Sturm & Beton - Sarah Meyer-Dietrich - E-Book

Sturm & Beton E-Book

Sarah Meyer-Dietrich

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Beschreibung

"Sturm & Beton" heißt der von Bochumer Studierenden geschriebene Kollektivroman. Dieser entstand im Rahmen des BOSKOP-Kurses "Text and the City", unter den wachsamen Augen der Bochumer Autorin Sarah Meyer-Dietrich. Ein echter RUB-Roman also, dessen Handlungsstränge sogar im Ruhr-Uni Sommerfest zusammenlaufen.

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Inhaltsverzeichnis

Der Überflieger

Erde An Herrn Walter

Ein Tropfen Pottaroma

Vom Kopf Des Elefanten

Beton Brennt Doch

Pam

Ben

Herr Walter

Pam

Herr Walter

Lara

Ben

Benja

Herr Walter

Benja

Pam

Lara

Ben

Pam

Benja

Herr Walter

Pam

Lara

Benja

Ben

Pam

Lara

Pam

Ben

Lara

Benja

Ben

Herr Walter

Ben

Benja

Ben

Pam

Lara

Herr Walter

Benja

Pam

Herr Walter

Heinz-Dieter

Lara

Ben

Pam

Herr Walter

Pam

Lara

Heinz-Dieter – Benja

Herr Walter

Lara

Herr Walter

Pam

Lara

Ben

Benja

Ben

Benja

Lara

Benja

Herr Walter

Benja

Pam

DER ÜBERFLIEGER

FELIX STERN

Pam wartete schon seit einiger Zeit auf den Moment, an dem ihr Leben endlich wie ein Film sein würde. Jeden Tag hoffte sie auf irgendetwas Spannendes und Interessantes, das sie aus dem Alltag befreite; die verwaschene Realität mit all ihren Unklarheiten und Ungereimtheiten sollte den klaren Fakten und dem wundersamen Zauber ihrer Lieblingsfilme weichen. Auch für sie selbst, deren Charakter noch ein weißes Blatt Papier war, wünschte sie sich nichts sehnlicher als die klaren Ziele, Interessen und Leidenschaften, die etwa ihre liebste Märchenfigur, Prinzessin Elsa aus der Eiskönigin, antrieben. Und obwohl Pam sich diesen Wunschvorstellungen nicht in ihrer ganzen Breite bewusst war, schlug ihr Herz doch schneller, als es eines Nachts plötzlich so weit war. Pam war gerade zwölf Jahre alt geworden, als ein Geist an den Rollläden vor ihrem Zimmerfenster rüttelte.

Erst hatte sie gedacht, dass es nur der Wind wäre, der über die weiten Felder von Bochum-Stiepel gefegt und schließlich auf die Fassade ihres Zuhauses – des dreistöckigen Neubaus, in dem sie mit ihren Eltern wohnte – getroffen war. Als die Rollläden jedoch wieder und wieder aufstöhnten und sich in den scheppernden Krach auch noch so etwas wie unterdrückte Schreie mischten, hatte Pam im Dunkel ihres Kinderzimmers nur noch eine Erklärung: Ein Geist war dort draußen, hatte sich aus dem Schatten der Kiefer vor ihrem Zimmer gelöst und war emporgeschwebt – und nun wartete er im Mondlicht auf Pam, die Hand ausgestreckt, bereit, sie mit sich in die Zwischenwelt zu nehmen.

Pam griff nach ihrer Nickelbrille, schlüpfte aus dem Bett und schlich vorsichtig ans Fenster – mit der rechten Hand betätigte sie den Schalter, der die elektrischen Rollläden nach oben zog, und drückte ihre Nase gleichzeitig fest gegen die Glasscheibe. Ihre Augen waren weit geöffnet, die Lippen zu einem furchtsamen und doch freudig erregten Ausdruck verzogen ... Und fast war sie ein wenig enttäuscht, als sie statt eines Geistes Oskar sah, wie er auf dem Dach ihres Hauses stand und wild mit den Armen fuchtelte. Schließlich entschied sie, dass auch dies der Anfang einer interessanten Geschichte werden könnte, öffnete das Fenster – und schon stand ihr fester Freund zum ersten Mal überhaupt in ihrem Kinderzimmer.

Oskar war zwar kein Geist – trotzdem schien er für Pam, wie immer, nicht ganz von dieser Welt zu sein. Das war auch der Grund, warum sie dem kleinen, dicklichen Jungen aus ihrer Klasse überhaupt erlaubt hatte, sie seine Freundin zu nennen: Er war erwachsener, als ein Elfjähriger es nur sein konnte. Wenn sie auf dem Schulhof zusammensaßen, hörte sie ihm gebannt zu, wie er über seine Lieblingsartikel aus der neuen National Geographic philosophierte; wenn sie ihn in ihrer Freizeit auf seinen Streifzügen durch Bochum begleitete (viel mehr als das war es nicht, denn sie taten immer das, was Oskar auch ohne Pam getan hätte), gab sie für gewöhnlich nur vor, ihn zu verstehen, und nickte höflich, wann immer er sich zu ihr umdrehte. Obwohl sie nie Händchen gehalten – geschweige denn, sich jemals geküsst – hatten, war Pam froh, jemanden wie Oskar als Freund zu haben. Er war interessant, ja, das war er; und indem sie ihm durchs Leben folgte, musste sie sich keine eigenen Hobbys und Vorlieben suchen, sondern konnte einfach an seinen teilhaben.

Dass Oskar mitten in der Nacht auf das Dach ihrer Eltern geklettert war, seinen heftig zitternden Körper durch das Fenster hindurchquetschte und sich auf ihren grauen Teppichboden fallen ließ, war nun aber doch ziemlich ungewöhnlich, selbst für ihn!

„Was machst du hier?“, fragte Pam deshalb und bemerkte wohlwollend ihr laut klopfendes Herz. Sie hoffte so sehr auf etwas Außergewöhnliches.

„Wusstest du, dass es keinen Weihnachtsmann gibt?“, fragte Oskar sie daraufhin, noch am Boden liegend – und als sie loskicherte und nickte, passierte wirklich etwas nie zuvor Dagewesenes: Ihrem Freund stiegen Tränen in die Augen. Dann begann er zu erzählen ...

Die Wochenenden verbrachte Oskar stets bei seiner Mutter, die mit ihrer neuen Familie zufälligerweise im Haus direkt neben Pams Zuhause wohnte. Während er unter der Woche bei seinem Vater lebte und dort, von einigen Standpauken und viel zu festen Schulterklopfern einmal abgesehen, relativ ungestört seinen vielen Interessen nachgehen konnte, musste er sich hier zwei Tage (und Nächte) in der Woche mit seiner verhassten Mutter, seinem Stiefvater und den Zwillingen, Max und Marlon, auseinandersetzen. Vor allem mit den ein Jahr jüngeren Stiefbrüdern konnte Oskar überhaupt nichts anfangen – und die Sympathie beruhte auf Gegenseitigkeit. Was es den beiden für eine Freude bereitet haben musste, als sie wenige Stunden zuvor erfahren hatten, dass der ach-so-erwachsene Oskar tatsächlich noch an den Weihnachtsmann glaubte! Eine kleine Stichelei hier, ein Kicheranfall dort und schon hatten sie es ihm verraten. Wie Oskar es Pam jetzt erzählte, war er daraufhin komplett ausgetickt. Das war natürlich auch der Plan seiner Stiefbrüder gewesen – doch in welchem Ausmaß Oskar ein paar einfache Worte („Den Weihnachtsmann gibt es nicht, du Pisser! Mama und dein Papa haben dich die ganze Zeit verarscht!“) aus der Bahn werfen würden, hatten Max und Marlon vermutlich nicht vorhergesehen.

Nun saß Oskar auf Pams Bett – eine grell leuchtende Taschenlampe in der einen, seinen vollgestopften Tornister in der anderen Hand – und ließ auf seine Erklärung, was er mitten in der Nacht in ihrem Zimmer mache, einen anderen, für Pam noch viel verrückteren Satz folgen: „Ich ziehe weg von hier!“

„Bist du dumm?“, entgegnete sie daraufhin.

„Nein, Pamela, ich bin nicht dumm. Die Umstände zwingen mich dazu.“

„Du willst ausziehen, weil es keinen Weihnachtsmann gibt? Wegen einer Lüge?“

Oskar, dessen Körper langsam zu zittern aufhörte, rückte näher an Pam heran und nahm ihre Hände in seine – zum allerersten Mal. „Du verstehst es nicht, oder? Wir müssen alles überdenken, einfach alles. Nichts ist mehr, wie es vorher war.“

„Wo willst du überhaupt hinziehen?“ Pam schaute ihrem Freund tief in die Augen und fragte sich zum wiederholten Mal, ob der übergewichtige Sechstklässler mit den Segelohren, der übergroßen VfL-Bochum-Kappe und den kleinen, schwarzen Pupillen vielleicht doch ein Außerirdischer (oder tatsächlich ein uralter Geist) war.

„Irrelevant.“ Ärgerlich schüttelte Oskar den Kopf. „Weißt du ... gestern noch hab ich gedacht, die Welt wäre voller Wunder – nur um heute herauszufinden, dass sie in Wahrheit voller Lügen ist! Einfach alles kann geschwindelt sein, wenn Lügen so gut funktionieren, dass ich elf Jahre lang daran glaube. Ich muss herausfinden, ob alle Wunder Lügen sind – und ob es eine Wahrheit gibt, die hinter all dem steckt ... Und ich hab gehofft, dass du vielleicht mit mir kommen willst auf meine ... Forschungsreise.“

Kurz darauf standen sie draußen, an der frischen Luft. Pam schaute erst auf das Dach ihrer Eltern, dann in den sternenklaren Nachthimmel – und schließlich auf Oskar, der seine Taschenlampe vor sich ausstreckte, als hoffte er, jeden einzelnen Flecken Dunkelheit damit zu verscheuchen. Mit der freien Hand deutete Oskar nach oben und ging gleichzeitig einen Schritt nach vorne.

