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Stell dir vor, dein Crush geht auf deine Schule. Und du hast keine Ahnung, wer es ist. Als Mateo im Sommer einen anonymen Chat mit »Pumpkinpie« beginnt, fühlt er sich zum ersten Mal verstanden. Aber wer ist es, der ihm diese ermutigende Nachrichten schreibt? Auf seiner Suche nach der Identität seines Crushs wird das Leben des Außenseiters auf den Kopf gestellt. Eine Geschichte über die erste Liebe und das Anderssein, über Freundschaft und den Mut, sich selbst zu akzeptieren.
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Seitenzahl: 248
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Chris Tall:
Sugar Crush
Alle Rechte vorbehalten
©2025 edition a, Wien
www.edition-a.at
Cover: Bastian Welzer
Satz: Anna-Mariya Rakhmankina
Gesetzt in der Benne
Gedruckt in Deutschland
1 2 3 4 5 — 28 27 26 25
eISBN: 978-3-99001-796-8
CHRIS TALL
Roman
STURZ
RETTER
GEHEIMNISSE
DER KRANKENZIMMER-CLUB
FREUNDE
DRECK
ENTFÜHRUNG
I’M A MILLION DIFFERENT PEOPLE
GLITZER
DEINETWEGEN
SELLERIE
COMEDY
VERMISSEN
ELTERN
NIZZA
MONDLICHT
PUTZTRUPPE
PHANTOMSCHMERZ
SPIEGEL
REGENBOGEN
TAUSEND TODE
SPIEL
ROMANTIKER
POPCORN MIT KÄSESOSSE
GRAVITATIONSPUNKT
VERTRAUEN
CANDLELIGHT
ETWAS, DAS FEHLT
DER GRÖSSTE LOSER DIESER SCHULE
SCHWEBEZUSTAND
FUNKSTILLE
EIN DRAMA NAMENS JUGEND
GESCHENK
LEDERJACKE
STILLE
DER KERN DER COMEDY
TEENAGE DIRTBAG
SIEGER
RUBINROT
SOMMER
KAFFEE
Hola, amigos!
Meine schweißnassen Hände umklammerten das Seil mit aller Kraft, die ich aufbringen konnte. Die rauen Fasern schnitten mir in die Haut. Mein eigenes Körpergewicht zog mich in teuflischer Zusammenarbeit mit der Gravitation unerbittlich hinunter. In diesem Moment verfluchte ich die Gravitation. Und mein Gewicht.
Mein Herz schlug so heftig gegen meine Brust. Ob das Seil deswegen zitterte? Ein Zug war mir gelungen. Nun steckte ich fest. Meine Muskeln verkrampften, mein Körper rollte sich zusammen, so gut es in diesem Schwebezustand ging.
»Mateo, das reicht! Du kannst wieder runterkommen!« Die Stimme meines Lehrers, Coach Steffen Jablonski, erreichte mich wie das Bellen eines tollwütigen Hundes. Jablonski hatte vor Urzeiten, als noch niemand meiner Bekannten geboren worden war, die D-Junioren des Hamburger SV trainiert, also die 12- und 13-Jährigen. Welche emotionalen Langzeitschäden er angerichtet hatte, mochte ich mir gar nicht ausmalen. Seitdem trug er jeden Tag, ob in Zivil oder nicht, eine Pfeife um den Hals, die er auch schon vor dem Schulbuffet oder auf den Fluren schrillen ließ, wenn er die ihm heilige Ordnung durch Vandalen gefährdet sah. Vandalen, das waren die Schüler des Goethe-Gymnasiums im Hamburger Bezirk Bergedorf. Schüler wie ich.
Das Gelächter meiner Klassenkameraden begleitete Jablonskis Ruf. Den Kopf hielt ich gegen das Seil gepresst, doch nun versuchte ich, ihn ein wenig zu drehen. Dort standen sie, Jungs mit ausgeprägten Brustmuskeln, definierten Schultern, prägnanten Kieferpartien. Und sie blickten zu mir hoch wie zu einem Affen im Zoo.
Dabei sollte ich gar nicht hier sein. Jedes Schuljahr begann mit Jablonskis gefürchtetem Ritual. Um zu sehen, wie aktiv wir über die Sommerferien gewesen waren, ließ er uns im Turnsaal Aufstellung beziehen und die Seile hochklettern. Diese Seile, die von der Decke baumelten, waren schon von tausenden schwitzenden, pubertären Händen angefasst worden. DNA, Blut und Tränen von Generationen hatten sich in sie hineingefressen und verliehen ihnen einen eigenartigen Geruch, der mir nun entgegenschlug. Eine Mischung aus Wehmut und Einsamkeit, ähnlich wie das Ende eines Sommers.
