Sterben kann ich, wenn ich tot bin - Carsten Klook - E-Book

Sterben kann ich, wenn ich tot bin E-Book

Carsten Klook

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Beschreibung

On and on and online barking, Unverständnis, Ignoranz: dumb and dull dominates. Themenficks und Kompromissbrauch, Menschen und Pani.k-Panade. MS-MS und Indie-Poop-Days, Olgarhythmen emotionslos glücklos. DurchhalteVermögen der neue Reichtum! Terra XY ist ungelöst. Der zweite Teil der Autobiografie von Carsten Klook behandelt den Wechsel von den Musik- in die Literaturszenen. Ein gruseliger Wettlauf gegen das Kapital in der Literaturwelt, die niemanden aufnimmt, der nicht gewillt ist, sich dem Kanon zu unterwerfen. No sleep til Tombola!

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Zitate, die mir mehr oder minder verpfuscht in Trance erschienen sind:

„Vergangenheit, Gegenwart und Zukunft sind nur Illusionen, wenn auch hartnäckige.“ Albert Einstein

„Das Vergangene ist nicht tot. Es ist nicht einmal vergangen.“ William Faulkner

„I gotta TV eye on me.“

Frei nach Iggy Pop

„Nichts hat einen stärkeren psychischen Einfluss auf die Kinder, als das ungelebte Leben der Eltern.“ C. G. Jung

„Ich erzähle mein Leben als eine Kette von Pleiten, weil ich glaube, das idealisiert eher als die Einsamkeit der Triumphe, an die ich mich kaum erinnern kann.“

Roger Willem Senior

„Liebe deine Symptome wie dich selbst!“ Slavoj Žižek

„Ein Überlebender, der nicht weiß, wie das geht.“ Jochen Distelmeyer

„Ich bin nicht das, was mir passiert. Ich bin das, was ich entscheide zu werden.“ Carl Gustav Jung

„Es kommt nicht darauf an, was man aus uns gemacht hat, sondern darauf, was wir aus dem machen, was man aus uns gemacht hat.“ Jean-Paul Sartre

„Whenever you find yourself on the side of the majority, it is time to reform, pause and reflect.“ Mark Twain

„Von Kopf bis zu den Zehen bin ich ein Riss, ich will durch Wände gehen.“ Kristof Schreuf

„Keine Zeit für Lyrik, aber genau Bescheid wissen.“ Jack Kerouac

„Das Hirn mag Rat annehmen, aber nicht das Herz.“ Inschrift auf Truman „Captagon“ Capotes Grab

„I don’t have to sell my soul, he’s already in me.“ The Stone Roses über den Teufel im Kapitalismus

„Verführung ist die wahre Gewalt.“ Gotthold Ephraim Lessing in „Emilia Galotti“

„Kunst kommt nicht von Können, sondern von Müssen.“ Arnold Schönberg (danke an Chris Zander vom Westwerk)

„Happiness I can not feel. And love to mean is so unreal.“ Ozzy Osbourne in „Paranoid“

„Ich bin übrigens nicht der einzige Hypochonder, der all seine Krankheiten auch tatsächlich hat.“ Rocko Schamoni aus seiner Kolumne „Dummheit als Weg“

„Ich habe mich von meinen Widerständen retten lassen.“ Cars10 Q.Look

„Mein Herz ist eine traurige Zeit, die tonlos tickt.“ Else Lasker-Schüler

EINE ANTIHELDEN-REISE

Mein Dank gilt Nico Witt, Gustav Mechlenburg, Conny Lösch und The Velvet Underground

In Memoriam Kristof Schreuf (1.5.1963 – 9.11.2022)

Nicht alle Ereignisse folgen einer chronologisch exakten Reihenfolge.

Inhaltsverzeichnis

INTOXICATED

Was ich „den Linken“ voraus hatte,

Mail an einen ehemaligen Mitschüler

Aus den Grünen

Ich glaube auch an das Gute. Aber nicht im Menschen.

Ich wundere mich, worüber sich alle wundern

Fremdschäumen

Eine Intervention noch ...

Verheerendes Chaos

Question marks

Ich verabredete mich Wochen nach dem abermaligen Nichtzustandekommen eines Verlagsvertrags für meinen Debütroman mit der Künstlerin und Fotografin Hilde Ingen, sie war nach der Wende von Leipzig nach Hamburg gezogen. Wir gingen ins Yoko Mono im Karoviertel. Ich hatte sie über Gabi Schaffner kennengelernt, die mit ihr befreundet war und wie diese ebenfalls im Vorwerkstift wohnte.

Hilde erzählte mir von ihrem Leben in der DDR, ihren Freunden, ihrem Bruder, der inzwischen als Autotester für eine bekannte deutsche Motorzeitschrift arbeitete, sowie ihrer Lohnarbeit als Nachtwache in einem Heim für Missbrauchsopfer jeden Geschlechts.

Wir becherten einiges und der Abend wurde feucht-fröhlich. Dabei entglitten uns die Regeln für kontrolliertes Trinken, und wir kämpften mit unserem Gespräch gegen die lauter werdende Musik des DJs an.

„Du wärst auch ein Guter bei uns gewesen!“, empfand Hilde dann zu fortgeschrittener Stunde, ganz im Sinne des sozialistischen Systems und dessen Oppositionellen.

Ja, das wäre vielleicht mein Schicksal geworden, wenn meine Eltern 1953 in Sellin auf Rügen geblieben wären, ich konnte mir das gut vorstellen und hatte eine hohe Affinität zu DDR-Geschichten und deren Erzähler*innen. Ich nickte, wir zahlten und beschlossen zu gehen.

Wenn ich in der DDR aufgewachsen wäre … was wäre aus mir geworden? Prenzlberg-Bewohner, Provinzler, oder beides – abwechselnd?

Vor der Tür blieb Hilde plötzlich stehen, drehte sich zu mir um und sagte:

„Du kannst jetzt alles mit mir machen!“

Das beabsichtigte ich aber nicht, ich hatte mich nur unterhalten und einen Menschen kennenlernen wollen.

Sie wankte unter starkem Alkoholeinfluss torkelnd dahin, und ich zog sie zweihundert Meter weiter in den Vorwerkstift, wo wir durch die Gänge taumelten und sie mich dabei in ihre Bleibe führte.

In ihrem kleinen Abteil standen mehrere Apple-Computer, sie arbeitete nebenbei auch als Designerin und Layouterin, lebte anscheinend weit unter ihren Möglichkeiten und hatte einen unter ehemaligen DDR-Insassen weit verbreiteten Minderwertigkeitskomplex.

Dabei hatte sie, wie sie mir zuvor erzählte, eine heimliche Affäre mit Jürgen Trittin von den Grünen. Sie sollte immer fünfzehn Minuten später zu ihren Treffs erscheinen als vereinbart, damit es zufällig wirkte, weil Trittin Angst vor Paparazzi hatte. Er wollte nicht das gleiche Schicksal erleiden wie Rudolf Scharping, der sich aber andere Fehltritte geleistet hatte.

Ich verabschiedete sie mit einer Umarmung und begab mich auf den Heimweg durch das nächtliche Schanzenviertel, in dem ich mich immer noch zu Hause fühlte. Mehr als in mir selbst.

Ich arbeitete für den Heinrich-Bauer-Verlag nun nicht mehr in Redakteursposition, verdiente nur noch einen Bruchteil, und das auch nur noch für ein knappes Jahr. Täglich in die PTG zu fahren, konnte und wollte ich nicht. Es war für mich eindeutig, dass danach das Arbeitsamt kam, ich mich mit dessen Hindernissen durchschlagen musste und viel Zeit für meine Literatur haben würde. Wenn ich mich dazu noch durchringen konnte, wieder literarisch zu schreiben.

Ich führte nun öfter nächtliche Telefonate mit Hilde Ingen, wenn sie als Wache im Heim arbeitete. Das war eine vertraute und intime Atmosphäre, in der wir uns da näherkamen. Diese dahingehauchten Gespräche erinnerten mich auch an meine erste Zeit mit Liliana. Ich mochte es, wenn Frauen mir von ihren Erlebnissen und Gefühlen erzählten. Dass Hilde Missbrauchsopfer betreute, passte wieder zu meiner Geschichte und auf das, worauf ich anscheinend abonniert war.

Sissi Spitzenhart hatte das Metier gewechselt und arbeitete nun für die Babyklappe im SterniPark in der Schanze, in der Mütter ihre Säuglinge abgeben durften, wenn sie diese nicht versorgen konnten oder wollten.

Da diese Einrichtung die erste ihrer Art in Deutschland war, wurde Sissi diesbezüglich von einem Journalisten interviewt, der aus dem Elsass kam und nach ihrer Meinung wie der junge Gérard Depardieu aussah. Sonst berichtete der Schönling eher über die Kämpfe der Euskadi ta Askatasuna, kurz ETA, im Baskenland und arbeitete hierfür an vorderster Front.

Natürlich verliebte sich Sissi in ihn, er aber telefonierte nur mit ihr so wie ich. Sie war der festen Überzeugung, dass er in sie verliebt sein müsse, „so, wie der geguckt hat“, und wollte den Reporter im Elsass besuchen. Über jeden Atemzug und Wortlaut des Mannes gab sie mir nun telefonisch Bescheid. Es wurde immer schlimmer mit ihrer Fixierung auf dessen angebliche Abwehr, die sie zu brechen gedachte.

Im Elsass kam es zwischen den beiden zu keiner Berührung, nun wollte sie ihn in den Norden ködern.