„Wie gerne würde ich mit den Sternen schweben“, schwärmte er. „Von dort oben könnte ich alles sehen. Die ganze Welt. Die ganze Wahrheit. Und mit all den Sternen um mich herum ... würde es niemals dunkel sein.“

Oskar ging noch einen Schritt nach vorne, während sein Blick weiter im Firmament festhing – und mit einem Mal rutschte Pam ihr Herz in die Hose. „Pass auf!“, schrie sie und sprang nach vorne.

Eigentlich war es da schon zu spät. Mit einem Bein taumelte Oskar schon in der leeren, klaffenden Dunkelheit, die hinter der Regenrinne wartete, griff vergeblich nach Pams ausgestreckter Hand und drohte zu fallen. Pam kreischte, kniff die Augen zu und wartete auf den dumpfen Schlag, mit dem ihr Freund auf der Erde aufkommen würde. Plötzlich jedoch wurde sie nach hinten gerissen, und die beiden fielen laut polternd auf die Dachkacheln hinter ihnen.

„Ach du Kacke!“, entfuhr es Oskar – und Pam bemerkte, dass er erneut heftig zu zittern begonnen hatte.

„Hast du auch Angst im Dunkeln?“, fragte sie jetzt, da sie beide bibbernd auf dem Dach lagen.

Oskar entgegnete nichts. Stattdessen richtete er sich schnell auf und kämpfte offensichtlich darum, wieder einen einigermaßen gefassten Eindruck zu machen. Pam wurde klar, dass er ihr niemals freiwillig eine Schwäche eingestehen würde – dahinter und hinter all dem Gerede von Lügen und Auszugsplänen steckte schließlich derselbe Grund, aus dem er alles tat: Oskar wollte um jeden Preis erwachsen sein. Dass er bei etwas so Kindlichem wie dem Glauben an den Weihnachtsmann erwischt worden war, hatte ihn hart getroffen. Als Pam das begriff (und gleichzeitig im Garten unter ihnen das Licht anging und Pams Eltern zusammen mit Oskars Mutter angstvoll zu ihnen heraufblickten), wusste sie endlich einmal genau, was zu tun war. Wie Prinzessin Elsa.

Es hätte ein langes Streitgespräch auf Pam gewartet, wenn sie wie üblich nichts getan und den Dingen vor ihren Augen ihren Lauf gelassen hätte. Im Duell mit seiner Mutter hätte Oskar wohl niemals nachgegeben; er wäre niemals vom Dach heruntergekommen und hätte alles versucht, um schließlich doch von hier weg-, irgendeiner Wahrheit hinterher-, und einer Dunkelheit entgegenlaufen zu können – alles Dinge, vor denen er eigentlich eine Heidenangst hatte.

Doch zu Oskars Glück wusste Pam, was zu tun war. Sie stand auf, legte ihrem Freund eine Hand auf die Schulter und flüsterte ihm etwas ins Ohr.

Schließlich war es Pams Verdienst, dass Oskar vom Dach zurück in ihr Zimmer kletterte und unten, in den Armen seiner Mutter, wieder in Pams Blickfeld auftauchte. Pam hatte ihm einen Vorschlag gemacht, bei dem er nach der Wahrheit suchen und doch in Bochum bleiben, Erwachsener und Kind zugleich sein konnte.

„Wenn du nach der Wahrheit suchst“, hatte sie geflüstert, „musst du nicht weit wegfahren. Meine Mama arbeitet an der Uni. Wenn du willst, können wir da mal hin. Ich wette, die ganzen Professoren wissen genau, was wahr ist und was falsch.“ Kurz hatte sie noch etwas fragen wollen, sich dann jedoch auf die Lippen gebissen. Eine Prise Geheimnis hatte noch keiner guten Geschichte geschadet – und obwohl Pam üblicherweise furchtlos und für jedes Abenteuer zu haben war, hatte sie vor der Antwort auf die Frage, wie Oskar überhaupt auf das Dach ihres Hauses gekommen war, nun doch ein klein wenig Angst. Es gab keine Leiter, keine Aussparungen an der Hauswand – und die Fassade war so flach und glatt wie ein Palast aus Eis.

ERDE AN HERRN WALTER

JULIAN PRENZLER

Herr Walter starrte zu der U-Bahn-Tür, die sich unter ärgerlichem Piepen wieder öffnete, und der Kugelschreiber in seiner Hand begann zu zittern. Ein mit Pickeln übersäter Jugendlicher stand vor dem Waggon und blockierte die Tür mit dem Fuß.

Langsam ließ Herr Walter seine Hand Richtung Klemmbrett sinken, bereit, den alles entscheidenden Haken zu setzen.

„Beeilt euch!“, rief der Pubertierende einer Gruppe anderer Pubertierender zu.

Herrn Walters Herz klopfte schneller. Doch bevor sie die Entfernung von der Rolltreppe zur U-Bahn zurückgelegt hatten, waren zwei Sicherheitsmänner aus einer unscheinbaren Tür am Bahnsteig getreten und hatten den Türaufhalter zu seinen Freunden gescheucht.

Herr Walter seufzte.

Es war fast Mitternacht, sein neuer Körper verlangte nach Fett, Kohlenhydraten und Schlaf, aber als er seine vielen Zettel durchblätterte, zählte er in den Tabellen und Spalten erst sechs Striche. Definitiv zu wenige, um seine Studie abzuschließen. Jetzt aufzugeben, hieße, dass er sich umsonst stundenlang in die überfüllten U-Bahnen gequetscht und die stickige, nach Deo und Achselschweiß stinkende Luft eingeatmet hätte.

„So, alle raus getz“, rief eine Stimme vom anderen Ende des Waggons und riss Herrn Walter aus seinen Gedanken. „Betriebsschluss getz. Sie müssen aussteigen getz.“

Herr Walter drehte sich um. „Meinen Sie mich?“

Die Stimme gehörte zu einem seltsam unförmigen Menschen. Die blaue Jacke des Mannes spannte derart über dem Bauch, dass der Reißverschluss jeden Moment zu platzen drohte, und sein Kopf war direkt an den Schultern angewachsen. Sicherheitspersonal stand auf einem kleinen Schild an der Brust.

Interessant. Ein halsloses Exemplar. Diese Entdeckung notierte Herr Walter sofort.

„Hörn Se schlecht?“, fragte der Mann und stapfte auf ihn zu. Sein Gesicht war tomatenrot, bei jedem Schritt schnaufte er.

„Mein Gehör ist ausgezeichnet“, sagte Herr Walter und schaute wieder nach vorne.

Der Halslose baute sich vor ihm auf, stemmte die würstchenförmigen Finger in die Hüfte und sagte: „Letzte Warnung. Betriebsschluss getz. Steigen Se aus.“

„Das geht leider nicht. Meine Studie ist noch nicht beendet.“

„Watt? Betriebsschluss!“

Herr Walter schüttelte den Kopf. „Meine Statistik ist unvollständig. Deshalb kann ich leider nicht aufstehen.“

„So, getz reicht’s mir hier.“ Der Mann fummelte einen schwarzen Kasten vom Gürtel, drückte auf einen Knopf an der Seite und sagte: „Komma rüber hier.“

Während sich Herr Walter fragte, weshalb der Mann mit einem Plastikkasten sprach, stiegen zwei weitere blau gekleidete Männer und eine ... ein ... nun, ein dritter Mensch ein und positionierten sich neben Herrn Walters Sitz.

„Datt ist kein Obdachlosenheim“, sagte der oder die Dritte. Die langen Haare und der üppige Vorbau waren das Merkmal eines Weibchens, aber einen Vollbart trugen nach Herrn Walters Informationen ausschließlich die Männchen dieses Planeten.

Herrn Walter verwirrten Geschlechtsmerkmale.

„In der Tat. In einem Obdachlosenheim könnte ich schwerlich Bahn fahren.“

„Halten Se sich wohl für’n ganz Schlauen, watt? ’n Professor oda so?“, fragte der halslose Mann, und seine Kollegen lachten.

„Ganz im Gegenteil, ich bin Verwaltungsfachangestellter und erstelle eine Studie.“

„Watt? Komm’ Se von ’nem andren Planeten?“

Herr Walter erschrak. Hatten sie etwa seine Identität enttarnt?

Unmöglich. Er befand sich erst seit ein paar Tagen auf der Erde und hatte die meiste Zeit in dem Hotelzimmer am Hauptbahnhof verbracht, wo er zu Studienzwecken 15 Stunden am Tag Fernsehen geschaut und sich mit seinem neuen, menschlichen Ausscheidungssystem vertraut gemacht hatte. Er war strikt nach Protokoll vorgegangen und hatte, nebenbei bemerkt, nichts anderes getan als ein ganz normaler Mensch.

„Datt is’n Verrückter. Lass ma’ die Polizei ruf ’n. Hab keine Lust, dass wir wieder ’n Bericht schreiben dürf ’n“, sagte der Mensch ungewissen Geschlechts.

Herr Walter hörte eine Spur Aggressivität und Angst heraus. Er musste intervenieren, bevor die Situation eskalierte. Wie stand es in seinem Handbuch? Höflich und zuvorkommend dem Aggressor entgegentreten und tun, was er verlangt.

Oder ihn möglichst unauffällig töten.

