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An Weihnachten bekommen wir eine leise Ahnung davon, wie die Welt sein könnte, wenn wir wollten... Hauptkommissarin Bente Brodersen ermittelt mit friesischer Sturheit auf Deutschlands nördlichster Insel. Mit einem Mord in einer Villa beginnt die fieberhafte Suche nach zwei Kindern. Schnell geht die Kripo Sylt von einer Kindesentführung aus. Für Bente und ihr Team beginnt ein Wettlauf gegen die Zeit. Werden die Kinder Heiligabend zu Hause feiern? Die Ermittlungen geraten in eine Sackgasse, als ein Weihnachtsmann den Mord gesteht. Über den Verbleib der Kinder schweigt er eisern. Welches Ziel verfolgt der Weihnachtsmann? Die raue See, der frische Wind und die endlosen Dünen machen SYLT zum idealen Schauplatz der spannenden Küstenkrimis. Jeder Teil der Syltkrimiserie ist in sich abgeschlossen und kann unabhängig voneinander gelesen werden.
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KRINKE REHBERG
Schneegrab
Dieser Kriminalroman ist frei erfunden. Alle Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen und/oder realen Handlungen sind zufällig und nicht beabsichtigt.
Für Sabine
Sie ist alles in oin!
ACH JA: NIEMAND IST PERFEKT!
Daher bitte ich, eventuelle Rechtschreibfehla zu entschuldigen ...; )
© 2022 KRINKE REHBERG
Alle Rechte an Cover/Logo/Text/Idee vorbehalten
ISBN: 9798360692430
Imprint: Independently published
Covergestaltung: MOTTOM
Bildnachweis:
Stock -1959Marcus / Pixabay GDJ / Pixabay Chorengel
Autorenservice Tomkins – Krinke Rehberg, Am Wald 39, 24229 Strande
»An Weihnachten bekommen wir eine leise Ahnung davon, wie die Welt sein könnte ...«
22. Dezember
Der unerwartete und gewaltsame Tod lässt in den Augen des Opfers einen Ausdruck der Überraschung und Fassungslosigkeit zurück.
Der Schmerz wird von der Frage verdrängt, ob dieser Mord vorhersehbar gewesen wäre.
Er hatte es in seinen Augen erkannt, aber da war es bereits zu spät gewesen. Es war riskant gewesen, aber das Risiko gehörte zu seinem Geschäft. Der Gedanke an seine eigene Ermordung war ihm nie gekommen. Jetzt ließ sein Gehirn das Geschehen in Zeitlupe ablaufen. Aus den Augenwinkeln sah er den blitzenden Gegenstand auf sich zu kommen. Handelte es sich um einen Schraubenschlüssel oder ein Radkreuz? Das war die Frage, die er sich stellte, als die Wucht des Schlages seinen Kopf nach vorn schleuderte. Sein letzter Gedanke galt der Verärgerung über den eigenen Leichtsinn, dann erlöste sein Körper ihn von den Schmerzen und er fiel in Ohnmacht. Sein Unterbewusstsein suggerierte ihm, die Schmerzen hinter sich gelassen zu haben, aber der Wille, zu überleben, war stärker. Als er wieder zu sich kam, war es zu spät. Langsam und qualvoll verlor er den Kampf gegen den Tod.
22. Dezember
»Schön, dass Sie da sind, Sie sind der Weihnachtsmann, oder?«, fragte Antje Scherf, als sie die Eingangstür des Kindergartens öffnete.
»Sieht man das nicht?« Er zeigte mit einer fließenden Handbewegung an sich herunter auf den roten Mantel mit weißem Pelzbesatz, die schwarzen Stiefel mit den silbernen Schnallen und den prallgefüllten Jutesack, den er in der anderen Hand hielt. Er musterte die Kindergärtnerin kurz und war sich sicher, dass sie keinen Verdacht schöpfte. Weshalb auch, schließlich war er der Weihnachtsmann.
»Doch, doch!«, grinste sie und fuhr verlegen fort: »Ich war nur überrascht von dem Bart.«
»Stimmt etwas nicht mit meinem Bart?«, brummte er.
