Sturmhöhe - Emily Brontë - E-Book

Sturmhöhe E-Book

Emily Bronte

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Beschreibung

Aus der Moorlandschaft Yorkshires erhebt sich das Anwesen Wuthering Heights, den Naturgewalten schutzlos ausgesetzt. Dort wachsen die Bauerntochter Catherine Earnshaw und das Findelkind Heathcliff gemeinsam auf. In ihren stürmischen Wesen erkennen sie sich als Seelenverwandte, im Kampf gegen äußere Widerstände als Verbündete – und sie verlieben sich leidenschaftlich ineinander. Doch Catherine beschließt, den vermögenden Edward Linton von Thrushcross Grange zu heiraten, und Heathcliff verschwindet. Jahre später kehrt er zurück, auf rätselhafte Weise zu Reichtum gekommen. Doch Catherine will Linton nicht verlassen, und Heathcliff sinnt auf Rache. Emily Brontës einziger Roman erzählt von familiärer Gewalt, von der Macht der Psyche und von einer Liebe, die Grenzen sprengt. Die Zeitgenossen lehnten ihn ab, heute gilt er wegen seiner Radikalität als eines der bedeutendsten Werke der Weltliteratur.

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Emily Brontё

Sturmhöhe

Aus dem Englischen von Grete Rambach

Mit einem Vorwort von Patti Smith

Kampa

Unheilbar lebendig

Vorwort von Patti Smith

In West Yorkshire im Dorf Haworth hinter der Pfarrkirche steht das Brontë Parsonage Museum. Geht man durch seine Räume, kann man die bescheidenen, aber wertvollen Besitztümer der Familie Brontë betrachten. Unter diesen anrührenden Schätzen findet sich in der Ecke einer Vitrine eine weiße Porzellantasse. Sie fällt ins Auge wegen des Namens, der mit Goldbuchstaben darauf geschrieben steht: Emily Jane Brontë. Eine einzigartige Tasse für eine einzigartige junge Frau.

Emily wurde als fünftes von sechs Kindern am 30. Juli 1818 im Dorf Thornton geboren, ihre Eltern waren Maria Branwell und Patrick Brontë, ein aus Irland stammender anglikanischer Pastor. 1820 zogen sie nach Haworth um, wo Patrick eine Pfarrstelle auf Lebenszeit erhielt. Maria starb leider kurz nach der Geburt ihres jüngsten Kinds Anne. 1825 starben die beiden ältesten Schwestern tragischerweise an Tuberkulose. Die übrig gebliebenen Geschwister wurden unter der Aufsicht ihres Vaters unterrichtet. In der Freizeit aber wurden sie, getrieben von einem kollektiven kreativen Drang, zu aufmerksamen Architektinnen eines von ihnen erfundenen, mit vielerlei Details ausgestatteten Landes. Alle vier waren vielfältig begabt, aber Emily unterschied sich von den andern durch ihre Statur und ihren Hang zu Einzelgängertum und Unabhängigkeit.

Als Kind hieß es von ihr, sie habe »die Augen eines nur halb gezähmten Wesens«, sie fühlte sich zu Übernatürlichem hingezogen, dachte sich gern wilde Geschichten über Feen aus. Sie war unordentlich und eine Tagträumerin, ritzte frech ein großes E ins Mahagoni des Schreibtisches, den sie mit ihren Schwestern teilte, und spielte auf dem Schrankklavier Mozart. Ihr Vater behandelte sie als das Genie der Familie, wenn auch auf unkonventionelle Weise. So brachte er ihr das Pistolenschießen bei und spürte zweifellos, wie viel von der Eigenwilligkeit seiner Verwandten aus der irischen Grafschaft Down in ihr steckte.

Sie wuchs zu einer großen, schlanken Frau heran mit dunklen Locken und düsterem, verschlossenem Wesen. Menschen ging sie aus dem Weg; sie fühlte sich wohler in Gesellschaft ihrer Gänse und eines verletzten Falken namens Hero. Mit ihren ungestümen Hunden zog sie durch die Moorlandschaft, deren windgepeitschtes Heidekraut wie ein Meer aus langen duftigen Haaren wirkte. Unterröcke verschmähte sie, weil sie im Nebel felsiges Terrain erklimmen oder durch kalte Bäche waten wollte, deren Wasser in ihre Schnürstiefel drang. Sie war aufgewühlt, und ihre haselnussbraunen Augen vermochten den wachsenden Zwiespalt ihrer Seele kaum mehr zu verbergen.

Emily wollte weder Führung noch irdische Güter. Doch kam die Zeit, da die vier Geschwister hinausgehen mussten, um ihren Lebensunterhalt zu verdienen. Nur Charlotte bekam einen Heiratsantrag, doch schlug sie ihn aus. Nach ein paar vergeblichen Versuchen fand Emily eine Anstellung an der Law Hill School in Halifax. Es wurde übermäßig viel von ihr verlangt, aber sie war gewaltige Arbeitsbelastungen gewohnt. Ihre Umgebung, die verfallenden Gebäude und die von Wind und Wetter entstellten Greifen, nahm sie ebenso wahr wie die Geschichten sonderbarer Stadtbewohner. Nachts schrieb sie Gedichte, von denen niemand etwas ahnte. Dank ihrer lebendigen Phantasie und der vertraut wirkenden Hügellandschaft hielt sie die Strapazen von Law Hill zunächst aus. Doch immer stärker wurde das Gefühl, eingesperrt zu sein, sie schlief und aß vor Kummer nicht mehr und brach schließlich zusammen.

So wurde sie entlassen und kehrte dankbar nach Haworth zurück. Ohne die heimatlichen Moore konnte sie nicht leben. Hier fühlte sie sich wohl, konnte sie in glücklicher Einsamkeit durch die Landschaft schweifen. Die Hausarbeit machte ihr Freude, abends zog sie sich in das unbeheizte ehemalige Kinderzimmer zurück und kuschelte sich dann in das kleine Bett, das sie einst mit ihrer Schwester Charlotte geteilt hatte.

Gebeutelt von seelischen Rückschlägen, fanden sich 1845 alle vier Geschwister im Pfarrhaus wieder. Das Wiedersehen war nicht nur freudig, denn Bruder Branwell war durch sein berufliches wie persönliches Verhalten in Ungnade gefallen und in entsprechend übler Verfassung. Als er ein Gruppenbild der Geschwister anfertigte, übermalte er sich, als verdiente er nicht, mit seinen Schwestern zusammen dargestellt zu werden, eine fast schon prophetische Geste in Anbetracht ihrer zukünftigen Leistungen.

Branwells Unberechenbarkeit prägte den Alltag der Familie und deren Zukunftsaussichten. Inmitten dieser Aufregungen und Ängste entdeckte Charlotte Emilys Gedichte in deren offenem tragbaren Schreibpult. Überzeugt von ihrem Wert, drängte sie darauf, sie zu publizieren. Vielen Widerständen von Emily zum Trotz kam eine Veröffentlichung zustande: eine Auswahl von Gedichten aller drei Schwestern unter den Pseudonymen Currer, Ellis und Acton Bell, die ihre Geschlechtszugehörigkeit unkenntlich machten. Finanziell brachte die Unternehmung nichts, aber der Ehrgeiz war geweckt. Im Gedenken an die schöpferischen Stunden, die sie als Kinder verbracht hatten, führten sie ein neues Ritual ein. Um neun Uhr abends legten sie ihre Näharbeiten weg, und während Branwell durch die Pubs torkelte, zogen sie sich ins Wohnzimmer zurück. Jede arbeitete an einem eigenen Roman, lauerte auf den Kuss der Muse und umkreiste zwischendurch den Tisch, als spielten sie Reise nach Jerusalem.

Den endlosen Winter 1847 lang kreisten sie um den Tisch, forderten sich gegenseitig heraus und provozierten einander. Geschrieben hatten sie seit ihrer Kindheit; das war eine Art kameradschaftlicher Selbstunterhaltung, bei der sie skandalöse Geschichten erfanden, einander bekriegende Länder, Könige, die sich duellierten – es war ihr eigenes Game of Thrones. An dem tintenverschmierten Tisch, der in der Mitte einen knapp handgroßen, von einer Kerze herrührenden Brandfleck aufwies, konzipierte jede ihre eigene Heldin, geprägt durch die Situation, in der sie sich befand. Anne schuf sich mit der sanften, einfühlsamen Agnes Grey eine Art Doppelgängerin. Mit stolzem Trotz erfand Charlotte die kleine, unscheinbare, liebenswerte Jane Eyre. Agnes Grey wie Jane Eyre sollten allerlei Hindernisse überwinden müssen, bevor sie am Schluss dauerhafte und erfüllende Liebe auf Erden finden würden.

Was aber ersann Emily? Da gab es keine wohlverdiente Herrlichkeit. Sie schöpfte aus ihrem eigenen widerspenstigen Wesen und entfesselte das ruhelose Phantom der Catherine Earnshaw, deren blasse Finger aus dem Grab nach dem ihr bestimmten Seelengefährten griffen, als wollten sie seinen Atem lähmen. Wer nicht leidenschaftlich ist, ist blass, und wer von Leidenschaft verzehrt wird, entwickelt eine eigene Farbe – die Farbe des Todes.

Charlottes und Annes Heldinnen erstrebten Erlösung, Gleichgewicht. Emily wollte nichts dergleichen. Sie schuf eine von Winden gezeugte Heldin, deren Bandbreite der Gefühle wie die ihrer Schöpferin von launischem Eigensinn bis zum äußersten Verzicht der Selbstentbehrung reicht. Emily war wie ein kleiner Vulkan, der zwar schlief, aber in dem es unablässig brodelte und der dann durch Worte und Taten ihrer Figuren zum Ausbruch kam. Sie hielt hartnäckig an ihrem eigenen moralischen Empfinden fest und mochte davon auch nicht abweichen, um ihre aufgebrachten Schwestern zu besänftigen. Sturmhöhe sprengte die Ketten der Konvention, man erkannte die einzigartige Kraft des Romans, hielt ihn aber gleichzeitig für so wild und moralisch abstoßend, dass Ellis Bell, ob er/sie nun wollte oder nicht, ins Zentrum der öffentlichen Aufmerksamkeit katapultiert wurde.

