Systematische Fallarbeit in der Logopädie -  - E-Book

Systematische Fallarbeit in der Logopädie E-Book

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Beschreibung

Professionell tätige Logopädinnen und Logopäden führen Fach- und Fallwissen zusammen und gestalten aus der Theorie die Praxis. Dieses Buch bietet eine Systematik und Unterstützung auf dem Weg dorthin. Obwohl jeder Fall individuell ist, folgt die Herangehensweise jeweils einem geregelten Ablauf, der Fall-Kaskade. Das Buch stellt die Kaskade als generelles Modell für die jeweilige Arbeit vor und konkretisiert dieses für ausgewählte Aufgabengebiete wie Stimmstörungen, Stottern und andere Indikationen. Die Bedeutung von Modellen für die Fallarbeit und die Bedeutung der Fallarbeit für die Forschung werden zudem angesprochen.

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Die Herausgeber

Dr. Ute Schräpler ist Dozentin an der Professur Berufspraktische Studien und Professionalisierung an der Fachhochschule der Nordwestschweiz in Muttenz.

Professor Dr. Jürgen Steiner lehrt an der Interkantonalen Hochschule für Heilpädagogik Zürich mit den Schwerpunkten Diagnostik, Kindersprache und neurogene Sprachstörungen.

Ute Schräpler,Jürgen Steiner (Hrsg.)

Systematische Fallarbeit in der Logopädie

Grundlagen und Beispiele

Verlag W. Kohlhammer

Dieses Werk einschließlich aller seiner Teile ist urheberrechtlich geschützt. Jede Verwendung außerhalb der engen Grenzen des Urheberrechts ist ohne Zustimmung des Verlags unzulässig und strafbar. Das gilt insbesondere für Vervielfältigungen, Übersetzungen, Mikroverfilmungen und für die Einspeicherung und Verarbeitung in elektronischen Systemen.

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1. Auflage 2021

Alle Rechte vorbehalten

© W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Gesamtherstellung: W. Kohlhammer GmbH, Stuttgart

Print:

ISBN 978-3-17-036901-6

E-Book-Formate:

pdf:      ISBN 978-3-17-036902-3

epub:   ISBN 978-3-17-036903-0

mobi:   ISBN 978-3-17-036904-7

Vorwort: Wegmarken der evidenzbasierten und reflektierten logopädischen Praxis

 

 

 

Logopädisches Handeln ist so komplex wie vielfältig. Anforderungen an die Kompetenzen von Logopädinnen und Logopäden entwickeln sich mit den durchgreifenden gesellschaftlichen Veränderungsprozessen stetig weiter, sei es bspw. durch die Veränderung der Altersstruktur, durch die Digitalisierung, ein erweitertes Verständnis von Gesundheit und Krankheit oder auch höhere Ansprüche an Qualität und Wirtschaftlichkeit. Um dieser Komplexität und Dynamik fachlich gerecht werden zu können, bedarf es eines akademisch fundierten und in reflektierter Praxis gründenden systematischen logopädischen Handlungswissens.

Oft wird im Rahmen von Systematisierungen des therapeutischen Handelns das Verhältnis zwischen wissenschaftlicher begründeter Theorie und praktischem Behandlungsprozess noch als ein Gegenüber mit einer dazwischenliegenden Distanz konzipiert, die es zu »überbrücken« gilt. So wird aus der akademischen Perspektive heraus bspw. häufig noch die »Theorieferne« der logopädischen Versorgungspraxis moniert. Diese Sichtweise ist zwar einerseits richtig. Theoriebildung, Evidenzbasierung und Forschung der Logopädie sind – zumal im deutschsprachigen Raum – nach wie vor stark unterrepräsentiert und müssen im Zuge von Professionalisierung und Akademisierung weiter vorangetrieben werden.