»Nein, alles in Ordnung, Ihr Bart ist einfach nur bemerkenswert, weil er echt ist, die anderen Weihnachtsmänner tragen diese künstlichen Wattebärte, aber offenbar haben wir dieses Jahr Glück und der echte Weihnachtsmann ist bei uns zu Gast!«, lachte sie fröhlich. Für Antje Scherf war dies die fünfte Weihnachtsfeier im Kindergarten auf Sylt. Es war der letzte Tag vor den Ferien und sie hatte die Adventszeit mit den Kindern sehr genossen. Alle waren eifrig mit dem Basteln von Weihnachtsgeschenken beschäftigt gewesen und heute hatte es selbstgebackene Kekse und Lebkuchen zum Frühstück gegeben. Der Besuch des Weihnachtsmanns war der krönende Abschluss des Jahres.
»Kommen Sie herein, die Kinder sind schon ganz aufgeregt.« Sie öffnete die Tür zum Gruppenraum und ließ ihm den Vortritt.
»Ho, ho, ho«, brummte der Weihnachtsmann mit tiefer Stimme. Alle Kinder verharrten in ihren Bewegungen und starrten ihn mit leuchtenden Augen an.
Fasziniert beobachtete Antje Scherf die Reaktionen. Keines der einundzwanzig Kinder gab einen Laut von sich. Alle Augen waren auf die Tür gerichtet. Einige waren so aufgeregt, dass sie das Atmen vergaßen. Bevor der Weihnachtsmann sich setzte, ließ er seinen Blick auf jedem einzelnen Kind ruhen.
»Mal sehen, ob ich hier richtig bin«, brummte er in seinen Bart und setzte sich auf einen Sessel, den die Kinder wie einen Thron für ihn in die Mitte des Raums gestellt hatten.
»Du bist doch die ...« Er strich nachdenklich mit der Hand über seinen Bart. »Moment, ich hab´s gleich!«, murmelte er und hob seinen Zeigefinger, »... Grete!«
Lächelnd bemerkte Antje Scherf, dass die Kinder mit geöffneten Mündern die Allwissenheit des Weihnachtsmannes bestaunten. Offenbar kannte der Mann die kleine Grete, Sylt war ein Dorf und viele einheimische Rentner boten ihre Dienste als Weihnachtsmann an.
»Dann bin ich hier ja goldrichtig!«, lachte der Weihnachtsmann und hielt sich seinen wackelnden Bauch.
Alle Kinder nickten eifrig und Antje warf ihm einen dankbaren Blick zu. In seinen Augen lag ein Ausdruck, der sie irritierte. Trotz der zur Schau gestellten Freude schien der Mann traurig zu sein. Aber die Kinder waren fasziniert und als die kleine Grete zögerlich auf den Weihnachtsmann zuging, schüttelte Antje den Gedanken ab und widmete sich dem Schauspiel. Beherzt setzte Grete sich auf die Knie des Weihnachtsmannes.
»Was ist denn dein größter Wunsch zu Weihnachten, Grete?«, brummte er durch seinen langen Bart.
»Also, am liebsten...«
»Nein, warte, dein Wunsch ist ein Geheimnis und du musst ihn in mein Ohr flüstern, nur dann kann ich ihn erfüllen!«, unterbrach er sie in großväterlichem Ton.
Grete nickte eifrig und er neigte seinen Kopf, um ihren Wunsch aufzunehmen, als es an der Eingangstür klingelte. Die Kinder warteten gebannt darauf, ihre Wünsche dem Weihnachtsmann sagen zu dürfen und beachteten das wiederholte Klingeln nicht. Antje Scherf seufzte, verließ den Gruppenraum und nickte im Flur ihrer Kollegin zu, die mit einem Kleinkind auf dem Arm im Türrahmen des anderen Raums stand. Dort waren die sechs Krippenkinder untergebracht, die noch keine drei Jahre alt waren.
Vor der Tür stand ein Weihnachtsmann.
»Sorry für die Verspätung, ich hatte einen Platten!«, entschuldigte sich der junge Mann mit dem aufgeklebten Wattebart keuchend.
»Sie sind der Weihnachtsma...« Die Worte blieben ihr im Hals stecken. »Von der Agentur?«
Der junge Mann nickte.
»Aber wer ist dann ...?« Antje Scherf erbleichte.
