Stille Nacht - Dana Müller-Braun - E-Book

Stille Nacht E-Book

Dana Müller-Braun

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Beschreibung

23. Dezember 2020: Ein kleiner illustrer Kreis wurde zu einer inoffiziellen Jahresabschlussfeier in die Geschäftsstelle im Stadion eingeladen. Etwa zur gleichen Zeit versammelt sich Severin mit dem harten Kern der Eagles etwas abseits der mächtigen West-Tribüne, um Mik zu ehren, der dort vor zwei Jahren in die Tiefe gesprungen und zu Tode gekommen ist. Die Trauer wird jäh unterbrochen, als zwei schwarze Kleinbusse auf die Rampe preschen und fünf Vermummte herausspringen. Mit roher Gewalt verschaffen sie sich Zutritt zu den Geschäftsräumen und zwingen wenig später ein gutes Dutzend Geiseln in die Fahrzeuge. Severin und Kevin verfolgen die Fahrzeuge und müssen mit ansehen, wie der Bus, in den auch Tim einsteigen musste, in Flammen aufgeht. Starr vor Schock, ist es für die Täter ein Leichtes, die beiden zu überwältigen. Eintracht-Pressesprecherin Lydia unternimmt alles, um Severin und der Polizei zu helfen. Dabei ist sie vor allem auf die Hilfe der Eintracht-Eagles angewiesen. Doch die Uhr tickt. Wenn die Forderungen der Entführer nicht bis zum nächsten Tag erfüllt sind, wird es eine blutige Bescherung an Heiligabend geben. Besonders pervers: Das geforderte Lösegeld orientiert sich am Transfermarkt.

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U. D. Müller Braun

Stille Nacht

Ein Eintracht Frankfurt-Krimi

Alle Rechte vorbehalten • Societäts-Verlag

© 2021 Frankfurter Societäts-Medien GmbH

Satz/E-Book: Julia Desch, Societäts-Verlag

Umschlaggestaltung: Müller-Braun, Societäts-Verlag

Umschlagabbildung: ©schankz/Shutterstock

Printausgabe ISBN 978-3-95542-407-7

E-Book ISBN 978-3-95542-435-0

Prolog

Severin

Ich laufe. Jetzt schon seit Wochen. Seit meiner dämlichen Sprachnachricht. Ich habe mir am nächsten Morgen vorgenommen, mein Leben zu ändern. Mich zu ändern. Aber ich habe nur die bequemen Chucks gegen Laufschuhe ausgetauscht. »In denen läuft es sich fast von allein«, hat mir Achim versprochen. Inzwischen weiß ich, dass er als Redakteur vielleicht ganz brauchbar ist. Als Laufschuhexperte eher nicht.

Musik dröhnt in meinen Ohren und übertönt meine lauten, schnellen Schritte. Früher, an einem normalen Tag, hätte man das Aufsetzen der Sohlen nicht gehört. Weil diese Stadt immer Lärm macht. An normalen Tagen. Jetzt kann ich mich sogar atmen hören. Aber ich mag diese Stille nicht und lasse mich deshalb lieber von alten Queen-Songs beschallen.

In meiner Jugend habe ich Fußball gespielt. Ansonsten war ich nie wirklich der sportliche Typ. Aber inzwischen sterbe ich nicht mehr schon nach einem Kilometer und das Laufen hilft mir. Es bläst meinen Kopf frei und lässt mich meinen Körper wieder spüren. Nimmt all das, was geschehen ist, von mir. Wenn auch nur für einen kurzen Augenblick.

Die Straßen Frankfurts sind für diese Uhrzeit ziemlich leer. Das Virus kam und hat sie leergefegt. Und ein Teil von mir hat sich nur dazu entschieden, joggen zu gehen, um frische Luft zu atmen und mich frei zu fühlen, während die ganze Welt eingesperrt ist.

Ich denke an Lydia. Lydia. Ob es wohl je wieder normal zwischen uns sein wird? Ob wir je zusammenfinden?Als Freunde oder vielleicht sogar … Ich denke, alles ist möglich. Ich würde viel dafür geben, wenn das bedeutet, an ihrer Seite zu sein. Sie in meinem Leben zu haben.

Ich biege von der Saalburgstraße in die Berger Straße ab und mustere die Schaufenster, hinter denen alles dunkel ist. Die Stühle, die leer sind. Es ist richtig so, doch es fühlt sich falsch an. Aber wann hat es sich je richtig angefühlt, Menschen zu schützen, auch wenn man es mit solchen Mitteln tun muss? Ich kann ein Lied davon singen. Ich kann verstehen, wie weit man geht, um Leben zu retten. Und das ist am Ende doch genau das, was hier geschieht. Die leeren Straßen und das Eingesperrtsein retten Leben.

Und so langsam frage ich mich, wann ich eigentlich damit beginnen will, mein Leben zu retten. Wann ich endlich erwachsen werden will. Mit mir selbst im Reinen. Wird dieser Tag kommen? Oder werde ich auf ewig Severin, der Idiot bleiben, der alles vermasselt, obwohl er doch eigentlich das Richtige tun will?

Kapitel 1

23. Dezember 2020, 17.34 Uhr

Lydia

Mama? Du? Was … Wieso … äh …« Ich kann fühlen, wie das Blut aus meinem Kopf in die Tiefe sackt und sich mein Magen nach innen wölbt. Sprechen kann ich dafür nicht.

»Ja, Mäuschen. Ich bin es!« Wortfetzen dringen an mein Ohr. Kommen von weit, weit her. Jedenfalls empfinde ich das so.

»M … ama?«, bringe ich noch einmal hervor. Mein Puls rast und meine Beine sind nicht mehr in der Lage, die läppischen 52 Kilogramm zu tragen, die ich nach einem halben Jahr als Gleichstellungsbeauftragte der Eintracht mit Mühe auf die Waage bringe. Ich blicke mich fast panisch nach einer Sitzgelegenheit um. Als ob ich mich direkt vor meinem Elternhaus nicht bestens auskennen würde. Aber: Ich fürchte, mein Orientierungsvermögen ist gerade außer Kraft gesetzt. Ich schaue rechts, schaue links, aber da ist nichts. Ob ich reingehen soll? Es sind nicht mal 50 Meter bis zur Haustür. Besser nicht! 50 Meter können weit sein. Also gleite ich wie ein Plumpsack zu Boden. Sollen die Nachbarn doch denken, was sie wollen, wenn sie die Eintracht-Vizepräsidentin wenige Meter vor ihrem Elternhaus kreidebleich auf dem Bürgersteig hocken sehen.

Vielleicht sollte ich die Maske aufsetzen, schießt es mir durch den Kopf. Dann erkennt mich nicht gleich jeder. Im gleichen Atemzug beantworte ich mir die Frage selbst: »Lydia Heller. Hast du sie eigentlich noch alle!«, entfährt es mir hörbar. Ich nehme das Handy wieder ans Ohr. »Nein. Mama. Du warst nicht gemeint. Obwohl: Äh. Verzeih, aber: Hast du sie noch alle?«

»Ach Mäuschen. Es spielt keine Rolle, was mit mir ist. Glaub mir. Es geht um dich. Sonst würde ich mich wohl kaum so aus dem Nichts heraus bei dir melden.«

»Aus dem Nichts heraus trifft es ziemlich gut.«

Ich habe ein Stück Fassung zurückgewonnen und kann sogar diesen leicht schnippischen Ton, den ich im Kommunikationsseminar für Pressesprecher erlernt habe, in diesen Satz legen. Das hilft auch bei Presseleuten, eine Art dunkelgelbe Karte zu zeigen, wenn sie immer wieder die gleichen blöden Fragen stellen.

»Weihnachten ist doch erst morgen, Mama. Und normalerweise bringt der Briefträger eine Ansichtskarte irgendwo aus Afrika oder was weiß ich woher, mit zwei Wörtern: Frohes Fest!« Ich lege eine kleine Pause ein. Das mit den lieblosen Karten soll erst einmal bei ihr ankommen. Dann hole ich aus.