Leider verbat seine unvollständige Studie Ersteres, und die zahllosen Überwachungskameras an der Decke und auf dem Bahnsteig hinderten ihn an Letzterem. Aber vielleicht konnte er die drei austricksen.

„Meine ... Mitmenschen“, sagte er mit Blick auf das bärtige Wesen, „ich führe eine Untersuchung über die Hilfsbereitschaft von Nahverkehrsbenutzern durch. Sehen Sie.“ Er hielt den Männern das Klemmbrett entgegen. „In dieser Tabelle notiere ich Komplimente, diese Spalte zählt sämtliche gutherzige Interaktionen, etwa wenn ein Männch... ein Mann die Tür für eine Frau aufhält. Sehen Sie, es gibt auch eine Tabelle für den umgekehrten Fall, aber die ist leer.“

Die Menschen sahen sich verdutzt an.

„Ich benötige einen weiteren Eintrag, um die Zählung quantitativ zu beenden, deshalb schlage ich vor, Sie setzen sich.“

„Hä?“, fragte einer, aber der Halslose ließ sich auf den Sitz neben Herrn Walter plumpsen und wischte mit dem Handrücken den Schweiß von seiner Stirn.

„Wenn Sie jetzt noch Ihrem Kollegen den Platz anbieten wollen.“

„Steigen ... Se dann ... aus?“, fragte der Halslose und schnappte nach Luft.

Herr Walter nickte.

„Ole, nimm doch ... Platz.“

Ole nahm Platz. Ein Männername. Scheinbar trug der Bärtige die Frauenfrisur, um sich auf der Paarungssuche besser zu tarnen. Interessant. Das würde Herr Walter sofort an die Abteilung für Artenforschung weitergeben.

„Vielen Dank.“ Er setzte den letzten Strich auf das Klemmbrett und steckte es in seine Umhängetasche. „Ich wünsche Ihnen eine gute Mitternacht.“ Dann stand Herr Walter auf und machte sich auf den Weg ins Hotel.

Vielseitig waren sie ja, die Menschen. Keine andere Spezies hatte ihn in seiner langen Karriere derart schnell genervt.

EIN TROPFEN POTTAROMA

VIVIEN ILLIGENS

Es war der Geruch, der sie jäh aus ihren Träumen riss und in ihren persönlichen Alptraum katapultierte. Dieser Geruch von Lebewesen, die zerhackt, zerkleinert und zerhäckselt, durch ein Loch gequetscht, wieder in einen Teil ihres Verdauungstraktes (der gereinigt dennoch seinen eigentlichen Zweck nicht leugnen konnte) zurückgeführt wurden, um dann lange und qualvoll in heißem Wasser auszuharren, bis sie auch noch die letzten Überreste ihres einst lieblichen Rosas an ein unappetitliches Braun oder gar ein krebssignalisierendes Schwarz verloren hatten, um letztlich in einer Mixtur aus Kunstblut und Geschmacksrettern auf den Verzehr zu warten, zog unerbittlich durch die Ritzen des morschen Fensterrahmens in ihr Zimmer. Weder Sonnenstrahlen noch der morgendliche Verkehr konnten Lara aus ihrem Schlaf reißen, nur an den verdammten Geruch wollte sie sich nicht gewöhnen. Nicht einmal Lüften war möglich, wenn der Grund allen Übels direkt unter ihrem Fenster lag. Es blieb nur die Flucht in die Küche, in der einer ihrer Mitbewohner vor mindestens einer Stunde Kaffee gekocht hatte. Sie nahm eine Tasse, schenkte sich die notdürftig warm gehaltene Flüssigkeit ein und inhalierte tief. Das war im letzten Jahr zu ihrem täglichen Ritual geworden. Nur raus aus der Nase mit diesem Gestank.

Eigentlich war die Wohnung perfekt gewesen. Seit Jahren tummelten sich hier verschiedenste Studenten, hatten den Wänden bei jedem Umzug eine neue Farbe verpasst und die nützlichsten und unnötigsten Dinge vergessen, weshalb das Innere der Küchenschränke auch eher einem geschmacklosen Flohmarkt glich. Die Decken der Altbauwohnung im ersten Stock hatten von diversen Streichaktionen weniger profitiert, und sämtliche Möbel des kleinen Wohnzimmers, der angrenzenden und noch kleineren Küche, des mintgrünen Badezimmers sowie des Abstellraums in Form einer Gästetoilette waren von ihren ursprünglichen Besitzern schon vor Jahren verlassen worden. Einzig der fensterlose Flur hatte mit einer weißen Ikeakommode einen modernen Touch erhalten, nachdem ihr Vorgänger bei einer Party das Zeitliche gesegnet hatte. Insgesamt war es die perfekte Durchschnitts-WG, die allerdings in den Olymp der Wohnungen gehoben wurde durch die Tatsache, dass die einzige U-Bahnlinie der Stadt fußläufig von hier aus zu erreichen war. Während Lara das erste Jahr in diesem Studentenparadies schwebte und nur bei ihren Mitbewohnern Maschinenbau, Jura, Biochemie gegen Mathematik-Sport, Jura und Medizin getauscht worden war, hatte sie das drohende Unheil nicht kommen sehen. Dabei waren schon Wochen zuvor Männer in dunklen Arbeitshosen mit obligatorischen weißen Farbflecken beinahe täglich in dem verlassenen Lokal unter der Wohnung und auf dem Gehweg direkt vor dem Haus beschäftigt gewesen. Sie hatte sie immer gegrüßt, mit der Zeit schon wenige Sätze ausgetauscht, aber nie gefragt, welchem größeren Zweck die Arbeiter verpflichtet waren. Stattdessen wurde sie nach einer Woche Aufenthalt in elterlichen Gefilden unvermittelt vor vollendete Tatsachen gestellt, und nun beherbergte ihr Haus schon seit fast einem Jahr diesen Ableger der Kette raffgieriger und skrupelloser Currywurstbudenbesitzer.

„Das Angebot steht, Lara“, erklang aus dem angrenzenden Wohnzimmer die Stimme von Jonas, der offenbar sein Morgenritual, das aus einer entspannten Laufrunde von fünfzehn Kilometern zum Wachwerden bestand, einschließlich einer kleinen Dusche zur Anregung des Kreislaufs, bereits beendet hatte und nun mit einem geschmackslosen Proteinshake und einem Wurstbrot auf einem der beiden durchgesessenen Sofas sitzend auf seinem Handy herumtippte. Den belustigten Unterton ignorierend setzte Lara sich auf die gegenüberliegende Couch, um die wenigen Zentimeter zwischen den Sitzgelegenheiten mit ihren Beinen zu überbrücken.

„Es ist fast Sommer. Da sollten die Damen vielleicht etwas mehr Zeit in Pediküre investieren“, kommentierte Jonas mit einem kurzen Blick auf die Füße neben sich, von deren Zehen nur noch vier wenige Farbkleckse eines goldenen Nagellacks trugen.

Den letzten Rest des Gestanks in der Nase, vermischt mit dem schalen Geschmack abgestandenen Kaffees und den Nachwirkungen des abrupten Aufwachens, war sie geneigt, ihm eine physische Antwort zu geben, aber die Bequemlichkeit des Sofas hielt sie letztlich doch davon ab.

Von der Aggression in ihrem Gesichtsausdruck offenbar beeindruckt, ruderte Jonas zurück: „Sorry, ein bisschen Humor muss sein. Tut mir leid. Aber ich meine es ernst, du kannst in mein Zimmer ziehen.“

„Und ich habe abgelehnt. Das ändert schließlich nichts daran, dass bei dem kleinsten Lüftchen draußen dieser Gestank auch hier ins Wohnzimmer ziehen kann. Und du bist auch noch derjenige, der ständig bei offenen Türen lüftet. Da haben wir den Geruch letztlich überall. Vielen Dank für dein absolut unhilfreiches Angebot!“, gab Lara nur bissig zurück.

„Komm mal runter. Die Dinge haben sich geändert. Hättest du gestern an unserem WG-Treffen teilgenommen, wüsstest du das.“ Der triumphierende Ausdruck in seinen Augen sollte sie herausfordern, aber sie war zu genervt, um sich auf Spielchen mit ihm einzulassen.

„Es tut mir ja so leid, dass ich nicht da war. Jetzt bin ich total uninformiert und hilflos. Bitte, Jonas, verkündige mir, was die Gemeinschaft beschlossen hat“, sagte Lara in einem diabeteserregenden Ton, während sie mit den Wimpern in Richtung ihres Mitbewohners klimperte.

„Er geht mir so auf die Nerven“, stöhnte Lara. „Warum kann er mich nicht zumindest morgens in Ruhe lassen.“

„Nach seinem WG-Casting hast du noch geschwärmt, wie süß er sei“, gab Franzi zu bedenken.

„Ja, aber da hatte er den Mund auch noch nicht richtig aufgemacht. Ständig sein ‚Wenn du früh mit mir joggen gehen würdest, bevor die unten aufmachen, müsstest du das auch nicht riechen.‘ Ich habe aber keine Lust, mich nach denen zu richten. Ich schlafe gerne lange und lasse mir meine Schlafzeiten nicht von denen diktieren! Und was kümmert es ihn überhaupt? Der soll sich lieber mal um seine Bachelorarbeit kümmern, statt mich vollzulabern.“

Lara nippte genervt an dem billigen Kaffee, den man in der Cafeteria servierte, der aber erstaunlicherweise deutlich besser war als alles, was ihre Mitbewohner in ihrer Wohnung fabrizieren konnten.