Dies darf aber andererseits nicht zu einer Entfernung oder gar Entfremdung zwischen der Logopädie als angewandter Gesundheitswissenschaft und der gelebten Versorgungspraxis führen. Denn der umgekehrte Vorwurf der »Praxisferne« akademischer Logopädie darf durchaus auch in den Raum gestellt werden, wenn sich die Logopädie als Wissenschaft – oft aus einem vermeintlichen Legitimationsdruck gegenüber der klassischen Medizin heraus – noch zu sehr an den sog. Goldstandards der Evidenzbasierten Medizin (EBM) und ihren Evidenzhierarchien ausrichtet. Wobei der Begriff »Hierarchie« in der interdisziplinären Zusammenarbeit zwischen medizinischen und anderen Gesundheitsberufen übrigens immer durchaus eine gewisse Konnotation hat – aber dies nur en passant.

Theorie und Praxis werden im vorliegenden Band ausdrücklich nicht dichotom verstanden. Wie im weiteren Verlauf zu sehen sein wird, stehen sie sich im konkreten Behandlungsprozess nicht voneinander getrennt gegenüber, sondern sind vielmehr die zwei Seiten ein und derselben Medaille. In der Fallarbeit müssen das theoretisch begründete Fachwissen (also die externe Evidenz) und die aus therapeutischer Erfahrung geschöpfte reflektierte Praxis (also die interne Evidenz) gleichwertig in einem »Handlungswissen« zueinander finden. Dieses Handlungswissen wiederum bildet den Kern einer Fallkompetenz, die es ermöglicht, jeder zu behandelnden Person mit ihren sowohl verallgemeinerbaren wie aber auch vor allem mit ihren einmaligen Charakteristiken zu begegnen. Dabei sind immer dort, wo die Fallarbeit im hermeneutischen Sinne gelingt, die biopsychosoziale Gesamtschau der Lebenswirklichkeit, das wissenschaftlich fundierte theoretische Wissen und die aus der praktischen Arbeit geschöpfte Erfahrung gleichwertige Elemente einer Evidenzbasierten Praxis (EBP). Logopädisches Handlungswissen bildet dabei den Kern der EBP.

Um nicht missverstanden zu werden, in forschungszentrierten und theoriebildenden Kontexten kann die Aufspaltung der Elemente der EBP in einerseits Theorie und andererseits Praxis sinnvoll oder sogar methodisch notwendig sein. Dort, wo es jedoch um die ganz konkrete reflektierte Fallarbeit und -kompetenz geht, ist eine solche Aufspaltung u. U. sogar hinderlich. Die Metapher von Theorie und Praxis als den zwei Seiten einer Medaille ließe sich insofern noch weiter fassen: Stellen wir uns den Prozess der gelingenden EBP als eine Art Möbiusband vor, dessen zwei Seiten im Verlauf ineinander übergehen. Im Rahmen der Fallorientierung wären Theorie und Praxis dann eben diese zwei Seiten, die im Behandlungsverlauf häufig kaum voneinander zu differenzieren sind.

Das Bild vom Möbiusband soll die Komplexität der hermeneutischen Fallorientierung und ihre Bedeutung betonen. Diese Relevanz der Einzelfallorientierung wird auch in der angewandten Gesundheitsforschung immer deutlicher, wenn in Kritik und Erweiterung der tradierten EBM Evidenzhierarchien abgeflacht werden und u. a. einer methodisch ausgereiften Einzelfallforschung mehr Gewicht gegeben wird. Auch in der Forschung finden akademische Theorie/-bildung und kritisch reflektierte Praxis – ganz im Sinne der EBP – somit immer enger zueinander.

Durch die grundlegende Systematisierung von Handlungswissen, einschließlich der darauf bezogenen Beispiele aus der Versorgungspraxis, legen die vorliegenden Beiträge ihre jeweils eigenen Wegmarken zu einer originären logopädischen EBP. Den weiteren Weg dorthin können die Logopädie als angewandte Gesundheitswissenschaft und die kritisch reflektierte Versorgungspraxis nur gemeinsam gehen.