Ich habe keine Ahnung mehr, wie wir uns kennengelernt hatten, auf einmal jedenfalls stand ich bei Nele in der Küche ihrer kleinen Dachwohnung im Duschweg, während sie in einem viel zu winzigen Topf eine riesige Kartoffel kochte. Vielleicht war es auch eine Rübe, ich habe sie nicht gegessen. Nele auch nicht. Das Wasser verkochte und das Knollengemüse war verkohlt.

Nele war so nervös, dass sie einen Mann zu Besuch hatte und mit dem redete, dass sie die Beherrschung verlor, bevor überhaupt irgendetwas passiert war. Ich konnte mich nur wundern. Schon ihre bloßen Absichten brachten sie anscheinend sehr durcheinander.

Vielleicht sei es besser, wenn wir uns ein andermal wiedersähen, damit sie sich beruhigte, dachte ich, teilte ihr das mit und ging.

Sie war eigentlich so gar nicht mein Typ, noch viel dünner als ich je gewesen war, und ihr Gesicht zog Falten und hatte eine omahafte Ausstrahlung. Sie arbeitete schon seit vielen Jahren nachts zwanzig Stunden in der Woche bei der Deutschen Post in der Nähe des Kaltenkircher Platzes, sortierte Briefe an die jeweiligen Zustellorte und hatte von der dauernden Spätschicht Augenringe auf ihrer sommergesprossten, fahlen und porösen Gesichtshaut. Nele – wer entsprach schon meinem Schönheitsideal? Ich selbst jedenfalls auch nicht.

Aber es war eigenartig, trotzdem fühlte ich mich magisch zu ihr hingezogen, dass es mir schon fast peinlich war. Weder sie noch ich konnten etwas dafür, wir waren beide, wie wir waren, man musste uns nehmen, wie wir sind. Sie hieß mit Nachnamen ausgerechnet Masch. Und ich wie immer Klix. Also wir zusammen Masch-Klix, fast wie Nasch- und Haschkeks …

Bei meinem nächsten Besuch in ihrer Dachkammer wurde nichts gekocht, wir kamen schnell zur Sache, ich entkleidete sie und ertappte mich dabei, dass ich sie wirklich sehr schön fand. Wer hätte das gedacht?!

Sie hatte einen so schlanken Körper, wie ich ihn noch nie gesehen hatte, und darin etwas Graziles, nur ihr Gesicht passte überhaupt nicht dazu.

Wir vögelten und wir kamen zusammen, das war auch nicht immer so.

Es gab keinen Grund zu meckern, alles war gut. Ich überlegte nur, wie ich wieder wegkommen könnte.

Sie hatte lange keinen Lover gehabt, wohl, weil sie enttäuscht worden war oder man ihr wehgetan hatte, nahm ich an. Nele machte bei mir eine Ausnahme und erwartete von mir nun etwas mehr, als sofort wieder alleingelassen zu werden.

„Warum ficken wir nicht einfach mal ein ganzes Wochenende?“, fragte sie mich nach unserem ersten Mal schnell frivol.

Tja, warum? Und warum nicht?

Es schien mir zu gewagt, nachher bildete sich noch ein Vertrauensverhältnis, wiegelte ich ab, ohne es zu sagen. Ich wollte nicht. Sie hatte sich auf mich eingelassen und dafür anscheinend eine Menge riskiert, und sei es nur ihre Überwindung.

„Du könntest mein Vogel im goldenen Käfig sein“, fügte sie hinzu.

Das wäre ja noch schöner! Ich wollte nicht hinter Gitter gesperrt werden, was sie mir zu meinem Entsetzen sogar explizit anbot.

Ich zog mich an, ergriff meine Sachen und ging nach Hause.

In den kommenden Wochen distanzierte ich mich wieder von Nele. Ich hätte mit ihrem Gesicht als täglichen Anblick nicht leben können, das hätte ich auch vorher begreifen müssen. Hatte ich aber nicht. So war es schmerzhaft für sie geworden, und es tat mir leid. Aber sie hatte auch ihren Spaß gehabt. So war es eben manchmal.

Es traf sie hart, sie schrie mich auf der Straße an, wenn wir uns zufällig begegneten. Das hielt eine Weile an. Vielleicht zwei, drei Jahre? Ich ging ihr aus dem Weg.

Jetzt ahne ich, woher ich sie kannte: Sie war eine Freundin von Fichtel, dem damaligen Bassisten der Punk-Band HH-Milch. Sie wird ihm alles erzählt haben, welch’ Arschloch ich bin und so weiter. Damit musste ich leben. Ich habe Hanno nicht wiedergesehen, aber später auf Facebook entdeckt. Wo ich sie das erste Mal außer in ihrer Küche traf, weiß ich trotzdem nicht.

Da mir das Erlebnis mit Nele mehr zugesetzt hatte, als mir lieb war, und ich niemanden absichtlich verletzen wollte, entschied ich mich, wieder Telefonsex zu betreiben. Nach diversen Anläufen landete ich bei einer Frau, die mit mir auditiven Domina-Sex zelebrierte. Sie fragte nach meiner Adresse und schickte mir ungefragt Fotos von sich. Ich schätzte, sie waren gefaked und zeigten irgendeine Andere.

Ich rief sie nun öfter an und war bald auf sie fixiert. Wir kamen miteinander auch öfter zu normalen Gesprächen. Ihr richtiger Name sei Marina, verriet sie mir, Marina Katastraff, und sie käme aus Potsdam. Sie vertrau-er-te mir auch manche Details aus ihrem Leben an und wurde immer zutraulicher. Wir vereinbarten sodann feste Termine, an denen wir Telefonsex machen konnten, zahlen musste ich nichts mehr.

Sie hatte etwas für mich übrig und lauschte meiner Stimme so gern, unser Verhältnis hätte sich verändert, sagte sie mir. Es dauerte nicht lange, bis sie mich sehen und besuchen wollte. Das war eine seltsame Wendung, mit der ich nicht gerechnet und die ich nicht beabsichtigt hatte. Ich hoffte, mir stünde nicht weiteres Unheil ins Haus und verhielt mich sehr abwartend. Das aber machte sie nur noch heißer auf ein Treffen. Wieso passierte mir immer so etwas Schräges? Ich war einfach zu nachgiebig.

Ich konnte sie nicht abwimmeln und ließ mich darauf ein, sie kannte meine Adresse ja bereits.

Vor dem Wochenende, an dem sie erschien, erzählte ich meiner Nachbarin Janja von der Angelegenheit, und diese meinte, ich solle aufpassen.

Ja, aber wie und worauf? Ich sah das Chaos schon kommen.

Marina sah natürlich ganz anders aus als auf den Fotos, wir gingen aber trotzdem ins Bett und fickten miteinander. Das aber war nicht so heiß wie am Telefon. Ich fragte sie, ob sie so etwas öfter mache, „Kundenbesuche und so …“

Sie verneinte. Ob das stimmte, wollte ich gar nicht wissen. „Du hast ja malachitfarbene Augen!“, sagte sie zu meiner Überraschung, da diese bisher immer blau waren.

Es war ein merkwürdiges Wochenende, das aber trotzdem nice war. Sie ließ mir ihre echten Fotos da und freute sich auf ein Wiedersehen. Dabei gestand Marina mir, dass sie ein riesiger Fan von Mr. Oizo with Flat Eric sei und das Video zum Track Flat Beat super fand. Es handelte sich dabei lediglich um eine liebenswerte Kermit-artige Handpuppe hinter einem Big-Boss-Schreibtisch, die dem Beat ekstatisch nachgab, zur Weltherrschaft ansetzte und ihren Emotionen mehr folgte als dem Big Money. Eigentlich sympathisch, aber ein wenig zu comicmäßig and somehow unbelievable.

Ich bevorzugte zu dem Zeitpunkt die Beastie Boys und deren Track Sabotage … oder noch besser: Intergalactic! Ready to get over it?! Und: Body movin? No way out: „Check it out, the funk soul brothers“. Fatboy Slim wies die Richtung getting out of my sex-dilemmata. I believed Pop-Tunes more than anything else … and got in contact with my own interpretations of „Hate to say I told you so“ by The Hives.

Ich wusste nicht so recht, was das werden sollte, bis Marina mir zurück in Potsdam am Telefon verriet, dass sie zwei Söhne hätte und geschieden sei. So etwas Ähnliches hatte ich mir schon gedacht. Und nun?

Wir hielten telefonischen Kontakt, und es kam zu einem zweiten Besuch in meinem Bett, der sexuell auch ganz unterhaltsam war.

Ich wollte keine Beziehung mit ihr, und ob es bei einem rein geschlechtlichen Verhältnis bleiben würde, das war unklar. Marina wollte immer mehrmals hintereinander zum Höhepunkt gebracht werden, das war etwas anstrengend und tat manchmal sogar weh. So toll war sie nun auch nicht, dass ich für sie zum Hochleistungssportler mutieren musste. Leidenschaft war da jedenfalls nicht im Spiel.

„Dann haben wir da ein Problem!“, monierte sie.

Vielleicht war es ohnehin besser, ich würde die Liaison beenden?

Da ich nicht nur noch warten wollte und mir der Antrieb für einen weiteren Roman immer noch fehlte, beschloss ich, in der Nähe der Schanze einen kleinen, unabhängigen Literatur- und Veranstaltungsclub aufzumachen. Etwas Geld konnte ich noch investieren.

Ich fragte den umtriebigen und kommunikativen FX Schroeder, ob wir das zusammen machen wollten, er fand die Idee super, wir erarbeiteten bei zwei Kneipenbesuchen ein Konzept und suchten einen Raum.