»Dein letzter Anruf war …«

»Ich weiß. Aber dieses Jahr ist eben alles anders. Ich erkläre es dir. Alles«, unterbricht mich ihre Stimme merkwürdig schroff.

Plötzlich schießt es mir durch den Kopf. Corona!Meldet sie sich bei mir telefonisch … einfach nur, weil sie krank ist, und Angst davor hat zu sterben, ohne vorher noch ein paar Dinge ins Reine gebracht zu haben?

»Bist du mit diesem Virus infiziert?«

»Nein, Mäuschen. Ich bin nicht infiziert.«

»Okay. Was willst du dann? Und hör auf, mich Mäuschen zu nennen. Ich bin schon lange nicht mehr dein Mäuschen!« Ein kurzer Moment der Stille entsteht. Offenbar muss sie meine Antwort erst verdauen.

»Was ich will? Das lässt sich nicht so einfach in drei Worten sagen. Du musst zu Papa und ihm mitteilen, dass ich angerufen habe. Er weiß dann, was zu tun ist. Und bitte, Mäuschen: Tu einfach, was ich sage. Es ist wichtig. Vielleicht sogar überlebenswichtig!«

Ihre Stimme klingt plötzlich so, als hätte ich mein Zimmer mal wieder nicht aufgeräumt. Und das ›überlebenswichtig‹ macht mir Angst.

»Hallo! Mama! Du erinnerst dich doch, oder? Es ist ein paar Tage her, dass wir uns zuletzt gehört haben. Gefühlt: ein paar Jahre. Und du willst das mit deinem Gouvernantenton mal eben aus meinem Gedächtnis streichen? So, als wäre nichts gewesen. Denkst du wirklich, ich glaube noch an den Weihnachtsmann? Ich bin kein Kind mehr … und du hast irgendwann entschieden, nicht mehr meine Mutter sein zu wollen.«

»Nein. Mäuschen. Will ich nicht. Und würde ich ja auch nicht, wenn es nicht so wichtig wäre. Also, ich meine das Aus-der-Welt-schaffen. Nicht das Muttersein. Ach, egal. Du bist in Gefahr.«

»Klar, Mama. Ich sitze hier auf dem Bürgersteig in einer reinen Anliegerstraße und bin ziemlich aufgelöst. Aber: Ich sitze. Also umfallen kann ich nicht, und es sieht auch nicht so aus, als käme der Gruber aus der 79 hier mit seinem aufgemotzten Flitzer um die Ecke gebogen, um mich über den Haufen zu fahren!«

Meine Stimme ist ziemlich am Ende ihrer Kapazitäten angelangt.

Mama scheint das aber überhaupt nicht zu beeindrucken. »Du musst mir einfach nur vertrauen. Ich rufe nicht an, um dir … äh … euch ein schönes Weihnachtsfest zu wünschen. Ich melde mich, um dich zu warnen!«

»Jetzt? Vor was denn? Wie wäre es mit einem Anruf gewesen vor meiner Blinddarm-OP, vor der Abi-Prüfung oder meinem ersten Tag bei der Eintracht? Das mit dem Telefonieren soll weltweit funktionieren, habe ich gehört!«

»Ja, das wollte ich auch immer mal wieder, aber …«

»Was aber! Mama! Willst du mich verarschen?! Wir leben seit einem Jahr in Corona-Zeiten – gut. Weltweit – auch gut, aber da kann man doch völlig gefahrlos telefonieren. Oder nicht?«

»Ach, Mäuschen! Wenn das alles so einfach wäre.«

»Sicher einfacher, als seinen Koffer zu packen und sich auf Nimmerwiedersehen zu verabschieden. Weißt du was, Mama: Leck mich!«

Das hat gesessen. Zumindest herrscht jetzt Stille am anderen Ende der Leitung. Vielleicht, weil diese Art Gefühlsausbruch so gar nicht zu mir zu passen scheint. Ich bin selbst überrascht. Leck mich … ? Aber – was soll’s. Ihre Sprachlosigkeit gibt mir Gelegenheit, ein bisschen auszuholen: »Weißt du, es kann ja sein, dass dich Papa mit seiner Eintracht nur noch genervt hat. Aber was war denn mit mir?«

»Hat es dir Papa nicht gesagt?« Mit sechs Wörtern bringt sie mich wieder aus dem Konzept.

»Was hat mir Papa nicht gesagt?«

Es ist alles so irreal. So völlig aberwitzig. Ich habe die Stimme meiner Mutter beim ersten Ton wiedererkannt. Sie war so vertraut. So völlig vertraut. Als wäre sie niemals weg gewesen. Als wäre da nicht mehr als ein Jahr vergangen, dass ich sie zum letzten Mal am Telefon gehört habe. Und gleichzeitig klang dieses ›Ach Mäuschen‹ so fremd. So entfernt. So schuldig. Eine Träne kullert meine Backe hinunter zu meinem Mundwinkel. Sie schmeckt salzig. Salziger als normal, habe ich das Gefühl.

»Warum ich gegangen bin. Hat Papa es dir nicht gesagt?«

»Nein. Papa hat nicht ein Wort dazu verloren. Er ist damals in seinem Kabuff verschwunden und erst nach vielen Stunden wieder aufgetaucht. Gesagt hat er nichts. Was hätte er denn auch sagen sollen? Dass er dich mit seiner allumfassenden Eintracht-Liebe letztlich fortgetrieben hat? Und dass dir dabei dein Kind völlig egal war? Mama! Hätte er mir das sagen sollen?«

»Ich kann dir nicht sagen, was er hätte machen sollen. Es war seine Entscheidung.«

Und wieder bollert das Blut durch meine Halsschlagader. »Seine Entscheidung!«, brülle ich wie nach dem 5:2 gegen die Bayern letztes Jahr: »Seine Entscheidung! Ich fürchte, du bringst da ein bisschen was durcheinander.«

»Es ist jetzt nicht der richtige Zeitpunkt, um darüber zu streiten. Du musst mir einfach vertrauen. Wo bist du gerade? Im Stadion? Am Riederwald? In Kronberg?«

»Vor Papas Haustür.« Ich versuche, die Worte Papas Haustür möglichst lang zu ziehen. Jeder Buchstabe soll sie daran erinnern, was sie aufgegeben hat. Dass sie mich aufgegeben hat. Schmierentheater, ich weiß, aber das ist mir in diesem Moment egal. Seit vergangenem Mittwoch haben wir wieder einen Lockdown und ich noch immer nicht alle Weihnachtsgeschenke. Leider haben aber keine Geschäfte mehr auf. Also muss ich Gutscheine schreiben und mir irgendwelche Kleinigkeiten einfallen lassen. Außerdem ist heute eine Mini-Weihnachtsfeier bei der Eintracht, zu der ich eigentlich nicht will, weil ich Heiligabend mit Papa verbringen möchte und Angst habe, mich bei dieser Feier anzustecken und ihn dann gleich mit. Er gehört mit seinem scheiß Schlaganfall auch noch zur Risikogruppe. Und weil ich auf Nummer sicher gehen will, werde ich nicht zu dieser Feier gehen und zusätzlich noch einen Test machen. Außerdem hat sich Sev heute abgemeldet, weil er mit seinen ›Buddys‹ aus dem Greifvogel natürlich den Todestag von Mic begehen möchte. Ohne mich. Was ja okay ist, wenn ich nicht genau wüsste, dass er vor Sonntag wahrscheinlich kein Lebenzeichen mehr von sich geben wird. Was mir eigentlich ganz egal sein könnte – wir sind ja schließlich kein Paar –, was mir aber eben verflucht nochmal nicht egal ist. Ich sag’s mal so: Es ist einfach alles wirklich sehr, sehr, sehr viel. Und dann ruft mich meine Ex-Mutter an und will mich vor was auch immer warnen. Mal ehrlich. Fröhliche Weihnachten fühlt sich dann doch irgendwie anders an.