Die meisten meiner Klassenkameraden hatten sich mindestens bis zur Mitte des Seils hochgezogen, manche sogar bis zur Decke und sie unter dem Beifall der anderen berührt, ehe sie sich überlegen grinsend wieder hinunterließen. Sie bewiesen die absolute Kontrolle über ihren Körper. Er war das Instrument, das sie zum Erreichen ihrer Ziele einsetzten. Sie hatten keinen Makel, keine Schwächen. Fitnessstudios, Nahrungsergänzungsmittel und Selbstoptimierungs-Gurus auf YouTube hatten sie zu der besten Version ihrer selbst werden lassen.
Alle, auf die das nicht zutraf, waren klug genug, an diesem Tag vom Turnunterricht befreit zu sein. Die ersten Turnstunden des Jahres waren in Jablonski-Klassen seit jeher von wahren Epidemien begleitet gewesen. Plötzlich auftretende Kopfschmerzen, die auf die Zersetzung der linken Gehirnhälfte hindeuteten, Magenkrämpfe, die wie ein Erdbeben durch den Körper fuhren, oder die unerwartete Lähmung der Extremitäten waren nur einige der Symptome, die eher einen Exorzismus als einen Arztbesuch nötig gemacht hätten. Aber Jablonski war das egal. Er kümmerte sich nicht um Schüler wie mich. Die widersprachen seinen Ideen von Männlichkeit und verhinderten seine Art, Leibesübungen zu unterrichten, weil dies für Menschen wie mich schlicht lebensgefährlich war. Und Jablonski war noch immer Sportlehrer genug, um seine Urlaubsansprüche nicht aufs Spiel zu setzen, nur weil ein Typ wie ich vom Seil fiel und sich den Hals brach.
Doch dieses Jahr war ich unter »seine Jungs« geraten. Das Fettpölsterchen zwischen den perfekt geölten Muskeln. Die Doppelstunde Deutsch von Frau Erhardt war ausgefallen. Und ich Idiot hatte mich nicht auf der Schulwebsite informiert. Wer ersetzt Deutsch schon durch Sport? Mich hatte ein übles Gefühl beschlichen, als in der Pause vor den beiden Vertretungsstunden alle Schulkameraden, die eine ähnliche Konstitution aufwiesen wie ich, fluchtartig das Schulgebäude verließen. Noch ehe ich mir eine glaubwürdige Ausrede einfallen lassen konnte, hatte Jablonski bereits in seine Pfeife geblasen. Es brach ein Geschrei aus wie vor mittelalterlichen Schlachten, als sich seine Jungs voller Elan auf den Weg in den Turnsaal begaben. Ich hinterher.
Und nun hing ich hier fest. Als Letzter an die Reihe gekommen, hatte ich bereits auf dem Weg zum Seil geschwankt. Ich stieg auf die Matratze, die darunter ausgebreitet worden war und Stürze abfedern sollte, Jablonskis Zugeständnis an die Sicherheit seiner Schüler. Das Zittern meiner Knie hatte sich auf den Schaumstoff übertragen. Langsam stakste ich zu dem Seil, das sich vor meinen Augen in eine gefährliche Königspython verwandelte. Sie wartete nur darauf, mich zu umwickeln, zu beißen, zu verschlucken.
Zuerst umschloss meine rechte Hand das raue Seil, dann die linke. Ich atmete ein und aus. Im Versuch, vom Boden zu kommen, sprang ich ab. Hoch kam ich nicht, aber zumindest ermöglichte mir der Sprung, meine beiden Hände ein Stück nach oben zu schieben. Die Beine verschränkte ich. So baumelte ich in der Luft. Was mir vorkam wie Stunden, konnte nicht viel länger als eine Minute gewesen sein. Die wenigen Zentimeter, die ich über dem Boden schwebte, dehnten sich zu hunderten Metern. Mein Körper machte es mir ohnehin schon schwer genug. Nun musste er auch noch meine Wahrnehmung der Realität bestimmen.
»Streck einfach die Füße aus, Kosslowski!«, rief Jablonski. »Dann kannst du den Boden berühren. Häng nicht rum wie ein Sack Kartoffeln!«
»Dein fetter Arsch bremst den Aufprall sowieso!« Das war Jan. Von all den Schülern, die ihr Gehirn nur dazu benutzten, das rechte Bein nicht mit dem linken zu verwechseln, war er der schlimmste. Sein Gesicht hatte Pausbacken, leicht vorstehende Zähne, große Ohren. Als hätte ihn eine Hamsterfamilie zur Adoption freigegeben. Aber der Körper darunter war vollgepackt mit Muskeln. Als Fußballer hatte er in der sozialen Hierarchie der Schule eine unangefochtene Stellung. Natürlich zählte er zu Jablonskis Lieblingen.
»Ob der Aufprall die Turnhalle einstürzen lässt?«, überlegte Jan weiter. Seine Freunde lachten. Aus dem Augenwinkel sah ich, wie Jablonski langsam die Geduld verlor. Meine Kräfte ließen nach. Ein Monster in einem Käfig, ausgestellt zur Beobachtung und Belustigung, so fühlte ich mich. Warum nicht einfach loslassen?