Franzi rollte kaum merklich mit den Augen, gab aber gleichzeitig ein unüberhörbares Stöhnen von sich, das ihre Einstellung zum Thema in Gänze repräsentierte. „Gibt es eigentlich noch irgendetwas Anderes in deinem Leben? Wenn dich das so aufregt, dann organisier doch eine Protestbewegung. ‚Gegen die Currywurstisierung des Ruhrgebiets‘ oder ‚Vegetarische Alternative für Bochum‘ oder so.“

„Sehr witzig. Du verstehst das einfach nicht.“

„Ich habe auch schon in deinem Zimmer geschlafen, und so schlimm ist es wirklich nicht. Ich glaube einfach, du steigerst dich da zu sehr hinein. Vielleicht solltet ihr mal euren Vermieter fragen, ob neue Fenster sinnvoll wären. Sanierungstechnisch ist eure Wohnung schließlich noch lange nicht im einundzwanzigsten Jahrhundert angekommen.“

Franzi schaute ihre Freundin herausfordernd an, die aber nur unwillig ihren Kaffee in einem überteuerten Thermobecher herumschwenkte.

„Oder du nimmst Jonas’ Angebot an. Du musst zugeben, dass das eigentlich ganz nett von ihm ist. Und überhaupt: Du hättest schon früher mit irgendjemand anderem das Zimmer tauschen können.“

„Mit wem denn? In Mallas Zimmer passen meine Möbel nicht rein, und bei Tom müsste ich erst eine Komplettsanierung vornehmen, bevor ich mich da reintraue.“

„Okay, du hast recht. Aber dann solltest du jetzt wirklich tauschen. Wenn es die anderen nicht stört, dann nimm Jonas’ Zimmer, und der neue Mitbewohner zieht dann in deins.“

Das nämlich war Jonas’ große Ankündigung gewesen. Er hatte gestern in einem eiligst einberufenen Treffen der gesamten Mitbewohner, bei dem alle außer Lara aufgetaucht waren, erklärt, er würde nach seinem Bachelorabschluss und damit nach diesem Semester ausziehen. Weshalb er auszog, hatte Lara an diesem Morgen nicht interessiert. Vermutlich hatte er ein Masterprogramm in einer hippen Studentenstadt gefunden, wollte mit seiner Freundin zusammenziehen oder als Belohnung für den wertlosen Studienabschluss ein paar Monate im Ausland verbringen. Die Optionen wären dann, freiwillige Arbeit in Afrika zu verrichten und sich mit europäischer Hochnäsigkeit als Weltretter zu fühlen oder sich auf dem Fluss des Mainstreams nach Australien treiben zu lassen.

„Dass Jonas weg ist, bringt aber nur etwas, wenn der Neue nicht auch ständig das Fenster öffnet. Und seine Zimmertür.“

„Ich kann mir eure Anzeige schon vorstellen“, kicherte Franzi. „Hast du keinen Bock auf frische Luft? Schottest du dich gerne von deinen Mitbewohnern ab oder versprühst Unmengen an billigem Deo, das jeden anderen Geruch im Keim erstickt? Kurz: Bist du ein klischeehafter Videospielnerd, der sich gerne in seinem Zimmer verschanzt? Dann melde dich! Das wäre auf jeden Fall mal etwas Anderes.“

Selbst Lara konnte sich das Grinsen kaum verkneifen. „Wenn es eine Website für die seltsamsten WG-Anzeigen gäbe, könntest du bestimmt damit punkten.“

„Wenn? Es gibt bestimmt eine. Ich glaube, das google ich später mal. Könnte interessant sein“, fügte Franzi hinzu und schien mit ihren Gedanken einen Augenblick an einem anderen Ort zu sein. „Egal, Themenwechsel! Ein Freund von mir spielt mit seiner Band auf dem Sommerfest, und ich denke, wir sollten hingehen. Die sind ganz gut.“

Das jährliche Sommerfest der Universität sollte seit 1968 wohl vor allem der alteingesessenen Arbeiterschicht der Stadt eine Möglichkeit bieten, sich zumindest einen Tag im Jahr ungezwungen an der örtlichen Brutstätte der Wissenschaft aufzuhalten, um das Miteinander in der Gesellschaft zu fördern. In der Realität wurden nur die Klischees gegenüber Studenten bestätigt, wenn sich Horden Studierender den ganzen Tag über in nahegelegenen Supermärkten mit einer guten Mischung aus Hochprozentigem und zusammengemischten Konservierungsstoffen und Geschmacksverstärkern versorgten, um anschließend jede freie Fläche zwischen den Gebäuden der Universität zu bevölkern. Die kläglichen Überreste jener einst so dominierenden Schicht jener städtischen Urgesteine, die sich bis vor wenigen Jahren noch durch ihre Arbeit bei namhaften Auto- und Handyherstellern identifizierten, konnten an diesem Tag beobachten, wo die nächste Generation arbeitnehmerunfreundlicher Manager in Wirtschaftskursen gezüchtet wurde. Die am nächsten Tag – hier handelte es sich in der Regel um einen der ominösen freien Donnerstage im Sommersemester, die irgendein Kapitel der christlichen Grundlagenschrift initiiert hatte – durchgeführte Großreinigung des Geländes brachte immerhin Arbeitsplätze und letztlich doch ein Minimum an Austausch.

„Auf wen hast du es abgesehen? Auf den Freund oder den Gitarristen? Oder ist der Freund sogar der Gitarrist?“, fragte Lara.

Franzi konnte ihrer Freundin nur die Zunge entgegenstrecken und für einen Augenblick mit leichter Beschämung auf den Tisch starren angesichts der Tatsache, dass ihre letzten drei Beziehungen allesamt mit einer schummrigen Kellerkneipe und einer Gitarre begonnen hatten. „Den Bassisten“, gab sie kleinlaut zu. „Und der Freund ist der Sänger und eher etwas für dich. Deshalb kommst du auch mit. Ich habe noch eine Vorlesung bis vier, aber die Jungs sind erst um sieben dran.“

VOM KOPF DES ELEFANTEN

CHRISTIAN BIERMANN

Nun, Frau ...“ – der Sachbearbeiter der Bochumer Arbeitsagentur zögerte und kniff, als ob er die Schrift auf dem Formular, das er vor sich auf dem Schreibtisch liegen hatte, nicht entziffern könnte, obwohl doch alle Buchstaben klar zu erkennen waren, die Augen etwas zusammen, um den Namen auf dem Blatt, das als oberstes auf dem Stapel seiner Fallagenda in einer endlosen Reihe ihm ähnlich erscheinender Fälle aufgetaucht war, abzulesen, und er dachte zugleich an einen Ort, an dem er jetzt lieber wäre, aber nicht an die träge in der Abendsonne dahinfließenden braunen, dem Saluen zuströmenden Wasser des Mae Nam Pai, nicht an den aus der schlammigen Tiefe der Seen und Tümpel der Ebenen dem Licht entgegenblühenden Lotos oder das von lilafarbenen Ziegenfußwinden durchsetzte und dem Elefantenohr belauschte Tal, und auch nicht an das fröhlich-aufgeregte Prusten der Elefanten des Resorts, die, im Baden begriffen, nahezu nur den Kopf aus dem Wasser ragend, den Rüssel weit darüber zurückgebogen, so dachte sie als Kind, bis Chiang zu hören waren.

„Frau Phati... patana... wong ... Ist das überhaupt Ihr Familienoder Ihr Vorname?“

„Das Name Familie, bei uns wie in Deutschland hier, erst ich“, und sie zeigte dabei auf sich selbst, allerdings, wie viele Asiaten es tun, auf das Gesicht, nicht die Brust, „dann Name Familie ...“

„Gut, ähm, Sie sind also auf Beschäftigungssuche ... Äh, ich meine: Sie suchen eine Arbeitsstelle!?“

„Das richtig, ja.“

„Sie haben ja ein Visum und hatten zwecks Heirat zunächst einen unbefristeten Aufenthaltstitel erhalten, aber so, wie sich Ihr Fall mir darstellt, würde dieser Titel sich jetzt in eine nur noch befristete Aufenthaltserlaubnis umwandeln. Haben Sie diesbezüglich mit der Ausländerbehörde gesprochen?“

„Das ja.“

„Mit einer solchen Befristung müssten Sie, ohne verheiratet zu sein oder sich selbst finanziell tragen zu können, das Land verlassen. Sie könnten einen Asylantrag stellen, dann bekämen Sie eine vorübergehende Aufenthaltsgestattung, müssten dann aber auch in eine Erstaufnahmeeinrichtung wechseln. Aber da Ihre Heimat nicht auf der Liste unsicherer Herkunftsländer steht, dürften Sie kaum Aussicht auf Gewährung haben. Allerdings könnte das Ihren Fall etwas in die Länge ziehen, wenn Sie wissen, was ich damit sagen will ...“, womit er sie argwöhnisch musterte, so als ob sie es wäre, die sich durch diese Bemerkung sein Misstrauen zugezogen hätte.

„Asyl nein, ich lieber arbeiten.“

„Das freut mich zu hören, Frau, äh ...“, aber er ließ es und setzte neu an: „Wie hatten Sie sich denn Ihr Leben in Deutschland eigentlich vorgestellt?“

„Ich heiraten und können bleiben hier.“

„Sie wollten Ihren Lebensgefährten also ehelichen. Wo haben Sie sich kennengelernt?“

„In mein Land, in Thailand“, antwortete sie wahrheitsgemäß, log aber (obwohl das gar nicht nötig gewesen wäre), indem sie eine Provinz unweit derjenigen ihrer Kindheit nannte, die weit genug von Phuket entfernt lag, „in Lampang“, wohin ihre Großmutter sie oft zu einem der dortigen Tempel mitgenommen hatte.