Ich spüre, wie die Galle in meiner Speiseröhre Zentimeter für Zentimeter nach oben klettert.

»Kannst du jetzt bitte einfach tun, was ich sage?«

Wieder so ein Schlüsselwort, das mich innerlich verbluten lässt. Mama meldet sich nach Monaten und wenn ich nicht spure, setzt es Stubenarrest, oder was? Ja, wo sind wir denn?

Es fällt mir schwer, mich zu beherrschen. »Aus welchem fernen Land rufst du eigentlich an?« Sarkastischer hätte nicht einmal Böhmermann diese Frage betonen können.

»Aus Afghanistan! Könntest du mir vielleicht zehn Minuten gönnen?«

Ihr Ton erinnert mich an die Mama, die ich erleben durfte, als ich Kläuschen von nebenan ein blaues Auge verpasst hatte, weil er gesagt hat, die Bayern wären viel besser als die Eintracht. Da war ich sieben und er hatte wahrscheinlich sogar recht. Aber das war mir egal. Ich hätte niemandem erlaubt, so etwas ungestraft zu sagen. Klaus schon gar nicht. Der wollte schließlich mein Freund sein. Und Mama hat mir dann für das blaue Auge in aller Schärfe zwei Wochen Hausarrest aufgebrummt. Was unter dem Strich betrachtet auch pädagogisch nicht wirklich wertvoll war. Zwei Wochen lang hatte ich schließlich keine Gelegenheit, mich mit Kläuschen zu versöhnen. Aber bei Mama gab es da kein Pardon. Und schwups – ein Satz in dieser Tonart reichte, schon stand die kleine Lydia wieder vor ihr. Das funktionierte selbst aus 5.000 Kilometer Entfernung.

»Geh rein zu Papa. Kannst du das für mich tun, bitte!«

Eigentlich hätte ein Fragezeichen ans Satzende platziert werden müssen, aber ich höre nur ein Ausrufezeichen. Und dann dieses Geräusch, das ein Telefon von sich gibt, wenn der Gesprächspartner am Ende der Leitung aufgelegt hat.

Es dauert eine halbe Ewigkeit, bis ich das Handy von meinem Ohr nehmen kann. Hunderttausend Gedanken schwirren durch meinen Kopf. Ungeordnet, zusammenhanglos, chaotisch. War das tatsächlich meine Mutter, mit der ich eben telefoniert habe? Oder hat mir mein Kleinhirn einen bitterbösen Streich gespielt? Morgen ist schließlich Weihnachten. Da kann sich das Unterbewusstsein schon mal dazu aufraffen, seltsame Geschichten zu produzieren. Es gab Zeiten, da habe ich sogar ans Christkind geglaubt. Und an den Osterhasen.

Mit aller Macht versuche ich, mir diesen blödsinnigen Gedanken aus dem Kopf zu schütteln und blicke nach oben. Direkt in zwei rehbraune Augen. Und wieder knallt mein Puls auf weit über 100. Diesmal ist es nur der Schreck. »Was um Himmels willen!«

»Lydia? Bist du das? Was sitzt du denn hier auf dem Bürgersteig herum? Auch wenn wir heute noch 11 Grad haben, was ja am 23. Dezember nicht wirklich kalt ist, willst du ja wohl Weihnachten nicht mit einer Erkältung im Bett liegen?«

Ich schwenke meinen Blick von den beiden rehbraunen Augen knapp zwei Meter nach oben und blicke fassungslos in die Augen von Eric Presfeth.

»Eric? Du? Was …«

Der Lange grinst und streckt mir seine Hand entgegen. »Frau Vizepräsidentin! Würden Sie mal Ihren Hintern von der Straße heben. Als meine Stellvertreterin kann ich doch wohl ein wenig Contenance einfordern. Auch wenn Sie am Telefon sicherlich gerade erfahren haben, dass ich nächstes Jahr nicht nur auf 3.000 Großflächenplakaten für die Meinungsfreiheit eintreten werde, sondern auch nächstes Jahr so wie es aussieht in Oberursel vom Hochtaunuskreis einen Sonderpreis für das Engagement gegen Rassismus und für Vielfalt und Integration erhalten werde, gibt es keinen Grund, vor mir auf den Knien herumzurutschen.«

»Eric. Scheiße. Nein. Sorry. Glückwunsch! Zu den Plakaten und zu diesem Preis.«

Irgendwie scheint mein Kopf nicht mehr wie üblich zu funktionieren. Ich starre abwechselnd den Präsi und Country, seine englische Bulldogge, an. Die beiden Gesichter ähneln sich immer mehr, finde ich, und muss lachen.

»Immerhin. Lydia Heller. Du kannst schon wieder lachen«, grinst Eric Presfeth gut gelaunt zurück. Aber das hält nicht lange an. Schon klingt er besorgt: »Was war denn nun wirklich? Brauchst du einen Arzt?«

Um gleich wieder in seine hemmungslos humorige Art zurückzufallen: »Corona? Oder wartest du hier immer, bis die Gäste deines Vaters das Haus verlassen haben. Damit keiner merkt, dass du wieder bei ihm wohnst? Mit 30!«

»Ach, Eric. Nein. Meine Mutter hat mich gerade angerufen. Du weißt, dass sie das nicht sehr häufig tut. Das hat mich ein wenig aus der Rolle gebracht.«

Ich weiß, dass ich ihm das sagen kann. Er war schließlich auch mit ihr befreundet. Nicht nur mit Papa. Aber er hat nie einen Hehl daraus gemacht, wie sehr er sie dafür verachtet, einfach gegangen zu sein.

»Deine Mutter?! Welch überaus seltener Gast!« Seine Stimme konnte schon immer innerhalb eines Wimpernschlags von warm auf kalt wechseln. Er schüttelte den Kopf: »Sie konnte schon immer Menschen aus der Fassung bringen!«

Mit einem kurzen Schweigen lassen wir diesen Gedankengang kommentarlos stehen. Ich ergreife seine noch immer ausgestreckte Hand und ziehe mich hoch. Auf meine Beine zurück ins Leben. Und schon tickt mein Hirn wieder im Hellerschen Rhythmus.

»Was machst du eigentlich hier? Bei Papa?«, will ich wissen. Eigentlich lässt der Lockdown freundschaftliche Annäherungen schließlich nicht zu.

»Deinem Papa einen Weihnachtsbesuch abstatten. Was glaubst du denn?«

»Ja. Aber Corona! Was, wenn du ihn jetzt angesteckt hast?«

»Ach, Lydia. Ich gehöre zum erweiterten Kreis der Mannschaft und werde doch ständig getestet. Traust du mir tatsächlich zu, dass ich ausgerechnet bei deinem alten Herrn ein Risiko eingehe?« Er zückt eine FFP2-Maske und wedelt triumphierend damit herum.

»Sorry. Ich bin noch ein bisschen neben der Spur. Der Anruf. Tut mir leid.«

»Macht nichts. Kommst du denn zu unserer kleinen improvisierten Feier in die Geschäftsstelle? Ich fahr da jetzt hin.«

»Nee, Mr. President. Ich will Weihnachten mit Papa verbringen und kein Risiko eingehen. Außerdem muss ich die Sache mit meiner Mutter klären. Sie meinte, ich solle Papa dazu fragen. Aber bei der Art und Weise, wie der gewöhnlich die Dinge ausschmückt, weiß ich wahrscheinlich am Ersten Weihnachtsfeiertag immer noch nicht, um was es eigentlich geht. Also sei so lieb: Grüß alle, wünsch ihnen frohe Weihnachten von mir. Wir sehen uns am Montag in der Präsidiumssitzung. Die findet doch statt? Per Zoom – wie üblich?«

»Wie du willst! Und – bevor ich es vergesse: Du kannst am Montag dann ruhig öffentlich machen, dass du in Kronberg ausgezogen bist und wieder zu Hause wohnst. Es wissen doch eh alle.«

Damit breitet Eric seine Arme aus und gibt mir einen Moment der völligen Geborgenheit. Direkt gefolgt von Panik – coronakonform geht anders.