22. Dezember
Die große Villa in Kampen erstrahlte im warmweißen Licht unzähliger Lichterketten. Auf dem Reetdach leuchtete ein Rentierschlitten und im parkähnlichen Garten waren die Büsche und Bäume illuminiert. Um alle Fenster und Türen befanden sich Lichterketten, rechts und links von der Auffahrt steckten beleuchtete Garben im Rasen und auf dem, das gesamte Grundstück umfassenden Zaun schlängelte sich ein mehrere hundert Meter langer Lichtschlauch.
Es war der am hellsten erleuchtete Fleck auf der Insel, abgesehen von den Leuchttürmen. Die Paulsens ließen ihr Anwesen von einer Firma schmücken. Jedes Jahr kamen vier Mitarbeiter am Samstag vor dem ersten Advent aus Flensburg angereist, Fahrtkosten, Spesen und Wochenendzuschlag wurden auf die Rechnung gesetzt.
Die Zimmer der Villa waren aufwendig von einem Sylter Blumengeschäft geschmückt worden und im Wohnzimmer, neben dem offenen Kamin, thronte eine Königstanne, behängt mit roten Kugeln und goldenem Lametta.
Traditionell war die Familie zum Weihnachtsfest geladen worden, ein Cateringservice würde das klassische Weihnachtsessen servieren und jeden Freitag im Advent kam eine Lieferung von Leysieffer, bestehend aus Trüffeln, Pralinen, Lebkuchen und Weihnachtsgebäck.
Doris Paulsen genoss das Leben. Sie hatte bereits vor Jahren die Aufgaben zur Führung des Haushalts an mehrere Bedienstete verteilt, die überdurchschnittlich entlohnt wurden. Das Gleiche galt für die Kinderbetreuung. So hatte sie die Freiheit, zu reisen und ihrem Vergnügen nachzugehen.
Der Lieferant von Leysieffer lud die goldfarbenen Konditorkartons mit dem Weihnachtsgebäck auf seine Arme und balancierte sie die zwei Treppenstufen hoch. Als er ein Knie gegen die imposante Eingangstür lehnte, um eine Hand zu der Klingel auszustrecken, sprang die Tür auf. Reflexartig ging er in die Hocke, um die kostbare Fracht zu retten. Er fluchte leise, als der oberste Karton von seinen Armen rutschte. Zum Glück handelte es sich bei dem Inhalt dieses Kartons um einen Baumkuchen, der den Sturz unbeschadet überstand.
»Hallo?«, rief er in den Flur und drückte die Tür mit dem Fuß auf. »Hallo, ich bringe das bestellte Gebäck!«, rief er noch einmal laut. Dann stellte er die Kartons vorsichtig auf den Boden und sah sich um.
Am Fußende der Treppe lag ein Mann. Seine Augen starrten ins Leere und um seinen Kopf befand sich eine große Blutlache auf dem hellen Marmorboden der Diele.
In dem großen, zweigeschossigen Containerbehelfsbau der Polizeiwache Sylt in der Stephanstraße kam weihnachtliche Stimmung auf.
Erik Willemsen hatte die Organisation der diesjährigen Weihnachtsfeier übernommen und sah zufrieden in die Runde.
Ein kleiner, geschmückter Tannenbaum im Topf stand auf einem Hocker in der Ecke, auf den Tischen standen Teller mit Keksen und der Geruch von Kaffee und Fliederbeerpunsch lag in der Luft. Alle Kollegen würden in Etappen an der Feier teilnehmen, sogar aus dem Urlaub waren einige der Einladung gefolgt.
Bente Brodersen, die Dienststellenleiterin der Kripo Sylt, stand allein an einem der Stehtische und hielt einen Becher dampfenden Kaffee in der Hand. Die Kollegen grüßten sie, hielten aber Abstand und gruppierten sich um die anderen Tische. Gelächter und einzelne Gesprächsfetzen drangen zu ihr und unwillkürlich breitete sich ein Lächeln auf ihrem Gesicht aus. Sie hatte in den vergangenen Jahren deutlich gemacht, dass private Kontakte zu Kollegen bei ihr auf Abwehr stießen, aber jetzt spürte sie ein aufkeimendes Gemeinschaftsgefühl. Sylt war zu ihrem Zuhause geworden und sie fühlte sich in ihrem Büro wohler als in ihrer Wohnung. Auch wenn sie immer noch nicht alle Namen der Beamten wusste, gefielen ihr die Gradlinigkeit und der trockene Humor der Insulaner. Ihre kleine Kriminalabteilung zählte lediglich vier Mitarbeiter, aber bei Bedarf konnte sie auf die personell gut aufgestellte Wache zurückgreifen. Schließlich tummelten sich über eine Million Besucher pro Jahr auf der Insel, die Tagestouristen nicht mitgezählt. Das erforderte Manpower.