„Warum ist es nicht dazu gekommen?“, fragte der Beamte hinter dem Schreibtisch und blickte dabei aus dem kleinen staubigen Bürofenster. Er hatte aschblondes Haar, einen sandfarbenen Schnurrbart, war weder klein noch groß, etwas schwammig vielleicht, und hatte anscheinend trotz seines fortgeschrittenen Alters Hautprobleme. Seine Kleidung, in erd- und betonfarbenen Tönen gehalten, erinnerte sie an das faserig-pflanzliche Treibgut, das in Ufernähe an den ins Wasser ragenden Mangrovenbäumen hängengeblieben war. Vielleicht war er früher dicker gewesen und konnte damals das, was ihm nunmehr fahrig vom Körper hing, besser ausfüllen. Sie sah, dass er keinen Ehering trug, auf seinem Schreibtisch war keine Rückseite eines Bilderrahmens ihr zugewandt. Stattdessen stand dort ein Aschenbecher, leer zwar, aber doch benutzt. Sie kannte solche Männer. Er schien nicht zu bemerken, dass sie ihn anschaute.

„Streit“, antwortete sie lapidar, und da ihre Garderobe die noch sichtbaren Spuren des wahren Grundes überdeckte, konnte er ihre Beschönigung nicht erkennen, selbst nicht das, was sie unter Schminke im Gesicht verbarg.

„Sie leben derzeit in einem Frauenhaus?“

„Ja.“

„Schön ... Das heißt, äh ...“ Er räusperte sich. „Was haben Sie in Thailand gemacht, womit haben Sie Ihr Geld verdient? Haben Sie eine Art Ausbildung?“

Ein unmerklicher Schauer durchlief ihren Körper, aber sie fasste sich und suchte weiter in ihrer Vergangenheit: „Zuerst ich arbeiten Haus, dann später gehen auf Schule für Handel, arbeiten an Empfängen und auf Messen als ...“ Ihr fehlte das Wort.

„Hostess?!“, sprang er ihr unwillkürlich bei.

„Ja, das Wort sein!“, sagte sie und lächelte ihn an, was eine merkliche Verlegenheit bei ihm auslöste. Er blickte wieder auf seine Unterlagen.

„In Ordnung“, fuhr er, in der Absicht, dieses Gespräch rasch zu einem Ende zu bringen, fort, „wir haben ja hier Ihre Daten. Was Sie gerade sagten, werde ich hinzufügen. Erwarten Sie aber nichts, äh, wie soll ich sagen ... Ich will nur sagen: Schrauben Sie Ihre Erwartungen nicht zu hoch. Ihre Ausbildung gilt hier nicht viel. Zumal, wenn Sie keine Zertifikate vorweisen können, wobei auch dann immer noch das Problem der Anrechenbarkeit bestünde. Sie müssen aber verstehen, dass Sie ohne Arbeit kaum eine Bleibeperspektive haben ...“

Sie nickte. „Ich nicht mit Anspruch kommen, mache viel, um sein Frau allein und selbst ...“

Er sah sie fragend an. „Gut, Frau ...“, und er musste erneut auf das Formular sehen, „... Phati-pata-na-wong. Wir wollen sehen, was wir für Sie tun können.“

BETON BRENNT DOCH

SARAH MEYER-DIETRICH

Wird bestimmt schön, sagt meine Mutter. Den Blick auf Paula gerichtet. Mit der Familie aufs Sommerfest, sagt meine Mutter. Den Blick über den Frühstückstisch hinweg, über die Butter, die Marmelade, Paulas Teller hinweg auf Paula gerichtet.

Dieser Blick, den sie auch aufsetzt, wenn sie mich Vokabeln abfragt. Nie hat meine Mutter aufgehört, sich Sorgen zu machen, ob ich mit den anderen Schritt halten kann. Dabei ist es lange her, dass ich zur Frühförderung musste. Mich mühsam von Zwei-Wortzu Drei- und Vier- und Immer-Mehr-Wort-Sätzen gehangelt habe. Ewigkeiten ist das her.

Der prüfende Blick meiner Mutter, während Paula Erdbeermarmelade auf Brot schmiert. Immer noch erwartet meine Mutter Paulas Attacken. Fürchtet sie wie Guerilla-Angriffe aus dem Hinterhalt. Paula legt das Buttermesser zur Seite. Beißt ins Brot. Kaut. Guckt meine Mutter an.

Sag doch was, denke ich, während auch ich Marmeladenbrot kaue. Sag, dass wir zu alt sind für einen bescheuerten Familienausflug.

Aber Paula nickt. Ja. Wird bestimmt schön.

Nie wird meine Mutter sich daran gewöhnen, dass ihre Tochter zahm geworden ist. Gezuckert und streichzart wie die Erdbeermarmelade, die Paula selbst eingekocht hat. Und nie werde ich mich daran gewöhnen.

Der Blick meiner Mutter entspannt sich. Mich streift er nur kurz. Von mir ist kein Widerspruch zu erwarten. Ben widerspricht nicht. Nein. Will ich sagen. Es wird nicht schön. Will ich sagen. Und dass ich keinen Bock habe, mit meinen Eltern und Paula auf irgendein dämliches Fest zu gehen. Dass ich mit Melih zum Fußballspielen verabredet bin.

Melih, bringe ich gerade so heraus. Weil die Worte feststecken in der klebrigen Marmelade, die sich mit Brot und Butter im Mund zu einer zähen Masse verbunden hat.

Willkommen zurück in der Welt der Ein-Wort-Sätze.

Nun doch der Blick meiner Mutter auf mich gerichtet. Der Moment, in dem ich den Mund aufmachen könnte ... in dem ich ...

Klar, sagt meine Mutter. Ich rufe Ece an und frag sie, ob Melih mitkommen will.

Ich kann Melih selbst fragen, will ich sagen. Wir sind vierzehn. Wir schaffen es auch ohne Mütter, uns zu verabreden.

Aber schon ist ihr Blick weitergewandert. Der Spot nicht mehr auf mich gerichtet. Keine fünfzehn Minuten Ruhm für mich. Nicht einmal beschissene fünfzehn Sekunden. Schon ist meine Mutter aus der Küche. Von Ben ist kein Widerspruch zu erwarten. Nie.

Warum hast du nicht gesagt, dass ein Familienausflug eine Scheißidee ist, frage ich Paula.

Die zuckt mit den Schultern. Hättest doch selbst was sagen können. Hättest du nicht?

Nein. Hätte ich nicht. Weil immer Paula es war, die vorgeprescht ist. Und ich bloß hinterher. Weil Paula es war, die zum Angriff übergegangen ist, während ich die Fresse nicht aufgekriegt hab. Aber auf meine große Schwester ist kein Verlass mehr.

PAM

Diese Gestalten sollen Studenten sein?“

Oskar deutete entsetzt auf die beiden jungen Männer, die gerade an Pam und ihm vorbeigelaufen waren. Einer von ihnen trug ein Longboard unterm Arm – dies schien das Einzige zu sein, was er an diesem Tag mit zur Uni genommen hatte – und versuchte soeben verzweifelt, eine winzige, grün verspiegelte Sonnenbrille aus dem Gewirr seiner Rastalocken zu befreien. Der andere hatte sich gleichermaßen herausgeputzt: Er hatte zwar lediglich ein zerfetztes Unterhemd und eine kurze graue Jogginghose angezogen, als Ausgleich dafür jedoch ein Highlight in Form kniehoher Adidas-Strümpfe parat – und er war es auch, der sich umdrehte, als Oskar den beiden Mittzwanzigern zu Pams Entsetzen (sie war der festen Überzeugung, dass es sich bei ihnen um Drogendealer handelte) hinterherrief.

„Sind Sie wirklich Studenten?“, fragte Oskar, die Arme zum Gruß erhoben.

Der Kniestrumpf musterte Pams Freund kurz, dann zuckte er die Schultern und ging weiter den schmalen Weg entlang, von dem aus Oskar und Pam soeben gekommen waren.

„Die sind noch nicht einmal sicher, ob sie studieren!“, klagte Oskar und ließ seine Arme verzweifelt in Richtung Boden sinken. „Das kann ja was werden.“

Sie waren nun an den G-Gebäuden der Ruhr-Universität angekommen; eine letzte Kurve führte sie an einer riesigen Baustelle vorbei, auf der anscheinend ein neues Gebäude gebaut wurde, und eröffnete ihnen ein weitläufiges, erstaunlich grünes Studentenidyll, das nur von den grauen Betonklötzen GA, GB und GC unterbrochen wurde. Pams Mutter arbeitete im mittleren der drei Kolosse – Pam hatte sie hier schon das ein oder andere Mal besucht und kannte sich in diesem Teil der Uni mittlerweile einigermaßen aus. Genau deswegen hatte ihre Mutter die beiden vor einigen Minuten auch an dieser Stelle mit dem Auto abgesetzt – weil sie sich hier nicht verlaufen würden –, und nun waren Pam und Oskar zum ersten Mal zusammen an der Uni, auf der Suche nach der Wahrheit.