Den fanden wir schnell in der Waterloostraße, wo in einem kleinen Pavillon in einem ehemaligen Blumengeschäft ein Schmucklädchen residierte, deren Besitzerin dichter an die Innenstadt in den Pilatuspool ziehen wollte. Der Raum war geschmückt mit einer Tapete voller Pferde und einer kleinen Tribüne, auf der man sitzen konnte und auf der früher die Blumentöpfe gestanden hatten.

Zur Anmietung mussten FX und ich dann bei einem ehemaligen Staatsanwalt und dessen Frau vorsprechen, die gemeinsam die Vermieter waren und direkt auf dem Grundstück nebenan in einem Mehrfamilienhaus lebten.

Der Abend geriet zum Extrem-Besäufnis mit Getränken unbekannter Herkunft. Der Staatsanwalt war von unserem Projekt begeistert, und wir verstiegen uns in marxistischen Kulturtheorien, Literaturdiskursen und soziokulturellen Abhandlungen, bei denen ich zu einer mir selbst unbekannten Hochform auflief und mich wunderte, warum mich früher noch niemand nach diesen Themen gefragt hatte. Ich kam aus dem Reden und Dozieren nicht mehr heraus. Selbst FX war erstaunt über meinen Redefluss-Höhenflug. Ich kann mich aber an nichts mehr davon erinnern, nur daran, dass ich viel zu viel getrunken hatte und es mir am nächsten Tag sehr, sehr schlecht ging. Aber da hatten wir unseren Vertrag auch schon in der Tasche. Das Häuschen kostete keine dreihundert Mark Miete im Monat.

Wir wollten den Club MATRIX nennen nach dem legendären Musikschuppen aus den Sechziger und Siebziger Jahren in San Francisco, in dem The Jefferson Airplane die Hausband war. Hochtrabender ging’s nicht.

Ich bat Janja, das Ladenschild in ihrem ganz eigenen, schlicht geometrischen Stil mit großen Buchstaben in verschiedenfarbigen, kleinen Kästchen zu malen. Das machte sie wundervoll, ich gab ihr ebenfalls dreihundert Mark und wir brachten das zweiteilige, fast vier Meter breite Gemälde über dem Fenster an der Front des Ladens an.

Ich informierte in einer kurzen Erklärung die Presse und war gespannt, was passieren würde.

Leider erzählte ich Marina vom Matrix-Projekt, sie war hochinteressiert und wollte zur Eröffnung mit ihren beiden Söhnen anreisen und FX kennenlernen.

Als Felix und ich im Laden beratschlagten, wen wir als Musiker*innen, Literat*innen und Filmer*innen zu Auftritten noch einladen könnten, stand vor dem großen Fenster des MATRIX eine Frau, die sich der Scheibe entgegenbeugte und alles genau ins Visier nahm. Sie ließ ihre Augen eine Runde drehen. Als sie mich entdeckte, schreckte sie zurück und lief hektisch davon. Ich musste leider lachen, es war Nele gewesen, die da neugierig gelinst hatte. Sie musste mich wirklich hassen.

Christoph Twickel von der SZENE HH und die taz hamburg brachten Artikel – und uns ins Gespräch. Britta Peters interviewte FX und mich zu unserem Vorhaben, und die taz druckte die ersten Veranstaltungstermine ab.

Annette Wehrmann wollte eine ihrer Luftschlangen-Leseperformances abhalten, Bands waren eingeladen und Filme sollten gezeigt werden. Wir kannten viele Künstler persönlich und konnten aus einem großen Pool schöpfen.

In die Räumlichkeiten passten allerhöchstens fünfundzwanzig Leute, der Eintritt war frei, ausgeschenkt wurden Getränke wie Bionade und Bier zu unschlagbar günstigen Preisen, die wir im Getränkeshop kauften. Eine Schankerlaubnis hatten wir nicht. Ein wahnwitziges Unterfangen.

Es folgte die Stadtillustrierte Prinz, die uns mit einem Artikelchen bewarb, the hype was on.

Leider hatte FX die Angewohnheit, in der ganzen Stadt seinen Sperrmüll zu verteilen und Duftmarken zu setzen. Er war halt Messie, sammelte schlichtweg alles und war den ganzen Tag damit beschäftigt, das Zeug auf unzählige Dachböden und Keller zu verteilen. Auch zum Einzug ins MATRIX kam er mit drei alten Waschmaschinen, einem ausladenden Zeitschriftenständer und einer Menge Kram, die in der kleinen Hütte untergebracht werden sollten und die damit eigentlich schon voll war.

FX hatte zu dem Zeitpunkt wieder keine Wohnung und hatte mir von seiner Not auch nichts gesagt. Er schlief also neuerdings auf der Werkzeugbank, die Teil unseres Mobiliars war, und erklärte den Laden einfach zu seiner neuen Bleibe. Kurzum: Er war bereits mit dem ersten Tag dabei, alles, was ich mir so schön für unseren kleinen Club überlegt hatte, zu verderben. FX – Ich hätte es wissen müssen. Aber immerhin wusste er nun, wo er schlafen konnte. Und wo leben.

Zum Eröffnungsabend erschienen über 160 Besucher, die sich auf der Straße tummelten, im Garten, in dem sich auch eine begehrte Hollywoodschaukel befand, und in den mickrigen drei Räumlein unserer neuen Dependance.

Mit zunehmender Dauer des Abends wurde es so voll, dass man im Inneren nicht mehr stehen konnte. Ein arabisch aussehender Cashmeremantel-Träger, der aus der Sabrina-Bar gegenüber unserem Club mit drei großgewachsenen Prostituierten im Schlepptau zu uns gekommen war, musterte hochinteressiert, was wir da trieben. Besonders warf er einen Blick auf unser weibliches Publikum, das aber unter dem Schutz des MATRIX-Sicherheitspersonals stand. Das waren die Polen aus dem Umfeld von FX. Mit denen war nicht zu spaßen, vor allem nicht, wenn sie betrunken waren.

Ich war in einem braunen Anzug erschienen und wirkte auf die Freunde von FX, die äußerst zahlreich gekommen waren, wohl wie der komplett falsche Partner für dieses Unterfangen.

Tina Ahr war auch gekommen und schon dabei, sich zu betrinken.

Ich war schwer beschäftigt, Musik aufzulegen – ich hatte mir extra einen DJ-Mixer gekauft und meine Anlage aufgebaut –, und versuchte, das Bad in der Menge zu genießen, die mich fast erdrückte.

Da fiel mir plötzlich eine Frau auf, die in ihrem weißen Kleid aussah wie auf ihrer eigenen Hochzeit und sich zu mir durchschlängelte. Ich guckte schnell weg, als sähe ich sie nicht. FX hatte sie eingeladen und ihr angeboten, auf der Eröffnung des MATRIX ihren Geburtstag zu feiern. Sie stand an der Bar, die aus einem Brett bestand, und half, Getränke auszuschenken.

Sie kam an meine Seite und sagte mir, dass sie die Idee unseres Clubs ganz toll fände und sich auf die ersten Abende freue, sie heiße übrigens Vera.

Große Neune! Im ersten Moment, als ich sie erblickte, hatten meine Alarmglocken geläutet. Sie sah wunderschön aus und war überflüssigerweise genau mein Typ. Ich war verloren – schneller, als ich denken konnte.

Ich versuchte, ihr aus dem Weg zu gehen, und wollte mich auf keinen Fall mit ihr einlassen. Das musste unbedingt verhindert werden, beschloss ich instinktiv. Schöne Frauen waren meine gefährliche Leidenschaft, und ich verbrannte mir regelmäßig an ihnen die Finger. Ich wusste das inzwischen und wollte mich fernhalten. Diese Frau roch nach Ärger. Das machte sie dummerweise für mich nur umso begehrenswerter. Ihr Freund Lux kam zu ihr, und die Sache war glücklicherweise geklärt. Sie spielten zusammen als Elektronik-Duo unter dem Namen Klopfgeister an und mit diversen Rhythmusmaschinen.

Marina war mit ihren beiden Söhnen und einer Flasche Champagner gekommen, die ich mir mit FX teilen sollte. Sie hatte nun eine Minipli-Frisur und trug einen merkwürdig reizlosen Mantel, war auffällig unauffällig gekleidet. Sie stellte sich in dem proppenvollen Laden direkt neben mich und betrachtete das wundersame Geschehen mit großen Augen.

Vera sah uns und dachte, dass es meine Kinder wären und ich ein respektabler Familienvater sei, dem man vollstes Vertrauen entgegenbringen könnte. Jedenfalls erzählte sie mir das später einmal.

Ich wollte für Gespräche offen sein und nicht den ganzen Abend neben Marina stehen. Ich hielt es für besser, dass sie mit den Kindern zu mir ginge und dort auf mich wartete. Ich würde dann irgendwann am späten Abend nachkommen. Sie sah das ein und verschwand kommentarlos.

Tina Ahr betrank sich nach Leibeskräften, wurde gar zu lustig und fiel in den Tresen, der daraufhin zusammenstürzte, aber ganz blieb.

Die Nacht wurde lang, alkohol- und drogengetränkt.

Ich kam erst am frühen Morgen nach Hause, Marina war sauer. Das Wochenende verlief dementsprechend anstrengend, Sex hatten wir keinen, das war auch besser so. Sie fuhr mit der Bahn zurück nach Potsdam und wir sprachen in den Tagen darauf am Telefon. Sex machte ich auf diese Weise nicht mehr mit ihr, wollte ich auch nicht.

Marina bestand ihre Führerscheinprüfung, an der sie in den letzten Monaten laboriert hatte, kaufte sich günstig einen gebrauchten Audi und wollte mich mit diesem an einem Wochenende wieder besuchen. Ich wollte das nicht mehr, konnte ihr es aber nicht ausreden, schon gar nicht am Telefon. Sie hatte sich an dem Gedanken festgebissen und wollte es durchziehen.