 

Die Sturmhöhe beginnt mit einer doppelten Erzählung, die zu Beginn des Jahrhunderts seiner Entstehung einsetzt. Ein Mr Lockwood reist in ein abgelegenes Moor, um seinen neuen Vermieter, einen Gutsherrn, kennenzulernen, und muss des unberechenbaren Wetters wegen in dessen Haus die Nacht verbringen. Ein schwerer Schatten liegt über dem Haushalt, und die Jungen ducken sich verbittert. Heathcliff, Herr des verfallenden Hauses, scheint auf dem eigenen Anwesen wie ein wütendes Gespenst umzugehen, ist aber unheilbar lebendig.

Neugierig geworden, fragt Lockwood Nelly Dean aus, die treue Haushälterin, die im Lauf ihres Lebens fast alle Dramen miterlebt hat, die mit dem Haus des Gutsherrn, Wuthering Heights, zusammenhängen, und sie erzählt ihm eine traurige Geschichte von unergründlicher Liebe und Rache, die Lockwood, als unser Ishmael, wiederum uns erzählt.

Dreißig Jahre zuvor hat der Vater der kleinen Catherine versprochen, ihr aus London eine Reitpeitsche mitzubringen; doch stattdessen bringt er einen Gassenjungen mit – ein kleines dunkles Ding namens Heathcliff mit Augen wie nasser Onyx. Catherine bockt, doch etwas in Heathcliff bewirkt, dass ihre Seele sich öffnet. Er hat keine Geschichte, als wäre er mit einem Meteor auf die Erde gekracht. Er werde Unglück bringen, wird Nelly sagen, doch sein Wesen scheint ein Spiegelbild von Catherines Wesen zu sein. Mit der Zeit werden sie unzertrennlich, erforschen die wilde Landschaft und nehmen jeden Windhauch wahr, als wären sie die Gräser selbst.

Im Dunkel verborgen hört Heathcliff, wie Cathy Nelly anvertraut, ihn zu heiraten – einen mittellosen Zigeuner – wäre unter ihrer Würde. Empört macht er sich davon, bevor sie enthüllt hat, was sie wirklich für ihn empfindet. Hätte er nur ein winziges bisschen länger ausgeharrt, dann sein Versteck verlassen und Catherine an sich gerissen, wären die beiden verlorenen Hälften eins geworden. Doch er flüchtet, zutiefst verletzt, und verflucht alles, was ihm in den Weg kommt. So wie er selbst verflucht sein wird.

Charlotte Brontës Heldin Jane Eyre hätte sich nie auf eine andere Heirat eingelassen als mit dem Mann, den ihre Seele erwählt hatte, auch wenn sie so Gefahr lief, allein durchs Leben zu gehen. Doch die Innenwelt von Emily Brontës Heldin wird von Impulsen beherrscht, die zu explosivem Chaos führen. Sturmhöhe folgt einem furchtbaren Szenario, in dem Cathy gegen ihre Natur einen Mann zu heiraten bereit ist, der ihr Komfort und Status bietet, sie auf Händen trägt – doch den sie nicht liebt. Diese Entscheidung zieht solch schreckliche Qualen nach sich, dass die Natur selbst sie aufgreift und ringsumher widerhallen lässt.

Heathcliff kehrt zurück als wohlhabender Mann, das verwaiste Fohlen kommt angaloppiert, um das Haus desjenigen zu zerstören, der es einst gefüttert hat. Heathcliff wird alles um sich herum vernichten, auch Cathy. Sie hat einen anderen geheiratet, und er tut das Gleiche, nur um sie zu provozieren. Cathy hat nicht mit Gewissensbissen, sondern mit ihrer Leidenschaft zu kämpfen, und er unterschätzt, wie weit zu gehen sie bereit ist, um ihn so leiden zu lassen, wie sie leidet. Ohne Rücksicht auf ihre Umgebung und das Kind, mit dem sie schwanger ist, siecht sie dahin, ausgezehrt von Fieber und Selbstentbehrung. Emanzipation ist erst künftigen Generationen vorbehalten. Sie lässt den Ast, der sie noch auf Erden festhält – Heathcliffs Arme, die Locken seines Haars – los.

»Ich wollte, ich könnte dich halten«, sagt sie zu Heathcliff, »bis wir beide tot wären.«

Handelte es sich um ein Libretto für Puccini oder Verdi, wären dies bestimmt die entsetzlichen Schlussworte. Doch Emily Brontë tut etwas Unerwartetes. Sie fährt fort. Ihre Erzählung stößt uns in ein Fegefeuer, dem wir noch so gern entgingen. Sie schafft eine Stimmung der Heimsuchung, denn heimgesucht werden alle mehr oder weniger heftig. Heathcliff ist zum Leben verdammt, während Cathy im Jenseits lauert und ihn unablässig ruft. So präsent ist sie, dass Vergangenheit und Gegenwart vollkommen parallel erscheinen. Nur das Versprechen von Rache hält Heathcliff noch mit einem Fuß in der körperlichen Welt, und wir müssen ihm folgen. Doch während Heathcliff den Altar ihrer Liebe zu rekonstruieren versucht, erstickt sein profaner Status die Reben der Vernunft.

Another side of the heroic mirror.

Moorland twilight spellbinding bleak.

Wrapped in the full light of dreaming.

He could hardly bear to look into their face

When the shroud of illusion dropped

As God made them as God made them

Absolute cruelty redeemed by absolute love

The black hole of a moonless night

The suddenness of punishing sin.

[Eine andere Seite des heroischen Spiegels. / Moorlandzwielicht fesselnd düster. / Ins volle Licht des Träumens gehüllt. / Er ertrug es kaum, ihr ins Gesicht zu blicken / Als das Leichentuch der Täuschung fiel / Wie Gott sie schuf wie Gott sie schuf / Absolute Grausamkeit wettgemacht durch absolute Liebe / Absolute Grausamkeit wettgemacht durch absolute Liebe / Das schwarze Loch einer mondlosen Nacht / Die Plötzlichkeit einer strafenden Sonne.]

 

Heathcliff und Cathy verliehen unheiliger Liebe Unsterblichkeit. Sie trugen seltsame Kronen, geformt für ein noch seltsameres Königsreich – ein verstörendes Konzept für 1848. Emily war keine fleißige Kirchgängerin, zweifellos zog sie ihr eigenes System vor, das heißt: absolut kein System. Sie nahm das kosmische Ganze wahr, sah alle Dinge mit dem objektiven Blick eines kreisenden Falken. Das war ihre besondere Fähigkeit, ein angeborenes Verständnis, das ihr erlaubte, die vaskulären Pole menschlichen Handelns zu begreifen. Es gibt keine mythologischen Räume, um die Extrakte moralischer Prinzipien zu bergen. Außerhalb des religiösen Glaubens sind Gut und Böse nichts als Komponenten des Wirbels veränderlicher Welten.

Die Autorin dieser brutalen, kompromisslosen Geschichte unterbrach ihre häuslichen Pflichten – Brot zu backen oder die Klöppelspitzen ihrer Schwestern zu bügeln – oft, um auf kleinen Zetteln Notizen für ihren Roman festzuhalten. Sturmhöhe entfesselte eine Welle kritischen Furors, der bestimmt noch zunahm, als man entdeckte, dass Ellis Bell eine Frau war.

Sie halten ein Buch in Händen, das wegen seines Inhalts fast zu bersten droht. Obschon es in der Kunst und der Populärkultur durchaus denkwürdige Adaptionen gegeben hat, kennt dieses Werk nur wirklich, wer es gelesen hat. Es sollte Emilys einziger Roman bleiben, ihre letzte große Anstrengung, denn nach seiner Veröffentlichung schrieb sie kaum noch etwas.

Im Sommer 1848 war Branwell, der sich ganz dem Alkohol und dem Opium ergeben hatte, am Ende seiner Kräfte, und der Dunstkreis seines Scheiterns breitete sich gleichsam über die ganze Familie aus. Als es Herbst wurde, löste sein Siechtum einen tragischen Dominoeffekt aus: Zuerst wurde er dahingerafft, dann rasch nacheinander Emily und Anne. Umgeben von seiner ohnmächtigen Familie und Freunden, starb Branwell in den Armen seines verzweifelten Vaters. Emily erkrankte nach der Trauerfeier, die in der eisig kalten, feuchten Kirche stattgefunden hatte. Die plötzliche Stille, die sich im Haus ausbreitete, legte sich wie ein schweres Leichentuch auf Emilys Schultern. Der Bruder, der in seinen besten Momenten Ansporn zu schöpferischer Energie gewesen war, hatte die ihn Umsorgende mit Tuberkulose angesteckt. Die Krankheit, gepaart mit Emilys Willen zu sterben, ließ sie, wie ihre Heldin, verdorren wie einen vergifteten jungen Baum.

Ellis Bell schrieb nie wieder. Ihr Hund Keeper folgte dem Trauerzug, bellte vor ihrer Tür und bewachte ihr Schlafzimmer noch lange nach ihrem Tod. Anne starb am Meer in Scarborough und flehte ihre überlebende Schwester an, den Mut nicht zu verlieren. So blieb Charlotte, die sich selbst immer als die am wenigsten Talentierte beschrieben hatte, allein zurück. Aus abgeschnittenen Locken ihrer Schwestern flocht sie ein Halsband und einen Trauerring. In der Stille, die das Schicksal ihr beschieden hatte, schloss sie den Roman Shirley als Hommage an Emily ab und schrieb dann ihr Meisterwerk Villette. Aus alter Gewohnheit umkreiste sie weiter den gemeinsamen Tisch und hielt bestimmt auch mal an, um mit dem Finger über das eingeritzte E zu fahren.