Ich schloss die Augen und gab meinem Gehirn den Befehl. Doch meine Hände gehorchten nicht. Sie wollten sich nicht öffnen. »Ich ... Ich kann nicht ...«, presste ich hervor, aber es hörte mich niemand. Hilfesuchend blickte ich wieder Richtung Jablonski. Panik machte sich in mir breit, schnürte mir die Kehle zu und legte einen dunklen Schleier über meine Augen. Was, wenn ich für ewig an diesem Seil festkleben würde? Eine Mahnung für künftige Generationen, brav Bewegung zu treiben und jeden Morgen einen Apfel zu essen. Jablonski würde Scharen von Schülern in diesen Raum führen, sie um mich herum aufstellen und mein Beispiel als Abschreckung verwenden. Vielleicht würde ich sogar landesweite Berühmtheit erlangen, der Fettkloß auf dem Seil, wie ein Zirkusfreak. War das meine Zukunft?
Jablonski setzte sich in Bewegung. Würde er mich hinunterheben, seine haarigen Hände auf meinem Gesäß, wie ein Baby, das noch nicht allein laufen konnte? Dann lieber die Ewigkeit auf dem Seil. Irgendwo hatte ich von Mönchen gelesen, die im Mittelalter auf eine hohe Plattform geklettert waren, gerade groß genug, um darauf liegen zu können. Dort hatten sie ihr Leben mit Meditation und Gebet verbracht, während Menschen Essen vorbeibrachten und mit einem Flaschenzug auf die Plattform beförderten. Diese Mönche genossen hohes Ansehen. Vielleicht war ja auch sowas für mich drin, dann müsste ich mir zumindest keine Gedanken über meine Zukunft mehr machen ...
Bevor Jablonski die Matte erreichte, sah ich etwas Rotes aufblitzen. Jan hatte einen Völkerball hinter seinem Rücken hervorgeholt. Keine Ahnung, woher er ihn hatte, ob er ihn schon die ganze Zeit dort versteckt gehalten hatte, auf den richtigen Moment wartend, oder ob ihm die geniale Idee spontan gekommen war. Sein Hamstergebiss verbreiterte sich, was seine Art war, Freude auszudrücken. Ich wusste, was kommen würde.
Mit einer schnellen, gezielten Bewegung warf Jan den Ball. Er segelte durch die Luft. Nahm an Größe zu, während er sich mir näherte. In der Sekunde, bevor er mich traf, lief mein Leben an mir vorbei. Es war nicht viel, eher wie ein Trailer zu einem Film, dessen Ausschnitte nicht besonders Lust machten, den Rest zu sehen. Dann knallte der Ball gegen meine Schläfe.
Der Aufprall war nicht hart, aber etwas in meinem Gehirn klickte. Die Finger entkrampften und lösten sich, die verfluchte Gravitation hieß meinen schweren Körper willkommen und zog mich mit all ihrer Kraft nach unten. Ich kippte mehr, als ich fiel. Noch bevor ich auf der Matte aufschlagen konnte, übergab ich mich dem Schutz der Ohnmacht.
Als ich die Augen aufschlug, blendete mich strahlendes Weiß. War das der Himmel? Im ersten Moment verspürte ich sowas wie Erleichterung. Keine Turnstunden mehr, keine körperbetonende Sommerkleidung, keine vieldeutigen Blicke im Bus, keine gutgemeinten Ernährungstipps, keine viel zu langen Selbstbeobachtungen vor dem Spiegel, bei denen keine Wunder passierten, so sehr ich sie mir auch wünschte.
Auf den zweiten Blick kam mir der sterile, nüchterne Raum ziemlich langweilig vor. Keine Bilder, keine farbigen Tapeten, nicht mal ein Fenster konnte ich ausmachen. Wo installierte ich hier eine PS5?
Ein weiterer Moment verstrich und ich erkannte, wo ich mich befand. Auf einer Liege im Krankenzimmer unserer Schule. Als ich auf meine Stirn griff, fühlte ich einen kalten Wickel. Ich wollte ihn gerade abnehmen, da tauchte die Schulkrankenschwester Frau Brehme vor mir auf. Frau Brehme musste zwischen dreißig und sechzig sein, ein weites Feld, in dem sich alle Menschen befanden, die nicht mehr als jung durchgingen, aber von Gleichaltrigen noch wahrgenommen wurden. Ihr Mund leuchtete stets lippenstiftrot und die braunen Locken rochen nach einem Shampoo, das an alte Cordsofas und verblühte Rosen erinnerte. Es gab für sie kaum ein medizinisches Problem, das nicht mit einem breiten Lächeln gelöst werden konnte. Was unsere Lehrkräfte veranlasst hatte, bei echten Problemen sofort die Rettung zu rufen.
Der Umstand, in Frau Brehmes Krankenzimmer zu sein, beruhigte mich also ein wenig.
»Sieh mal, wer aufgewacht ist«, trällerte sie und lächelte mich besonders strahlend an.