»Danke, Eric. Hab ein frohes Fest!«

Er murmelt ein »Du auch« und ich blicke ihm einen Moment versonnen hinterher. Drahtig, geht mir durch den Kopf, als er in einer geschmeidigen Bewegung in seinen 911er flutscht. So ganz anders als Papa, wenn er sich mühevoll aus seinem Rolli quält. Klar: Auch bei Eric geht das nicht mehr so flüssig wie noch vor 20 Jahren, als ich seinen Flitzer das erste Mal vor unserer Haustür gesehen habe. Damals habe ich gedacht: Das kann nicht sein, dass ein so großer Mann in einem so kleinen Auto Platz hat. Und damals war Papa auch noch fit wie ein Turnschuh.

Manchmal ist das Leben schon fies, denke ich und bereite mich innerlich auf die amüsante Begegnung der dritten Art vor, die jetzt vor mir liegen dürfte. Bei Papa etwas über Mama herauszufinden, war schon immer so gut wie unmöglich. Allein beim Wort ›Mama‹ geht er für gewöhnlich zu wie eine Auster. Mal sehen, wie das jetzt ausgeht.

Ich atme zweimal tief durch und stecke den Schlüssel in die Tür.

Kapitel 2

23. Dezember 2020, 17.39 Uhr

Severin

Was zum Henker tust du da, Sev?«

»Geht dich nichts an«, gebe ich zurück, ohne Tim anzuschauen.

»Du durchsuchst meine Schränke. Ich finde schon, dass mich das etwas angeht.«

»Psst, Mobby Dick.«

»Severin!«, brummt er und packt meinen Arm, um mich zu sich zu drehen. »Was tust du da?«

»Ich suche nach einem passenden Geschenk.«

»In meinen Schubladen?« Er zieht seine Brauen hoch. »Und für wen soll das Geschenk sein?«

»Für Lydia.«

»Du hast komplett den Verstand verloren«, murmelt er kopfschüttelnd vor sich hin und setzt sich resigniert auf seinen dämlichen Ledersessel.

»Warum denkst du, dass du bei mir ein Geschenk für Lydia finden wirst?«

»Ich habe keine andere Wahl. Die Läden haben dank des Kackvirus zu.«

»Deshalb denkt man nicht erst einen Tag vor Weihnachten über Weihnachtsgeschenke nach.« Tim schüttelt den Kopf und seufzt. »Versuchs bei eBay Kleinanzeigen.«

»Ich liebe dich!«, sage ich mit einem breiten Grinsen, nehme mein Bier vom Couchtisch und setze mich, bevor ich einen Schluck nehme und mein Handy zücke.

»Was wünschen sich Frauen?«, frage ich dann hilflos und sehe zu Tim auf. Aber schon in dem Moment muss ich laut loslachen. »Als ob du das wüsstest.«

»Witzig. Mit deinem Wissen über die Frauen, die mit einem wie dir in die Kiste steigen, kommst du bei Lydia auch nicht weit.«

»Mh«, mache ich und verziehe den Mund, während ich die Angebote in der Nähe durchsuche.

»Vielleicht sollten wir uns der Frage stellen, warum du Lydia etwas schenken willst.« Seine Stimme nimmt diesen bestimmten Ton an. Etwas leiser und unschuldig. Das macht er immer, wenn er mich etwas sehr Privates fragt.

»Weil ich geträumt habe, dass sie mir etwas geschenkt hat, und ich dastand und nichts hatte.«

Tim blinzelt, als würde er auf die richtige Antwort warten. Aber genau so ist es gewesen.

»Sie wird dir niemals was schenken.«

»Und warum nicht, Schlauberger?«

»Weil ihr nicht zusammen seid.«

»Tim … Du hast mir auch was geschenkt. Sind wir jetzt neuerdings zusammen?«

»Du bist mein bester Freund«, kontert er und hebt die Schultern.

»Und Lydia ist meine beste Freundin.«

»Das hast du vermasselt, als du dich besoffen von Jules getrennt hast, nur um Lydia dann eine lallende Sprachnachricht zu schicken, wie sexy sie doch ist.«

»Erinnere mich nicht daran«, stöhne ich und presse die Lider zusammen. Ich wünschte, ich könnte diese Nachricht und Lydias Reaktion darauf vergessen.

»Wenn deine rötlichen Haare auf die Sonne treffen, dann ist das für mich die Verkörperung von Sommer …«

»Halt’s Maul, Tim!«, zische ich und reibe mir über die Stirn, während Tim leise vor sich hin kichert. Wirklich witzig. Lydia hat mich daraufhin zwei Wochen ignoriert und dann so getan, als wäre nie etwas gewesen.

»Vielleicht sollte ich heimfahren und in der Schmuckschublade meiner Mom suchen.«

»Wag es, Sev! Deine Mutter ist der liebenswerteste Mensch der Welt und hat das sicher nicht verdient.«

Ich swipe weiter und bleibe an einer alten Armbanduhr hängen. Als hätte ich keine Kontrolle über meine Mimik, verziehen sich meine Lippen zu einem Lächeln.

Genauso eine Uhr hat Lydia von ihrer Mutter geerbt. Wir haben dann später in der Uni Spiele gespielt, um uns herauszufordern, aber vor allem, um die Zeit zu vertreiben.

Jede volle Uhrzeit stand für ein Buch. Lydias Lieblingszeit war 16 Uhr, denn da haben wir uns Rätsel zu Emilia Galotti gestellt. Soll ein Mensch verstehen, warum sie dieses Buch so liebt. Der Minutenzeiger stand damals für die Personen im Buch und wir mussten dann eine Frage aus ihrer Sicht beantworten. Ich habe meistens kläglich versagt.

Später, als Lydia die Uhr gestohlen wurde, haben wir das Spiel nie wieder gespielt. Offenbar hat ihre Mutter ein ähnliches Spiel mit ihr und dieser Uhr gespielt und der Verlust des letzten Gegenstands, den sie von ihr noch hatte, hat alles verändert.

»Ich hab was«, sage ich und reiße mich selbst aus meiner Trance. »Los, wir fahren nach Eschersheim. Dann lasse ich dich bei deinen Eltern raus und fahre anschließend zu meinen.«

»Und wie komme ich dann zur Weihnachtsfeier ohne Auto?«, hakt Tim genervt nach.

»Erstens sind Weihnachtsfeiern verboten und zweitens muss ich, nachdem ich bei meinen Eltern war, sowieso zum Stadion.« Ich mache eine kurze Pause. »Mics Todestag.«

»In Ordnung«, raunt Tim und steht auf. »Und du bist dir sicher, dass du morgen bei mir sein willst? Es ist Heiligabend.«

»Du kennst doch meine Mom. Nie in Amerika gelebt und trotzdem feiern wir erst am Ersten Weihnachtsfeiertag. Morgen wird nur Nastassia da rumlaufen und alle verrückt machen, weil im Braten keine giftigen Stoffe sein dürfen.«

Tim grinst. Ich weiß, dass es ihm viel bedeutet, an Heiligabend nicht allein sein zu müssen. Seine Eltern fahren noch heute zu Tims Oma in den Osten. Er bleibt hier, weil er kein Risiko für sie darstellen will. Und auch heute treffen sie sich nur mit viel Abstand in ihrem Garten, um einen Glühwein zu trinken. Also haben wir beschlossen, zu zweit zu feiern. Lydia wird bei ihrem Dad sein. Und ehrlich gesagt, habe ich keine Ahnung, ob ich sie gerne in unserer kleinen Runde dabei hätte. Es ist einfach seltsam zwischen uns. Als hätten wir die Freundschaftsebene verlassen und würden jetzt in der ›da ist was zwischen uns, was keiner benennen will‹-Ebene feststecken.

»Los jetzt, der Kerl ist nur noch ’ne halbe Stunde zu Hause.«

Als wir in meinem Mustang sitzen, beginnt Tim nervös auf seinem Handy herumzutippen. Ich runzle die Stirn und versuche einen Blick zu erhaschen. Aber ich erkenne nichts.