Emily starb an einem hellen Dezembernachmittag. Sie war erst dreißig. Wohin ging sie, als sie den Blick von der Sonne abwandte? Vielleicht hinaus auf die wilden, verlassenen Moore von Yorkshire, um diese ungehindert zu durchstreifen. Stören wir sie nicht. Sie hat sich behauptet. Ihr entfesselter Geist schuf kein säuberliches Päckchen. Indem sie Sturmhöhe schrieb, lieferte sie nicht, was gewünscht war, sondern sie gab, was sie zu geben vermochte.

Emily Jane Brontë mit ihren losen Röcken und dem zigeunerhaften Wesen. Sie trank aus dem eigenen Kelch, der eigenen Tasse. Letztere kann man in der Vitrine im Pfarrhaus von Haworth besichtigen. Das ist meine Tasse, warnt ihr Gespenst, berühr sie nicht mit deinen Lippen, oder du wirst dazu verdammt sein, das Brennen meines Blutes zu spüren, zu erschauern vor der schrecklichen Wahrheit der Liebe.

Aus dem amerikanischen Englisch von Elvira Schnapp

Sturmhöhe

1

1801. Ich bin gerade von einem Besuch bei meinem Gutsherrn zurückgekehrt – diesem einsamen Nachbarn, der mir zu schaffen machen wird. Was für eine schöne Gegend! Ich glaube nicht, dass ich in ganz England meinen Wohnsitz an einer anderen Stelle hätte aufschlagen können, die so vollkommen abseits vom Getriebe der Welt liegt. Ein echtes Paradies für Menschenfeinde; und Mr Heathcliff und ich sind das richtige Paar, um diese Einsamkeit miteinander zu teilen. Ein famoser Bursche! Er ahnte wohl kaum, wie mein Herz ihm entgegenschlug, als ich sah, wie seine schwarzen Augen sich bei meinem Näherreiten so abweisend unter den Brauen verbargen und wie seine Hände sich in entschiedenem Misstrauen tiefer in sein Wams vergruben, während ich meinen Namen nannte.

»Mr Heathcliff?«, fragte ich.

Ein Nicken war die Antwort.

»Mr Lockwood, Ihr neuer Pächter. Ich erlaube mir, so bald wie möglich vorzusprechen, und hoffe, dass Ihnen die Beharrlichkeit, mit der ich mich um Thrushcross Grange beworben habe, nicht lästig geworden ist. Ich hörte gestern, Sie hätten die Absicht gehabt …«

»Thrushcross Grange gehört mir«, unterbrach er mich auffahrend. »Ich erlaube niemand, mich zu belästigen, wenn ich es verhindern kann. – Herein!«

Das »Herein« wurde zwischen den Zähnen hervorgestoßen und hieß so viel wie: »Geh zum Teufel.« Selbst die Gattertür, über die er sich lehnte, machte keine freundliche Bewegung zu seinen Worten. Ich glaube, nur ein Umstand bewog mich, die Einladung anzunehmen: Ein Mann, der noch zurückhaltender schien, als ich es bin, weckte meine Neugier.

Als er sah, dass mein Pferd die Brust gegen das Gatter drängte, streckte er die Hand aus, um die Kette zu lösen, und ging dann mürrisch den Dammweg voraus. Als wir den Hof betraten, rief er: »Joseph, nimm Mr Lockwood das Pferd ab und bring Wein herauf!«

Dies wird wohl das ganze Gesinde sein, überlegte ich, als ich diesen zusammenfassenden Befehl vernahm. Kein Wunder, dass Gras zwischen dem Pflaster wächst und die Hecken nur von den Rindern gestutzt werden.

Joseph war ein ältlicher, nein, ein alter Mann; vielleicht sogar sehr alt, wenn auch gesund und sehnig.

»Gott behüte!«, sagte er in gereiztem Ton vor sich hin, während er mir mein Pferd abnahm, und warf mir dabei einen so missmutigen Blick zu, dass ich voller Mitleid daraus schloss, er bedürfe wohl göttlicher Hilfe, um sein Mittagessen zu verdauen, und sein frommer Stoßseufzer könne sich nicht auf meine unerwartete Ankunft beziehen.

Wuthering Heights, Sturmhöhe, heißt Mr Heathcliffs Besitztum. »Wuthering« ist ein trefflicher mundartlicher Ausdruck, um den Aufruhr der Lüfte zu beschreiben, dem dieser Ort bei stürmischem Wetter ausgesetzt ist. Die Leute dort oben müssen zu allen Zeiten kräftig durchgeblasen werden. Man kann sich die Gewalt des Sturmes, der um die Ecke bläst, recht vorstellen, wenn man die paar schiefgewehten dürftigen Kiefern am Ende des Hauses betrachtet und eine Reihe dürrer Dornbüsche sieht, die alle ihre Arme nach einer Seite strecken, als wollten sie die Sonne um ein Almosen bitten. Zum Glück hatte der Baumeister ein festes Haus hingesetzt: Die schmalen Fenster sind tief in die Mauer eingelassen und die Ecken durch große vorstehende Steine gesichert.

Bevor ich über die Schwelle trat, hielt ich inne, um eine Reihe grotesker Schnitzereien zu bewundern, die verschwenderisch an der Vorderseite und besonders am Haupteingang angebracht waren. Über diesem entdeckte ich mitten in einem Wirrwarr zerbröckelnder Greifen und nackter kleiner Putten die Jahreszahl 1500 und den Namen Hareton Earnshaw. Ich hätte gern ein paar Bemerkungen gemacht und den mürrischen Eigentümer um eine kurze Geschichte des Hauses gebeten, aber seine Haltung an der Tür schien meinen schleunigen Eintritt oder mein endgültiges Verschwinden zu fordern, und ich hatte keine Lust, seine Ungeduld zu steigern, bevor ich das Allerheiligste besichtigt hatte.

Eine Stufe führte ohne jede Art von Vorraum oder Durchgang in den Wohnraum der Familie, hierzulande »das Haus« genannt. Es ist gewöhnlich Küche und Empfangszimmer in einem, doch glaube ich, dass in Wuthering Heights die Küche in einen anderen Teil des Hauses verbannt war; jedenfalls vernahm ich Stimmen und Geklapper von Küchengeräten weiter hinten im Haus. Auch bemerkte ich weder Spuren von Braten, Kochen oder Backen in der Nähe der riesigen Feuerstätte noch den Schimmer von kupfernen Bratpfannen und Blechsieben an der Wand. Von einem Ende allerdings wurde der starke Glanz des Lichts und der Glut zurückgeworfen, und zwar von Reihen riesiger Zinnschüsseln, die sich zusammen mit silbernen Krügen und Kannen auf einer gewaltigen Eichenanrichte fast bis unters Dach auftürmten. Dieses war nie unterzimmert worden; unverhüllt zeigte sich sein ganzes Gerippe dem forschenden Blick, bis auf die Stelle, wo es von einem hölzernen Gerüst verborgen wurde, das mit Haferkuchen und Bergen von Rinds-, Hammel und Schweinskeulen beladen war. Über dem Kamin hingen mehrere schäbige alte Flinten und ein Paar Reiterpistolen, und auf dem Sims standen, wohl als Schmuck, drei mit grellen Farben bemalte Blechbüchsen. Der Fußboden war aus glattem weißem Stein; die hochlehnigen Stühle, schlicht in der Form, waren grün gestrichen; ein oder zwei schwarze Lehnstühle standen im Schatten. Unter der Anrichte lag eine riesige fahlbraune Hühnerhündin, umgeben von einer Schar quiekender Welpen, und in anderen Winkeln lagen noch mehr Hunde.

Das Zimmer und die Einrichtung hätten zu einem schlichten Landwirt des Nordens gepasst, zu einem Mann mit sturem Gesichtsausdruck, dessen kräftige Glieder sich in Kniehosen und Gamaschen gut ausnehmen. Männer dieser Art, im Lehnstuhl sitzend, den schäumenden Bierkrug vor sich auf dem runden Tisch, kann man im Umkreis von fünf oder sechs Meilen zwischen diesen Hügeln überall antreffen, wenn man nur zur richtigen Zeit nach dem Mittagessen aufbricht. Aber Mr Heathcliff bildet einen merkwürdigen Gegensatz zu seiner Behausung und seinem Lebensstil. Seinem Aussehen nach ist er ein dunkelhäutiger Zigeuner, der Kleidung und den Umgangsformen nach ein Gentleman, das heißt die Art Gentleman, wie viele Gutsherren es sind: vielleicht etwas schlampig, doch trotz seiner Nachlässigkeit nicht übel aussehend, weil er ebenmäßig und gut gewachsen ist – und ziemlich mürrisch. Möglich, dass manche Menschen ihn eines ungebildeten Hochmuts verdächtigen; ich fühle in mir eine verwandte Saite klingen, die mir sagt, dass dem nicht so ist. Mein Gefühl sagt mir: Seine Zurückhaltung entspringt einer Abneigung gegen Gefühlsäußerungen und Freundlichkeitsbekundungen. Genauso wird er im Verborgenen lieben und hassen und es als eine Art von Unverschämtheit erachten, wiedergeliebt oder gehasst zu werden. Nein, ich lasse mir zu sehr die Zügel schießen: Ich statte ihn zu verschwenderisch mit meinen eigenen Charakterzügen aus. Vielleicht hat Mr Heathcliff ganz andere Gründe dafür, seine Hand zu verstecken, wenn er einen trifft, der seine Bekanntschaft sucht, als die, die mich bewegen. Ich will hoffen, dass ich mit meiner Veranlagung einzeln dastehe. Meine liebe Mutter pflegte zu sagen, ich würde niemals ein gemütliches Heim haben, und erst im letzten Sommer habe ich mich als unwürdig erwiesen, eines zu gründen.