Ich fühlte mich schwach, zittrig und durstig, aber sonst in Ordnung. »Was ist passiert?«, fragte ich. Meine letzte Erinnerung bestand aus dem Bild eines immer näher kommenden roten Balls.
»Offenbar bist du im Sportunterricht ohnmächtig geworden«, erklärte Frau Brehme. »Der Sturz kann es nicht gewesen sein, das war mehr ein Umfallen. Außerdem hat die Matte deinen Sturz abgefangen.«
»Wie bin ich hierhergekommen?«
Nun verwandelte sich Frau Brehmes Lächeln und erhielt etwas Verschwörerisches. »Konstantin Born hat dich auf seinen Armen getragen.« Sie kicherte wie ein junges Mädchen. Es war ihr anzusehen, wie romantisch sie diese Vorstellung fand. Bei mir rief dieses Bild allerdings eine völlig andere Reaktion hervor. Ich konnte spüren, wie sich mein Gesicht tomatenrot färbte. Es war ein Wunder, dass der Wickel auf meiner Stirn nicht zu dampfen begann.
Konstantin »Konsti« Born war der inoffizielle König der Schule. Er sah aus wie Ryan Gosling in seiner blonden Phase. Schüler wie mich bemerkte er für gewöhnlich nicht einmal, sie waren für ihn vermutlich eine Banalität des Lebens, wie Bürgersteige oder Hydranten. Sie begegneten einem im Alltag, aber verschwanden in irgendeinem hinteren Winkel der Wirklichkeit, ohne Eindruck zu hinterlassen. Er spielte in der gleichen Fußballmannschaft wie Jan. Obwohl ich mich nicht besonders mit diesem Sport auskannte, musste er viel besser sein, denn es gab Gerüchte, der HSV würde ihn beobachten. Anders als Jan wirkte er jedoch zurückhaltend und ruhig. Vielleicht sah er es als unter seiner Würde an, seine Zeit an jemanden wie mich zu verschwenden.
Konsti war das Seil als Erster und in Rekordzeit hochgeklettert. Es schien ihn weder Mühe zu kosten noch besonders zu interessieren. Und ausgerechnet Konstantin Born hatte meinen regungslosen Körper in seine Arme genommen und die gesamten 75 Kilogramm ein Stockwerk höher ins Krankenzimmer getragen?
»Gut, dass du aufgewacht bist«, riss mich Brehme aus meinen Gedanken. »Noch zehn Minuten länger und ich hätte einen Arzt gerufen.« Halbherzig maß sie Puls und Blutdruck. »Scheint alles in Ordnung zu sein«, sagte sie, als sie den Blutdruckmesser von meinem Oberarm zog. »Mehr Bewegung, gesünderes Essen, mehr braucht es nicht.«
Ach, mehr nicht?, dachte ich. Das betrifft ja nur mein gesamtes Leben.
»Bleib gern noch ein bisschen hier, bis du dich wieder ganz auf der Höhe fühlst«, sagte sie und wandte sich um. Erst jetzt bemerkte ich den Vorhang rechts von mir. Ob dahinter jemand lag? Und ob diese Person die Geschichte über Konstantin gehört hatte? Brehme schob den Vorhang etwas zur Seite und ich wagte einen Blick. Der Junge auf der anderen Liege saß aufrecht da. An seinem rechten Ellbogen war ein Eisbeutel mit einem dicken Wickel angebracht worden. Er hatte sich wohl verletzt. Ich kannte ihn nicht, allerdings war das bei über dreihundert Schülern nicht weiter verwunderlich.
Der Junge war riesig.
Er erinnerte mich an einen Bären. Seinem Körperbau nach hätte er ein Lehrer sein können und kein Schüler. Noch dazu trug er einen dichten schwarzen Bart, der die untere Hälfte seines Gesichts bedeckte. Doch die obere Hälfte ließ sein wahres Alter erkennen. Die Augen und die runde Nase strahlten eine Kindlichkeit aus, die im krassen Gegensatz zu seinem restlichen Äußeren stand. Brehme werkte hinter seinem Rücken, der so breit war, dass ich kaum etwas erkennen konnte. Dann legte sie ihre Arme um ihn. Beim Versuch, ihn von der Bank zu heben, fielen die beiden fast um, wobei der Junge die zierliche Krankenschwester sicherlich unter sich begraben hätte. Im letzten Moment half er mit seinen Armen ein wenig mit und sie hievte ihn auf etwas, das wohl ein Stuhl war ... Erst, als sich der Stuhl zu bewegen begann und um die Liege kurvte, bemerkte ich, dass es sich um einen Rollstuhl handelte.
»Mateo, vielleicht könntest du Rashid helfen?«, fragte Schwester Brehme keuchend.
»Klar«, sagte ich. Etwas unbeholfen stellte ich mich hinter den Rollstuhl des Jungen. Konnte ich ihn einfach anfassen? Irgendwie kam mir das unpassend vor. Als würde ich in seine Privatsphäre eindringen.