Sascha Sommer

Inhaltsverzeichnis

 

 

 

Vorwort: Wegmarken der evidenzbasierten und reflektierten logopädischen Praxis

1   Vorstellung der Beiträge

Ute Schräpler & Jürgen Steiner

2   Vom Fachwissen zur Fallkompetenz in der Logopädie. Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis

Andrea Haid, Ute Schräpler & Jürgen Steiner

1   Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis

2   Theoretische Aspekte der Fallarbeit in der Logopädie

3   Praktische Umsetzung der Fallarbeit in der Logopädie

4   Zusammenfassung

Literatur

3   Praktische Implikationen des Therapie-Kaskadenmodells für die Fallbearbeitung

Jürgen Steiner

Literatur

4   Logopädische Berichte: Ein Ausweis der Professionalität und Qualität

Ute Schräpler & Jürgen Steiner

1   Zur Bedeutung und Funktion von Berichten in der therapeutischen Praxis

2   Inhaltliche Aspekte Logopädischer Berichte

3   Ein Bericht aus der Praxis

4   Zusammenfassung

Literatur

5   Modelle als Mittler zwischen Fachwissen und Fallkompetenz in der Logopädie

Jürgen Steiner & Jonas Walde

1   Modelle als Mittler für praktisches Handeln

2   Mögliche Modellarten zur Anwendung in der Logopädie

3   Inhaltliche Aspekte der Modelle für die Logopädie

4   Drei Modelle als Beispiel

5   Zusammenfassung

Literatur

6   Die Bedeutung der (Einzel-)fallstudie für die Konzeptbildung und -überprüfung in der Sprachtherapie

Jürgen Kohler

Literatur

7   Stimmtherapie bei Erwachsenen mit dysregulativer Dysphonie

Susanne Voigt-Zimmermann & Bärbel Miethe

Literatur

8   Komplexe Spracherwerbsstörungen im mehrsprachigen Kontext

Michéle Lorang & Marc Schmidt

1   Fachwissen komprimiert

2   Bausteine einer multidimensionalen Sprachdiagnostik bei mehrsprachigen Kindern

Literatur

9   Idiografische Herangehensweise bei (beginnendem) kindlichen Stottern

Wolfgang G. Braun

1   Kompakte Annäherung an das Störungsbild Stottern

2   Das Idiografische Interventionsweichenmodell

3   Diagnostik

4   Therapie des (beginnenden) Stotterns

5   Zusammenfassende Leitlinien und State of the art

Literatur

10 Dysphagietherapie bei Erwachsenen aus pragmatischer Sicht

Erika Hunziker & Christin Zöllner

1   Grundlagen für die Herangehensweise bei Dysphagie

2   Fallbeispiel: Ambulante Schlucktherapie eines Parkinsonbetroffenen

Literatur

Danksagung

Die Autorinnen und Autoren

Register

1          Vorstellung der Beiträge

Ute Schräpler & Jürgen Steiner

Fachdisziplin Logopädie

Logopädie ist als Disziplin eine Integrationswissenschaft, die Wissen als Grundlagen und Konzeptionen für Handeln im Fokus Sprache, Sprechen, Stimme, Schlucken und in weiteren zahlreichen Sondergebieten sondiert, diskutiert, adaptiert und integriert. Die wichtigsten Bezugsdisziplinen sind Sprachwissenschaft, Pädagogik und Medizin. Wissen bezieht sich dabei auf die Dimensionen

•  Daten (beispielsweise Prävalenz),

•  historische und aktuelle politisch-soziologische Bezüge (beispielsweise demografische Entwicklung oder Migration),

•  ethische Grundlagen und auf

•  adressatengerechte Didaktik.