Während ich einen Monat schönen Wetters an der See verlebte, geriet ich in die Gesellschaft eines bezaubernden Geschöpfs, einer wahren Göttin in meinen Augen, solange sie mir keine Aufmerksamkeit schenkte. Ich gab meiner Liebe nie mit Worten Ausdruck; doch wenn Blicke sprechen können, hätte auch der ärgste Dummkopf erraten, dass ich bis über beide Ohren verliebt war. Sie verstand mich schließlich und erwiderte meine Augensprache mit dem süßesten Blick, den man sich vorstellen kann. Und was tat ich? Ich gestehe es voller Scham: Ich zog mich, zu Eis erstarrt, in mich selbst zurück wie eine Schnecke, mit jedem Blick wurde ich kälter und entferne mich weiter, bis die arme Unschuld schließlich anfing, ihren eigenen Sinnen zu misstrauen, und, niedergeschlagen und verwirrt, ihre Mutter überredete, die Zelte abzubrechen.

Durch diese merkwürdige Veranlagung bin ich in den Ruf vorsätzlicher Herzenskälte gekommen, wie unverdient, kann nur ich allein ermessen.

Mein Wirt ging auf den Kaminsitz zu, ich nahm am entgegengesetzten Ende Platz und füllte eine Pause des Schweigens mit dem Versuch, die Hündin zu streicheln, die ihre Kinderstube verlassen hatte, wie ein Wolf von hinten an meine Beine herangeschlichen war und ihre weißen Zähne zum Zuschnappen bleckte. Mein Streicheln veranlasste ein lang gezogenes tiefes Knurren.

Auch Mr Heathcliff knurrte. »Sie sollten den Hund lieber in Ruhe lassen!« Er unterdrückte gröbere Gefühlsäußerungen durch ein Aufstampfen mit dem Fuß. »Sie ist nicht gewöhnt, gestreichelt zu werden; sie ist kein Spielhund.« Dann, zu einer Seitentür tretend, rief er wieder: »Joseph!«

Joseph brummte undeutlich in der Tiefe des Kellers, gab aber nicht zu verstehen, dass er heraufkommen wolle; darum stieg sein Herr zu ihm hinab und ließ mich allein mit der wilden Hündin und einem Paar grimmig zottiger Schäferhunde, die sich mit ihr die argwöhnische Bewachung jeder meiner Bewegungen teilten. Da ich nicht darauf brannte, mit ihren Fängen in Berührung zu kommen, saß ich still; aber weil ich mir einbildete, sie verstünden stumme Beleidigungen kaum, erlaubte ich mir unglücklicherweise, zu zwinkern und dem Trio Grimassen zu schneiden, und einer meiner Ausdrücke brachte die Hundedame so auf, dass sie plötzlich in Wut geriet und auf meinen Schoß sprang. Ich schleuderte sie von mir und beeilte mich, den Tisch zwischen uns zu bringen. Dieser Vorgang brachte die ganze Meute auf die Beine. Ein halbes Dutzend vierfüßiger Furien, unterschiedlich in Alter und Größe, sprang aus verborgenen Winkeln in die Mitte des Raums. Auf meine Absätze und Rockschöße hatten sie es besonders abgesehen, und während ich die größeren Angreifer, so gut es ging, mit dem Schüreisen abwehrte, sah ich mich gezwungen, laut um Hilfe eines der Hausbewohner zu rufen, damit der Frieden wiederhergestellt werde.

Mr Heathcliff und sein Knecht stiegen die Kellertreppe mit aufreizender Ruhe herauf; ich glaube nicht, dass sie sich um eine Sekunde schneller bewegten als sonst, obwohl ein wahrer Sturm von Toben und Kläffen am Ofen tobte. Zum Glück legte jemand aus der Küche mehr Eile an den Tag: ein resolutes Frauenzimmer mit aufgeschürztem Kleid, nackten Armen und feuererhitzten Wangen stürzte, eine Bratpfanne schwingend, mitten unter uns und gebrauchte diese Waffe und ihre Zunge so erfolgreich, dass der Sturm sich wie durch Zauber legte und sie allein bewegt blieb wie die See nach einem Unwetter, als ihr Herr den Schauplatz betrat.

»Was zum Teufel ist hier los?«, fragte er und blickte mich in einer Weise an, die ich nach dieser ungastlichen Behandlung schlecht ertragen konnte.

»Was zum Teufel, allerdings!«, brummte ich. »Die Schweineherde in der Bibel war sicherlich von keinem böseren Geist besessen als Ihre Tiere hier. Geradeso gut könnten Sie einen Fremden mit einer Tigerbrut alleinlassen!«

»Sie tun keinem etwas zuleide, der nichts anfasst«, bemerkte er, während er die Flasche vor mich hinstellte und den verschobenen Tisch zurechtrückte. »Die Hunde tun recht daran, wachsam zu sein. Glas Wein?«

»Nein, danke.«

»Sie sind doch nicht gebissen worden?«

»Wenn ich es wäre, hätte ich dem Beißer einen Denkzettel gegeben.«

Heathcliffs Gesicht entspannte sich zu einem Grinsen.

»Na, na«, sagte er, »Sie sind aufgeregt, Mr Lockwood. Hier, trinken Sie ein wenig Wein. Gäste sind in diesem Hause so selten, dass ich und meine Hunde – das gebe ich zu – kaum wissen, wie man sie empfängt. Zum Wohl, Mr Lockwood!«

Ich verbeugte mich und trank ihm zu, denn ich sah ein, dass es töricht gewesen wäre, wegen des schlechten Benehmens von ein paar Kötern zu schmollen. Außerdem hatte ich keine Lust, dem Kerl Gelegenheit zu geben, sich weiter über mich lustig zu machen, zumal er in der Stimmung dazu war. Er – vielleicht einsehend, wie unklug es war, einen guten Pächter zu beleidigen – mäßigte ein wenig seine Art, die Wörter einzeln abgehackt hervorzustoßen, und leitete zu einem Gegenstand über, von dem er annahm, dass er mich interessierte, einem Gespräch über die Vor- und Nachteile meines neuen Wohnortes. Ich fand ihn sehr bewandert in den Dingen, die wir berührten, und bevor ich nach Hause ging, war ich so weit ermutigt, dass ich mich freiwillig für morgen wieder ansagte. Er wünschte augenscheinlich keine Wiederholung meines Besuchs. Ich werde trotzdem hingehen. Es ist erstaunlich, wie gesellig ich mir im Vergleich zu ihm vorkomme.

2

Gestern Nachmittag setzten Nebel und Kälte ein. Ich hatte halb Lust, ihn in meinem Studierzimmer am Kamin zu verbringen, anstatt durch Heide und Schlamm nach Wuthering Heights zu waten. Als ich jedoch vom Mittagessen aufstand (ich esse übrigens zwischen zwölf und ein Uhr; die Haushälterin, eine ältere Frau, die ich zusammen mit dem Haus übernommen habe, konnte oder wollte meine Bitte, um fünf Uhr zu speisen, nicht begreifen), als ich also mit diesem bequemen Vorsatz die Treppe hinaufging und das Zimmer betrat, kniete dort, inmitten von Bürsten und Kohleneimern, eine Dienstmagd am Boden, die mit Bergen von Schlick die Flammen erstickte und dabei einen höllischen Staub aufwirbelte. Dieser Anblick stimme mich augenblicklich um; ich nahm meinen Hut und erreichte nach einem Marsch von vier Meilen Heathcliffs Gartenpforte, gerade rechtzeitig, um den ersten wirbelnden Flocken eines Schneegestöbers zu entrinnen.

Auf dieser kahlen Höhe war die Erde hart gefroren, und die kalte Luft ließ mich am ganzen Körper erschauern. Da ich die Kette nicht lösen konnte, sprang ich über den Zaun, lief den von Stachelbeersträuchern gesäumten gepflasterten Damm entlang und klopfte, vergeblich Einlass begehrend, an das Tor, bis meine Knöchel schmerzten und die Hunde heulten.

›Elendes Pack!‹, knirschte ich innerlich, ›für eure flegelhafte Ungastlichkeit hättet ihr es verdient, von euresgleichen für ewig gemieden zu werden! Tagsüber seine Tür zu verriegeln! Mir ganz gleich – ich werde hineingelangen!‹

Derart entschlossen fasste ich die Klinke und rüttelte heftig daran. Es dauerte noch eine Weile, bis das essigsaure Gesicht Josephs in einem runden Fenster der Scheune erschien.

»Was wolln Se?«, schrie er mich an. »Der Herr is drunten aufm Feld. Gehn Se doch hinten rum, wenn Se’n sprechen wolln.«

»Ist denn niemand im Haus, der die Tür öffnen kann?«, schrie ich zurück.

»Nee, nur die Frau, und die macht nich auf, und wenn Se bis heut Nacht weitertoben.«

»Warum nicht? Können Sie ihr nicht sagen, wer ich bin? He, Joseph?«

»Nee, ich nich! Da will ich nix mit zu tun ham«, murmelte er, und der Kopf verschwand.

Der Schnee begann dichter zu fallen. Ich ergriff die Klinke, um noch einen Versuch zu machen, als ein junger Mann ohne Rock mit geschulterter Heugabel hinten im Hof erschien. Er rief mir zu, ihm zu folgen, und nachdem wir durch ein Waschhaus und einen gepflasterten Hof, an einem Kohlenschuppen, einer Pumpe und einem Taubenschlag vorbeigegangen waren, landeten wir endlich in dem großen, warmen, schönen Zimmer, in dem ich zuerst empfangen worden war. Es erstrahlte wohltuend im Schein eines gewaltigen Feuers, das von Kohle, Torf und Holz genährt wurde. Am Tisch, der für ein üppiges Abendessen gedeckt war, bemerkte ich zu meiner Freude die ›Frau‹, ein Wesen, von dessen Existenz ich bis dahin nichts geahnt hatte. Ich verbeugte mich und wartete, in der Erwartung, dass sie mir einen Platz anbieten würde. Sie blickte mich an, lehnte sich im Stuhl zurück und verharrte bewegungslos und stumm.