»Schon gut«, sagte der Junge mit tiefer Stimme. »Keine Sorge, ich komme zurecht. Danke.« Mit den Bewegungen seiner großen Arme rollte er auf die Tür zu. Unsicher folgte ich ihm.
Als wir das Krankenzimmer verlassen hatten und ich die Tür hinter uns schloss, blieb ich unsicher stehen. Irgendwie kam es mir falsch vor, davonzueilen und den Jungen hier zurückzulassen. Gleichzeitig ärgerte ich mich über mich selbst und meine Annahme, er bräuchte meine Hilfe ...
»Wir sehen uns«, rief er mir zu. Während ich unentschlossen gewartet hatte, war er bereits den Flur hinuntergerollt, in Richtung des Lifts. Ich blickte ihm nach und fragte mich, ob das stimmte.
SugarCrushHey, Pumpkin, wie geht es dir? Weißt du, woher das Wort Säulenheiliger kommt? Das waren Mönche, die im Mittelalter auf hohe Säulen geklettert sind und ihr restliches Leben dort oben verbracht haben. Asketisch beteten sie den ganzen Tag. Eigentlich mussten sie nichts anderes tun, als herumzusitzen und die Aussicht zu genießen. Sie sind aber von allen Menschen dafür bewundert und verehrt worden. Die haben ihnen sogar Essen gebracht, damit die Mönche nicht verhungert sind. Ich denke, das könnte eine Zukunft für mich sein. Essen und rumsitzen. Darin bin ich ziemlich gut.
PumpkinpieDas klingt verrückt. Würde dir da nicht langweilig werden? Und gäbe es auf so einer Säule WLAN? Wir könnten uns sonst nicht schreiben. Und das wäre jammerschade ...
SugarCrushJa, du hast recht. Das wäre ein echtes Hindernis. Danke fürs Aufheitern, Pumpkin. Ich hoffe, dein Semesterbeginn war besser als meiner.
PumpkinpieDie erste Woche ist immer hart. Was ist dir denn passiert?
SugarCrushEin peinlicher Zwischenfall im Sportunterricht. Fühlst du dich auch manchmal, als wärst du ein Ausstellungsexemplar und die anderen Menschen würden dich andauernd anglotzen, aber nicht aus Bewunderung, sondern aus diesem seltsamen Interesse, das Menschen für Autounfälle haben oder für besonders hässliche Insekten? So habe ich mich heute gefühlt.
PumpkinpieIch weiß, was du meinst. Dieses Gefühl kommt nicht nur von dem, was andere Menschen sehen. Sondern auch von unseren Gedanken darüber, was sie sehen wollen. Was sollen wir für sie sein? Wie müssen wir sein? Wir erfüllen diese Erwartungen nicht und enttäuschen sie. Wobei ich mir nicht vorstellen kann, dass du irgendeine Ähnlichkeit mit einem Insekt hast. Eher mit einem Koala.
SugarCrushWie kommst du denn auf Koalas?
PumpkinpieManchmal, wenn die Tage hart sind, wickle ich mich in meine Bettdecke ein, rolle mich zur Seite und stelle mir vor, ein flauschiger, großer Koala würde mich festhalten. Dann vergesse ich die Probleme für einige Zeit.
SugarCrushDas klingt sehr schön. Weißt du, ich glaube, der Schulbeginn war auch deshalb so hart, weil unsere Chats mich diesen Sommer völlig abgelenkt haben. Es war, als wäre ich an einen neuen Ort gezogen, wo es genau einen Einwohner gibt, der alles versteht, was ich fühle. Der genauso denkt wie ich. Das bist du, Pumpkin. Dabei habe ich wohl vergessen, wie anders die echte Welt ist.
PumpkinpieWas meinst du mit »echter Welt«? Denkst du nicht, unser Chat ist auch echt? Natürlich nicht so echt wie ein gemeinsames Abendessen oder ein Besuch im Kino. Aber irgendwie fühlt er sich für mich realer an als vieles andere. Realer als die Gespräche mit meinen Eltern, zum Beispiel. Die meisten Tage ziehen vorbei, ohne einen einzigen Satz, einen einzigen Gedanken, der sich »echt« anfühlt. Im Gegensatz dazu ist in unserem Chat alles echt.
SugarCrushAußer unsere Namen. Und unsere Identität. Was weiß ich schon von dir, abgesehen von deiner Vorliebe für Kürbiskuchen und Koalas? Aber ich möchte nicht wieder damit anfangen.
PumpkinpieIch weiß, es wäre besser, wenn wir uns »in echt« treffen könnten. Es ist mir ein wenig peinlich, aber ich habe Angst ... Obwohl ich nicht mal genau weiß, wovor ...
SugarCrushDavor, dass es sich nicht echt anfühlt, wenn wir uns treffen?
