Suchende Seelen - Grete Meisel-Heß - E-Book

Suchende Seelen E-Book

Grete Meisel-Heß

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Beschreibung

Dieses eBook: "Suchende Seelen" ist mit einem detaillierten und dynamischen Inhaltsverzeichnis versehen und wurde sorgfältig korrekturgelesen. Grete Meisel-Heß (1879-1922) war eine österreichische Schriftstellerin und Frauenrechtlerin. Aus dem Buch: "Sie fing an, die Umrisse zu erkennen, die ihr bis jetzt verschwommen gewesen waren. Mit starren Augen sah sie hin, wie es sich reckte und dehnte und langsam die mächtige Pranke hob. Ein riesiges, sphinxhaftes Ungetüm hinter tausend wirren, düsteren Schleiern, die nur der Blick durchdringt, den das Leid geschärft … Überall sah sie es jetzt. Wie die Menschen sich abmühten, den Koloß zu erklimmen! Und er ließ sie an sich heran. Und sie klommen, in Schweiß und Blut gebadet, rastlos, unermüdlich. Es hielt still, mit steinernem Lächeln. Aber was sie nicht merkten, war, daß es ihnen heimlich, langsam, stetig die besten Kräfte stahl. Und wenn sie dort waren, wo sie hingewollt und hingemußt, dann fielen sie zusammen wie morscher Zunder." Inhalt: Das Leid Die Lüge Krisis

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Grete Meisel-Heß

Suchende Seelen

Das Leid + Die Lüge + Krisis

e-artnow, 2018
ISBN 978-80-268-3360-4

Inhaltsverzeichnis

Das Leid
I.
II.
III.
Die Lüge
I.
II.
III.
IV.
V.
VI.
Krisis

Das Leid

Inhaltsverzeichnis

I.

Inhaltsverzeichnis

Stefan Feodor Ilitsch machte seiner Geliebten – nein: seiner Braut, die seit fünf Jahren auf ihn wartete – die große Eröffnung.

Sie saßen im Kaffeehaus beim Eckfenster, jedes in die rote Sammetbank hineingedrückt, vor sich die Melange und den Berg Zeitungen, in der bläulich feinen, Behagen ausströmenden Atmosphäre des »gutventilierten« Wiener Cafés.

Draußen hatte ein lauer Februartag, den die Menschen für Frühling nahmen, eine Menge hinausgelockt, die geschäftig durcheinander schob, den Ring hinauf, von der Wollzeile bis zur Oper, und wieder hinab und wieder hinauf, mit wichtiger, strahlender Miene, wie jemand, der sich beim Empfang einer Majestät einfindet. Die Wiener Frauen strahlten und waren noch schöner als sonst: mit den kurzen Miederchen, die die Büste frei lassen, und den knappen, o so knappen Röcklein, eng, eng, die unten mächtig, weit, wogend, auseinander fluten, schleppend, rauschend, prächtig …

Die Lotti hatte auch solch ein Secessions-Röcklein. Denn sie war aus gutem Wiener Hausherrn-Haus, wo man mit der Mode gehen kann, Gott sei Dank. Aber sie hatte noch etwas anderes: große, dunkle, sehnsüchtige Augen. Und die hatte sonst niemand in der Hausherrn-Familie. Alle hatten sie runde, blitzblaue, wie auf Stäbchen herausgesteckte Augen und den Blick satter, zufriedener Kühe, samt dem dazu gehörigen Doppelkinn. Nur die Lotti war ganz aus der Art geschlagen – leider, leider. Der liebe Gott mochte wissen, wieso. Ganz aus der Art geschlagen. Denn Augen, das weiß man ja, machen’s nicht allein. Aber alles, was zu diesen Augen gehört: das war’s eben! »Gelehrte« Neigungen und wenig Pietät und sehr wenig Worte – zu Hause – und so ein Ausweichen überhaupt, so einen höchst befremdlichen Zug hinaus aus der Familie und lauter »draußige« Freundschaften, wo einem doch die Verwandtschaft über alles gehen soll!