»Raues Wetter!«, bemerkte ich. »Ich fürchte, Mrs  Heathcliff, die Tür wird infolge der Unaufmerksamkeit Ihrer Diener etwas abbekommen haben. Es war harte Arbeit, mich bemerkbar zu machen!«

Sie öffnete den Mund nicht. Ich starrte sie an und sie mich. Jedenfalls ließ sie ihre Augen auf eine kühle, unbekümmerte Art auf mir ruhen, die äußerst verwirrend und unangenehm war.

»Setzen Sie sich!«, sagte der junge Mann mürrisch. »Er wird bald hier sein.«

Ich gehorchte, räusperte mich und rief die Gaunerin Juno, die bei diesem zweiten Zusammentreffen so gnädig war, die äußerste Spitze ihres Schwanzes zu bewegen, als Zeichen, dass sie sich meiner Bekanntschaft erinnerte.

»Ein prachtvolles Tier!«, begann ich von Neuem. »Werden Sie die Jungen abgeben, gnädige Frau?«

»Sie gehören nicht mir«, sagte die liebenswürdige Gastgeberin noch abweisender, als selbst Heathcliff hätte antworten können.

»Ah, dann sind wohl das dort Ihre Lieblinge?«, fuhr ich fort und wies auf ein dunkles Kissen, auf dem anscheinend Katzen lagen.

»Eine sonderbare Auswahl von Lieblingen!«, bemerkte sie verächtlich.

Unglücklicherweise war es ein Haufen toter Kaninchen. Ich räusperte mich noch einmal, rückte näher an den Kamin und wiederholte meine Bemerkung über den stürmischen Abend.

»Sie hätten nicht ausgehen sollen«, sagte sie, stand auf und langte nach zwei der bemalten Blechdosen auf dem Kaminsims.

Vorher war sie dem Licht abgewandt gewesen; jetzt erhielt ich einen klaren Eindruck von ihrer Gestalt und ihrem Gesicht. Sie war schlank und anscheinend kaum dem Kindesalter entwachsen, hatte eine wunderbare Figur und das reizendste kleine Gesicht, das ich jemals gesehen habe; feine Züge, sehr schön; flachsblonde, nein, eigentlich goldene Locken, die lose über ihren zarten Nacken fielen; Augen, die unwiderstehlich gewesen wären, wenn sie einen angenehmen Ausdruck gehabt hätten. Zum Glück für mein empfängliches Herz schwankte das einzige Gefühl, das sie ausdrückten, zwischen Verachtung und einer Art Verzweiflung, und diese dort anzutreffen, mutete ganz besonders unnatürlich an.

Die Blechdosen waren für sie kaum zu erreichen; ich machte eine Bewegung, um ihr zu helfen, aber sie fuhr herum wie ein Geizhals, dem jemand beim Geldzählen helfen will.

»Ich brauche Ihre Hilfe nicht«, fuhr sie mich an, »ich kann sie allein herunterholen.«

»Ich bitte um Verzeihung!«, beeilte ich mich zu entgegnen.

»Sind Sie zum Tee eingeladen?«, fragte sie, während sie sich eine Schürze um ihr elegantes schwarzes Kleid band und einen Löffel voll Teeblätter über den Topf hielt.

»Ich würde gern eine Tasse trinken«, erwiderte ich.

»Sind Sie eingeladen?«, wiederholte sie.

»Nein«, sagte ich lächelnd. »Vielleicht haben Sie die Güte, es zu tun.«

Sie schleuderte den Tee, den Löffel und alles Übrige zurück, nahm ärgerlich ihren Platz wieder ein, runzelte die Stirn und schob ihre rote Unterlippe vor, wie ein Kind, das gleich anfängt zu weinen.

Unterdessen hatte der junge Mann einen äußerst schäbigen Rock übergezogen, stellte sich aufrecht vor das Feuer und blickte aus den Augenwinkeln auf mich herab, als ob irgendeine ausgefochtene tödliche Fehde zwischen uns bestünde. Ich begann mich zu fragen, ob er wirklich ein Knecht war: Seine Kleidung wie auch seine Sprache waren primitiv, und die Überlegenheit Mr und Mrs Heathcliffs fehlte ihm vollkommen. Seine dichten braunen Locken waren struppig und ungepflegt, ein Vollbart bedeckte seine Wangen wie ein Pelz, und seine Hände waren gebräunt wie die eines einfachen Landarbeiters. Und doch war sein Auftreten sicher, fast stolz, und die Art, wie er die Frau des Hauses behandelte, bekundete keine dienerhafte Unterwürfigkeit. In Ermangelung eindeutiger Hinweise auf seine Stellung hielt ich es für das Beste, sein merkwürdiges Verhalten nicht zu beachten, und fünf Minuten später befreite mich Heathcliffs Eintritt in gewissem Maße aus meiner unangenehmen Lage.

»Wie Sie sehen, Mr Heathcliff, bin ich wie versprochen gekommen«, rief ich mit gespielter Munterkeit aus, »und ich fürchte, das Wetter wird mich für eine halbe Stunde hier festhalten, wenn Sie mir so lange Obdach gewähren können.«

»Eine halbe Stunde?«, meinte er und schüttelte die weißen Flocken von seinen Kleidern. »Ich möchte wissen, warum Sie sich einen Schneesturm zum Umherstreifen aussuchen. Wissen Sie, dass Sie Gefahr laufen, sich im Moor zu verirren? Selbst Leute, die mit unseren Sümpfen vertraut sind, verlaufen sich an solchen Abenden oft vom Wege ab, und ich sage Ihnen, dass im Augenblick keine Aussicht auf eine Änderung besteht.«

»Vielleicht darf ich mir einen Ihrer Burschen als Führer ausleihen, und er kann bis morgen früh in meinem Gehöft bleiben. Können Sie jemanden entbehren?«

»Nein, das kann ich nicht.«

»Ach, wirklich? Nun, dann muss ich mich eben auf meinen eigenen Scharfsinn verlassen.«

»Hm!«

»Wirst du jetzt den Tee aufgießen?«, fragte der im schäbigen Rock und ließ seinen wilden Blick von mir zu der jungen Dame wandern.

»Soll er welchen haben?«, fragte sie, zu Heathcliff gewandt.

»Mach schon!«, war die Antwort, die Antwort, die so grausam vorgebracht wurde, dass ich zusammenfuhr. Der Ton, in dem die Worte gesprochen wurden, offenbarte wahrhaftige Bosheit. Ich fühlte mich nicht länger geneigt, Heathcliff einen anständigen Kerl zu nennen.

Als der Tee fertig war, bat er mich mit den Worten dazu: »Na, dann rücken Sie Ihren Stuhl heran!« Wir alle, auch der bäuerliche junge Mann, versammelten uns um den Tisch, und während wir uns mit der Mahlzeit beschäftigten, herrschte ein unfreundliches Schweigen.

Sofern ich diese Wolke verursacht hatte, hielt ich es für meine Pflicht, sie wieder zu verscheuchen. Sie konnten doch nicht jeden Tag so düster und schweigsam dasitzen; und es war unmöglich, wie schlecht gelaunt sie auch sein mochten, dass der finstere Gesichtsausdruck, den sie alle trugen, ihre Alltagsmiene war.

»Es ist doch seltsam«, begann ich in der Pause zwischen zwei Tassen Tee, »es ist doch seltsam, wie stark Gewohnheit unsere Neigungen und Vorstellungen formt. Manch einer könnte sich in einem Leben völliger Abgeschiedenheit von der Welt, wie Sie es führen, Mr Heathcliff, keine Zufriedenheit vorstellen. Und doch wage ich zu behaupten, dass, umgeben von Ihrer Familie und mit Ihrer liebenswürdigen Gefährtin, die als guter Geist in Ihrem Heim und Herzen regiert …«

»Meine liebenswürdige Gefährtin?«, unterbrach er mich mit einem geradezu diabolischen Grinsen. »Wo ist sie, meine liebenswürdige Hausfrau?«

»Ich meine Mrs Heathcliff, Ihre Frau.«

»Ach, Sie wollten also andeuten, dass ihr Geist das Amt eines Schutzengels übernommen hat und die Geschicke von Wuthering Heights bewacht, obwohl ihr Körper uns verlassen hat. War es so?«

Ich merkte, dass ich einen Fehler begangen hatte, und versuchte, ihn wiedergutzumachen. Ich hätte sehen müssen, dass der Altersunterschied zwischen den beiden zu groß war, als dass man sie für Mann und Frau hätte halten können. Er war etwa vierzig, ein Alter geistiger Kraft, in dem Männer sich selten der Täuschung hingeben, dass ein junges Mädchen sie aus Liebe heiraten könnte; dieser Traum ist uns als Trost für unseren Lebensabend vorbehalten. Sie sah nicht älter aus als siebzehn.

Da schoss es in mir durch den Kopf: ›Der Tölpel an meiner Seite, der seinen Tee aus einer Schüssel trinkt und sein Brot mit ungewaschenen Händen isst, könnte ihr Mann sein. Natürlich, Heathcliff junior. Das ist die Folge des Lebendigbegrabenseins: Sie hat sich an diesen Bauernlümmel weggeworfen aus lauter Unkenntnis, dass es noch bessere Männer gibt! Wie schade! Ich muss Acht geben, dass ich ihr keine Ursache gebe, ihre Wahl zu bereuen.‹ Diese letzte Überlegung mag eingebildet klingen, sie war es nicht. Mein Nachbar erfüllte mich fast mit Abscheu; aus Erfahrung wusste ich, dass ich einigermaßen anziehend wirkte.