Kaum hatte ich die Nachricht abgeschickt, ging das Licht in meinem Zimmer an. Reflexhaft klappte ich den Laptop zu und schob ihn unter meine Decke. Hoffentlich war der Bildschirm dabei nicht zu Bruch gegangen.
Meine Mutter steckte den Kopf herein und musterte mich.
»Mum!«, rief ich empört. »Schon mal was von Anklopfen gehört?«
»Ich habe angeklopft, Mateo«, sagte sie mit hochgezogener Augenbraue. »Aber du hast nicht reagiert.«
Ein peinliches Schweigen erfüllte den Raum.
Ich wusste genau, was sie dachte. War auch nicht schwer zu erraten. Ein eilig versteckter Laptop, ein Teenager abends im Bett, es brauchte keinen Einstein, um die richtige Schlussfolgerung zu ziehen. Nur dass sie in meinem Fall eben nicht zutraf.
Seit Beginn des Sommers verzog ich mich die meiste Zeit in meinem Zimmer, wo ich mit Pumpkinpie chattete. Wir hatten uns über BeYou kennengelernt. Die Plattform war eine Mischung aus Instagram und Bumble und bezeichnete sich selbst als die »erste nicht oberflächliche Social-Media-Plattform der Welt«.
Die Idee war simpel: User konnten Texte und Bilder hochladen, allerdings keine Bilder, die sie selbst zeigten. Eine KI erkannte das sofort. So konnten sich Menschen dort über ihre Hobbys, Leidenschaften und Interessen austauschen, ohne je Gefahr zu laufen, über ihre Körper definiert oder auf sie reduziert zu werden. Der Algorithmus filterte ähnliche Interessen und schlug basierend darauf Freunde vor. So waren Pumpkinpie und ich uns begegnet. Den ganzen Sommer lang hatte ich meinem neuen Gegenüber mein Herz ausgeschüttet. Und Pumpkinpie hatte mich verstanden. Dabei wusste ich nichts über seine oder ihre Identität, weder wie Pumpkinpie aussah oder hieß, noch wo er oder sie zur Schule ging. Allerdings gab es ein paar Daten, die BeYou verifizierte, um keine Weirdos zuzulassen, die sich als Teenager ausgaben. Pumpkinpie war 17 Jahre alt, so wie ich, und lebte in der Nähe. Also irgendwo in der Umgebung Hamburg. Wie nahe, konnte ich allerdings nicht sagen.
»Essen ist fertig«, sagte meine Mutter und zog ihren Kopf aus dem Türspalt. Das Licht ließ sie an. Ich atmete tief aus und fiel nach hinten. Das Missverständnis würde ich nicht korrigieren.
Besser, meine Mutter dachte, ich schaute explizite Videos wie alle anderen Jungs in meinem Alter auch, als von BeYou zu erfahren. »Bist du unzufrieden mit deinem Aussehen?«, würde sie fragen und ganz schockiert blicken. »Du bist doch perfekt, so wie du bist!«
Welcher 17-Jährige war schon zufrieden mit seinem Körper? Diese ganze Selbstliebe ist in der Theorie schön, aber funktioniert in der Praxis nicht so wirklich. Um jemanden zu lieben, musste man ihn kennen. Alles andere war bloß Illusion. Aber wer war ich? Ich hatte keine Ahnung. Ich hatte das Gefühl, Pumpkinpie besser zu kennen als mich selbst.
Und meine Mum würde es ganz bestimmt meinem Vater erzählen. Der meinte es zwar gut, hatte aber, wie alle Väter, von solchen Dingen noch weniger Ahnung. »Dann mach eben etwas mehr Sport und iss gesünder«, würde er sagen und mir auf die Schulter klopfen. Danke, Dad. Darauf wäre ich selbst nie gekommen. Ich ließ einige Momente verstreichen, ehe ich den Laptop wieder hervorholte und aufklappte. Obwohl BeYou eine Smartphone-App besaß, war es viel zu riskant, längere Nachrichten in der Öffentlichkeit zu verfassen. Ich wollte nicht, dass irgendjemand davon wusste. Es war mein Geheimnis. So wie Pumpkinpie mein Geheimnis war. Es fühlte sich gut an, ein Geheimnis zu haben. Und noch besser, das Geheimnis von jemand anderem zu sein. Diese Geheimhaltung führte allerdings dazu, dass Pumpkinpie und ich uns nur zu ungestörten Stunden, meist abends, schreiben konnten. Jetzt, wo die Schule wieder losging, wusste ich nicht, ob mein Gegenüber noch so viel Zeit für mich haben würde wie in den Sommerferien. Waren Pumpkinpie unsere Nachrichten so wichtig wie mir?
Ein roter Punkt zeigte mir an, dass Pumpkinpie offline gegangen war. Allerdings fand ich noch eine Nachricht vor.