»Was machst du da?«

»Geht dich nichts an.«

»Wow. Ich dachte, wir sind beste Freunde.«

Tim wirft mir einen genervten Blick zu. »Es geht dich zwar trotzdem nichts an, aber ich schreibe mit einer Frau.«

»Ist sie ein Roboter?«

»Siehst du! Und genau aus diesem Grund erzähle ich dir sowas nicht!«, zischt er und verschränkt zornig die Arme vor der Brust.

»Entschuldige. Also nochmal von vorne. Woher kennt ihr euch?«

»Tinder«, sagt er und mustert mich, als würde er auf den nächsten dummen Spruch warten. Aber ich zügle mich. »Und weiter? Wie heißt sie? Wie alt? Woher? Ist sie heiß?«

Er schnauft. »Sie heißt Meike und ist 27. Hier aus Frankfurt.«

»Soll ich dich lieber bei ihr rauslassen?« Ich zwinkere ihm lasziv zu. Aber Tim schüttelt nur bedröppelt den Kopf. »Ich kann sie nicht treffen.«

»Und warum nicht?«

»Weil sie sicher denkt, dass ich besser aussehe als …«, er deutet an sich hinab, »so!«

»Was für ein Schwachsinn. Außerdem hast du doch sicher ein Bild drin.«

»Ja, aber da bin ich gut getroffen und schlanker.«

Ich blinzle. »Wann warst du mal schlanker? Als du zehn warst?«

»Nicht witzig. Nach dem Studium habe ich eine Weile eine Diät gemacht.«

»Und weiter? Jeder hat während Corona zugenommen. Schieb’s darauf.«

»Das ist alles nicht so einfach wie für dich, Sev. Ich habe nie Dates. Ich wüsste nicht mal, was ich sagen soll.«

»Aber du schreibst ihr doch auch. Du machst einfach genau so weiter, nur dass du nicht schreibst, sondern die Worte ausnahmsweise aus deinem Mund kommen.«

Tim zuckt mit den Schultern und sieht aus dem Fenster.

»Ist das Gespräch damit beendet?«, hake ich nach und bekomme nur ein sanftes Nicken. Allerdings werde ich keine Ruhe geben. Jetzt vielleicht, damit er sich nicht noch weiter in seinen Hasenbau zurückzieht. Aber früher oder später bekomme ich ihn schon dazu, sie zu treffen.

Ich halte bei der Adresse, die der Kerl angegeben hat, kaufe die Uhr und fahre Tim dann zu seinen Eltern, bevor ich zum Nordend fahre, parke und am Holzhausenpark vorbei zum Haus meiner Eltern schlendere.

»Mom!«, rufe ich, als ich mich durch den Flur voller Weihnachtsschmuck gequetscht habe und in die Küche trete, wo – wie immer einen Tag zu früh – Nasti steht und die Packungen überprüft, die Mom zum Kochen benutzen will.

»Wo ist Mom?«

»Hallo auch«, zischt Nasti und spitzt ihre Lippen.

»Hallo. Wo ist Mom?«, wiederhole ich genervt und versenke meine Hände in den Hosentaschen. Vielleicht hätte ich mich dicker anziehen sollen.

»Im Garten mit Papa. Irgendein bescheuertes Rentier aufstellen.«

»Danke, Schwesterlein«, sage ich, schnappe mir einen Apfel und gehe durch das Esszimmer hinaus auf die Terrasse, wo Mom steht und Dad Anweisungen zubrüllt, der nicht sehr elegant auf der Leiter steht. Ein Rentier, Kabel und Stecker in der Hand.

»Oh hallo, Honey«, sagt Mom und drückt mir einen Kuss auf die Wange.

»Ja, haltet doch am besten noch ein Kaffeekränzchen, statt mir zu sagen, wo dieses Mistvieh hin soll!«, beschwert sich Dad sichtlich genervt von oben.

»Jesus«, flucht Mom auf Englisch und berührt ihre Schläfe.

»Stell ihn einfach irgendwo hin, bevor du dich noch umbringst.«

»Na schön.« Dad schmeißt das Rentier förmlich auf das Dach und wir alle sehen dabei zu, wie es immer weiter hinabrutscht, bis es in der Regenrinne steckenbleibt und schief hinabhängt, Dad den Stecker reinsteckt und von der Leiter steigt. Ich hebe belustigt meine Brauen. »Ein echtes Kunstwerk.«

»Deine Mutter kann einfach keine klaren Aussagen treffen«, beschwert er sich und klopft mir auf die Schulter. »Und ich muss jetzt ins Gericht. Hab den Kollegen frei gegeben und den Notdienst selbst übernommen.«

»Sieht man«, kommentiere ich den Anzug, den er trägt. »Passende Kleidung, um auf dem Dach herumzuklettern.«

»Er hätte den Weihnachtsschmuck auch wie alle anderen Nachbarn schon vor dem ersten Advent anbringen können. Aber dein Oberstaatsanwalt-Vater hat ja zu viele Termine, um die Bitten seiner Frauen wahrzunehmen«, gibt Mom ihren Senf dazu.

»Wie auch immer«, sagt Dad, küsst Mom und verschwindet dann.

Mein Blick ruht noch eine Weile auf dem Rentier, das aussieht, als hätte es sturzbetrunken seinen Schlitten verloren, wäre vom Himmel direkt auf unser Dach geknallt und würde jetzt von der Regenrinne aus in unseren Garten reihern.

»Komm rein, Honey«, höre ich Mom sagen und folge ihr.

»Was machst du überhaupt hier?«, fragt Nasti durch die offene Küchentür, ohne ihren Blick von der Packung Soßenbinder, die sie gerade inspiziert, abzuwenden. Seitdem sie im Internet auf eine App gestoßen ist, die alle für Kinder gefährlichen Stoffe aufzählt, ist sie wie besessen, etwas ›Hochgiftiges‹ im Essen anderer Leute zu finden. Wahrscheinlich nur, um dann hämisch zu grinsen und zu sagen: »Ohne mich – tot!«

»Ich wollte Mom besuchen«, gebe ich zurück und ziehe dann die Uhr aus der Tasche. »Und fragen, ob du Geschenkpapier hast.« Ich blinzle Mom unschuldig an, während Nasti mit der Zunge schnalzt.

»Ich hoffe, das alte Ding ist nicht für mich.«

»Seit wann bekommst du Geschenke von mir?«, kontere ich und zwinkere ihr zu.

»Hauptsache, du hast etwas für Leonard besorgt. Du weißt, wie sehr er seinen Onkel liebt.«

»Und das tut er nicht mehr, wenn ich ihm nichts schenke?«

»Hört auf, Kinder«, mischt sich Mom ein und nimmt mir die Uhr ab. »Ist sie für Lydia? Kommt sie auch?«

»Nein. Sie feiert bei ihrem Pa.«

»Wie schade. Aber ich schaue mal, was ich finde.« Sie drückt mir die Uhr wieder in die Hand und verschwindet, woraufhin mir ein kleines »verdammt« über die Lippen gleitet.

»Hast wohl gehofft, dass sie es dir einpackt«, giftet Nasti. Ich atme tief ein und ignoriere sie. Stattdessen beiße ich in den Apfel, um auch meinen Mund daran zu hindern, mit irgendeiner unpassenden Gemeinheit auf ihre Provokation einzugehen. Stoff gäbe es schließlich genug.

Wir schweigen uns an, bis Mom wiederkommt und mir ein Tütchen in die Hand drückt. Ich stecke es zusammen mit der Uhr zurück in meine Hosentasche und schmeiße den Apfel in den Müll. »Ich treffe mich jetzt mit Hel, Gustav und Kev. Wir sehen uns übermorgen.«

»Komm bloß nicht zu spät, Severin. Pünktlich um 12 Uhr öffnen wir die Geschenke.«

»Ich weiß, Mom«, sage ich, küsse sie auf die Stirn und gehe. Nasti winke ich nur knapp zu.