»Mrs Heathcliff ist meine Schwiegertochter«, sagte Heathcliff, meine Vermutung bestätigend. Während er sprach, warf er einen eigentümlichen Blick in ihre Richtung, einen hasserfüllten Blick – es sei denn, er verfügte über höchst eigenwillige Gesichtsmuskeln, die nicht, wie die anderer Leute, die Sprache seiner Seele erkennen ließen.

»Oh, natürlich – jetzt verstehe ich: Sie sind der glückliche Gefährte der guten Fee«, wandte ich mich an meinen Nachbarn.

Das war schlimmer als alles Vorhergehende: Der junge Mann wurde puterrot und ballte die Fäuste, als hätte er die Absicht, mich anzugreifen. Aber schließlich schien er sich zu fassen und unterdrückte den Sturm in seinem Inneren mit halblauten Verwünschungen gegen mich, die ich zu überhören versuchte.

»Sie haben Pech mit Ihren Vermutungen«, bemerkte mein Wirt; »keiner von uns hat die Ehre, der Gefährte Ihrer guten Fee zu sein; ihr Mann ist tot. Ich sagte, dass sie meine Schwiegertochter sei, sie muss also meinen Sohn geheiratet haben.«

»Und dieser junge Mann ist …«

»Ganz gewiss nicht mein Sohn.«

Heathcliff grinste wieder, als wäre es ein allzu kühner Scherz, ihm die Vaterschaft dieses Bären zuzuschreiben.

»Mein Name ist Hareton Earnshaw«, knurrte der andere, »und ich rate Ihnen, ihm Achtung zu zollen!«

»Ich habe es nicht daran fehlen lassen«, entgegnete ich, während ich innerlich lachen musste über die Würde, mit der er sich vorstellte.

Er starrte mich an, länger, als ich den Blick erwidern konnte, denn ich fürchtete die Versuchung, ihm entweder eine Ohrfeige zu versetzen oder meine Heiterkeit zu verraten. Ich begann, mich in diesem liebenswürdigen Familienkreis durchaus fehl am Platz zu fühlen. Die düstere seelische Atmosphäre bezwang die Wärme und äußere Behaglichkeit um mich herum, und ich beschloss, mich auf keinen Fall ein drittes Mal unter dieses Dach zu begeben.

Die Mahlzeit war beendet, und da niemand zu geselliger Unterhaltung Neigung zeigte, ging ich ans Fenster, um nach dem Wetter zu sehen. Es war ein trostloser Anblick: Die Nacht war vorzeitig hereingebrochen, der Himmel und die Berge schwammen in dem heftigen Wirbel des Windes und des alles begrabenden Schnees.

»Unmöglich, jetzt ohne Führer nach Hause zurückzufinden«, entfuhr es mir. »Die Straßen werden bereits verschneit sein, und selbst wenn sie es nicht wären, könnte ich kaum einen Schritt weit sehen.«

»Hareton, treib die Schafe in die Scheune! Sie werden einschneien, wenn sie die ganze Nacht in der Hürde bleiben. Lege auch eine Planke vor!«, sagte Heathcliff.

»Was soll ich nur tun?«, fragte ich mit aufsteigendem Ärger.

Es kam keine Antwort auf meine Frage. Als ich mich umblickte, sah ich nur Joseph, der einen Eimer Haferbrei für die Hunde hereinbrachte, und Mrs Heathcliff, die sich über das Feuer beugte und sich die Zeit damit vertrieb, ein Bündel Streichhölzer zu verbrennen, das vom Kaminsims heruntergefallen war, als sie die Teedosen an ihren Platz zurückgestellt hatte.

Als er seine Last abgesetzt hatte, unterzog Joseph das Zimmer einer kritischen Prüfung und stieß in krächzendem Ton hervor: »Möcht wissen, wie Se sich’s unterstehn könn, faul da rumz’stehn und zu gucken, wo sonst alle raus sin! Aber Sie sind zu nix nutze, und ’s hat kein Zweck, drüber zu reden. Sie wern Ihre schlechten Gewohnheiten nie lassen. Gehn Se zum Teufel wie Ihre Mutter!«

Ich glaubte einen Augenblick lang, dass diese Rede an mich gerichtet sei, und ging, zur Genüge erbost, auf den alten Kerl zu, in der Absicht, ihn vor die Tür zu setzen. Mrs Heathcliff jedoch hinderte mich mit ihrer Antwort daran.

»Du schändlicher alter Heuchler!«, schrie sie. »Hast du nicht jedes Mal Angst, dass dich bei lebendigem Leib der Teufel holt, wenn du seinen Namen aussprichst? Ich rate dir, mich nicht zu reizen, sonst werde ich als besondere Gunst erbitten, dich schnellstens abzuholen! Halt! Sieh her, Joseph«, fuhr sie fort und nahm ein großes dunkles Buch von einem Brett, »ich werde dir zeigen, wie weit ich in der Schwarzen Kunst fortgeschritten bin: Ich bin bald so weit, das ganze Haus zu säubern. Die rote Kuh ist nicht durch Zufall eingegangen, und dein Rheumatismus kann auch nicht gerade zu den glücklichen Heimsuchungen gerechnet werden!«

»Du schlechtes, schlechtes …!«, keuchte der Alte. »Herr, erlöse uns von dem Übel!«

»Nein, du Verworfener! Du bist der Verstoßene! Scher dich weg, oder ich tu dir etwas Schlimmes an! Ich werde euch alle in Wachs und Ton modellieren, und der Erste, der die Grenze, die ich setze, überschreitet, wird … Ich werde nicht sagen, was ihm geschieht, aber du wirst schon sehen! Geh, ich habe ein Auge auf dich!«

Die kleine Hexe legte einen Ausdruck gespielter Bosheit in ihre schönen Augen, und Joseph, vor ehrlichem Entsetzen zitternd, eilte hinaus, betend und immer wieder »schlecht« hervorstoßend. Ich glaubte, ihr Benehmen sei nur der Ausdruck einer derben Spottlust, und als wir wieder allein waren, versuchte ich, ihr Interesse für meine Notlage zu gewinnen.

»Mrs Heathcliff«, sagte ich ernst, »Sie müssen entschuldigen, dass ich Sie belästige. Ich wage es, weil ich sicher bin, dass Sie, mit einem solchem Gesicht, gar nicht anders als gütig sein können. Geben Sie mir ein paar Anhaltspunkte, wie ich den Weg nach Hause finden kann. Ich weiß ebenso wenig, wie ich heimkommen soll, wie Sie den Weg nach London fänden!«

»Gehen Sie denselben Weg, den Sie gekommen sind!«, erwiderte sie und machte es sich in einem Stuhl bequem, eine Kerze und ein großes, aufgeschlagenes Buch vor sich. »Es ist ein kurzer Rat, aber der vernünftigste, den ich Ihnen geben kann.«

»Wenn Sie morgen hören, dass man mich im Sumpf oder in einer einem Schneeloch tot aufgefunden hat, wird dann Ihr Gewissen Ihnen nicht zuraunen, dass Sie einen Teil Schuld daran tragen?«

»Wieso? Ich kann Sie nicht begleiten. Die würden mich nicht einmal bis zur Gartenmauer gehen lassen.«

»Sie? Wie könnte ich es wagen, Sie zu bitten, meinetwegen in einer solchen Nacht den Fuß über die Schwelle zu setzen!«, rief ich. »Ich bitte Sie nur, mir den Weg zu beschreiben, nicht zu zeigen, oder dass Sie Mr Heathcliff veranlassen, mir einen Führer zu stellen.«

»Wen denn? Hier wohnen er selbst, Earnshaw, Zillah, Joseph und ich. Wen wollen Sie haben?«

»Gibt es keine Burschen auf dem Gut?«

»Nein, das sind alle.«

»Das bedeutet, ich bin gezwungen hierzubleiben.«

»Das müssen Sie mit Ihrem Wirt abmachen. Ich habe damit nichts zu tun.«

»Ich hoffe, es wird Sie lehren, keine übereilten Ausflüge mehr hier hinaufzumachen«, rief Heathcliffs scharfe Stimme vom Kücheneingang her. »Was Ihr Hierbleiben betrifft – ich bin nicht auf die Unterbringung von Gästen eingerichtet. Sie müssen das Bett mit Hareton teilen oder mit Joseph, wenn Sie das wollen.«

»Ich kann auf einem Stuhl in diesem Zimmer schlafen«, entgegnete ich.

»Nein, nein! Ein Fremder ist ein Fremder, sei er nun reich oder arm; es passt mir nicht, dass irgendjemand sich hier aufhält, wenn ich ihn nicht überwachen kann!«, sagte dieser unverschämte Kerl.

Mit dieser Beleidigung war meine Geduld am Ende. Ich stieß einen Laut der Wut hervor, drängte mich an ihm vorbei zum Hof und rannte in meiner Hast gegen Earnshaw. Es war so dunkel, dass ich den Ausgang nicht erkennen konnte, und während ich herumlief und suchte, bekam ich eine weitere Kostprobe ihrer höflichen Umgangsformen untereinander zu hören. Zuerst erschien der junge Mann, um mir behilflich zu sein.

»Ich werde bis zum Park mit ihm gehen«, sagte er.

»Du wirst einen Teufel tun!«, rief sein Herr oder was auch immer er für ihn war. »Wer soll nach den Pferden sehen, he?«

»Ein Menschenleben ist wichtiger, als einmal die Pferde nicht zu versorgen; jemand muss doch gehen«, sagte Mrs Heathcliff freundlicher, als ich erwartete.

»Nicht auf deinen Befehl!«, versetzte Hareton. »Wenn dir an ihm liegt, hältst du besser den Mund.«

»Dann hoffe ich, dass sein Geist dich verfolgt und dass Mr Heathcliff nie wieder einen Pächter findet, bis das Gehöft zerfallen ist!«, erwiderte sie scharf.

»Hört, hört! Sie verflucht se!«, murmelte Joseph, auf den ich zugesteuert war.