Als sie erschien, war sie ganz stolz, es in ihrem neuen Fahrzeug allein bis nach Hamburg geschafft zu haben. Ich konnte das ja noch immer nicht, das hatte sie mir schon mal voraus.

Es dauerte eine Stunde, dann wollte sie mit mir ins Bett. Ich wand mich und wollte ihr das ausreden, sie aber bastelte an mir herum und bereitete sich auf einen Liebesakt vor, mein Widerstand wuchs.

Ich sagte ihr unmissverständlich, dass das vorbei sei, wir seien zu unterschiedlich und ich könne mir nichts Festes mit ihr vorstellen, sie solle nun fahren.

Für sie stürzte eine Welt zusammen. Sie hatte sich anscheinend viel von mir versprochen und beabsichtigte, nun auf keinen Fall zu gehen. Sie wimmerte und weinte sogar, ich dürfe sie jetzt nicht direkt wieder hinauswerfen, sie sei doch eben erst gekommen.

Ja, das war hart, das sah ich ein, aber was hätte ich tun sollen? Einen Brief schreiben? Das wäre wahrlich fairer gewesen.

Ich wollte aber auf gar keinen Fall mehr in diese Verbindung investieren und musste anscheinend härter durchgreifen. Ich wurde gemein, verschärfte den Ton und schickte sie nach Hause.

Sie zog wie ein begossener Pudel ab, ich konnte das nicht mitansehen, so sehr litt sie an meinem Vorgehen. Sie schlurfte die Treppen hinunter, stieg in ihren Wagen, und weg war sie. Ein weiteres trauriges Kapitel.

Sie rief mich noch ein paar Mal an und versuchte, mich umzustimmen. Irgendwann aber wurde sie richtig wütend, beschwerte sich bei mir und beschimpfte mich. Das war okay, wenn es ihr half.

Eines Abends ging Trixie mit zu mir, die sich schon vor längerem von FX getrennt hatte und nun mit mir anbandeln wollte.

Sie ging mit mir auch ins Bett, aber zu Sex war ich nicht aufgelegt, es klappte null.

Trixie hatte eine psychische Störung, war Borderlinerin, ihr fehlte jede Konstante, sie brachte sich immer wieder in die schwierigsten Situationen. Als es mit uns nichts wurde, ging sie nach Berlin und verschwand. Ich habe nie wieder etwas von ihr gehört. So tief war unsere Bindung auch nicht gewesen.

Vielleicht sollte ich mich von Frauen grundsätzlich fernhalten, es endete ja doch immer nur in Schmerz und Leid … für die eine oder den anderen, beschloss ich als beste Möglichkeit.

In den kommenden Wochen entwickelte sich unser Laden zu einem angesagten Treffpunkt für Weirdos und Interessierte aller Couleur. Die Veranstaltungen waren erstaunlich sehenswert, die Abende lang, die Angetrunkenen und Bekifften wollten gar nicht nach Hause gehen.

Vera Enny war fast jedes Mal dabei und suchte immer meine Nähe. Ich flüchtete vor ihr, so weit es die Räumlichkeiten zuließen. Die Künstlerin Gabi Schaffner kam auch oft zu uns und verlebte hier ihre Stunden.

An einem Abend stürzte ein Betrunkener in die Bar und demolierte unsere provisorische Schenke. Das Holz brach entzwei und war nicht mehr zu gebrauchen. Da kam ein Typ auf Vera zu, der ihr von einem Sperrmüllhaufen zwei Kilometer entfernt erzählte, wo man brauchbares Material fände. Vera fragte mich, ob ich mitkäme und tragen helfen könnte.

Wir zogen zu dritt los, und der Typ versuchte, mit Vera ins Gespräch zu kommen und sie anzubaggern. Die zwei Kilometer mussten mehr geworden sein, die Strecke war länger. Das Zeug entpuppte sich als schwer, und wir latschten vollbeladen in einer Reihe hintereinander und hievten die Bretter und Latten mühsam davon.

Mir wurden die Arme immer länger, aber ich wollte nicht schlappmachen, um nicht als Schwächling dazustehen. War ich aber. Die letzten fünfhundert Meter trugen Vera und der mir unbekannte Mann das Holz allein. Ich schämte mich mal wieder. Das Material wurde in unsere Hütte gebracht und dort verstaut.

Vera, die eigentlich kellnernde Musikerin war, wie sie mir erzählt hatte, und sich ENNVER nannte, stellte sich neben mich und wandte dem anderen den Rücken zu. „Lauf nicht wieder weg!“, sagte sie dann plötzlich im zärtlichsten Ton zu mir. Ich war eh schon verkohlt und mit meinem Latein am Ende. Was sollte ich tun?

Da fasste ich ihr unvermittelt in die Hose, in den Slip und zwischen die Beine, spreizte ihre Schamlippen, rieb ihre Klitoris und gab ihr einen tiefen Kuss. Sie atmete auf. „Du musst mich genau so anfassen“, hauchte sie dann. Ich hatte verstanden.

Der andere Mann beobachtete uns und ging.

Ich nahm Vera in den Arm, schloss das MATRIX ab und spazierte mit ihr in eine Bar in der Juliusstraße, wo wir zu spätester Stunde einen Drink nahmen. Dabei erzählte sie mir, dass sie früher mit Christian Mevs zusammen gewesen war, als dieser Gitarre bei der Punk-Band Slime gespielt hatte und später dann bei Angeschissen lärmte. Zu der Zeit konnte sie mit der rohen Aggressivität und der Energie des Punks nichts anfangen, sonst wäre sie eine Menge Wut losgeworden, gestand sie mir. Sie hätte in ihren Zwanzigern auch Trip-Begleitung für Acidheads gemacht, verriet sie außerdem. Ich hatte nicht geahnt, dass es dafür Begleitung gab …

Anschließend gingen wir zu mir und hatten eine intensive Liebesnacht, in der sie ihr Gift in mich spritzte, so kam es mir vor. Ich konnte ihr nicht widerstehen. War sie mit Lux nicht mehr zusammen, interessierte sie das überhaupt nicht?

Als ich ihr drei Tage später sagte, sie sei meine Traumfrau, gab sie cool zurück: „Das hab’ ich schon oft gehört. Mit dem Begriff kann ich nichts anfangen!“

Zwischen uns entwickelte sich eine höchst leidenschaftliche, immens schmerzhafte Liebesgeschichte, die mich in einen erneuten Wahnsinn trieb, der zwar zu meinem zweiten Roman Berg & Jarka führte, der in den ersten Fassungen CO hieß, mich aber äußerst unglücklich zurückließ und seelische Langzeitschäden verursachte.

Die genannten Schilderungen verarbeitete ich im Roman Berg & Jarka folgendermaßen:

1

Die Sonne hing bereits als Glutorange am Abendhimmel. Wie gern hätte Berg jetzt im Flieger gesessen und wäre über den Atlantik geflogen. Richtung Kuba? Jamaika? Wie vor zwei Jahren, als er sich mit Grit davongestohlen hatte. Die Folgen dieser Eskapade hingen ihm noch immer nach: Sehnsucht und Sand im Getriebe.

Aber heute hatte Berg eine Verabredung. Mehr noch: einen Einsatz. In seiner Freizeit legte er als DJ auf Partys, Eröffnungen, in Galerien und zu Junggesellenabschieden auf und drehte an Plattentellern und Reglern.

20.13 Uhr: Es war ein harter Tag gewesen. Blarn, der Chef der Agentur, hatte in letzter Minute Änderungen verlangt. Und, ob Berg wollte oder nicht, er hatte zwei Stunden länger an der Übersichtstabelle für die Kampagne in der Fischauktionshalle gearbeitet. Zeit, sich frisch zu machen, blieb nicht. Also musste er in grauem Flanell und royalblauem Hemd in die Amandastraße fahren. Obwohl er schwitzte und sich overdressed fühlte. Die Platten und CDs hatte er vorsichtshalber bereits in seinen Citroën XM geladen, und nun nahm er direkt Kurs Richtung Schanzenviertel.

In der Zeitung hatte es einen großen Artikel zur Eröffnung des Wilbrands gegeben. Mit Auflistung der nächsten Events, die stattfinden sollten. Als Berg dort erschien, stand bereits eine Gruppe von Neugierigen vor dem kleinen Häuschen, lachend und kiffend. Er bahnte sich mit seinen Alukoffern voller Tonträger einen Weg durch die Menge, die vor verschlossener Tür herumturnte.

Berg gestikulierte vor dem großen Panoramafenster in Richtung des Barmanns und Besitzers Brockmann, der hinterm Tresen, einer simplen Holzplatte über einem Stapel leerer Bierkästen, wirbelte und mehr in einer Abseite als im Raum stand und ihn nicht zu sehen schien. Der vordere Raum war höchstens 25 Quadratmeter groß, an der Wand gegenüber dem Fenster gab es eine kleine Treppe, auf der einst Blumentöpfe zum Verkauf angeboten wurden, da der Laden, eigentlich nur eine mit Dachpappe abgedeckte Laube, früher ein Blumenladen gewesen war. Im Hintergarten befand sich eine Hollywoodschaukel, daneben eine Regentonne, typisch Hamburg. Das Ensemble, das mit zwei einfachen Holzverschlägen erweitert worden war, stand im Garten eines Staatsanwalts, der nun ein pensionierter Alkoholiker war und seine Frau verprügelte, wie Brockmann Berg am Telefon erzählt hatte. Um die Hütte mieten zu können, hatte Brocki, wie er sich selbst nannte, beim Staatsanwalt zu Hause vorsprechen und diesen unter den Tisch trinken müssen. Eine Flasche Whisky hatte gereicht. Berg schritt das Grundstück ab, an dessen Stirnseite die Zweifamilienvilla stand, in der der kinderlose Staatsanwalt lebte. Nachdem der Blumenladen pleitegegangen war, wurde das kleine Gartenhaus an eine Schmuckdesignerin vermietet, die aber mit ihrer Manufaktur bald in eine Toplage in die Innenstadt gezogen war. Nun also sollte es als kultureller Treffpunkt dienen.

