Mit all dem muss ich leben. Und in der letzten Zeit habe ich das Damit-Leben nach einundzwanzig Jahren langsam ein bisschen satt. Achtzehn Jahre Damit-Leben und nach dem Abschluss noch mal drei Jahre Damit-Leben, in denen man eigentlich überhaupt nichts anderes tut. Ich stecke bis zum Hals fest, ich hänge drin in der Geschichte, und sie lässt mich nicht in Ruhe. Da überlegt man sich schon mal, was hätte anders sein können, da wälzt man Gedankenfetzen hin und her, da fragt man sich, ob man ist, was man hätte sein sollen, ob man die richtige Wahl getroffen hat. Ich brauche nur eine Sache im Leben, mit der ich leben will. Das reicht.
Und was soll ich überhaupt mit mir anfangen, mit meinem geisteswissenschaftlichen Abschluss? Darauf kann ich nur antworten: Habt ihr überhaupt zugehört?
Auf dem Parkplatz steht ein Mädchen neben mir.
«Hallo», sagt sie. Ich kenne sie.
«Hi. Ich kenne dich doch.»
«Mary Beth», sagt sie. «Ich war mit dir in Zeichnen I. Letzten Herbst.»
«Du kannst besser zeichnen als ich.»
«Du bist doch Ringer, oder?» Ihr Atem ist so nah, dass er mir fast ins Gesicht steigt, wenn sie spricht.
«Das weißt du noch?»
«Na ja, so halb. Du hast diese Blumenkohlohren», sagt sie. «Was ist am Ringen denn so toll?»