Er saß so, dass er uns hören konnte, und molk die Kühe im Licht einer Laterne, die ich umstandslos ergriff. Ich rief ihm zu, dass ich sie am nächsten Morgen zurückschicken würde, und stürzte zur nächstgelegenen Hintertür.

»Herr, Herr, er stiehlt die Laterne!«, schrie der Alte und verfolgte mich auf meiner Flucht. »He, Gnasher! He, Hund! He, Wolf! Fass, fass!«

Als ich die kleine Tür öffnete, sprangen mir zwei haarige Ungeheuer an die Kehle, warfen mich zu Boden und löschten dabei das Licht, während ein schallendes Gelächter von Heathcliff und Hareton meiner Wut und meiner Demütigung die Krone aufsetzte. Glücklicherweise schienen die Bestien mehr dazu geneigt zu sein, ihre Pfoten zu spreizen, zu gähnen und mit den Schweifen zu wedeln, als mich bei lebendigem Leibe zu zerfleischen. Aber dass ich mich aufrichtete, duldeten sie nicht, und ich musste still liegen bleiben, bis es ihren boshaften Herren beliebte, mich zu befreien. Ohne Hut, zitternd vor Wut, verlangte ich dann von den Übeltätern, mich hinauszulassen; wenn sie mich noch eine Minute länger zurückhielten, würden sie es zu bereuen haben. Ich bekräftigte es mit unzusammenhängenden Drohungen von Vergeltung, die in ihrer abgrundtiefen Bösartigkeit an König Lear erinnerten.

Vor Aufregung bekam ich starkes Nasenbluten, während Heathcliff immer noch lachte und ich immer noch schimpfte. Ich weiß nicht, wie diese Szene geendet hätte, wäre nicht eine Person zur Hand gewesen, die vernünftiger als ich und wohlwollender als meine Gastgeber war. Es war Zillah, die kräftige Haushälterin, die erschien, um sich nach dem Grund des Aufruhrs zu erkundigen. Sie glaubte, jemand hätte Hand an mich gelegt, und da sie es nicht wagte, ihren Herrn anzugreifen, richtete sie ihr Wortgeschütz gegen den jüngeren Flegel.

»Na, Mr Earnshaw«, schrie sie, »ich bin gespannt, was Se als Nächstes anstellen werden! Sollen auf der Türschwelle jetzt Leute ermordet werden? Nein, in diesen Haushalt passe ich nicht. Sehen Se doch, der arme Kerl erstickt ja fast! Na, na, nu beruhigen Se sich. Kommen Se, ich helf Ihnen. Nun halten Se mal still!«

Mit diesen Worten goss sie mir plötzlich eiskaltes Wasser in den Nacken und zog mich in die Küche. Mr Heathcliff folgte, und seine jäh ausgebrochene Heiterkeit wich rasch wieder seinem gewöhnlichen mürrischen Wesen.

Ich fühlte mich sehr schwach, schwindelig und einer Ohnmacht nahe, und es blieb mir nichts anderes übrig, als für diese Nacht um Unterkunft zu bitten. Er wies Zillah an, mir ein Glas Brandy zu geben, und ging in das innere Zimmer zurück. Während sie mir ihre Teilnahme an meiner bedauernswerten Lage ausdrückte, kam sie seiner Anweisung nach, und als ich mich wieder etwas belebt fühlte, führte sie mich zu meinem Bett.

3

Während sie mich die Treppe hinaufführte, riet sie mir, die Kerze zu verbergen und keinen Lärm zu machen; denn ihr Herr mache merkwürdig viel Aufhebens um das Zimmer, in das sie mich führen wolle, und würde freiwillig niemand dort wohnen lassen. Ich fragte sie nach dem Grund. Sie kenne ihn nicht, war die Antwort; sie lebe erst seit ein oder zwei Jahren im Haus, und es gingen dort so viele merkwürdige Dinge vor sich, dass sie gar nicht erst anfangen wolle, neugierig zu sein.

Zu betäubt, um selbst neugierig zu sein, schloss ich die Tür und sah mich nach dem Bett um. Die ganze Einrichtung bestand aus einem Stuhl, einem Kleiderschrank und einem großen Kasten aus Eichenholz, aus dessen oberem Teil Vierecke herausgeschnitten waren, die wie Wagenfenster aussahen. Ich ging auf das Ungetüm zu, um hineinzublicken, und entdeckte, dass es eine besondere Art altmodischer Lagerstätte war, äußerst zweckdienlich entworfen, damit nicht jedes Familienmitglied ein eigenes Zimmer brauchte. Es bildete ein richtiges kleines Kabinett, und der Sims eines Fensters diente als Tisch.

Ich schob die getäfelten Schiebetüren beiseite, kroch mit meinem Licht hinein, schloss sie wieder und fühlte mich vor Heathcliffs Wachsamkeit und aller Welt sicher.

In einer Ecke des Simses, auf den ich meine Kerze stellte, lag ein Stapel stockfleckiger Bücher, und in das Brett selbst waren überall Schriftzeichen eingeritzt. Sie alle bildeten, mal größer, mal kleiner und in den unterschiedlichsten Arten von Buchstaben, nur einen Namen: Catherine Earnshaw, hier und da variiert in Catherine Heathcliff und dann wieder in Catherine Linton.

In stumpfer Teilnahmslosigkeit lehnte ich meinen Kopf gegen das Fenster und buchstabierte immer wieder Catherine Earnshaw – Heathcliff – Linton, bis mir die Augen zufielen. Aber es waren noch keine fünf Minuten vergangen, als ein greller Schein weißer Buchstaben, lebendig wie Gespenster, aus dem Dunkel hervorbrach – die Luft war erfüllt von Catherinen. Als ich mich aufrichtete, um den aufdringlichen Namen zu vertreiben, entdeckte ich, dass der Docht meiner Kerze sich über einen der alten Bände geneigt und dass sich der Geruch angebrannten Kalbleders im Raum verbreitet hatte.

Ich kürzte den Docht, und da ich mich infolge der Kälte und einer anhaltenden Übelkeit sehr elend fühlte, setzte ich mich auf und nahm den beschädigten Band auf meine Knie. Es war ein Testament in kleinem Druck, das schrecklich modrig roch. Das Vorsatzpapier trug die Inschrift Dieses Buch gehört Catherine Earnshaw und ein Datum, das etwa ein Vierteljahrhundert zurücklag.

Ich klappte das Buch zu und nahm ein anderes und noch ein anderes zur Hand, bis ich sie alle durchgesehen hatte. Catherines Bibliothek war erlesen, und der abgenutzte Zustand der Bücher bewies, dass sie viel gebraucht worden war, wenn auch nicht immer zu ihrem eigentlichen Zweck. Kaum ein Kapitel war frei von handschriftlichen Randbemerkungen – danach sah es jedenfalls aus –, die jeden Platz, den der Drucker freigelassen hatte, ausfüllten. Manche von ihnen bestanden aus losen Sätzen, andere wieder stellten eine Art von regelrechtem Tagebuch dar, das in einer unbeholfenen, kindlichen Handschrift hingekritzelt war. Oben auf einer freien Seite (die einst wahrscheinlich wie ein Schatz entdeckt worden war) erblickte ich zu meinem großen Vergnügen eine ausgezeichnete Karikatur meines Freundes Joseph, grob, aber treffend skizziert. Ein plötzliches Interesse für die unbekannte Catherine flammte in mir auf, und ich fing sofort an, ihre verblassten Hieroglyphen zu entziffern.

 

Ein furchtbarer Sonntag!, begann der Absatz unter der Zeichnung. Ich wünschte, mein Vater wäre wieder da. Hindley ist ein unausstehlicher Ersatz für ihn. Sein Benehmen Heathcliff gegenüber ist abscheulich. H. und ich werden uns auflehnen. Heute Abend haben wir den ersten Schritt dazu getan.

Den ganzen Tag hatte es in Strömen geregnet, und wir konnten nicht in die Kirche gehen, darum musste Joseph unbedingt eine Gemeinde in der Dachstube zusammentrommeln. Während Hindley sich mit seiner Frau vor einem behaglichen Feuer wärmte – ich bürge dafür, dass sie alles andere taten, als in ihren Bibeln zu lesen –, wurde Heathcliff, mir und dem armen Ackerknecht befohlen, mit unseren Gebetbüchern hinaufzugehen. Wir wurden in einer Reihe auf einen Kornsack gesetzt, ächzend und zitternd vor Kälte, und hofften, Joseph würde auch frieren und uns in seinem eigenen Interesse eine kurze Predigt halten. Eine vergebliche Hoffnung! Der Gottesdienst dauerte genau drei Stunden. Und dann hatte mein Bruder, als er uns herunterkommen sah, die Dreistigkeit zu rufen: »Was, schon fertig?« An Sonntagabenden durften wir gewöhnlich spielen, wenn wir nicht zu viel Lärm machten; jetzt genügt schon ein Kichern, um in die Ecke gestellt zu werden!

»Ihr vergesst, dass ich jetzt euer Herr bin«, sagte der Tyrann. »Den ersten, der mich reizt, mache ich fertig! Ich erwarte absoluten Ernst und vollkommene Ruhe. Junge, warst du das? Frances, Liebling, zieh ihn an den Haaren, wenn du vorbeigehst, er hat mit den Fingern geschnippt.« Frances zog ihn herzhaft an den Haaren, dann ging sie und setzte sich auf den Schoß ihres Mannes, und so blieben sie, wie zwei kleine Kinder, küssten sich und redeten stundenlang Unsinn – dummes Geschwätz, dessen wir uns geschämt hätten. Wir drängten uns, so dicht es ging, in die Nische unter der Anrichte. Ich hatte gerade unsere Kinderschürzen zusammengebunden und sie als Vorhang angebracht, als Joseph von einem Gang in den Stall hereinkam. Er reißt mein Kunstwerk herunter, zieht mich an den Ohren und krächzt:

»Der Herr is grad erscht begraben, und der Sonntag noch nich zu Ende, un de Worte vons Evangelium noch in eure Ohren, un ihr wagt zu spielen! Schämt euch! Setzt euch hin, missratene Kinder! ’s gibt genug gute Bücher, wenn ihr lesen wollt. Setzt euch hin und denkt an eure Seelen!«

So schalt er und zwang uns, uns so zu setzen, dass von dem entfernten Feuer ein schwacher Schein auf uns fiel und uns den Text der alten Schwarten zeigte, die er uns aufdrängte. Ich ertrug diese Beschäftigung nicht. Ich nahm mein schmuddeliges Buch, schleuderte es in die Hundehütte und schwor feierlich, dass ich gute Bücher hasste. Heathcliff beförderte seines mit einem Fußtritt in dieselbe Richtung. Und dann gab es einen Riesenkrach!