Seit sie ihr aber auf das mit dem »Judenbuben« gekommen waren, da war alles aus. Der Herr Gruber raste und tobte. Ein Judenbub, ein russischer noch dazu, sollte in seine urarische Familie hineinkommen? Er, Hausherr am Alsergrund, Christlich-Sozialer vom reinsten Wasser, Schwiegervater eines – eines – – Er hätte einen Ritualmord begehen können! Und noch dazu so eine Null: ein Student!

Aber es half ihm nichts. Die Lotti blieb fest. Trotzdem er ihr in die Ohren schrie, von den vierzigtausend Gulden, die als Mitgift für sie angelegt waren, bekäme sie nichts, aber schon gar nichts, einen Dr…, wenn sie dabei bleibe. »Ich warte, auf wen ich will und solange ich will,« war ihre einzige Antwort.

Der Schädel, der verfluchte Schädel, den das Mädel hatte! Überhaupt war sie nie nach seinem Sinn gewesen. Weiß der Teufel!

Die Frau Hausherrin hatte ihm nicht mit gewohntem Temperament sekundiert. Wie sie von dem Juden hörte, war sie ganz bleich fortgeschlichen: »Jesses Marand Joseph, das ist die Straf’! Das ist die Straf’! …«

Seitdem waren fünf Jahre vergangen. Fünf gräßliche Jahre.

Schneller ging’s nicht. Seit einem halben Jahr war er Arzt und auf der Jagd nach Praxis. Er mußte es endlich möglich machen, er mußte! Was hatte sie erlitten um ihn! Qualen, Pein, Schande –, die Schande der Unfreiheit. Aber er war auch das Leben für sie gewesen. Wie die große Erweckung war er ihr gekommen. Sie: still, scheu, wie eingefrorenes Leben unter dem Eise, er: voll Kraft und Wollen, ein heißer Fön, hatte die Erstarrung gesprengt. Tiefes Staunen erst und dann ein Jubel! Das war das Glück …

Sie hatten gekämpft für ihre gemeinsame Zukunft mit wildem, unüberwindlichem Trotz. Den Verhältnissen die paar Stunden Beisammensein in den fünf Jahren unter tausend Schwierigkeiten abgerungen. Alles war schwer, kompliziert, alle Götter waren gegen sie. Stefan mußte sich durchfristen mit Stunden. Als kleines Kind war er nach Wien geschickt worden zu einer Verwandten, die gestorben war, als er fünfzehn Jahre gewesen. Seitdem brachte er sich allein durch. Seine Eltern, arme russische Juden, hatten kaum Brot und Zwiebeln für sich selbst. Vor zwei Jahren waren sie aus Rußland hinausgejagt worden; da waren sie nach Wien gekommen, hatten sich einen Branntweinschank aufgemacht in Hernals draußen und »ernährten« sich. Damals hatte Stefan seine Eltern besucht, die ihm wie unsagbar traurige, groteske Gestalten einer verlorenen Welt erschienen. Und er sann über das Wunder der Assimilation, die Blut und Rasse wandelt. Wie aber erst, wenn sie unterstützt wird durch bewußte Wahl: Mischlinge! Was würden er und Lotti für prächtige Kinder haben! Lotti! Mütterchen! Eine heiße Blutwelle durchflutete und erschütterte ihn …

Er arbeitete rastlos; er ließ nicht nach. Nicht mit ungeduldigem Rütteln wollte er das Schicksal zwingen, nein: mit zäher, eiserner Ausdauer. So mußten sie siegen. Natürlich, wenn kein Elementarereignis dazwischen kam. Das Elementarereignis räumten sie ein, devot, untertänig sich beugend, zitternd vor der Scheelsucht der Götter, dem kleinlich neidischen Pöbel, der das große Glück nicht duldet und in stupider Grausamkeit mit Tyrannen-Vollmacht protzt.