Die genannten Aspekte erheben keinen Anspruch auf Vollständigkeit.

logopädische Praxis

Logopädie ist als Praxis eine Profession, die Kennen (beispielsweise Wissen um Theorien und Konzepte), Können (beispielsweise Anwendungen von diagnostischen und therapeutischen Tools) und Sein (beispielsweise Kommunikation und Reflexion) verknüpft, um Menschen mit Gefährdungen oder Problemen, deren Umfeld und andere Fachkräfte befristet zu begleiten oder zu beraten. Die Praxis-Angebote der Logopädie beziehen sich auf Prävention, Diagnostik, Therapie, Coaching, Beratung und Evaluation in den Ziel-Zeit-Dimensionen: Start in das Leben, Eintritt in das Bildungssystem und Schullaufbahn, Aufrechterhaltung der Berufsfähigkeit, Aufrechterhaltung der Wohnselbständigkeit und Verhinderung der Pflegebedürftigkeit

Fallarbeit

Fachdisziplinäre und praxeologische Erkenntnisse münden in Handlungsempfehlungen für Regelfälle und ein Rüstzeug für Einzel- oder auch Sonderfälle. Qualitätsvorstellungen, Standards und Leitlinien sind neben Lehrbuchwissen das konkrete Ergebnis. Letztlich haben wir als logopädisch tätige Personen Menschen vor uns, die sich uns anvertrauen mit dem Wunsch nach Veränderung. Trotz des Einbezugs der Betroffenen und Mitbetroffenen und trotz einiger Hinweise zur Wirksamkeit aus Studien liegt der Schwerpunkt der praktisch tätigen Sprachtherapeutin in ihrer beruflichen Erfahrung.

Intention des Buches

Die individuelle Last der Therapeutin, im Sinne des Anspruches evidenzbasiert zu handeln, wollen wir mit diesem Buch durch Kompetenz verringern. Durch ein Wissen in Bezug auf ein systematisches Herangehen an einen Fall entsteht Handlungssicherheit.

Die nachfolgenden fünf Beiträge in diesem Buch verstehen sich als Grundlegungen zur systematischen Fallarbeit. Es folgen vier Beiträge, die unterschiedlich akzentuiert Bezug auf ausgewählte Aspekte der Grundlegungen nehmen und die Fallarbeit in spezifischen Themenfeldern darlegen.

Beitrag 2

Der Beitrag von Andrea Haid, Ute Schräpler und Jürgen Steiner Vom Fachwissen zurFallkompetenzin der Logopädie versteht sich als Vorschlag zur systematischen Arbeit mit Fällen. Grundlage bildet ein Kaskadenmodell, in der das schrittweise und systematische Vorgehen für einen Fall aus der Praxis dargestellt wird. Das Modell bietet damit eine schrittweise Orientierung für das konkrete logopädische Handeln.

Beitrag 3

Jürgen Steiner verdeutlicht in seinem Beitrag Praktische Implikationen des Therapie-Kaskadenmodellsfür die Fallbearbeitung, wie das Kaskadenmodell umgesetzt werden kann und welche Handlungen im Rahmen der Fallarbeit erfolgen. Die einzelnen Schritte werden von der Indikation bis zu den einzelnen Therapiebausteinen erläutert, so dass die praktisch tätige Person hinsichtlich ihres Vorgehens eine Orientierung erfährt.

Beitrag 4

Ute Schräpler und Jürgen Steiner fokussieren in ihrem Beitrag Logopädische Berichte: Ein Ausweis derProfessionalitätund Qualität, welch hoher fachlicher Anspruch an Logopädinnen und Logopäden beim Verfassen von Berichten besteht und formulieren Merkmale und Kriterien für die Berichterstellung. Sie heben hervor, dass logopädische Berichte inhaltlich als auch formell das Aushängeschild professionellen Handelns sind.

Beitrag 5

Jürgen Steiner und Jonas Walde machen im Beitrag Modelle als Mittler zwischen Theorie und Praxis deutlich, dass Modelle für logopädisches Handeln in der Praxis relevant sind und insbesondere für die Fallarbeit eingesetzt werden können. Sie ermutigen Therapeutinnen und Therapeuten, Modelle in der Beratung einzusetzen und sogar im Prozess selbst zu entwickeln.