Bei dem Gedanken an ihren Vorgänger, Tammo Hansen, stöhnte sie innerlich auf. Der alte Sturkopf war ihr ans Herz gewachsen, stellte ihre Geduld durch sein regelmäßiges, spontanes Auftauchen im Büro allerdings auf eine harte Probe. Er war nicht minder stur als sie und ignorierte jegliche Besuchsverbote. Er hatte sich in der Vergangenheit als wertvolle Hilfe bei der Lösung einiger Fälle erwiesen, sodass Bente keine drastischen Maßnahmen ergreifen wollte. Außerdem tat er ihr leid. Lediglich dem Renteneintrittsalter hatte er es zu verdanken, dass ihm vor Langeweile die Decke auf den Kopf fiel. Dieses Schicksal würde sie ebenfalls in etwas weniger als einem viertel Jahrhundert treffen, dessen war sie sich sicher. Der alte Hansen war vierzig Jahre lang im Polizeidienst gewesen, die meisten davon als Dienststellenleiter auf Sylt. Das genau war das Problem. Viele der Insulaner sahen in ihm immer noch die oberste Instanz bei der Polizei und auch die meisten Kollegen zogen vor ihm den Hut. Bente schüttelte unwirsch den Kopf. Es war lächerlich, aber tief im Innern verfolgte sie das Gefühl, beweisen zu müssen, dass sie eine würdige Nachfolgerin war. Sie sah sich suchend um, konnte Hansen aber nicht entdecken. Bestimmt würde er den Weihnachtsmann spielen, sein langer, grauer Bart prädestinierte ihn für diese Rolle! Ulrike, ihre braune Labradorhündin, wuselte zwischen den vielen Beinen hindurch und stupste auffordernd an das eine oder andere Knie. Bente verfolgte dieses Spiel, musste aber nicht eingreifen, da jeder Kollege wusste, dass Weihnachtskekse für Ulrike tabu waren. Als eine ältere Kollegin angestupst wurde und aus einem Beutel einen Keks hervorholte, den sie Ulrike vor die Nase hielt, straffte Bente die Schultern. Noch bevor sie etwas sagen konnte, rief die Frau ihr strahlend zu: »Ich habe zur Feier des Tages Leberwurstkekse gebacken! Einen bekommt sie von mir und die restlichen sind für die Feiertage, ist das okay?« Bente nickte und lächelte ihr dankbar zu. Es war nicht selbstverständlich, dass ausnahmslos alle Kollegen die ständige Anwesenheit ihrer Hündin nicht nur duldeten, sondern sich darüber freuten. Ulrike vollführte mehrere Kunststücke, um einen weiteren Keks zu erhalten, und alle lachten und klatschten Beifall. Bente fiel in das Lachen ein und rief sie schließlich zu sich. »Braves Mädchen, leg dich«, raunte sie in das Hundeohr.
Dieses Jahr hatte sie sich für den Dienst über die Feiertage eingetragen, was die Kollegen mit Kindern wohlwollend registriert hatten. Auch Eriks Name stand auf dem Dienstplan, obwohl sie sich nicht abgesprochen hatten. Während der letzten Monate war Bente ihm erfolgreich ausgewichen, abgesehen von zwei leidenschaftlichen Nächten. Bei dem Gedanken daran durchfuhr sie ein sehnsuchtsvoller Schmerz, aber in Bezug auf eine Beziehung unter Kollegen war sie ein gebranntes Kind und scheute das Feuer. Sie hatte dieses Prinzip über Bord geworfen und sich in Erik verliebt, aber es fiel ihr schwer, die Nähe zuzulassen. Nie wieder wollte sie verletzt und dem Argwohn der Kollegen ausgesetzt werden!