Oskars Skepsis schien beim Anblick des Gewusels vor den G-Gebäuden schnell zu verfliegen. Ein besonderes Augenmerk hatte er auf einen riesigen Kran gelegt, der inmitten der Baustelle zu Beginn der Reihe an Unigebäuden stand und hoch in den Himmel aufragte. „Ich wette, das ist der höchste Punkt an der ganzen Universität“, sagte Oskar, den Hals in die Höhe streckend. „Ich wette, von dort oben hat man einen phänomenalen Ausblick!“

Pam zog ihren Freund weiter. An diesem warmen Mittwochnachmittag war an der Uni erstaunlich viel los – gar nicht so, wie Pam es von den Besuchen bei ihrer Mutter gewohnt war –, und die übliche Hektik war heute einer ausgelassenen Stimmung gewichen. Schnurstracks lief Oskar auf das erste der drei Uni-Gebäude zu. Er blieb vor einer Gruppe Studenten stehen, die sich in zwei Reihen von jeweils fünf Leuten gegenüberstanden und aus irgendeinem Grund vollkommen auf eine leere Plastikflasche im freien Raum zwischen ihnen fixiert waren. Als Oskar gerade den Mund öffnete, warf ein kurzhaariges Mädchen aus der hinteren Reihe plötzlich eine zweite Plastikflasche auf die erste – diese fiel um –, und die Gruppe des Mädchens begann hektisch, einige weitere Flaschen, diese vor ihren Füßen, vom Boden zu heben und daraus zu trinken. Sie hörten damit erst auf, als ein Mädchen aus der anderen Gruppe in die Mitte gerannt war und die Flasche wieder aufgestellt hatte. Während Pam just in diesem Moment entschied, später einmal Studentin zu werden, stand Oskar wie versteinert neben dem Spektakel und hob schließlich vorsichtig seine rechte Hand – als wolle er sich in der Schule melden.

„Entschuldigen Sie“, brachte er hervor, und die Studenten, deren Spiel gerade zu einer kurzen Pause gekommen zu sein schien, drehten sich synchron zu ihm um. „Entschuldigen Sie, aber ist das Bier?“

Die ganze Szene entsprach mit Sicherheit nicht den Wunschvorstellungen, die Oskar an den heutigen Tag gehabt hatte – trotzdem ließ sich Pams kleiner Freund, der sich extra einen Mittelscheitel gekämmt und sein einziges Hemd angezogen hatte, nicht unterkriegen.

Als das Mädchen mit den kurzen Haaren auf Oskar und Pam zutrat, zückte Pams Freund schnell einen Füller aus der Tasche seines einzigen Hemdes, nahm ein Notizbuch zur Hand und räusperte sich.

„Name, Alter, Wohnort bitte“, sagte er. „Natürlich rein zu statistiken Zwecken!“

„Britta, 21, Witten“, antwortete das Mädchen zu Pams Verblüffung, ohne mit der Wimper zu zucken, und nachdem Oskar ihr erklärt hatte, dass ihre „Mission die Suche nach der Wahrheit“ war, fing sie tatsächlich an, den beiden ihre Version der Wahrheit auf den Weg zu geben. Vielleicht, überlegte sich Pam während des langatmigen und verwirrenden Monologs von Britta, lag deren Offenheit an dem vielen Bier, das sie, wie der Rest ihrer Mannschaft, gerade getrunken hatte.

„Was ich damit sagen will“, kam Britta dann doch irgendwann zum Ende, „ist, dass Alkohol die Wahrheit ist. In eurem Alter ist das noch nicht so, aber wenn ihr erst mal so alt seid wie ich, ist das Leben scheiße kompliziert. Du glaubst, du kommst an die Uni, um die Wahrheit zu lernen, aber am Ende bist du verwirrter als vorher. Auf Typen ist auch kein Verlass – das Einzige, was nicht kompliziert ist, ist Alkohol. Den trinkt man einfach, mehr nicht.“ Sie runzelte kurz die Stirn. „Was nicht heißen soll, dass ihr trinken sollt!“, fügte sie hinzu und lief dann zu ihren Freunden zurück.

Oskar schrieb noch ein letztes Wort in sein Buch der Wahrheit, wie er es nannte, und entfernte sich daraufhin, mit Pam an seiner Seite, von der Studentengruppe.

Als der Abstand zu ihnen schließlich groß genug war, lehnte Oskar sich zu seiner Freundin herüber und flüsterte ihr ins Ohr: „Die hat ja wohl nicht mehr alle Tassen im Schrank!“

Bei einem kurzen Blick auf sein Notizheft fiel Pam jetzt auch auf, was Oskar dort wirklich hineingeschrieben hatte: WER DIE WAHRHEIT NICHT WEISS, stand da in seiner konsequent aus Großbuchstaben bestehenden Schrift: MÄNNER MIT ROCKSTARLOCKEN. MÄNNER AUF LONGBOARDS. MÄNNER IN KNIESTRÜMPFEN. Und: BETRUNKENE FRAUEN.

Letzteres hatte er doppelt unterstrichen.

Die nächsten Gespräche verliefen nicht viel aufschlussreicher. Oskar und Pam trafen eine Anglistik-Studentin, die zwar nicht nach Alkohol roch, dafür aber derart mit Piercings übersät war, dass Pam kurz dachte, man hätte sie zu lang mit ihrem Tacker alleingelassen. Dieses Mädchen erzählte ihnen, die Wahrheit sei, dass sich nach Nine Eleven alles verändert habe.

Hinterher wandte Oskar sich verwirrt an seine Freundin. „Pamela“, fragte er, „hast du schon einmal etwas von diesem Nainil-Äffchen gehört?“

Pam verkniff sich ein Lachen – sie wusste, wie sehr Oskar es hasste, ausgelacht zu werden. Auch korrigiert wurde er nicht gerne, doch da ihre Mutter Englisch-Dozentin war, klärte Pam ihn trotzdem mit geschwollener Brust auf: „Nine Eleven, Oskar. Die Türme? New York? Du weißt schon.“

Oskar starrte sie einige Sekunden lang an; dann, endlich, hellte sein Gesicht sich auf, und er lachte laut los. „Du Dummerchen!“, triumphierte er. „Sag doch gleich, dass du King Kong meinst!“

Pam korrigierte Oskar nicht, während er FRAUEN MIT PIERSSINGS seiner Liste hinzufügte – und schon bald gab es den nächsten Eintrag: MÄNNER MIT LANGEN BÄRTEN ging auf einen verschlafenen Philosophie-Studenten zurück, der ihnen mitteilte, auf der Erde gäbe es nur die Schatten der wahren Dinge – die echte Wahrheit existiere allein in der, für gewöhnliche Menschen unzugänglichen, Ideenwelt.

BEN

Bist du wütend auf Papa, fragt Paula, die neben meiner Mutter vorn im Auto sitzt. Da, wo unser Vater sitzen sollte. Da, wo unser Vater sitzen müsste. Ob er wirklich unter keinen Umständen den Nachmittag hat freinehmen können? Oder ob er bloß, genau wie ich, keinen Bock hatte auf einen Familienausflug?

Meine Mutter schüttelt den Kopf. Kneift die Lippen zusammen. Tritt zu fest aufs Gas und zu abrupt auf die Bremse. Es wird bestimmt auch ohne Simon schön. Die Stimme meiner Mutter, merkwürdig klein. Meine ganze Mutter plötzlich klein da vorne am Steuer.

Melih schaut mich an. Ich zucke mit den Schultern.

Wisst ihr noch, sagt Paula. Wie schön es war, wenn wir früher im Botanischen Garten an der Ruhr-Uni waren?

Ich erinnere mich nur an ein einziges Mal im Botanischen Garten. Als wir noch in Bochum wohnten, mit Blick auf das Fördergerüst am Bergbaumuseum. Ich erinnere mich, dass es kalt gewesen ist im Botanischen Garten. Ich erinnere mich, dass meine Mutter dauernd telefonieren musste, weil die Deadline für eins ihrer Buchprojekte anstand. Habe ich damals das Wort Deadline schon gekannt? Wen juckt’s. Ich erinnere mich, dass mir das Nilpferd Kaminski in den Seerosenteich gefallen ist, dass sein Fell danach stinkig und zottelig war. Ich erinnere mich, dass Paula nicht geredet hat und ich die ganze Rückfahrt über geheult habe.

Ja, sage ich. Ich erinnere mich. War schön. Echt.

Das Lächeln meiner Mutter im Rückspiegel.

Stimmt es, fragt Paula, während wir über die klappernden Platten auf dem Campus laufen, dass sich hier an der Uni so viele umgebracht haben?

Meine Mutter schüttelt den Kopf. Hab mal gelesen, sagt sie über das Klappern der Platten hinweg, dass es nur zwei Unis gab, die eine Statistik über Suizide geführt haben. Bochum war eine davon. Bei zwei Unis ist es leicht, auf den ersten Platz der Statistiken zu kommen. Meine Mutter lacht. Meine Mutter lacht, und ich frage mich, was so komisch sein soll an Selbstmordstatistiken.

Aber umgebracht haben sich dann doch trotzdem welche, sage ich nicht.

Ich blicke zu Melih. Melih blickt auf den Beton, aus dem die Uni besteht.

Hast du hier studiert, fragt Melih meine Mutter.

Die schüttelt den Kopf.

Sie hat in Berlin studiert, sage ich. Blicke meine Mutter an. Blicke auf die Haut, aus der das Gesicht meiner Mutter besteht. Diese glatte Haut. Auf die sich jetzt – oder meine ich das nur? – ein Schatten legt. Ich muss an Opa denken. Immer wenn früher jemand davon gesprochen hat, dass meine Mutter nach dem Abi aus dem Ruhrgebiet weg und nach Berlin gegangen ist, hat Opa einen Grund gefunden, aus dem Zimmer zu gehen.

Berlin, sagt Melih. Cool.

Ach, sagt meine Mutter. Schüttelt den Kopf. Schüttelt den Schatten aus dem Gesicht. Fand ich damals auch, sagt sie. Aber bin froh, wieder hier zu sein. Und für Paula und Ben ist es sowieso besser, hier aufzuwachsen. Nicht in Berlin.

Woher willst du das wissen?, müsste Paula jetzt sagen. Woher willst du wissen, was besser ist für uns?, hätte sie früher gefragt.