Im Garten fummelte jemand an einem Drehkarussellgestell für Was-ist-was-Bücher herum, ließ es sogleich bleiben, um sodann drei Waschmaschinen in den Vorratsraum zu schieben. Die Tür musste einen Spalt weit offen bleiben. Brockmanns Mitarbeiter, der das gerade vollbrachte, war ein Althippie, der seinen Kram in der ganzen Stadt bei Freunden auf Dachböden, in Kellern und Gärten verteilte und liegen ließ. Messietum – eine Form der Aggression? Berg wollte da nicht stören und betrat wieder die Hütte, in der es muffig nach Fünfzigerjahren, alter Tapete, Teppichstaub und Nässe roch. Brockmann hatte derweil den Laden geöffnet, die Meute quetschte sich durch die kleine Eingangstür und beschädigte den Türrahmen. Berg inspizierte die unterdimensionierte Anlage, mit der er heute zu hantieren hatte. Er schloss seinen Mixer an, eine kleine Kiste im Tarnfarben-Design, und probierte die Schieberegler, Potis und den Crossfader: Okay! Als Berg die CDs und Platten in Reichweite postierte, sah er sie plötzlich aus dem Durchgangszimmer kommen, in dem eine azurblaue Lampe schimmerte. Diese Frau: Wie sie dastand, ganz in Weiß in ihrem eng sitzenden Hosenanzug mit ihren langen dunkelbraunen, fast schwarzen Haaren, vor diesem Cosmic Glow von Leuchte, brachte sie einen Glanz in die alte Hütte, dass Berg schwindlig wurde. Als das Wesen Berg wahrnahm und ihre kühlen, hohlwangigen Gesichtszüge ein Lächeln formten, dachte Berg: Das ist sie! Finger weg! Hoffentlich spricht sie mich nicht an. Halt dich bloß fern, die wirst du nie für dich allein haben. Am besten nicht beachten! Oh Mann. Nicht einmal dran denken, sie kennenlernen zu wollen! Von der wirst du dich nie trennen können, dachte er panisch und konnte den Blick nicht fixieren, als Brockmann sie ihm vorstellte: „Das ist übrigens Jarka.“ Sie schmunzelte und stöhnte mehr, als dass sie „Hallo!“ sagte.

Jarkas schlanke, sehr schlanke Taille, ihre wohlproportionierte Hüfte und diese sinnlich anmutenden Beine ... ohne es nur an ihrem Äußeren festmachen zu wollen, von ihr ging eine magische Anziehungskraft aus.

Berg, elegant und bürotauglich im mattgrauen Anzug, fügte sich nicht recht ein in das lockere, aufgekratzte Partyvolk. Er war irritiert ... Wohin sollte er nur gucken?

Berg konnte nicht länger neben ihr stehen, er fühlte einen Fluchtimpuls. Ganz in Weiß ... sind wir hier auf einer Hochzeit? Berg druckste kurz herum und stammelte unzusammenhängende Laute: „Öff, ähm, ... iss-äh, hm ...“ Auch gut. Jarka lächelte noch immer, er aber ließ sie stehen, legte eine CD in den Player und verschwand im Garten, in dem sich bereits ein Dutzend ihm unbekannter Leute tummelten und schweres Zeug tranken. Wodka floss wie Wasser die Kehlen herunter. Die Smoll-Brüder bauten ein 50-Liter-Whiskyfass plus Gestell auf, aus dem man sich per Zapfhahn Kaffeebecher abfüllen konnte, mitten im Garten. Russbok, der alte Pole, hatte Matratzen ausgelegt, auf denen sich Pirkaa, Sollock und Shetz suhlten und sich einen Joint teilten. Die Schwaden stiegen auf und benebelten Berg schon beim bloßen Hinsehen.

Im Hauptraum hatten sich bereits gut fünfzig Leute eingefunden, die Bude war schon jetzt brechend voll. Umdrehen konnte sich da keiner mehr, umfallen aber auch nicht. Brockmann hatte seinen Freunden aus ganz Norddeutschland Bescheid gegeben und die ihren Freunden wohl auch.

Berg wechselte die CD, Schmuseklänge mit Vibrafon und jazziger Rhythmik, Pet Sounds, wispernde Stimmen und Balladen, Saxofon-Melodien. Jarka wollte von Berg den Titel des Tracks wissen. Berg war verlegen und redete wieder Unsinn.

Die Musiker versuchten im Gewühl der Menschenmenge ein Schlagzeug aufzubauen, Boxen zu verkabeln, Mikroständer aufzustellen, Gitarren zu stimmen – chaotisch. Berg behielt nun lieber seinen Platz hinter dem Mini-DJ-Pult bei und verlangte nach einem stinknormalen Bier, Brockmann ließ ihm einen ganzen Kasten bringen.

Jarka klappte ihren Keyboardständer auseinander und positionierte sich mit Tastatur und Harmonium direkt neben Berg, der panisch einen Schritt zur Seite wich.

Nun stürmte auch noch der reiche Perser mit schwarzem, leicht lockigem und nassem Haar im Kaschmirmantel (und das im Sommer, ein Angeber!) mit teurem Parfüm und drei Edel-Prostituierten im Schlepptau aus der gegenüberliegenden Renata-Bar in den Schuppen, um zu checken, was hier vor seinem Luxuspuff, der in einer weißen Villa residierte, für ein merkwürdiger Schuppen eröffnete. Er baggerte die nächstbesten Frauen an, versuchte einen seriösen Ton anzuschlagen, wurde aber umgerempelt.

Berg wechselte von eher tranquilierenden Sounds zu härteren Beats mit euphorisierendem Touch.

Auf der Straße vor dem Schaufenster des Wilbrands war nun auch Bergs Exfrau Alexa mit ihren beiden Söhnen Mathias und dem schon zehnjährigen Uli aus erster Ehe eingetroffen und wunderte sich über den Trubel. Sie hatte sich vor einem Jahr scheiden lassen.

Alexa war extra aus Berlin angereist und überreichte Berg eine Flasche Champagner im Glauben, dass es Bergs Laden war, der hier eingeweiht wurde.

Der reichte diese sofort an Brockmann weiter, strich den Söhnen anerkennend über die blonden Schöpfe, wimmelte Alexa mit einer flüchtigen Umarmung ab und beobachtete Jarka, die ihre Hand auf seine legte, während er mit Alexa ein paar Formalitäten zum Ablauf des Abends besprach. Dann verschwand Jarka in den Garten und Berg gab Alexa die Schlüssel zu seiner Wohnung, die daraufhin mürrisch mit den Söhnen davontrabte.

Auf dem Gehweg standen derweil Hoax, Bullnik und Creshnikov, die Smoll-Brüder und eine dahergelaufene Frau in lumpigem Outfit, das für Kenner schwer nach Kenzo aussah, im Kreis um einen 18-Zoll-Lautsprecher und grunzten pseudo-buddhistisch zu einem derben Scheppern aus dem Speaker, dessen offenes Chassis in der Öffnung eines Gitterpapierkorbs hing, mit einem Ghettoblaster verkabelt war und eine atonale Version von A-cappella-Musik verströmte, die mit der gerade heranbrausenden Polizeiwagensirene eine Serenade der Aufbruchsstimmung ergab, was ja auch Sinn des Ganzen war.

Die Polizeibeamten hielten vor dem Schuhkarton von Club, stiegen aus, klemmten den Speaker ab, ermahnten die im Wilbrands Anwesenden, insbesondere den Besitzer, zur Einhaltung der gesetzlich vorgeschriebenen Maximallautstärke und nahmen die Zellmembran samt dem Ghettoblaster und den aufmüpfigen Smoll-Brüdern mit auf die Wache, die nur drei Straßen entfernt war.

Just in dem Moment, in dem die Streife abfuhr, stürzte die betrunkene Astrid aus dem Garten ins Teerpappen-Heim: „Boah, eh, das ist wie in alten Zeiten!“ schreiend, wild mit den Armen rudernd, jauchzend, verlor sie langsam, aber unsicher das Gleichgewicht, riss im Fallen den provisorisch befestigten Tresen um und brach in prustendes Gelächter aus. Diehm, der Handwerker, wollte zuerst sie, dann den Tresen retten, brach dann aber mit Astrid unter den stürzenden Flaschen zusammen. Nun warfen sich auch die von draußen hereinstürmenden Hoax, Bullnik und Creshnikov in die ausgebrochenen Bierfluten und richteten ein Blutbad an. In diesem Gewusel sich übereinanderschichtender und mit Schnittwunden gezeichneter Leiber ergriff Jarka die Gelegenheit und das herausfallende, prall gefüllte Portemonnaie des Persers. Jarka ließ dabei auch noch die 20.000-D-Mark-Rolex und drei Cartier-Diamantringe des Zuhälters in ihre zarten Hände gleiten, die im Fassen von Gliedmaßen ihre eigenen Erfahrungswerte besaßen und das ergatterte Gut im allgemeinen Tumult dem nichts ahnenden Berg in den Plattenkoffer legten. Die Band sortierte ihre Instrumente und legte los.