Bente dachte an Anka. Ihre Tochter hatte mit Studienfreunden eine Skihütte in Österreich gemietet und würde dort Weihnachten und Silvester feiern. Es war nicht das erste Weihnachtsfest, das Bente im Dienst und allein verbringen würde. Sie hatte sich längst daran gewöhnt. Für sie war der ganze Hype um das Fest überbewertet. Gerade während der Weihnachtstage zeigten sich die Abgründe des menschlichen Geistes. Häusliche Gewalt und Diebstähle machten keinen Halt vor dem vermeintlichen Fest der Liebe. Im Gegenteil, für Niedertracht und Gewaltbereitschaft schienen diese Tage eine Art Hochsaison zu bedeuten!
»Frohe Weihnachten!« Heike Röder, die Jüngste in ihrem Team, trat an den Tisch und prostete ihr mit dem Kaffeebecher zu. »Du siehst nachdenklich aus, Brodersen.«
»Ich habe mich nur gerade gefragt, ob der alte Hansen die Chance nicht nutzen will, mal ganz offiziell in die Polizeiwache zu kommen«, entgegnete Bente grinsend.
»Vielleicht hat er sich an die vielen Kommentare von den letzten Weihnachtsfeiern erinnert und traut sich nicht her?«, kicherte Heike.
»Was für Kommentare?«
»Na ja, mit seinem langen, grauen Bart sieht er aus wie der Weihnachtsmann, aber in seinem letzten Dienstjahr haben wir ihn in ein Kostüm gesteckt und er musste an jeden einzelnen Kollegen Polenta-Schnitten verteilen.«
»Polenta-Schnitten? Wegen Polente?« Bente lachte laut auf. »Ihr seid fies!«
»Wart´s ab, Brodersen, dich stecken wir in zwanzig Jahren in ein Bullenkostüm!« Heike hielt sich den Bauch vor Lachen. »Aber du hast recht, warum ist er eigentlich nicht hier?«
Erik steuerte auf ihren Tisch zu. Sofort erkannte Bente an seiner Miene, dass etwas nicht stimmte. Er presste die Lippen aufeinander und stieß einen Satz hervor: »Christian Paulsen ist tot!«
Sie hatten ihn nicht gesehen, das stand fest. Nun musste er sie finden. Ihm blieb keine andere Wahl.
Eilig warf er sich den Jutesack über die Schulter und erreichte schwer atmend die Straßenecke. Sie konnten noch nicht weit sein, aber er würde sie nicht einholen. Welche Richtung hatten sie eingeschlagen und wohin würden sie gehen? Vermutlich standen sie unter Schock und würden sich verstecken. Aber wo? Er hatte in den letzten vierundzwanzig Stunden jeden ihrer Schritte verfolgt. Im Garten der Paulsen-Villa stand eine große Kastanie, in deren ausladender Krone sich ein Baumhaus befand. Zuerst war er sich wie ein irrer Stalker vorgekommen, aber das Warten hatte den Grund seiner Anwesenheit bestätigt. Zornig schüttelte er sich. Jetzt galt es, die Kinder zu finden! Ihm blieb nicht viel Zeit.
Sein Wagen stand in der Nebenstraße unter den kahlen Zweigen einer Buche. Er verstaute den Jutesack auf der Rückbank, legte die Hände auf das Lenkrad und versuchte, seinen Atem zu kontrollieren. Schweiß rann ihm über das Gesicht und er fror. Der anstrengende Lauf hatte ihm die letzten Energiereserven geraubt. Kraftlos konzentrierte er sich auf das Ein- und Ausatmen.
Nach einer Minute straffte er seine Schultern und startete den Motor. Er hatte einen Plan.
Auf der zehnminütigen Fahrt vom Revier nach Kampen klärte Heike ihre Chefin auf: »Christian Paulsen gehören mehrere Häuser in der Friedrichstraße und mehrere Apartmenthäuser in vorderster Strandlage. Er trägt oder trug den Spitznamen König von Sylt, weil er überall seine Finger im Spiel hatte, aber nicht nur geschäftlich, sondern auch als wohltätiger Spender. Villa in Kampen, Privatjet, Motorjacht, Autos, alles vom Feinsten! Er war viel in Amerika und Asien unter...« Heike stockte.
Bente war in die Auffahrt zur Villa der Paulsens eingebogen, bremste abrupt und sah zu Heike, die mit aufgerissenen Augen auf dem Beifahrersitz saß. »Wo sind wir hier? Weihnachtswunderland?«
Heike nickte andächtig. »Schön, oder?«
»Völlig drüber! Und die reinste Energieverschwendung!«, grummelte Bente und fuhr langsam weiter, während Heike sich begeistert umsah. »Ja, da hast du natürlich recht, aber bei Weihnachten und Hochzeiten setzt mein Verstand aus, sorry«, grinste sie.