Aber Paula schweigt.

Paula schweigt, und auch ich sage nichts. Blicke mich nur um. Sehe niemanden sonst, der mit Familie hier zu sein scheint. Sehe vor allem Studenten. Oder Menschen, die ich dafür halte. Und einen kleinen dicklichen Jungen mit einem Notizbuch. Bestimmt ein paar Jahre jünger als ich. Selbst von dem sind keine Eltern in Sicht. Ich muss an die Notizbücher denken, die meine Mutter Paula und mir früher geschenkt hat, weil sie wollte, dass wir Geschichten schreiben. So wie meine Mutter früher als Kind. Ich muss daran denken, dass ich in mein Heft vor allem gezeichnet habe. Dinosaurier. Und Mammuts. Und Urzeitwälder. Fußballergebnisse habe ich reingeschrieben. Bundesligatabellen. Ich muss daran denken, dass ich eines Tages Paulas Notizbuch im Müll gefunden habe. Leere weiße Seiten. Nur auf der ersten Seite der Satz: Wer das liest, ist doof.

Vielleicht studiere ich in Bochum, sagt Melih. Falls ich mein Abi schaffe.

Klar schaffst du das, sage ich.

Mal gucken, sagt Melih. Kann ja sein, dass ich die Schule wechseln muss.

Musst du nicht, sage ich. Das mit der Privatisierung kriegen die nie durch.

Ich schaue meine Mutter an. Meine Mutter sagt nichts. Starrt bloß in den Himmel. Runzelt die Stirn. Da braut sich was zusammen, sagt sie dann. Wir sollten lieber nach Hause.

Über uns Wolken. Betongrau wie die Uni.

HERR WALTER

Nein, wir können das Sommerfest nicht abbrechen“, sagte Herr Doro und schob sich ein Kaugummi in den Mund, auf dem er wild herumschmatzte. „Laut Wetterbericht zieht der Sturm an uns vorbei.“

Ein Blick aus dem Fenster genügte, um Herrn Walter vom Gegenteil zu überzeugen. Dunkelgraue Wolken hingen tief am Himmel und tauchten sein Büro in trübes Licht. Der Wind pfiff durch die schmalen Schlitze des Fensters, Nieselregen prasselte gegen die Scheibe, und das dumpfe Grollen weit entfernten Donners rollte immer näher.

„Eine Musikerin hat gerade angerufen und damit gedroht, eine Videoaufnahme zu veröffentlichen, wenn wir ihren Auftritt nicht absagen.“

„Was für eine Videoaufnahme?“, fragte Herr Doro. Bei jedem Wort flogen Speicheltropfen auf Herrn Walters Schreibtisch.

„Es ist ein Sonnenschirm durch das Publikum gerollt und hat einen Rollstuhlfahrer getroffen.“ Tatsächlich war der Schirm bloß umgekippt, aber das verschwieg Herr Walter. Er wollte nach Hause, um endlich seinen Wochenbericht abzuschließen, mit dem er etwas in Verzug geraten war. Der Sturm kam ihm gerade recht.

Herr Doro schlug sich mit der flachen Hand auf den Oberschenkel. „Wie bitte? Wir haben die Musiker schon vor Wochen bezahlt! Sie ist dazu verpflichtet! Wenn sie abspringt, nehmen wir ihre Gage zurück und verlangen obendrein Schadensersatz. Rufen Sie diese Musikerin an und sagen es ihr.“

„Das ändert nichts an den Tatsachen. Wir sollten das Fest verschieben.“ Herr Walter zupfte ein Taschentuch aus der kleinen Box unter dem Schreibtisch, mit dem er die Unterlage abwischte.

„Klingt leichter gesagt als getan. Es hat Monate gedauert, das Fest zu organisieren. Wissen Sie, was für ein Aufwand auf uns zukommt, wenn wir es verschieben? Das wäre eine Katastrophe!“

Herr Walter seufzte.

Seit zwei Wochen schlug er sich mit Herrn Doro und dessen feuchter Aussprache herum. Mal war Herr Doro angespannt wie ein Gummiband, das jederzeit zu zerreißen drohte, mal euphorisch wie ein garisischer Clown, dann wiederum unendlich traurig wie eine talajianische Magmarosenanbeterin. Außerdem war er der Inbegriff menschlicher Ignoranz.

„Sie tragen die Verantwortung für die Menschen. In den sozialen Netzwerken wurden schon in den letzten Tagen Stimmen laut, die gefordert haben, das Fest abzusagen. Wenn jetzt jemand zu Schaden kommt ...“ Herr Walter zuckte mit den Schultern. Viele Stunden lang hatte er das Schulterzucken vor dem Hotelspiegel geübt und war froh, diese Geste endlich erfolgreich einsetzen zu können.

„Vielleicht haben Sie recht.“ Herr Doro strich sich die langen Haare aus der Stirn und zückte sein Handy. „Aber wir warten trotzdem. Vielleicht haben wir Glück, und in einer halben Stunde scheint die Sonne. Aber Sie können trotzdem einen Kostenvoranschlag für eine Verschiebung des Fests berechnen.“ Dann sprang er auf, eilte zur Tür hinaus, und Herr Walter verabschiedete sich gedanklich von dem Abschlussbericht.

Da das Licht immer trüber wurde, schaltete Herr Walter die Deckenbeleuchtung an, anschließend desinfizierte er sowohl seinen Schreibtisch als auch sein Gesicht. In menschlichem Speichel lauerten viele Bakterien und Viren, auf die er gerne verzichtete.

„Beginne mit geforderter Rechnung“, flüsterte er danach in den Com an seinem Handgelenk, der als einfache Armbanduhr getarnt war. Lücken im Protokoll wirkten sich negativ auf die Beurteilung aus, und die wiederum legte die Anzahl seiner Bonusarbeitstage fest.

PAM

Als ein gehetzt aussehender Geschichts-Dozent Pam und Oskar schließlich erzählte, die Wahrheit sei nicht in der Ideenwelt, sondern in der Vergangenheit zu finden, da Geschichte sich nur nicht wiederhole, wenn man aus ihr lerne, zückte Oskar erneut seinen Stift. „Sind wir hier bei Zurück in die Zukunft?“, schüttelte er den Kopf und zog Pam erbost vom Dozenten weg. „Der eine meint, ich soll in die Welt seiner Ideen reisen – lieber nicht, sag ich dir! –, und der nächste will, dass ich mir eine Zeitmaschine bastele! Pamela, wo hast du mich hier nur hingeführt?“

Pam zuckte mit den Schultern. Sie war wieder dazu übergegangen, die Dinge vor ihren Augen bloß zu beobachten, sie geschehen zu lassen, ohne großen Einfluss auf sie zu nehmen. Seit sie an der Uni angekommen waren, hatte sie Oskars kontinuierlichem Redeschwall kaum ein Wort entgegengesetzt – geschweige denn auch nur einem der Menschen, mit denen er sich unterhielt, eine eigene Frage gestellt. Alles, was sie wusste – und zu wissen brauchte –, war, dass ihre Mutter sie in einer Dreiviertelstunde im Uni-Center abholen würde. Die Zeit lief ihnen davon, wenn sie die Wahrheit heute noch finden wollten – und zu allem Übel sah Pam nun auch noch dicke Gewitterwolken aufziehen. Als die Sonne hinter diesen verschwand, wich die ausgelassene Stimmung vor den G-Gebäuden auf einmal einer bedrückteren Atmosphäre. Auf die hell erleuchteten Gesichter der vielen Studenten – jeder mit seiner eigenen Wahrheit im Kopf – schlichen sich dunkle Schatten.

Plötzlich ein Grummeln – donnerte es etwa schon? Pam spitzte die Ohren und wartete auf das Abklingen des Donnerschlags, doch das Geräusch schwoll weiter an. War das etwa Musik, ein ohrenbetäubender Bass, der aus der Umgebung des Audimax zu ihnen herüberwehte?

Was war hier heute nur los? Pam riss sich aus ihren Gedanken und bemerkte, dass sie Oskar aus den Augen verloren hatte. Ein Moment der Panik befreite sie kurzzeitig aus ihrer Lethargie, und so schnappte Pam sich die erstbesten Passanten und bombardierte sie aus dem Nichts mit Fragen: „Sorry, aber was genau ist hier denn heute? Ist das Musik? Warum sind hier so viele Leute, und warum trinken die alle Bier? Lernt hier denn heute niemand?“

Die hochgewachsene Frau, die Pam angeplappert hatte und sie an ihre eigene Mutter erinnerte, beugte sich zu Pam herunter. Sie hatte einen sorgenvollen Blick aufgesetzt. „Heute ist das Uni-Fest“, sagte sie.

„Ja. Echt!“, pflichtete ihre Teenager-Tochter ihr bei – und von den zwei Jungen, die die Frau zudem im Schlepptau hatte, rollte der Blonde genervt die Augen.

„Du solltest hier nicht alleine rumlaufen“, sagte die Mutter.

„Echt nicht“, meinte die Tochter – woraufhin der Junge „Paula!“ stöhnte und Pam einen mitfühlenden Blick schenkte.