»Mr Hindley!«, schrie unser Geistlicher, »komm Se her! Miss Cathy hat ’n Rücken vom Helm des Heils abgerissen, un Heathcliff hat seine Wut am ersten Teil von Die breite Straße zur Verdammnis ausgelassen! ’s is schändlich von Sie, dass Se ihnen so den Willen lassen. Oh, der alte Herr hätt se tüchtig durchgeprügelt – aber der lebt ja nich mehr!«

Hindley eilte aus seinem Paradies am Kamin herbei, packte einen von uns beim Kragen, den anderen beim Arm und schleppte uns beide in die hintere Küche, während Joseph uns versicherte, der Leibhaftige werde uns holen. Mit dieser tröstlichen Aussicht kroch jeder von uns in einen anderen Winkel, um auf sein Kommen zu warten. Ich holte mir dieses Buch und ein Tintenfass vom Wandbrett, stieß die Haustür auf, um besser sehen zu können, und vertrieb mir zwanzig Minuten lang die Zeit mit Schreiben. Aber mein Leidensgenosse ist ungeduldig und macht den Vorschlag, wir sollten den Umhang der Melkfrau nehmen und uns unter seinem Schutz ins Moor davonmachen. Eine gute Idee, zumal der mürrische Alte, wenn er hereinkommt, glauben wird, seine Prophezeiung hätte sich erfüllt – feuchter und kälter kann es draußen im Regen auch nicht sein!

 

Ich nehme an, Catherine hat ihren Plan ausgeführt, denn der nächste Satz handelte von etwas anderem: Sie wurde weinerlich.

 

Ich hätte es mir nie träumen lassen, dass Hindley mich jemals so zum Weinen bringen würde!, schrieb sie. Mein Kopf schmerzt so, dass ich ihn nicht auf dem Kissen halten kann; und doch kann ich nicht nachgeben. Armer Heathcliff! Hindley nennt ihn einen Landstreicher und will ihn nicht mehr bei uns sitzen oder mit uns essen lassen. Und er sagt, wir dürften nicht mehr miteinander spielen, und droht, ihn aus dem Hause zu werfen, wenn wir uns seinen Befehlen widersetzen. Er hat unserem Vater vorgeworfen (wie konnte er es wagen?), H. zu freigebig behandelt zu haben, und schwört, dass er ihn auf den Platz zurückweisen werde, der ihm gebühre …

 

Ich begann über der verblichenen Seite einzunicken, und meine Augen wanderten vom Geschriebenen zum Gedruckten. Ich sah einen rot verzierten Titel: Siebenzigmal sieben und das erste vom einundsiebenzigsten Mal. Eine erbauliche Predigt, gehalten von Hochwürden Jabes Branderham, in der Kapelle von Gimmerden Sough. Und während ich mir, nur halb bewusst, den Kopf darüber zerbrach, was Jabes Branderham wohl aus seinem Thema machen würde, sank ich ins Kissen zurück und schlief ein. Aber ach, die Wirkung des Tees und der Aufregung! Denn was sonst konnte schuld daran sein, dass ich solch eine fürchterliche Nacht verbrachte? Ich erinnere mich an keine andere, die auch nur im Geringsten mit dieser zu vergleichen wäre, seit ich fähig war zu leiden.

Ich fing an zu träumen, noch bevor ich ganz aufhörte zu wissen, wo ich war. Ich glaubte, es sei Morgen und ich hätte mich, mit Joseph als Führer, auf den Heimweg gemacht. Der Schnee lag meterhoch auf unserer Straße, und während wir dahinstapften, quälte mich mein Begleiter mit ständigen Vorwürfen, weil ich keinen Pilgerstab mitgenommen hätte, ohne den ich nie in das Haus gelangen werde; dabei schwang er prahlerisch einen plumpen Knüppel, den er offenbar als solchen bezeichnete. Einen Augenblick lang erschien es mir widersinnig, dass ich einer solchen Waffe bedürfen sollte, um in meine eigene Wohnung zu gelangen. Dann durchfuhr mich ein neuer Gedanke: Ich ging gar nicht nach Hause; wir gingen über Land, um den berühmten Jabes Branderham über den Text Siebenzigmal sieben predigen zu hören. Entweder Joseph oder der Prediger oder ich hatte das erste vom einundsiebenzigsten Mal verbrochen und sollte an den Pranger gestellt und exkommuniziert werden.

Wir erreichten die Kapelle. In Wirklichkeit bin ich auf meinen Spaziergängen zwei- oder dreimal daran vorbeigekommen; sie liegt in einer Senke zwischen zwei Bergen, einer hoch gelegenen Senke bei einem Sumpf, dessen torfig feuchte Beschaffenheit die Eigentümlichkeit haben soll, die wenigen Leichname, die dort liegen, zu erhalten. Noch ist das Dach heil geblieben, aber da die Besoldung des Geistlichen nur zwanzig Pfund im Jahr beträgt und freie Wohnung in einem Haus mit zwei Zimmern, die Gefahr laufen, in Kürze zu einem einzigen zusammenzufallen, will kein Geistlicher die Obliegenheiten des Pastors mehr übernehmen, umso weniger, als allgemein berichtet wird, dass seine Gemeinde ihn eher verhungern ließe, als seinen Lebensunterhalt auch nur durch einen Penny aus ihrer Tasche aufzubessern. In meinem Traum jedoch hatte Jabes eine vollzählige und andächtige Gemeinde. Und großer Gott – was für eine Predigt! Sie bestand aus vierhundertneunzig Abschnitten, von denen jeder völlig einer der üblichen Kanzelreden entsprach und eine einzelne Sünde behandelte! Woher er sie alle nahm, weiß ich nicht. Er hatte seine eigene Art, den Begriff auszulegen, und es schien wesentlich zu sein, dass der Gläubige jedes Mal neue Sünden beging. Sie waren von der seltsamsten Art: merkwürdige Vergehen, von denen ich vorher keine Ahnung gehabt hatte.

Oh, wie müde ich wurde! Wie ich mich krümmte und gähnte, einnickte und wieder aufschrak! Wie ich mich selbst zwickte und kniff, mir die Augen rieb, wie ich aufstand und mich wieder setzte und Joseph anstieß, damit er mir Bescheid sagen sollte, wenn Jabes endlich zum Ende käme. Ich war dazu verdammt, alles mitanzuhören. Schließlich gelangte er zum ersten vom einundsiebzigsten Mal. An diesem Punkt überkam mich eine plötzliche Eingebung: Ich musste aufstehen und Jabes Branderham als den Sünder brandmarken, dem kein Christ zu vergeben braucht.

»Sir«, rief ich, »die ganze Zeit habe ich ohne Unterbrechung in diesen vier Wänden gesessen und die vierhundertneunzig Abschnitte Ihrer Predigt ertragen und verziehen. Siebenzigmal siebenmal habe ich meinen Hut genommen und war drauf und dran zu gehen – siebenmal siebenzigmal haben Sie mich albernerweise gezwungen, mich wieder zu setzen. Das vierhunderteinundneunzigste Mal ist zu viel. Leidensgenossen, packt ihn! Zerrt ihn herunter und reißt ihn in Stücke, auf dass der Ort, der ihn kennt, ihn nicht mehr erkennen kann!«

»Du bist der Mann!«, schrie Jabes nach einer feierlichen Pause und beugte sich über die Brüstung. »Siebenmal siebenzigmal hast du dein Gesicht zum Gähnen verzerrt, siebenmal siebenzigmal bin ich mit meiner Seele zu Rate gegangen. Siehe, das ist menschliche Schwäche; es soll vergeben sein! Das erste vom einundsiebenzigsten Mal ist gekommen. Brüder, vollstreckt an ihm das Urteil, wie es geschrieben steht! Diese Ehre steht jedem Seiner Heiligen zu!«

Nach diesen abschließenden Worten stürzte sich die ganze Gemeinde mit erhobenen Hirtenstäben auf mich, und da ich keine Waffe zur Verteidigung hatte, rang ich mit Joseph, meinem nächsten und wildesten Angreifer, um die seine. Im Gewühl kreuzten sich die Knüppel; nach mir gezielte Hiebe sausten auf fremde Schädel nieder, schließlich hallte die ganze Kapelle von Schlägen und Gegenschlägen wider. Jeder kämpfte gegen jeden, und Branderham, der nicht tatenlos zusehen wollte, bewies seinen Eifer durch lautes Getrampel auf dem Bretterboden der Kanzel, was so laut dröhnte, dass ich zu meiner unaussprechlichen Erleichterung aufwachte. Und was hatte den gewaltigen Lärm ausgelöst? Was hatte bei dem Spektakel Jabes’ Rolle gespielt? Nur der Zweig einer Kiefer, der an mein Fenster schlug, wenn der Wind vorbeirauschte, und der seine trockenen Zapfen gegen die Scheiben rasseln ließ! Einen Augenblick lauschte ich argwöhnisch, dann entdeckte ich den Störenfried und drehte mich auf die andere Seite, döste ein und träumte wieder, womöglich noch unangenehmer als vorher.

Dieses Mal war ich mir bewusst, dass ich in dem