Beitrag 6

Jürgen Kohlers Ausführungen beschäftigen sich im Beitrag Die Bedeutung der (Einzel-)fallstudie für die Konzeptbildung und -überprüfung in der Sprachtherapie mit der Bedeutung von Einzelfallstudien als Forschungsmethode. Sie werten Fallstudien als ein wichtiges und relevantes Mittel auf, um Fragestellungen aus der Logopädie beantworten zu können. Praktisch tätige Logopädinnen und Logopäden werden ermutigt, durch ihre Reflexionskompetenz und über ihre Erfahrungen sich an Forschungsfragen und am Forschungsprozess zu beteiligen.

Beitrag 7

Von den vier Beiträgen aus ausgewählten Fachgebieten der Logopädie ist der Beitrag von Susanne Voigt-Zimmermann und Bärbel Miethe Stimmtherapie bei Erwachsenen mit dysregulativer Dysphonie eng an die Grundlegungen in den Beiträgen 2 und 3 angelehnt. Die Autorinnen heben anhand eines Falls eindrücklich die psychische Komponente von Dysphonien hervor und betonen den Beratungsaspekt in der Stimmtherapie. Ihr Fall zeigt eindrucksvoll auf, wie durch die Kombination von Übungstherapie und Beratung – die kombiniert psychologische Übungstherapie – Stimmbeschwerden reduziert werden können.

Beitrag 8

Michelle Lorang und Marc Schmidt ermutigen im Beitrag Komplexe Spracherwerbsstörungen im mehrsprachigen Kontext zu einer mehrsprachig ausgerichteten Sprachtherapie und empfehlen die Methode der Kontrastoptimierung. Sie betonen den Mehrwert, Eltern von Anfang an in die Therapie einzubeziehen.

Beitrag 9

Wolfgang G. Braun plädiert in seinem Beitrag Idiografische Herangehensweise bei (beginnendem) kindlichen Stottern unter anderem für ein methodenkombiniertes Vorgehen, wobei kein Verfahren bei allen Kindern gleich wirkt. Schon allein deshalb ist eine Methodenvielfalt notwendig. Der Autor formuliert zusammenfassende Leitlinien für ein fallorientiertes Vorgehen beim kindlichen Stottern.

Beitrag 10

Erika Hunziker und Christin Zöllner geben in ihrem Beitrag Dysphagietherapie bei Erwachsenen aus pragmatischer Sicht Orientierung für praktisch Handelnde in einem sehr komplexen, individuellen und anspruchsvollen und verantwortungsvollen Arbeitsgebiet.

Die dargestellten Fallbeispiele mögen den Leserinnen und Lesern eine Idee vermitteln, welche Wege bei bestimmten Patienten eingeschlagen werden können. Sie zeigen ein mögliches Vorgehen für einen konkreten Fall auf, welches in einem anderen Kontext aber auch völlig anders gestaltet werden kann. Insgesamt hoffen wir, mit dem vorliegenden Buch neue Impulse für die fallbasierte Arbeit in der Logopädie und Sprachtherapie geben zu können, und ermutigen die Therapeutinnen und Therapeuten, gemeinsam mit dem Patienten die einzelnen Schritte vom Erstkontakt bis zum Therapieabschluss aktiv zu gestalten.

2          Vom Fachwissen zur Fallkompetenz in der Logopädie. Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis

Andrea Haid, Ute Schräpler & Jürgen Steiner

1           Zur Bedeutung der Kasuistik in der therapeutischen Praxis

Begriffsklärung

Kasuistik ist die Versachlichung des Prozesses, Menschen mit einem Anliegen bzw. einem Problem zu begleiten. In der Logopädie sind dies Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckprobleme. Der Fall ist demnach nicht eine Person, sondern die Gesamtheit des Problemzusammenhangs bzw. ein Vorfall zur professionellen Bearbeitung. Die Herangehensweise an einen Fall ist methodisch der Hermeneutik zuzuordnen. Es geht darum, den Weg vom Phänomen in seinem Kontext über das Verstehen in der Rückschau und im Jetzt zum Sinn zu beschreiten (vgl. Wernet 2006).