PumpkinpieHey, ich muss gleich zum Abendessen. Hast du von dieser Aktion gehört, die BeYou startet? Zehn User werden zufällig ausgewählt und mit irgendeinem Promi, der das als Charity-Aktion zum Thema Bodypositivity und Selbstakzeptanz macht, zusammengeworfen. Cool, was? Stell dir vor, du wirst ausgewählt. Welchen Promi hättest du gern? Ich weiß zwar nicht, welche Promis überhaupt mitmachen, aber Bill Kaulitz wäre der absolute Wahnsinn. Weil ich weiß, dass du dich gern treffen würdest und ich noch nicht dazu bereit bin, möchte ich dir zumindest eines meiner größten Geheimnisse verraten: Letztes Jahr habe ich die Dokumentation über Bill und seinen Bruder gesehen. Natürlich war es Trash, aber irgendwie war es auch echt und verletzlich. Ich würde ihn gern mal treffen und fragen, wie das für ihn war, so jung schon vor so vielen Menschen zu stehen. Mit so vielen Erwartungen umgehen zu müssen. So viele Augen auf sich zu spüren, die ihn alle nach ihren Kriterien sehen und bewerten wollten, völlig egal, was er wollte.
Wenn du unseren Chat nun für immer verlassen willst, durch den Monsun und bis ans Ende der Zeit vor mir fliehen, werde ich dir keinen Vorwurf machen. Ich werde jedenfalls morgen Abend wieder vor dem Laptop sitzen und auf eine Nachricht von dir hoffen.
Tokio Hotel? Bill Kaulitz? Keine Ahnung, was ich davon halten sollte. Aber Pumpkinpie hatte gerade ein Geheimnis mit mir geteilt. Und versprochen, morgen Abend auf mich zu warten.
Als ich auf diesem verdammten Seil festhing, schlug mein Herz genauso schnell wie jetzt. Doch jetzt fühlte es sich nicht schlecht an. Ganz im Gegenteil. Es war irgendwie toll. Ohne nachzudenken, begann ich zu tippen.
Es sollten einige Wochen vergehen, ehe ich Rashid wiedersah.
Während der großen Pausen zog ich mich meist mit meinem Pausenbrot auf die Toilette im dritten Stock zurück, die aus einem unerfindlichen Grund weniger stark frequentiert wurde als irgendeine andere der Jungstoiletten. Vielleicht, weil sie wirklich schäbig war. Ein Lexikon von Schimpfwörtern war an den Wänden angefertigt worden. Jedes Metallstück an den Waschbecken und Toiletten war rostig geworden. Die Spiegel waren überzogen von Brüchen. Das Einzige, das diesen Raum vor dem Zusammenbruch bewahrte, mussten die unzähligen Kaugummiüberreste sein, die überall klebten.
Hier hatte ich meine Ruhe. Die letzte Toilettenkabine war mein Stammplatz. Dort setzte ich mich auf den geschlossenen Deckel, aß mein Pausenbrot und checkte, ob Pumpkinpie etwas geschrieben hatte. Nur in dieser Abgeschiedenheit traute ich mich, BeYou außerhalb meines Zimmers aufzurufen. An den Geruch, eine Mischung aus Urin, Gras und Marlboro Gold, hatte ich mich mittlerweile gewöhnt. Es war besser, als mich schlecht zu fühlen, wenn Klassenkameraden mich beim Essen beobachteten. Ich glaubte, zu wissen, was sie dachten. Der kann sich echt nicht helfen. Kein Wunder, dass er so fett ist. Warum macht er nicht endlich mal eine Diät?
Eingeschlossen in dieser Kabine gab es keine Blicke. Keine Bewertungen, keine Urteile. Ab und zu hörte ich, wie die Tür aufging, wie jemand sich einen Joint oder eine Zigarette anzündete.
Manchmal hörte ich auch, wie jemand weinte. Ich blieb still. Hier ließen sich die Schüler mit ihren Problemen in Ruhe.
Bis zu diesem Tag. Die Tür ging auf, jemand schritt an den Kabinen vorbei zum Fenster, öffnete es. Ich hörte ein Feuerzeug. Wieder mal ein Raucher, dachte ich. Zumindest öffnete er das Fenster.
Die Tür ging erneut auf. Diesmal konnte ich hören, dass es sich um mehrere Personen handelte, die hereinkamen. Ich hielt den Atem an.
»Was machst du hier, du Freak?« Die Stimme war unverkennbar. Jan war noch nie in dieser Toilette gewesen.
»Die hier ist für Jungs, Freak«, sagte einer seiner Begleiter. Ich glaubte, die tiefe Stimme von Michael zu hören, der mindestens so viele Kilos auf die Waage brachte wie ich, der aber niemals von irgendjemandem darauf angesprochen oder nur schief angesehen wurde. Weil er demjenigen sonst eins auf die Schnauze gegeben hätte. War das der Unterschied zwischen einem Loser wie mir und einem wie ihm?
»Verpiss dich, Jan.« Die Stimme kannte ich nicht. Sie war dünn, leise, aber giftig. Eine unterschwellige Aggression begleitete die Worte. Angst konnte ich keine hören.