Als ich Tim wieder eingesammelt habe, ist auch er seltsam schweigsam und ich bekomme allmählich das Gefühl, dass dieses Weihnachten anders wird. Scheiß Corona hat alles verändert. So langsam könnte es wirklich vorbei sein.

»Hier, dein Test«, sagt Tim dann irgendwann und legt ein Päckchen in meine Mittelkonsole. »Woher hast du den? Außerdem war ich heute Vormittag im Testzentrum. Weißt du doch.«

»Doppelt hält besser. Und ich habe Verbindungen.«

»Klingt, als wärst du ein Schmuggler.«

»Ja genau, Severin. Ich schmuggle nebenberuflich Corona-Tests.«

»Das erklärt auch deine teure Wohnung.«

»Witzig«, mault er und beginnt mir vorzulesen, was ich zu tun habe. Als wir am Stadion angekommen sind und Tim sei Dank direkt vor dem Stadion parken konnten, hat er mich bereits so zugelabert, dass ich mir das blöde Stäbchen freiwillig in die Nase stecke und drehe, bis meine Augen leicht tränen.

Tim nimmt es und drückt es in das kleine Gefäß, bevor wir eine Viertelstunde warten und er mir endlich das Okay gibt, auszusteigen.

»Wie gesagt, ich war schon heute Vormittag negativ.«

»Du bist immer negativ«, lacht Tim und klopft sich selbst auf die Schulter. Ich stimme in sein Lachen ein, auch wenn das wirklich der schlechteste Witz aller Zeiten war. Aber ich muss den Plan verfolgen, ihn mutig genug zu machen, um sich mit dieser Meike zu treffen. Außerdem ist Weihnachten und da muss man ja angeblich nett sein.

»Also … Wir sehen uns dann später im Greifvogel«, beginnt Tim mit einem Blick auf seine Uhr. Ich hasse es, wenn er in seinen Planungsmodus fällt. »Sind von hier aus ja nur 20 Minuten zu Fuß. Oder irgendjemand nimmt mich nachher mit und setzt mich ab. Aber du fährst dann nicht mehr! Stell dein Auto an der Rennbahn ab und gib am besten Hel den Schlüssel.«

»Ich würde nie betrunken fahren, Tim«, gebe ich mit Unschuldsmine zurück und sehe mich um, bis ich Hel und Gustav entdecke, die gerade den Weg vom Haupteingang hochkommen.

»Also, viel Spaß mein kleiner Frauenheld, hab dich lieb«, sage ich zu Tim, kneife ihm in die Wange und laufe zu den anderen.

»Du mich auch, Severin!«, ruft Tim mir nach und verabschiedet mich dabei mit einer nicht gerade netten Handbewegung.

Ich begrüße Hel, die mich eine halbe Ewigkeit drückt, bevor Gustav mich väterlich in den Arm nimmt und seine Hand auf meinen Rücken klatschen lässt.

»Hier sind unsere Ergebnisse«, sagt Hel und zeigt mir eine Mail auf ihrem Handy.

»Hel, ich vertraue euch.«

»Na, schließlich hast du auf die Tests bestanden«, brummt Gustav durch seinen weißen Bart und deutet dann hinter sich, wo Kevin erscheint und mir die Faust entgegenhält.

»Was ist mit Claudia?«

»Sie ist im Greifvogel geblieben und bereitet alles vor, wenn wir danach zu ihr kommen«, sagt Hel und deutet auf die Tribüne, die im Dunkeln noch gewaltiger aussieht. Mehr als 30 Meter hoch reckt sie sich in den düsteren Abendhimmel. Hels Blick vernebelt sich.

»Wir legen nur diese blöden Blumen ab und dann gehen wir wieder, ok?«

Ich nicke. Wir alle wissen, dass sie nicht gerne hier ist, und doch war es ihre Idee. Vielleicht weiß sie tief in ihrem Inneren, dass sie sich diesem Ort, nein, dem ganzen Stadion irgendwann stellen muss, wenn sie Mic und dem Fußball wieder nah sein will.

Hel drückt mir eine Blume in die Hand und schenkt mir ein trostloses Lächeln, bevor wir die Rampe hochgehen. Ich versuche, die Gedanken an Mic und seinen Selbstmord zu verdrängen. Versuche, nicht darüber nachzudenken, wie allein er sich nach seiner Verhaftung und dem darauffolgenden Freispruch gefühlt haben muss. Zwar hatte er nichts mit der Bombe und den Morden zu tun, die der Ordner begangen hat, aber einmal verhaftet und unter Verdacht, wird man das nur schwer wieder los. Mic hat es nicht geschafft und ich wünschte, ich wäre mehr für ihn da gewesen. Ich wünschte, er hätte sich mir oder Hel oder einem der anderen anvertraut. Aber so war er nie gewesen. Mein Herzschlag beschleunigt sich schmerzhaft, als wir direkt unter der Nordwestkurve stehen. Mic, das Stadion, das alles hier fühlt sich wie ein altes Leben an. Eines, nach dem ich mich manchmal sehne. Oder vielleicht sehne ich mich viel eher nach einer Zeit, in der noch nicht alles dermaßen befleckt war. Jetzt ist es das. Und ich bin es auch.

Kapitel 3

23. Dezember 2020, 18.57 Uhr

Lydia

Ich glaube, du bist ernsthaft in Schwierigkeiten. Ich kann mir nicht vorstellen, dass deine Mutter sich meldet, wenn es nicht wirklich wichtig wäre!«

Papas Gesicht nimmt bei diesem Satz einen denkwürdigen Ausdruck an. Das macht mich noch zorniger. Ich fühle mich so maßlos hintergangen. In den letzten Minuten habe ich Papa von diesem merkwürdigen Anruf erzählt und war absolut sicher: Der alte Mann würde aus allen Wolken fallen. Aber nichts da. Ja, er war ein wenig über den Zeitpunkt ihres Anrufs überrascht. Am 23. Dezember hatte er damit wohl noch nicht gerechnet. Wenn, dann frühestens Samstag. Aber kaum habe ich ihm gesagt, dass sie mich warnen wollte, änderte sich sein Verhalten schlagartig. Wie bei einem Schauspieler, der in seine Rolle schlüpft. Aus Dr. Jekyll wird Mr. Hyde. Plötzlich schien mir der ältere Herr im Rollstuhl, den der Abgang seiner Frau, meiner Mutter, in meinen Augen zu einem gebrochenen Mann hat werden lassen, völlig verändert. Fast verhält er sich wie ein Komplize dieser Frau.

»Hallo! Mama hat sich in den letzten 15 Jahren höchstens zweimal im Jahr gemeldet. An Weihnachten und zum Geburtstag. Fertig.«

»Genau das meine ich ja.«

Sein Blick geht bei diesem Satz aus dem Küchenfenster hinaus in den Garten und bleibt offenbar an der alten Weide hängen, die er vor vielen Jahren gepflanzt hat. Den Blick kenne ich nur zu gut. Ich habe in diesen Momenten immer gedacht: Jetzt hat sich seine Erinnerung an irgendeiner Eintracht-Episode aufgehängt. Aber jetzt auch? Lange Pause.