Das Wort Einzelfall ist nicht zufällig doppeldeutig: Einerseits handelt es sich um einen Vorgang, in dem sich Ratsuchende einer helfenden Profession anvertrauen, wie z. B. in der Medizin, in der Psychotherapie, in der Juristik, in der Pflege oder in der Logopädie, und andererseits bedeutet Einzelfall die Ausnahme von der Regel.

Bei Bildung von Komposita entstehen Begriffe wie Fallanalyse, Fallrekonstruktion, Fallbeschreibung, Fallbesprechung, Fallvorstellung, Fallarbeit, Fallführung, Falldokumentation, Fallstudie oder Fallvignette, die alle in medizinischen und in therapeutischen Berufen und somit auch in der Logopädie bedeutsam sind.

Die in diesem Buch dargestellte Kasuistik bzw. Fallarbeit bezieht sich auf die Systematik der Bearbeitung von Fällen in der Praxis. Die Aspekte der fallorientierten Ausbildung und die Methodik der Therapieforschung anhand von Einzelfällen sollen nicht zum Gegenstand werden, da das vorliegende Werk als Lehr- und Praxisbuch zu verstehen ist. Im ersten Beitrag werden theoretische Bezüge für die praktische Herangehensweise an einen Fall in der Logopädie dargestellt. Sie münden in einem Kaskadenmodell, auf das in den darauffolgenden Fällen von den Autoren Bezug genommen wird.

Einzigartigkeit und Leitplanken

Logopädisch tätig zu sein heißt, Menschen auf der personellen Ebene zu begleiten. Auf der sachlichen Ebene kann von der Bearbeitung von Fällen gesprochen werden. Dabei ist einerseits jeder Fall einzigartig, andererseits gibt es ein zu erwartendes, konsensfähiges Vorgehen, das über Studien sowie Experten- und KollegInnenmeinungen abgesichert ist und definierten Schritten folgt. Das Fachgebiet der Logopädie mit Interventionen bei Sprach-, Sprech-, Stimm- und Schluckstörungen mit entsprechend vielen Handlungsfeldern, auch in Randbereichen und über die gesamte Lebensspanne, ist sehr breit. Deshalb kann die Logopädin zwar beim »klassischen Fall« auf ein prototypisches Vorgehen Bezug nehmen, in vielen Fällen agiert sie aber mit eher schwachen Leitplanken, d. h. die Orientierung im Fall ist durch Komplexität, Individualität und Einzigartigkeit erschwert. Die Recherche der Studienlage als Suche nach Evidenz ist in vielen konkreten Fällen des Berufsalltags wenig gewinnbringend. Anhand folgender drei Beispiele wird dies deutlich:

•  Eine Patientin mit einer Alt-Singstimme singt im Abendprogramm in einem Chor. Gleichzeitig nimmt sie sprechend die Rolle der Moderatorin des Abends wahr. Am Abend wird sie über den Wechsel von Sing- zur Sprechstimme heiser.

•  In der Akut-Rehabilitation wird ein 73-jähriger Patient nach einem neuerlichen Infarkt angekündigt; neuropsychologische Probleme wie Aufmerksamkeit und Orientierung dominieren das klinische Bild.

•  Ein 18-jähriger junger Mann meldet sich mit einer Mutationsfistelstimme in der logopädischen Praxis. Eine Therapie vor drei Monaten bei einem Psychologen war erfolglos.