Pam wandte sich von der Familie ab. Sie hatte Oskar gerade durch die großen Fenster im Inneren von GB ausgemacht, das, im Gegensatz zu draußen, weitgehend verwaist war. Bevor sie jedoch zu ihm gehen konnte, klingelte plötzlich ihr Handy: Ihre Mutter war dran. „Pam!“, rief diese laut und aufgeregt in den Hörer. „Ich stehe mit dem Auto am Uni-Center, könnt ihr sofort hierhin kommen? Ich hab ganz vergessen, dass heute das Fest ist! Und im Radio sagen sie, dass gerade ein Sturm aufzieht. Es ist zu gefährlich draußen – und so ein Chaos ist doch das Letzte, was ihr auf eurer Suche nach der Wahrheit braucht! Kommt bitte schnell –, okay, Schatz?“

Pams Mutter legte auf, ohne auf eine Antwort ihrer Tochter zu warten. Sie wusste, dass Pam auf sie hören würde – und tatsächlich rannte Pam, ohne eine Sekunde zu zögern, ins Gebäude GB hinein, unterbrach ohne besondere Rücksichtnahme das Gespräch ihres Freundes mit einer Putzfrau und zerrte Oskar am Arm durch die schwergängige Tür zurück nach draußen.

„Schon mal drüber nachgedacht, dass du vielleicht die falschen Leute nach der Wahrheit fragst?“, stänkerte Pam dabei.

An der frischen Luft bemerkte sie entsetzt, dass es bereits zu regnen begonnen hatte. Selbst Oskar protestierte jetzt nicht mehr; ein Blick in sein Gesicht genügte, und Pam wusste, dass auch er bei diesem Wetter schnellstmöglich nach Hause wollte. Draußen war es mittlerweile verdammt düster geworden – und wenn Oskar eins hasste, dann war das – wie Pam seit der Nacht auf dem Vordach wusste – Dunkelheit.

Dicke Tropfen lösten sich aus den Wolken, die wie allmächtige Götter über Pam und Oskar hingen. Pam kam nicht umhin zu bemerken, wie friedlich der Himmel über ihnen trotz des Regenschauers doch aussah – die dunklen Wolken bewegten sich träge über das Firmament, als würden sie einem uralten Plan folgen – und wie vollkommen verschieden davon das menschliche Treiben hier unten war. Auf dem Campus brach langsam aber sicher das Chaos aus. Die abschüssigen Grünflächen vor den G-Gebäuden leerten sich, und es wimmelte von genervten Studenten, die Decken, Kartenspiele, Bierflaschen und unerlaubte Substanzen mit düsteren Mienen zurück in ihre Taschen stopften. Schnell waren die Gehwege voll von planlos umherirrenden Männern und Frauen, Mädchen und Jungen, die sich für diesen Abend etwas ganz Anderes vorgestellt hatten – Pam musste an Britta denken, für die alles, die Uni, die Typen, und jetzt auch noch ihr heißgeliebtes Uni-Fest, eine nicht enden wollende Abfolge von Enttäuschungen zu sein schien.

Auch der Regen wirkte hier unten viel heftiger als oben in den Wolken; sein unnachgiebiges Prasseln verschluckte sämtliche andere Geräusche. Dazu kam ein schneidender Wind, der Pam, die ihr pinkfarbenes Haargummi zu Hause vergessen hatte, die Haare ins Gesicht, dann wieder hinaus, dann wieder hineinwirbelte, wie es ihm beliebte. Mit Oskars klammer Hand in ihrer bezwang sie den kurzen Anstieg, der zu einem Restaurant mit dem unsäglichen Namen Q-West führte, schlängelte sich an den hochaufragenden Körpern der Studenten vorbei eine kleine Treppe hinauf, ließ ein weiteres graues Gebäude hinter sich und näherte sich schließlich seitlich der Uni-Bibliothek.

Mit jedem Schritt wurde es voller und das Vorankommen schwieriger. Von allen Seiten strömten Studenten auf den Bibliotheksvorplatz, in Richtung Unibrücke. Für einen kurzen Moment wunderte Pam sich, warum diese feierwütigen Partygänger sich von einem kleinen Regenschauer derart aus der Fassung bringen ließen – dann bemerkte sie, warum es in Wirklichkeit so ruhig geworden war: Es gab keine Musik mehr, die Konzerte waren abgebrochen worden. Stattdessen fiel Pam nun eine metallische Stimme auf, die über den Platz dröhnte und den prasselnden Regen zu übertönen versuchte. „Achtung, Achtung!“, konnte Pam ausmachen, und ihr suchender Blick fand schließlich zahlreiche Lautsprecher, die an den Seiten des Platzes in einigen Metern Abstand voneinander aufgestellt worden waren. „Das Uni-Fest fällt aufgrund einer akuten Gefahrenlage aus. Bitte verlassen Sie das Gelände und machen sich auf den Weg nach Hause. Es besteht kein Grund zur Panik!“

Pam war verwirrt. Auch Oskar, der sich, nachdem Pam ihm erklärt hatte, dass heute Uni-Fest war und sie an einem besser geeigneten Tag wiederkommen würden, bis hierher stumm hinter seiner Freundin hergeschleppt hatte, blieb plötzlich stehen und schüttelte den Kopf.

„Was ist es denn nun?“, schimpfte er. „Eine Gefahrenlage oder eine Keine-Panik-Lage? Kann denn wirklich niemand an dieser Uni eine gottverdammte Entscheidung treffen?“ Oskars Stimme wurde lauter – Pam kam der Gedanke, dass er sie, wie vor einigen Tagen seine Taschenlampe, dazu benutzte, die Dunkelheit und seine eigene Angst zu verscheuchen. „Weiß denn hier wirklich kein Schwein, was die Wahrheit ist?“, schrie er und schaute sich hilflos um.

Pam wollte ihn weiterziehen – „Komm, wir müssen schnell weg von hier!“, sagte sie ärgerlich –, doch Oskar blieb beharrlich auf seiner Stelle inmitten des großen Platzes vor der Bibliothek stehen.

„Ist die Wahrheit nun ein Traum? Ist sie Schnaps? Ist sie die Vergangenheit? Ist sie ein Affe? Oder ist die Wahrheit, dass ihr alle Versager seid?“ Oskar brüllte es heraus – „Versager!“ –, und plötzlich hörte Pam ein lautes Lachen hinter sich.

Eine Gruppe Studenten stand vor dem Eingang der Bibliothek im Trockenen und amüsierte sich über Oskars kleinen Wutanfall. Einem Instinkt – und nicht etwa ihrem Verstand – folgend, stapfte Pam auf die vier Gestalten zu und zog Oskar dabei hinter sich her. Niemand durfte sich vor Pams Augen über ihren Freund lustig machen!

„Guck mal, Oskar“, sagte sie frech zu ihm, als sie vor der Gruppe stehenblieben. „Die sehen eher so aus, wie du dir Studenten vorgestellt hast, oder?“ Sie deutete auf das Sakko, das einer der jungen Männer trug, die beigefarbenen Cargohosen des nächsten und die spitzen, hochhackigen Schuhe der einzigen Frau unter ihnen. „Was studiert ihr Klugscheißer, hm?“, wandte sie sich dann direkt an sie. „Medizin? Jura? Wirtschaft?“ Pam kannte diese Art von Studenten mittlerweile – und tatsächlich lachte die Frau erneut laut auf.

„Sie hat uns ertappt“, kicherte sie und deutete dann auf Oskar. „Du bist also auf der Suche nach der Wahrheit?“, fragte sie. „Und bist dafür zu den Geisteswissenschaftlern gegangen?“

„Geisterwissenschaftler?“, sagte Oskar ungläubig.

Die junge Frau korrigierte ihn nicht. „Komm nächsten Montag um zwei ins Audimax, Kleiner. Unser VWL-Prof kann dir sagen, was die Wahrheit ist, keine Sorge ... Der Junge war bei den Geisteswissenschaftlern, um die Wahrheit herauszufinden!“, gackerte sie dann, mit Blick auf ihre Freunde, aufs Neue los. „Scheiße, die hinterfragen so viel, die können sich noch nicht einmal vernünftige Klamotten anziehen!“

Pams Handy klingelte schon wieder. „Wo bleibt ihr denn?“, keifte ihre Mutter und legte auf. Pam packte Oskar am Arm und schleifte ihn von den Managern in spe weg, zurück in den Mahlstrom aus Menschen, der in Richtung Unibrücke floss.

Oskars Lebensenergie war derweil zurückgekehrt. Mit freudestrahlenden Augen hüpfte er neben Pam her und plapperte sie voll. „Geisterwissenschaftler, hast du gehört?“, meinte er. „Das Mädchen mit den kurzen Haaren, der Junge mit dem langen Bart – die Typen mit dem Longboard! Die wissen nicht, was die Wahrheit ist, weil sie noch an Geister glauben! Die sind wie ich, als ich noch in der Santa-Lüge gefangen war, Pamela! Nächsten Montag um zwei“, wiederholte er dann. „Pamela, ich kann’s nicht fassen, dass wir schon in fünf Tagen die Wahrheit erfahren werden!“

Pam konnte die Begeisterung ihres Freundes nicht ganz nachvollziehen. Für sie unterschieden sich die vier Studenten von eben nur in ihrem Kleidungsstil und ihrem Gehabe von den vorherigen. Natürlich würde ihnen ihre Wahrheit als einzig richtige erscheinen – dasselbe galt jedoch für den Geschichts-Dozenten mit seiner Zeitmaschine und die Anglistikstudentin mit ihrem Nine-Eleven. Doch Pam verbarg ihre Zweifel vor Oskar; er sah in diesem Moment zu glücklich aus, schien das Chaos und die Dunkelheit um sich herum vollkommen vergessen zu haben.

Stattdessen marschierte Pam mit festem Blick auf die Unibrücke und hielt den hin und her hüpfenden Oskar an der Hand umklammert – es kam ihr vor, als würde er sonst wegschweben. Ihre Mutter hatte Pam vor der Brücke gewarnt. Irgendwer will einem da immer was verkaufen, hatte sie geschimpft und Pam angewiesen, einfach mit festem Blick geradeaus zu marschieren und den Verkäufern und Anwerbern so zu entgehen.