Holly, die Sängerin, begann mit einem Stück, das die tobende Masse zur Ruhe bringen sollte: Pale Blue Eyes von Velvet Underground, I’ll be your mirror und What goes on, um die Party nicht zum Erliegen zu bringen. Totaler Jubel.

Inzwischen war auch die regionale Presse eingetroffen und machte Fotos von Gästen, Künstlern und Brockmann. Die Band spielte eine halbe Stunde, der Gastgeber kündigte die nächste Gruppe an: Desdemona. Mystische Trance-Sounds mit glockenheller Mädchenstimme. Es folgte eine Lesung: Nikola rezitierte ein Kapitel aus ihrem gerade erschienenen Roman, in dem eine Demonstration von der Polizei aufgemischt und die Hauptfigur auf der Flucht in einem Hauseingang zusammengeknüppelt wurde. Begeisterung. Dann spielte Brockmann selbst drei Eigenkompositionen auf der Gitarre und sang – leider fürchterlich. Derart entschleunigt, gruppierten sich die Erlebnishungrigsten zu Taxi-Fahrgemeinschaften und fuhren zur nächsten Sause, irgendwo am Hafen.

Inzwischen war es dunkelste Nacht geworden, es hatte sich abgekühlt. Regen prasselte auf die Teerpappe des Dachs und lief die Fensterscheiben herunter. Die Tropfen pladderten auf die Blätter der Rhododendren und Fächerpalmen.

Jarka saß in der Hollywoodschaukel im Garten und rauchte mit Berg einen Joint, bevor die zwei sich anschickten, sich durch das Gelage einen Weg zu bahnen und mit dem Akustik-Bassisten der Cover-Band zu Jarkas Sounds zu improvisieren. Von ihren Songs, die sehr narrativ waren, fast spoken words, hatte sie Berg soeben erst erzählt, nun sollte er sie schon begleiten. Über die Klangflächen aus dem Keyboard oder dem Harmonium spielte er an der E-Gitarre Fillins, die der Bassist zu einem Ganzen verband. Es wurde sehr spät.

Um sechs Uhr morgens hatte Jarka die glorreiche Idee, sie könnten doch einige Schrankteile aus einem Keller eines Freundes in Eimsbush holen, um diese in Brockmanns Laden zu einem neuen Tresen mit Einbauschränken zusammenzubauen. Mit Dingo, einem indonesischen Flüchtling, der sich zufällig auf die Party verirrt hatte, zogen Jarka und Berg los, um riesige Holzplatten durch die halbe Stadt zu schleppen. Bergs Arme wurden immer länger, er war betrunken. So lastete die Schwere des Materials ganz auf Dingo und Jarka, die tapfer mithielt. Und kräftig war. Was Berg nicht für möglich gehalten hatte.

Als sie nach vier Kilometer Transportweg in Brockmanns Laden standen, forderte Jarka Berg, trotz der Schmach des Schwächelns (er war mehr hinter den beiden hergegangen, als zu tragen), mit ihren Blicken demonstrativ auf. Und während Dingo sich noch Hoffnungen auf eine heiße Liebesnacht machte, fasste Berg Jarka vor Dingos erstauntem Blick in den Schritt und prüfte mit drei Fingern Zartheit und Zustand der Erregung. Was Berg selbst seltsam vorkam. Woher hatte er nur diesen Drive? Es muss an ihr liegen, dachte er. Dann erst küsste er Jarka.

Dingo trottete von dannen.

Wenige Stunden danach saßen Brockmann, Berg, Jarka und ein paar Übriggebliebene in desolatem Zustand auf der Polizeiwache und wurden verhört. Als der Staatsanwalt und Vermieter vom Diebstahl erfuhr, zerriss er den noch nicht unterzeichneten Mietvertrag für das Gartenhäuschen und setzte Brockmann auf die Straße.

In Bergs Koffer entdeckte die Polizei das Diebesgut, wenig später erhielt er einen Anruf seines erbosten Chefs Blarn: „Ich sorge persönlich dafür, dass Sie als Werbetexter nie wieder Fuß fassen! Nirgendwo! Sie haben nicht nur gestern Bockmist verzapft, es reicht!“ Berg wusste nicht, was er getan haben sollte. War etwas falschgelaufen? War der Chef etwa Stammgast im Etablissement des Persers, womöglich sein bester Kunde?

Jarka flüsterte Berg derweil, dass er sie genau so anfassen solle, wie er es getan hatte ... in Zukunft ...

Was Berg nicht ahnte: Jarkas Freund Tibor hatte während ihrer Annäherung im Garten gesessen und über elektronische Musik philosophiert ...

Alexa verbot Berg bald jeglichen Kontakt zu den Kindern und untersagte ihm, überhaupt noch einmal anzurufen.“

Auch Christian Henjes zeigte sich interessiert, Lilianas Kuba-Residenz zu besichtigen und die Insel auf die private Tour kennenzulernen. So weit ich informiert bin, blieb es aber beim bloßen Plan.

Irgendwann wurde Liliana von Orto schwanger und brachte einen Sohn zur Welt. Sie nannten ihn Elian. Die Beziehung zwischen den Eheleuten aber blieb schwierig. Er ging seiner Wege, hatte seine Affären und arbeitete in einer Bar, sie schob Nachtdienste für den Seniorservice. Trotzdem trennten sie sich nicht und zogen das Kind auf, wenn auch nicht immer gemeinsam.

Ich hatte Joachim Helfer zu einer Lesung ins MATRIX eingeladen, er las aus einem Roman. Ich glaube, es war nicht sein zweiter, 1998 bei Suhrkamp erschienener namens Cohn & König, es könnte eher ein bis dato unveröffentlichtes Manuskript gewesen sein.

Ich erinnere mich jedenfalls sehr plastisch daran, dass er vom Ekel vor dem Sex mit einem uralten Partner shocking detailliert erzählte. Das war mutig, gut gemacht und ein Highlight unseres Programms.

Auch der Schriftsteller und Literaturwissenschaftler Jan Bürger, der dabei war, über Hans Henny Jahnn zu promovieren, las bei uns aus seinem ersten, damals noch unveröffentlichten Roman Verlängerte Reise. Der Text erschien mir behäbig und verzagt, spielte in einer mir schon angestaubt erscheinenden Welt und war nicht mehr allzu aktuell. Bürger wurde dann aber von 2000 bis 2002 Redakteur bei der Zeitschrift Literaturen in Berlin, leitete später das Siegfried-Unseld-Archiv in Marbach am Neckar und gab etliche Biografien, Briefwechsel und Bücher zur Kulturgeschichte heraus.

Im MATRIX wurde der Zwist mit FX immer drastischer, er klebte doof aussehende, per Hand geschriebene A5-Zettel als Werbung in die Gegend, hielt sich an keine Absprachen, übernahm das Kommando auf meinen Veranstaltungen, was mich sehr ärgerte und dann letztlich zu seinem Rausschmiss führte. Er legte es darauf an, und ich wollte mir das nicht länger antun.

Vera Enny, Gabi Schaffner und ich kümmerten uns dann um den Laden. Das ging drei Monate gut, dann wurde er geschlossen. Eine kurze, intensive und insgesamt sechsmonatige Episode.

Vera gab ihre Beziehung mit Lux nicht auf, sagte das aber nie. Mir versicherte sie stattdessen immer, sie sei mit mir zusammen. Wenn ich bei ihr im Bett lag, klingelte des Öfteren das Telefon, und am Apparat war irgendein alter neuer Lover – oder eben Lux. Das war weder romantisch noch stärkte es mein Gefühl, in einer Liebesaffäre gelandet zu sein. Es war ein seltsamer Machtkampf, den ich nicht verstand. Vielleicht ging es darum, Nähe zu vermeiden und sich festzulegen?

Sie hatte während unserer dreieinhalb Jahre diverse zusätzliche Affären und war ein Nervenbündel, das häufig viel zu viel Wein trank und heftige Abstürze erlebte.

Als junges Mädchen war sie von ihrem Trainer missbraucht worden und hatte daraufhin trotzig und aus Rache beschlossen, mit allen Männern ins Bett zu gehen, die ihr begegneten. Das erzählte sie mir, und ich sollte es wohl als Ursache für ihr untreues Verhalten sehen, oder was war ihre Absicht?

Beim Sex mit ihr musste ich feststellen, dass ich Aleister Crowley näher war, als Diedrich Diederichsen und Gottfried Benn. Die ödipale Triade im Elternhaus hatte mich in dauerhafte Kampfbereitschaft zu allen Mitkonkurrenten gebracht bei den Frauen, die ich zu stark begehrte. Teufelswerk und dessen Kreislauf, aus dem es für mich kein Entrinnen gab. Außer durch den kompletten Verzicht auf Erotik und Verlangen.

Das Problem für mich war, dass ich durch Veras sexuelle Eskapaden auch noch stimuliert wurde und wir dabei fantastischen Sex hatten, wie ich fand. Nachts allein ohne sie hielt ich es nicht aus und masturbierte zigmal, um den seelischen Schmerz mit Orgasmen zu betäuben. Ich konnte kaum schlafen.

Vera kam immer wieder zu mir zurück, weinte und sagte, die Beziehung mit mir sei ihr unglaublich wichtig. Sie sei es nicht gewohnt, so genau gesehen zu werden wie von mir.

Ich konnte nicht anders, als sie zu lieben. Ich verstand sie und ihre Missbrauchsproblematik besser als sie sich selbst, glaubte ich. Oder war das nur Teil meines Helfer-Syndroms und meiner Projektionen? Ich wurde dabei krank und sexuell von ihr abhängig. Das alles ging auf meine Kosten. Ich hatte es geahnt, meine erste Intuition hatte mich nicht getäuscht.