»Wir haben das Recht, hier zu sein«, sagte Jan. »Wir haben Schwänze. Weißt du, was das ist, Freak?«
»Können nicht besonders groß sein, so verunsichert, wie ihr seid.« Wer auch immer das war, ich bewunderte ihn. So mit Jan zu sprechen, würde ich mich nie trauen. War dem Unglücklichen nicht bewusst, dass er übel verprügelt werden würde?
»Wem schreibst du da, Antonia?« Das musste der Dritte im Bunde sein, Tobias. Jan war kaum je ohne seine beiden Handlanger anzutreffen. Tobias war fast zwei Meter groß, schlaksig und hatte das langgezogene Gesicht eines Dackels. Er war eigentlich ein ziemlich guter Schüler, nicht dumm, aber bei den beiden anderen hielt er meist die Klappe. Seine Noten spielte er gern hinunter. Offenbar musste man ein bestimmtes Level an Dummheit erfüllen, um bei Jans Gruppe mitmachen zu können. »Sie hat ein Handy hinter dem Rücken.«
Jan machte einen Schritt nach vorn, ich hörte ein Gerangel, etwas fiel zu Boden.
»Gib das wieder her!«, rief die Person, die Tobias Antonia genannt hatte. Jan musste sich ihr Handy geholt haben.
»Du kannst von Glück reden, dass ich keine Frauen schlage, Antonia«, sagte Jan und lachte schäbig.
»Ich heiße Toni.« Unter dem schmalen Spalt der Klotür konnte ich sehen, wie Toni oder Antonia einen Schritt nach vorn machte. Dann hörte ich ein dumpfes Klatschen.
»Was zum Teufel!«, schrie Jan auf. »Die Bitch hat mich geschlagen!« Der Moment des Unglaubens ging vorüber. Ein weiterer dumpfer Schlag. Diesmal gefolgt von einem Poltern. Toni musste zu Boden gegangen sein.
»Mal schauen, was du dort unten hast, du Freak«, sagte Jan und trat über sein Opfer. Drei gegen eins. Ich wusste, ich konnte vermutlich nichts ausrichten. Übelkeit stieg in mir auf. Am liebsten hätte ich den Klodeckel gehoben und mich erbrochen. Aber ich wusste, es gab auch eine andere Möglichkeit, mit dieser Übelkeit umzugehen.
Ich öffnete die Tür. Damit hatten Jan, Michael und Tobias nicht gerechnet. Erschrocken fuhren sie herum und starrten mich an. »Was ist das hier, der Treffpunkt der Loser?«
»Lass es gut sein, Jan«, sagte ich und versuchte, das Zittern in meiner Stimme zu unterdrücken. »Sie liegt doch schon auf dem Boden.«
»Halt dich da raus, Dickie«, fuhr er mich an und packte mich am Kragen meines Hemds.
Erneut schwang die Tür auf. Im Türrahmen tauchte Rashid auf. »Toni!«, rief er. »Verpisst euch!«
Jan ließ mich los. Er blickte von Toni zu mir und von mir zu Rashid. Dann lachte er. »Das glaube ich nicht.« Er wischte sich amüsiert über das Gesicht. »Schwer zu sagen, wer von euch der größte Verlierer ist. Die Scheiße hier fließt ja wirklich über.« Seine beiden Freunde stimmten in sein Lachen ein.
»Ich sage euch beiden jetzt mal was.« Er meinte Rashid und mich. »Ihr verpisst euch und haltet die Schnauze. Ich muss mit der Dame noch ein kurzes Gespräch führen. Sie hat auf Jungstoiletten nichts verloren.«
»Ich gehe nirgendwohin«, sagte Rashid ruhig.
»Dass du nicht gehen kannst, das sehe ich«, sagte Jan. »Sonst kannst du aber auch nicht viel.«
Da packte Rashid mit seinen kräftigen Händen die Reifen seines Rollstuhls und fing an, von links nach rechts zu wippen.
»Was zum ...«, brachte Jan gerade noch hervor, da kippte Rashid mit dem Stuhl zur Seite. Ein lautes Scheppern war zu hören, als der Rollstuhl auf den Fliesenboden krachte. Sein Körper schlitterte einige Zentimeter über den Boden. Er stöhnte auf.
»Du hast einen Rollstuhlfahrer geschlagen! Und aus dem Rollstuhl geworfen!«, ächzte er mit schmerzverzerrtem Gesicht. »Ich habe zwei Zeugen, die das bestätigen. Das Geräusch war laut. Vermutlich wird gleich irgendjemand kommen, um nachzuschauen. Wenn du dann noch hier bist, bringe ich dich vor Gericht.«
Ich konnte sehen, wie es in Jans Gesicht arbeitete. Seine Miene verzerrte sich vor Wut.
Er wollte nicht glauben, dass ihn Rashid besiegt hatte, ohne ihn auch nur zu berühren.
»Lass uns abhauen«, sagte Tobias, der den Ernst der Lage begriffen hatte.