Bente stöhnte theatralisch auf, konnte sich aber ein Lächeln nicht verkneifen. Sie kannte Heikes romantische Ader und ihre verklärte Sicht auf das Gute im Menschen, aber sie selbst war eines Besseren belehrt worden. Gerade deshalb genoss sie die Unbekümmertheit ihrer Kollegin. Sie parkte zwischen einem Streifenwagen und einem Minitransporter.
»Ausgerechnet zu Weihnachten!«, begrüßte Flackner sie nuschelnd und stopfte sich den Rest einer Lebkuchenoblate in den Mund, um sich den weißen Papieroverall überziehen zu können. Der Gerichtsmediziner und sein Team waren kurz vor ihnen eingetroffen und Bente sah auf die Leiche. Flackner beugte sich über den Toten, der mit unnatürlich abgewinkeltem Bein am Fuß der Treppe lag.
»Treppensturz?«, fragte Bente.
Flackner nickte, ging auf die Knie und betrachtete den Hinterkopf des Toten. Er wies einen seiner Mitarbeiter an, Fotos zu machen und Spuren zu sichern, dann wandte er sich an Bente: »Du musst dich solange gedulden, Brodersen, aber die Wunde am Hinterkopf sieht auf den ersten Blick nicht nach einem Aufprall auf eine Stufe aus. Genaueres kann ich erst sagen, wenn meine Leute fertig sind und ich ihn umdrehen kann.«
»Also unfreiwilliger Treppensturz?«
Flackner schnalzte genervt mit der Zunge. »Willst du Spekulationen oder Tatsachen? Lass uns unsere Arbeit machen und steh nicht im Weg rum, dann bekommst du deine Antwort!«
Ungerührt fragte Bente: »Todeszeitpunkt?«
»Weniger als eine Stunde, eher eine halbe. Das Blut ist noch nicht geronnen.«
Heike zeigte auf einen schweren, silbernen Kerzenleuchter, der neben dem Schirmständer auf dem Boden lag. An dem Fuß befand sich hellrotes Blut. »Das sieht nach der Tatwaffe aus!«
Flackner nickte, holte eine Plastiktüte aus der Tasche und beförderte den Kerzenleuchter hinein.
»Wer hat den Toten gefunden?«, fragte Bente und bemerkte erst jetzt die eindrucksvolle Größe der riesigen Empfangsdiele mit der breiten, geschwungenen Treppe, die sie an Scarlett O‘Hara in Vom Winde verweht erinnerte.
»Nicht gerade friesische Gemütlichkeit«, kommentierte Flackner ihren Blick.
Sie zuckte mit den Schultern. »Muss ja nicht alles traditionell sein.«
Ein Beamter der Streife kam aus dem angrenzenden Wohnzimmer. »Der Fahrer der Konditorei hat ihn gefunden. Er wartet auf dem Sofa.«
»Ist sonst jemand im Haus?«
»Nein, wir haben in allen Räumen nachgesehen. Seine Frau geht nicht ans Handy.«
Bente nickte Heike zu. »Guckst du dich hier um? Ich befrage den Fahrer.« Dann wandte sie sich an den Kollegen: »Versuchen Sie es weiter und befragen Sie die Nachbarn, vielleicht ist denen was aufgefallen!«
Das Wohnzimmer war riesig und wirkte noch größer aufgrund der vollständig verglasten Außenfront. Der Blick über eine gepflegte Rasenfläche auf das angrenzende Wattenmeer war atemberaubend.
»Hallo, ich bin Kriminalhauptkommissarin Brodersen, wie heißen Sie?«, wandte sie sich an den jungen Mann, der mit rundem Rücken auf der vorderen Kante des Sofas saß.
»Lars Reimers«, antwortete er mit gesenktem Blick.
»Sie haben Herrn Paulsen gefunden?«
Er nickte und hob den Kopf. Der Schreck stand ihm ins Gesicht geschrieben.
»Wie sind Sie ins Haus gekommen?«
»Die Tür war offen, also nur angelehnt. Ich bin sozusagen reingefallen, als ich klingeln wollte und mich abgestützt habe.