Da ich die Unsicherheit nicht ertrug, ob und mit wem sie wann ins Bett ging, gewöhnte ich mir während unserer Zeit leider an, Kartenlegerinnen anzurufen und diese nach unserer Gegenwart und Zukunft zu befragen. Diese erzählten mir, was ich hören wollte. Und auch, was nicht. Ich wurde regelrecht und auch noch zusätzlich abhängig nach den Beteuerungen der zwielichtigen Expert*innen. Es verging kaum ein Tag, an dem ich nicht die Nummern der „Hellseher und Lebensberater“ wählte. Das kostete mich ein Vermögen, das ich nicht besaß. Während unserer dreieinhalb Jahre kam da eine Summe von drei- bis viertausend DM zusammen. Was für eine unnötige Verschwendung, welch’ Ausdruck seelischer Not.

Vera aber war und blieb absurderweise die einzige Frau, mit der ich mir hatte vorstellen können, Kinder zu haben. Ein Glück, dass es dazu nicht gekommen ist. Es wäre wohl ein Desaster geworden.

Als ENNVER trat sie solo mit ihrem Synthesizer auf, spielte einfache Pianomelodien, sang, sprach und wisperte Texte und eigene Geschichten, die von Melusine handelten. Sie hatte dabei etwas Beschwörendes, was mit ihrem Aussehen korrespondierte und ihr etwas absolut Magisches verlieh. Mir war das manchmal zu viel des Guten, sie verlangte vollste Aufmerksamkeit, und das konnte auch too much werden. Sie war eine große Bewunderin von Laurie Anderson, das merkte man. Die Hörbar im B-Movie in der Brigittenstraße war ihr wöchentlicher Anlaufpunkt, hier trat sie gelegentlich auf, hier hatte sie ihre Fans.

Eines Abends, als ich bei Vera in ihrer neugestrichenen Wohnung unweit der Reeperbahn auf ihrer Toilette saß, kam sie ins Bad, setzte sich auf meine nackten Oberschenkel, umarmte meinen Hals, küsste mich tief und pisste mir ihren Saft auf die Beine. Das war zärtlich wie seltsam. „Wir können alles teilen“, fügte sie hinzu, und ich war eingeweiht in unsere bizarre Verschwörung gegen die Welt, die eigentlich eine gegen mich war. An jenem Abend liebten wir uns erneut und, wie so oft, leidenschaftlich und lange.

Ich ging zu einem weiteren Verhaltenstherapeuten, um mich lebensfähiger zu machen, ich hatte mich wieder eingeigelt und nur auf meine Beziehungsprobleme konzentriert. Dessen Praxis lag am Neuen Pferdemarkt neben meiner Hausärztin.

Wir machten die Anamnese und besprachen meine Zukunftsperspektiven. Ich wartete auf verhaltenstherapeutische Übungen in vivo, aber das war gar nicht vorgesehen und kein Teil seiner Behandlung.

Als ich nach der zwölften Stunde immer noch über meine Schwierigkeiten mit Vera nörgelte, wandte er gelangweilt ein, das wüssten wir ja nun bereits und ich sollte die Verbesserung meiner Arbeitssituation angehen. Wie putzig, diese Vorstellung! Aber das einzige, was ich brauchte, war Erfolg mit meiner Literatur, alles andere war mir egal und kam für mich ohnehin nicht mehr infrage.

Das sah er nicht ein, ich sollte endlich erwachsen werden und Verantwortung für mein Leben übernehmen. Das hatte ich zehn Jahre bei Bauer versucht und zuvor neun Jahre als freier Journalist, darin lag meine Lebensaufgabe nicht. Er wollte mich auf den rechten Weg bringen, der für mich aber der falsche war. Er wollte meine Einwände nicht gelten lassen. Wir blockierten uns zunehmend gegenseitig, verlängerten die Therapie aber noch einmal um fünfundzwanzig Stunden, was sollten mir die noch nützen?

Ich kam auch damit nicht weiter. Irgendwann war auch das vorbei, und ich war wieder da, wo ich angefangen hatte. Den passenden Therapeuten hatte ich noch nicht getroffen, keiner schien mich und die Lagerung meiner Problematik zu verstehen. Gesellschaftliche Zusammenhänge und Produktionsbedingungen für Künstler im Hochkapitalismus wurden in den Therapien nie berücksichtigt oder als Wurzel allen Übels betrachtet. Daran durfte nicht gerührt oder geschüttelt werden, das sollte nicht sein. Ich funktionierte gut darin, Therapeuten zu Arbeit und Lohn zu verhelfen, hatte aber selbst nicht viel Brauchbares davon.

Vielleicht ging es nur darum, sich von den Therapeuten ebenso zu befreien, wie von den Introjekten, die man von den Eltern mitbekommen hatte. Ja, genau so war es. Ich wusste das alles, dachte aber, dass es nicht sein könne, dass ich das ebenso korrupte wie kaputte System Therapie besser durchschaute als die Krankenkasse. Und dass es nicht nur an mir läge, die mir gegebenen Hinweise, Ratschläge und gemeinsamen Entdeckungen falsch zu verstehen, zu miss achten und aus Trotz und Abwehr nicht wahrhaben und annehmen zu wollen. Wie schon zu Kindestagen.

Ich glaubte mir und meiner Wahrnehmung nicht oder zu wenig und war stattdessen wieder auf der Suche nach einem Therapeuten, der mir glaubte. Den ich aber nicht und niemals fand. Ihnen ging es meist nur darum, dass ich mich endlich an das System und dessen Regeln anpassen sollte. Genau das aber habe ich ein ganzes Leben zu verhindern gewusst.

Alice Miller hatte in „Du sollst nicht merken“ recht gehabt, als sie behauptete, dass Patienten in langwierigen Therapien dazu gebracht würden, diejenigen, die ihnen Leid zugefügt haben, auch noch verstehen und verzeihen zu sollen. Um stattdessen auf die eigenen Gefühle und Gedanken zu verzichten und diese zu unterdrücken. Ich begriff die Krux der Situation und Gemengelage nur allzu gut.

Wenn man mehrfach traumatisiert durchs Leben gehen muss, kommen einem die (geheimen?) Absprachen, Konventionen und Ziele der Normopathen nicht nur wenig erstrebens-, sondern zerstörenswert vor. Ratschläge sind auch Schläge. Man wird unweigerlich P.U.N.K., ohne sich dafür einen Irokesenschnitt machen lassen zu müssen. Also: Keine Schuldzuweisungen mehr an sich selbst und keine Beschönigungen!

Ich brauchte ein Leben, um diesen Gedankenschritt glaubhaft vor mir selbst vertreten zu können.

Aber weil ich die Beziehungssituation mit Vera trotz meiner Erkenntnisse nicht mehr aushielt, ging ich zu einem systemischen Therapeuten in der Schröderstiftstraße, der Familienaufstellungen veranstaltete. Ich nahm ein paar Einzelstunden, er eruierte meine Lage und Situation in meiner Beziehung zu Vera. „Sie müssen das nicht mitmachen“, riet er mir nicht wirklich überraschend.

Dann buchte ich ein dreitägiges Familienaufstellungs-Wochenende, zu dem ich auch Vera einlud. Ich hoffte, ich könnte sie bekehren. Ich war erstaunt, als sie einwilligte mitzukommen.

Bei den Aufstellungen war Vera aber unkonzentriert und unfokussiert, ließ das Geschehen nicht wirklich an sich heran, das wiederum enttäuschte mich.

Bei meiner Aufstellung kam heraus, dass ich weit außerhalb der Familie in der hintersten Ecke des Raumes stand und der Zusammenhalt schon seit ewiger Zeit gekappt war. Es war kein Wunder, dass ich mich ausgeschlossen fühlte.

Eine ältere Mutter, die auch in der Gruppe war, sah darin Parallelen zu ihrem Sohn, der vor zwei Jahrzehnten nach Nordamerika ausgewandert war und keinerlei Kontakt mehr zu Eltern und Geschwistern besaß.

Ja, so fühlte sich das an! Nur: Ich wohnte noch in derselben Stadt, lediglich auf der anderen Seite. Beim Verhältnis von Rose und Hennes sah der Therapeut einen zweiten Mann aus früheren Zeiten, den meine Mutter noch insgeheim lieben würde, was mein Vater auf mich projizierte und daher bekämpfte.

So konnte man das also auch sehen, ich wusste nicht, ob es wahr sein könnte, hielt es aber für denkbar. Die Kräfte des Unterbewusstseins waren offengelegt worden … oder zumindest wurde der Blick auf etwas frei, was sich im Bereich des ebenfalls Möglichen abspielte.

Zwischen Vera und mir änderte sich durch die Aufstellungen nichts, es blieb hochgradig verfahren und äußerst traumatisch für mich. Sie betrog mich weiter, und ich machte mit.

Wir gründeten aber mit Jan-Ole Jörn, der auch bei Die Jollnies/ Pyjama Boys Gitarre gespielt hatte, eine Coverband, mit der wir beabsichtigten, softe Musik in Bars und kleinen Clubs zu spielen, von denen in Hamburg einige existierten. Ich gab uns den Namen Mohair, womit die beiden einverstanden waren, kaufte mir extra für dieses Vorhaben einen kleinen Vollröhrenverstärker, den Ampeg Jet II. Er sah kultig aus mit seinem karierten Tolex-Bezug und dem polarblauen Betriebsanzeigen-Lämpchen.