»Es gibt einen guten Grund, warum Mama uns damals verlassen hat. Und der hat mit meiner Eintracht-Leidenschaft eher weniger zu tun. Nur am Rande sozusagen. Wobei dieser Rand schon eine entscheidende Rolle gespielt hat.«

»Papa! Bitte! Komm mir jetzt nicht mit irgendwelchen kryptischen Andeutungen. Erzähl mir doch einfach die Wahrheit. Ich denke, die habe ich langsam wirklich verdient. Ich verstehe nämlich rein gar nichts mehr.«

Ich schaue ihn mit leeren Augen an. Das sichere Gefühl in der Magengegend, dass wohl gleich eine Welt zusammenbrechen wird. Meine Welt. Und ich weiß: Genau darauf habe ich nach diesem elenden Seuchenjahr mit all den Einschränkungen null Bock. Solange ich nur stellvertretende Pressesprecherin der Fußball AG war – alles gut. Klar: Wir hätten im Nachhinein besser darauf verzichtet, unbedingt noch schnell gegen Basel zu spielen. Aber egal. Doch dann musste Eric ja wegen der Vorkommnisse im Stadion am 15. November letzten Jahres auf die Idee kommen, mich übergangsweise zur Vizepräsidentin des Vereins und Gleichstellungsbeauftragten zu machen. Dummerweise ziemlich genau in dem Moment, in dem sich ein Virus auf den Weg machte, die Welt in Unordnung zu stürzen. Die Eintracht hat mit Basketball, Boxen, Eishockey, Eissport, Fanabteilung, Fechten, Fußball, Handball, Hockey, Leichtathletik, Ringen, Rugby, Tennis, Tischtennis, Triathlon, Turnen, Ultimate Frisbee und Volleyball 18 Abteilungen und damit unendlich viele Sportlerinnen und Sportler, die von der Pandemie eiskalt erwischt wurden und von den Abteilungsleitern und dem Präsidium Antworten erwarteten und ja auch verdient hatten. Gleichgestellt habe ich seither wenn überhaupt nur noch die gendergerechte Schreibweise unserer Presseinfos. Und ich wollte doch so viel bewirken. Hoffentlich kommt irgendwann wieder eine Zeit, in der alles normal ist. So normal, wie es eben sein kann …

»Heute ist der 23. Dezember. Ich habe eine Menge Stress hinter mir in diesem Jahr. Also, bitte, komm mir nicht mit Game of Thrones, Teil 74, oder mit dem Sandmännchen.«

Papa schaut betroffen, bringt seinen Rolli in Position und wuchtet sich auf den Küchenstuhl. »Setz dich!«, befiehlt er dann und deutet auf die Bank, auf der ich schon als Kind gesessen habe, um meine Hausaufgaben zu machen. Natürlich hatte ich auch einen Schreibtisch in meinem Zimmer, aber am liebsten kritzelte ich meine ersten Wörter genau hier in mein Heft. Und Mama schaute mit einem prüfenden Blick zu, während sie Kartoffeln schälte oder etwas Leckeres zubereitete.

»Weißt du, Schatz. Um alles zu verstehen, muss ich ziemlich weit zurückgehen.«

»Von mir aus bis in die Steinzeit. Hauptsache, die Geschichte ergibt Sinn!« Ich beiße mir auf die Lippen. So patzig sollte meine Antwort gar nicht ausfallen. Vielleicht hat Tim doch recht, dass ich ziemlich auf dem Zahnfleisch gehe …

»Und ich erzähle dir das nur, weil ich deine Mutter kenne und sicher bin: Du musst das jetzt wissen.« Er atmet tief ein. So, als müsse er Anlauf nehmen.

»Alles begann mit dem Tag, an dem ich deine Mutter kennengelernt habe. Das ist lange her. Genauer: mehr als 30 Jahre. Aber ich erinnere mich daran so gut wie heute. Es war der 30. November 1989. Genau drei Wochen nach dem Mauerfall. Ein Donnerstag. Ich war in Bad Homburg in der Redaktion. Ziemlich früh, jedenfalls für meine Verhältnisse. Um kurz nach 8 Uhr. Was daran lag, dass ich zeitig wieder weg wollte, weil ich am Abend eine Verabredung hatte. Mit einer Kollegin. Johanna.«

»Papa. Bitte. Nicht wieder abschweifen!«

»Ist ja schon gut. Auf jeden Fall hat es so um halb neun einen unglaublichen Knall gegeben. Ich wusste gleich: Da ist etwas explodiert. Irgendetwas Großes. Ich dachte erst, das war am Bahnhof, aber keine Wolke am Himmel. In die Richtung konnte ich ja gucken.«

»Das heißt, das war in der alten Redaktion?«

»Ja, genau und – weißt du – das hat so gescheppert, da haben die Scheiben vibriert. Und ich habe nur gedacht: Das ist jetzt die Geschichte deines Lebens. Aber vom Fenster aus war nichts zu sehen. Bis zum Karstadt runter – nichts. Also habe ich meine Jacke geschnappt und bin los. Die Louisenstraße entlang Richtung Europakreisel. Und überall standen Menschengruppen, haben diskutiert und gestikuliert und in alle möglichen Himmelsrichtungen gezeigt. Aber Genaueres wusste offensichtlich niemand. Also: Ich immer weiter. Hab gedacht: Vielleicht ist bei Fresenius irgendetwas in die Luft geflogen. Oder ein Tanklastzug hatte am Kreuz einen Unfall und ist explodiert.«

»Und dann?«

»Dann sind die ersten Blaulichter aufgetaucht. Am Europakreisel vorbei Richtung Kaiser-Friedrich-Promenade. Und ich dachte noch: Wow. Hat es etwa die Taunus Therme erwischt? Und da ist mir deine Mutter in die Arme gelaufen. An der Tankstelle am Kreisel. Mit Schmackes. Sie hat sich im Laufen herumgedreht, und ich hatte wirklich keine Chance mehr auszuweichen.«

Wieder schaut Papa durchs Fenster in den Garten zur alten Weide und mir wird inzwischen klar: Nein, da draußen im Garten sucht er definitiv nicht nach verborgenen Eintracht-Erinnerungen …

»Blödmann! Kannst du nicht aufpassen – hat sie mich angeschnauzt. Und ich war sofort verliebt. In ihren Blondschopf. Ihre wunderschönen blauen Augen. Dieses freche Mundwerk mit leichtem Berliner Akzent. Sofort.«

»Papa. Komm doch mal zum Punkt. Bitte.«

Keine geschmackvolle Unterbrechung. Das kann ich sofort an seinem Gesicht sehen. Und eigentlich tut es mir auch schon wieder leid. Warum kann ich mein Mundwerk nicht einfach mal halten?

»Ach, Kind. Wie wäre es denn, wenn du mal aufhören würdest, davon auszugehen, dass du allein darunter zu leiden hattest, dass sie gegangen ist, und mich mal kurz in Erinnerungen schweifen lässt?«

Ich schwanke. Verstehe, dass er ebenfalls emotional angeschlagen ist. Trotzdem: Tief in mir begehrt etwas auf, aber ich entscheide, nichts zu sagen.

»Sie hatte merkwürdige rote Sprenkel im Gesicht und auf ihrem Pullover, und ich habe sofort gedacht: die Bombe! Ohne, dass ich überhaupt wusste, dass da eine Bombe explodiert war. Hat sie am Ende etwas damit zu tun? Aber zwei Augenaufschläge später hat sich keiner mehr für die Bombe interessiert. Jedenfalls sie nicht und ich auch nicht.«

»Ja, Hedwig Courths-Mahler lässt grüßen. Sie hätte eure Liebesgeschichte nicht schöner beschreiben können. Und dann seid ihr wahrscheinlich in den Kurpark und habt – oh Gott, ich will es gar nicht wissen – und am Ende kam ich dabei heraus. Aber das hilft mir gerade nicht wirklich weiter. Warum ist sie nach 15 Jahren gegangen und wovor will sie mich jetzt warnen?«

»Alles war gut. Die roten Spritzer waren kein Blut, sondern Kirschsaft. Die Flasche war ihr aus der Hand geglitten, als die Bombe am Seedammbad hochgegangen ist. Sie war zufällig gerade da, als das Attentat verübt wurde und Herrhausen gestorben ist. Wie das Schicksal eben manchmal spielt: Nah genug, um das Glas mit dem Kirschsaft vor Schreck fallen zu lassen, weit genug entfernt, um ohne Verletzungen davonzukommen.«

Mit einem kurzen Kopfschütteln beamt sich Papa zurück, wie er es so schön nennt. Typisch Generation Star Trek.