Die klingende Freiheit, die wollte er erobern, ja! Immer vorausgesetzt natürlich, daß nicht am Ende … Wie eine schwarze Wolke schwebte es über ihnen. Lächerlich, daß sie so oft daran dachten; absurd. »Aber weißt du, es ist ein so unheimlicher Gedanke,« sagte Lotti einmal, »daß alles an das gebunden sein soll, was fortwährend in tausend Gefahren schwebt …« – – – – –

Sollte es das sein? Alles war so behaglich da; unmöglich …

Langsam löste sich die Erstarrung:

»Was sagst du, Stefan?«

Und er wiederholte, langsam und deutlich … Er mußte es ihr sagen, er konnte nicht länger schweigen. Seit einem halben Jahr trug er es mit sich herum. Heute war er beim Professor gewesen. Der hatte es bestätigt.

Sie hörte Worte aus einer grauen, fremden, unendlichen Ferne. Etwas tönte, schwang, näherte sich, kroch bis ans Hirn und wollte sich hineinbohren. Es bohrte und bohrte … Draußen ging eine vorbei, die hatte das Kleid so hoch gehoben, daß unter dem schönen Seidenjupon ein gestreiftes Barchentröcklein zum Vorschein kam. Mit geschlungenen Zacken. Das sah spaßig aus … Gedämpft fielen die Worte, wie stille Wassertropfen …

Sie faßte es nicht. Aber sie hätte schreien mögen, einen langen, wehen, tobenden Schrei. Lebte sie denn? War das wahr? Sie krallte sich unter dem Tisch mit den Nägeln der einen Hand in den Arm, bis sie wirklich einen Laut ausstieß. Und sie sah ihn an. Lippen, Lider, Nasenflügel vibrierten, das Kinn und die Mundlinien zogen scharfe, spitze Ecken. Der Zwikker hielt wie eine Klammer die Nase eingezwängt und zog einen roten Streif: die Augen aber waren fahl …

War sie blind gewesen? Sonst hatte er immer etwas Dunkles, Fiebriges, Glühendes in seinen Zügen gehabt. Jetzt war er wie ausgebleicht. Kein Fieber mehr in den Zügen. Nur entsetzliche Müdigkeit.

Die Hetzjagd um den Bissen Brot war eben zu toll gewesen. Ein ununterbrochener Kampf seit Jahren. Ohne Ausruhen, ohne Atemholen. Nur, wenn er sich rührte, hatte er zu essen. Drum mußte er sich rühren. Rastloser, wilder, rasender Lauf dem Ziele zu. »Das Leben ist logisch,« sagte Stefan, als das Ziel immer näher rückte. Ja, er sah es schon vor Augen. Es winkte, verheißend, verlockend; er lief weiter drauf zu …

Da zeigten sich Blutspuren in seinem Auswurf. Und er mußte innehalten auf seinem Weg.

»Und was hat der Professor gesagt?«

»Nun, er meint, es sei noch nicht unheilbar; ein Jahr im Süden, ohne Arbeit, ohne Sorgen, in Ruhe und guter Pflege: das wäre die Heilung. Immer tiefer, meint er; Luftveränderung: erst Italien, dann Kairo, Palästina.«

Er brach in grelles, heiseres Lachen aus; ein Lachen voll verzweifelter, hilfloser, ohnmächtiger Wut: ein Zusammenbrechender, der noch das Bewußtsein nicht verloren hat.

Also da war es wirklich.

Ein Jahr im Süden. Er! Wenn er vierzehn Tage nicht arbeitete, wußte er nicht, woher den Zins für sein möbliertes Zimmer nehmen. Und die Kost. Und alles, was der ganze Apparat täglich frißt. Und wofür man sein bißchen Leben ausschroten muß, um es nachzuziehen, immer geringer, erlöschender, elender, ein Kapital, das sich langsam vermindert.

Und wie er jetzt Lotti ansah, dieses erstarrte, fassungslose Gesicht, da stieg es plötzlich wie ein Fragen, ein Zweifeln in ihm auf. Das sollte wahr sein?

Und der brennende, rüttelnde Lebensinstinkt, der nicht glauben will, der alles leugnet, erfaßte ihn. Es war nicht möglich. Einfach unmöglich. Blödsinn! Gewiß: die Lunge war angegriffen – er war ja Arzt und wußte Bescheid –; aber warum sollte er sich nicht auch in Wien erholen können! Das Wiener Klima ist doch nicht schlecht, Schonung, weniger Arbeit … und jetzt kam ja der Frühling!