Es wurde ein folkig melancholisches Programm, bei dem wir u.a. Rose Parade von Elliott Smith, einer meiner Lieblingssongs, und bezeichnenderweise Wicked Game von Chris Isaak coverten. Vera sang, und Jan-Ole himmelte sie dabei an. Er rechnete sich ernsthaft Chancen aus und nervte mich mit seiner Anbaggerei und den Intervenierungs-Manövern in unsere Beziehung während der Proben, die in unseren Wohnungen stattfanden. Dafür konnte Vera natürlich nichts, sie machte ihm keine Hoffnungen, sie war nur nett und sah dabei so gut aus wie fast immer.

Wir spielten einen Gig zur privaten Eröffnung der Astra Stube an der Stresemannstraße, in der nun Tom Fleischhauer, der für mich bei SchwesterSchwester eingestiegen war, und seine Freundin Heidrun das Booking der Bands machten.

Veras Ex-Noch-und-Auch-Freund Lux kam ebenfalls zu unserem Auftritt, er fand uns sogar gut. Strange, das alles. Vera schien dies keine Probleme oder Kopfzerbrechen zu bereiten, sie versang sich auch nicht und verpasste auch keinen Einsatz.

Leider blieb es unser einziger und letzter Auftritt, die Umstände sprachen gegen uns.

Christian Henjes betrieb ein weiteres Band-Projekt: The Travelling Dylans, die die Songs des Großmeisters coverten und ein- bis zweimal pro Jahr in Hamburg auftraten. Der letzte Event hatte im völlig überfüllten asiatischen Restaurant Goldener Stern von Kit Hu am Neuen Pferdemarkt stattgefunden, in dem Christian mit Alfred Hilsberg und dem Layouter und Elektronik-Musiker Andreas Hoffmann abends oft speisten und im Überfluss becherten. Rocko Schamoni hat das in einem seiner Bücher beschrieben.

Dann war Andreas leider an seinem immensen Alkoholkonsum verstorben. Meistens musste er frühmorgens ins Taxi geschleppt werden, so betrunken war er, wenn er aus der Schanze oder von St. Pauli nach Hause gefahren wurde. Er starb 1997 an einem Herzinfarkt – drei Jahre, nachdem er mit dem Trinken aufgehört hatte.

Zu seinen Ehren und zum Gedenken an ihn wurde ein Buch mit seinen Grafiken und Bildern veröffentlicht und mit erklärenden Texten versehen.

Zur Beerdigung erschien ich nicht. Ich hatte damit von Kindesbeinen an meine Schwierigkeiten gehabt, ich durfte ja in den frühen Siebzigern auch nicht zur Trauerfeier meiner Oma. Eine Zeremonie, die mir ganz und gar nicht lag und der ich erst 2010 bei Annette Wehrmanns Bestattung Folge leisten konnte. Christian Henjes meinte nach Hoffmanns Tod zu mir, dass Bestattungen und die Treffen dazu ja auch eine soziale Aufgabe erfüllten und eine seelische Reinigung seien. Natürlich hatte er Recht. Ich gelobte Besserung, war aber nicht wirklich davon überzeugt, dass mir das gelänge.

Christian besetzte dann einen Teil der Travelling Dylans neu. Er fragte mich, ob ich Lust hätte mitzumachen, Vera und Jan-Ole kamen auch dazu. Zusammen mit Andy Giorbino, der bereits 1981 seine erste LP Lied an die Freude auf Alfreds ZickZack-Label veröffentlicht hatte, weiteren Musikern, an deren Namen ich mich heute nicht mehr erinnere, sowie Katja Rajewski, die letzte Freundin von Andreas Hoffmann, übten wir im Bunkerraum von Giorbino ein grifftechnisch anspruchsvolleres Repertoire ein als ich es gewohnt war, welches einen guten, kleinen Querschnitt durch das Schaffen Dylans markierte.

Diesmal sang ich sogar einen Song, es war Tangled Up In Blue vom Album Blood On The Tracks.

Wir spielten unseren Gig im Westwerk.

Zum Auftritt, der auch in der gesamten Tagespresse angekündigt war, kamen sogar meine alten Kameraden und Bob-Jünger Thomas Zimmermann und Hartmut Noetzelmann, mit denen ich im Gymnasium Billstedt in eine Klasse gegangen war. Sie fanden unseren Auftritt nicht ganz scheiße und betonten, sie hätten sogar die Stücke wiedererkannt. Viel mehr war auch nicht beabsichtigt. Es war ein Riesen-Vergnügen, an dieser Gruppe beteiligt zu sein. Auch hier kam es leider nur zu einem einzigen Gig. Es blieb meine letzte Band, in der ich Gitarre gespielt habe. Sehr schade eigentlich.

Der Elektronik-Musiker Günter Reznicek, der im hintersten Winkel des Raums stand, fand es lächerlich, dass wir versuchten, amerikanische Musik mit Gitarren zu covern und keine eigenen E-Kompositionen spielten, so wie er. Mir ging sein beziehungsloses Geklimper auch auf die Nerven: Kau/sa/lquappen unter sich.

Lasst uns roh und runter sein

Eines Abends, an dem ich gemütlich mit Vera auf dem Ledersofa saß und Fernsehen guckte, klingelte das Telefon und meine Mutter tönte aufgelöst und hektisch: „Vati sitzt in der Badewanne und kommt alleine nicht mehr raus. Ich habe es versucht, aber er ist zu schwer und ich kriege ihn nicht aus der Wanne. Kannst Du schnell vorbeikommen und mir helfen?“

Vera und ich zogen uns an, stiegen in meinen Alfa und fuhren in den Hamburger Osten, wo Rose schon ratlos und bang auf uns wartete.

Mein Vater saß nackt im Keramik-Oval und war verzweifelt über die Situation, in der er sich befand. Ich hob ihn am Rumpf an und Vera fasste ihm unter die Arme, wir hievten ihn schnell aus seiner misslichen Lage.

So etwas also klappte zwischen Vera und mir immer: Arbeit am Körper.

Meine Mutter reichte Hennes den Bademantel.

Wir setzten uns kurz ins Wohnzimmer, tranken Bier und Wein und fuhren wieder zu mir.

Der Zustand meines Vaters verschlechterte sich zusehends. Es war an einem Weihnachtstag, meine Mutter war bei ihrem Vater Harribert im Altersheim Kupfermühle, als er auf dem U-Bahnhof Merkenstraße neben den Gleisen einfach umfiel und auf den Boden knallte.

Ein Fahrgast, der das sah, eilte zu Hilfe, rief den Krankenwagen und fuhr mit der nächsten Bahn davon, er rettete Hennes und blieb ein anonymer Engel, den wir nicht ausfindig machen konnten. Der Notarzt brachte unseren Vater in die Intensivstation ins Krankenhaus Wandsbek, wo er sich erholte und nach einer Zeit wieder nach Hause kam.

Den Wechsel ins digital gefürchtete und ansonsten allseits bejubelte und mit Hochspannung erwartete Jahr 2000 verbrachte ich damit, auf Vera zu warten, die nun in einem Restaurant in der Innenstadt tätig war, wo sie als Serviererin arbeitete und sich für diesen Abend zu meinem Unbill nicht frei genommen hatte. Ich durfte ihr beim Arbeiten zusehen.

Ich saß an einem der Tische, trank Bier und ging um 0.00 Uhr kurz nach draußen, wo die Gäste Wunderkerzen abbrannten und Kleinfeuerwerk zündeten. Vera stand mitten unter den Köchen und GastwirtInnen an der Straße, ich irgendwo am Rande, sie gab mir beiläufig einen Kuss, und das war’s: Mein Silvester 2000.

Ich fuhr nach Hause und sie kam fünf Stunden später dazu. Irgendwie beziehungslos. Das fühlte sich nicht an, als wären wir ein Paar. Das war doch eigentlich nichts Neues. Aber gut, dass sie überhaupt noch zu mir gekommen war?

Meine Zeit beim Bauer-Verlag war beendet, ich meldete mich arbeitslos und bekam mein bisschen Geld nun vom Amt.

Ich beabsichtigte erst einmal nicht, mich irgendwo zu bewerben, liebäugelte aber insgeheim damit, irgendwann bei der Hörzu im Axel-Springer-Verlag als TV-Redakteur weiterzumachen. Da hatte ich gute Chancen, das wusste ich, wollte es aber nicht wirklich, nein, eigentlich nie wieder: dieses hirnlose Abtippen von Mini-Texten aus der Retorte sollte ein für alle Mal vorbei sein. Ich wollte das bleiben lassen und war mit doch insgesamt 6.000.- DM Miesen aus dem Bauer-Job rausgekommen. Und das nach der ganzen Kohle, die ich dort verdient hatte. Dieses Vermächtnis wurde nun erst zu einer echten Belastung.

Mirko Bonné lud mich ein, mit ihm für die Veranstaltung Plat du Jour Hamburg eine Lesung zu machen. Das war eine einwöchige Reihe zur Städtepartnerschaft Hamburg – Marseille. Er fragte mich nach einem Ort, wo unsere Lesungen stattfinden könnten. Ich überlegte kurz und sagte: „In einem HVV-Linienbus!“ Er fand die Idee gut.

An der Woche nahm auch Eckhard Rhode teil, der mit Dodo Schielein eine Klang- und Textperformance veranstaltete. Es erschien sogar ein kleines Begleitbuch, in dem auch meine Kurzprosa-Miniatur Freihändig abgedruckt wurde.

Die Busfahrt war kurzweilig, und die Route, die ich geplant hatte, führte uns durch die Speicherstadt, an der Alster vorbei zur City-Nord und zurück.