»Ich habe ihr dann meine Jacke übergehängt und sie zu Michael ins Petit Café gebracht. Sie brauchte offenkundig einen starken Kaffee. Besser noch einen Schnaps, aber dafür war es einfach zu früh.«

»Papa!«

»Ist ja gut. Auf jeden Fall war sie erst zwei Tage vorher mit ihrem alten Trabi aus der DDR gekommen, um den kapitalistischen Westen mal genauer zu begutachten, wie sie meinte. Geschlafen hat sie in der Jugendherberge und eigentlich wollte sie mit der Bahn nach Frankfurt, hatte sich aber verlaufen.«

»Papa! Geht es ein bisschen knapper?«

»Knapper? Sie haben ein Kind gezeugt, geheiratet und lebten glücklich und zufrieden in einem kleinen Häuschen in Zeilsheim … knapp genug?«

»So knapp nun auch wieder nicht.«

»Doch, das passt schon. Ich habe nicht viel gefragt, und sie mochte nicht viel aus den alten Zeiten erzählen. Ihre Eltern waren bei einem Verkehrsunfall ums Leben gekommen. Es gab keine Geschwister oder sonst jemanden. Und ihr Studium hatte sie nach dem Unfall der Eltern geschmissen. Die Zeichen standen wie im ganzen Osten auf Neuanfang. Hier. Bei mir.«

»Aber wie können zwei Menschen, die sich so aufeinander eingelassen haben, plötzlich auseinandergehen. Das passt doch gar nicht!«

»Es war alles gut, bis zu einem Sonntagmorgen im Oktober 2002. Da stand plötzlich ein Kerl vor unserer Haustür. Johannes Grahms. Sagte, er sei ein alter Bekannter deiner Mutter. Aus DDR-Zeiten. Wolle mal Erinnerungen auffrischen. Ich hatte sofort ein ungutes Gefühl und deine Mutter ist kreidebleich geworden, als sie ihn sah.«

»Warum hast du ihn nicht einfach vor die Tür gesetzt?«

»Wollte ich ja, aber deine Mutter hat mich nicht gelassen. Und dann haben sich die beiden in den Garten verzogen und vielleicht eine halbe Stunde lang miteinander gesprochen. Deine Mutter war ziemlich aufgebracht. Sie hat ihn dann zur Tür gezerrt und ihm gesagt, dass sie sich bei ihm melden wird. Danach hat sie zwei Tage lang erst mal gar nichts gesagt und mir dann ihre wahre Geschichte erzählt.«

»Ihre wahre Geschichte?«

»Ja, Kind: Deine Mutter ist nicht in der ehemaligen DDR aufgewachsen, sondern in Hamburg. Sie hat weder ihre Eltern bei einem Verkehrsunfall verloren noch jemals ihr Studium beendet. Dafür hatte sie Mitte der 70er Jahre keine Zeit. Sie wurde 1973 als Hausbesetzerin verhaftet und von den Polizisten bei dieser Aktion ziemlich gedemütigt. Sie haben ihr wohl sogar an die Brüste gepackt. Was sie dazu brachte, sich – kaum wieder auf freiem Fuß – mit Mitgliedern der sogenannten Komitees gegen Folter zu treffen.«

Jetzt war es an mir, fassungslos aus dem Fenster zu starren. Ich bin erst weit danach geboren, aber ein bisschen was aus dieser Zeit ist mir durchaus bekannt. Ganz abgesehen davon, habe ich gerade erst den Film der ›Deutsche Herbst‹ gesehen, und Stuttgart-Stammheim als Symbolstätte der Auseinandersetzung zwischen Staat und RAF schlechthin bei einer Klassenfahrt besucht. Ich weiß: Die Entführung der Lufthansa-Maschine Landshut und der Versuch, die inhaftierten RAF-Terroristen freizupressen, ist gescheitert, und daraufhin haben Baader, ­Ensslin und Raspe Selbstmord begangen. Wie Ulrike Meinhoff schon vor der Urteilsverkündung. Die Erpresser haben daraufhin den Arbeitgeberpräsidenten Schleyer ermordet. Der Staat hat sich zwar nicht erpressen lassen, dafür aber ein Menschenleben geopfert. Toller Film. Und Mama gehörte dazu?

»Die galten als Teil der Sympathisantenszene der RAF.«

»Ja, und damit kannst du dir ja vorstellen, wie die Geschichte weitergegangen ist.«

»Meine Mutter – die Terroristin?« Tränen schießen in meine Augen und ich kann sie nicht aufhalten. Sollte das wirklich stimmen, was Papa mir gerade auftischt? Besser, ich wache gleich auf und das Christkind stupst mich sanft an der Schulter.

»Sie ist noch zweimal wegen unerlaubten Waffenbesitzes und der Schmuggelei von Sprengstoff und schwarzem Afghan aus Holland aufgegriffen worden, aber eine wirkliche Nähe zum terroristischen Kern konnten die Behörden ihr nicht nachweisen. Ende der 70er hatte sie dann die Schnauze voll von den permanenten Übergriffen der Behörden und schloss sich noch mehr den Geächteten, wie sie diese nannte, an. Aber gut, sie war gerade mal 22. Da macht man eine Menge dummes Zeug.«

»Dummes Zeug?« Allein schon die Vorstellung, was Papa mir jetzt noch alles auftischen würde, sorgt für einen kalten Schauer in meinem Nacken.

»Nachdem sie sich 1978 auch noch in einem palästinensischen Lager im Jemen, warum auch immer – ich nehme mal an, es gab auch einen passenden Palästinenser dazu –, militärisch ausbilden ließ, ergriff sie 1980 die Chance auf ein halbwegs normales Leben, wie sie dachte. Sie verließ mit einigen anderen RAF-Aussteigern die BRD und floh in die DDR, wo sie vom Ministerium für Staatssicherheit mit offenen Armen empfangen wurde. Sie bekam den Decknamen Julia Decker, einen fiktiven Lebenslauf und eine Einzimmerwohnung in Gotha.«

Mit einem tiefen Seufzer entlädt sich plötzlich Papas komplette Anspannung. Ich schaue ihm ins Gesicht. Sehe diese Mischung aus Traurigkeit, Wut und unendlicher Liebe, der selbst diese ganze furchtbare Geschichte, all die Lügen davor und die vielen einsamen Jahre danach nichts anhaben konnten.

»Und was wollte sie in Bad Homburg? Ausgerechnet als die RAF Herrhausens Auto in die Luft gejagt hat?«

»Sie hat mir geschworen, dass sie damit nichts, aber auch überhaupt nichts zu tun hatte!«

»Und wer war dieser, wie nochmal, Grahms?«

»Ein verdammtes Arschloch? Der hat alles kaputtgemacht. Weil er in der Gauck-Behörde ihre Akte aufgetrieben hatte. Ihre und viele andere. Und damit versuchten er und seinesgleichen Kohle zu machen. Grahms war nichts anderes als ein schmieriger Erpresser aus Erfurt, der den famosen Einfall hatte, die Ossis abzukassieren, die ihre Stasi-Akten lieber geheim halten wollten.«

»Aber was hätte Mama denn passieren können?«

»Na ja. Zehn Jahre in der DDR. Unter den Fittichen der Stasi. Selbst wenn sie niemanden in dieser Zeit wirklich verraten hat, weil sie ja doch nur ängstlich in ihrem eigenen Kokon zu überleben versuchte, das hätte schon für eine Menge Wirbel gesorgt. Abgesehen davon, dass das Herrhausen-Attentat niemals aufgeklärt wurde.«

»Du meinst, die Bundesanwaltschaft hätte sich auf Mama als Verdächtige gestürzt und es ihr angehängt?«

»Klar. Alle Angeklagten wurden entweder freigesprochen oder die Verfahren eingestellt. Sie hatten bereits erklärt, dass nur noch gegen Unbekannt ermittelt wird. Und dann kommt heraus, dass eine vorbestrafte ehemalige RAF-Sympathisantin mit militärischer Ausbildung und jahrelangem Unterschlupf in der DDR zufällig keine 300 Meter entfernt vom Tatort war. Wie wäre das wohl ausgegangen?«

»Scheiße! Nicht gut, nehme ich an.«