Definition Fallarbeit in der Logopädie

Professionelles logopädisches Handeln ist ein Prozess auf der Grundlage von Fachwissen. Es ist modellbasiert und damit in komplexen, heterogenen Ausgangslagen begründet. Durch eine Vielzahl von Handlungsoptionen können Unsicherheiten reduziert und fallgerechte, personenzentrierte Angebote, die für eine Lösungsorientierung passend sind, unterbreitet werden.

Menschenbild

Das persönliche Menschenbild leitet das Handeln in der Therapie. Es prägt Haltungen, Erwartungen, Aktionen und Erinnerungen. Die heilpädagogische Sicht nimmt darauf Bezug, was Menschen wollen. Das Selbst lässt sich über die Grundbedürfnisse beschreiben (vgl. Kitwood 2013, Grawe 1998 sowie 2004, Largo 2017, Steiner 2018). Jeder Mensch ist bestrebt,

•  etwas wert zu sein (Anerkennung),

•  dazuzugehören (Kontakt),

•  etwas Sinnvolles zu tun (Selbstentfaltung, Aktivität) und

•  angesprochen zu werden (Gespräch).

Der Fall ist der Fall des Betroffenen

Die Betroffenen sind Eigner ihres Falles. Das bedeutet, dass jeder einzelne Schritt zur Bearbeitung, von der Anamnese bis zur Evaluation, nicht nur die Zustimmung und Transparenz des Vorgehens, sondern den aktiven Einbezug des jeweiligen Patienten im Sinne einer partizipativen Zusammenarbeit bedarf. Für das Verstehen braucht es den Einblick in dessen Biografie. Die Lebensgeschichte (Familie, Beruf, Bildung, Heimat) und die Krankheitsgeschichte mit den entsprechenden Erinnerungen und Vorstellungen sollten in der Therapie gehört werden. Es kann entweder eine Chronologie der Ereignisse im Zentrum der Schilderung stehen oder wiederkehrende Themen in punktuellen Situationen.

Der Ausgangspunkt der logopädischen Fallpraxis ist das Verstehen der Lebenshistorie, der Lebenslage und der Lebensperspektive. Die aktuelle Lebenslage kann entwickelt werden, einmal durch eine persönliche Gestaltung, der Selbststeuerung, aber auch durch äußere Lebensumstände und Rahmenbedingungen, die als Fremdsteuerung subsumiert wird. Die logopädische Begleitung der betroffenen Person kann hier verortet werden ( Abb. 2.1).

Abb. 2.1: Lebenskontext und Therapie (inspiriert nach Wendt 2018)

Dieses Verstehen ist der Ausgangspunkt für die Einleitung eines Verfahrens mit konkreten Schritten unter Wahrung von Zuständigkeiten, rechtlichen Bedingungen und ethischen Grundsätzen. Für logopädische Entscheidungen braucht es neben dem fachlichen Spezialwissen ein Grundlagen-, Interaktions- und Organisationswissen (vgl. Messmer 2017). Teilweise können rechtliche, gesellschaftlich-politische, institutionelle und teambezogene Vorgaben ein fach- und fallgerechtes Vorgehen fördernd, aber auch hemmend beeinflussen. Fachliche Qualitätsvorstellungen, die durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt sind, stellen dabei eine besondere Herausforderung dar.

Wenn die fachlichen Qualitätsvorstellungen durch gesellschaftspolitische, institutionelle und teambezogene Vorgaben beschränkt werden, ist eine Klärung oder Auseinandersetzung notwendig.

Das Leitmotiv der Fallbearbeitung sollte immer die Perspektive der Betroffenen sein. Dabei dürfen Organisationsinteressen in Frage gestellt werden.

Fallverstehen und Ethik

Menschen haben das Potential, für sich selbst zu entscheiden (Autonomie). Respekt, Würde, Hoffnung und Erwartung der Entwicklung, der Einbezug und die Selbststeuerung leiten sich hieraus ab. Die Logopädin versteht sich als Anwältin der Betroffenen und sichert bzw. wahrt die Autonomie (Baumgartner 2008). Sie wehrt Gefährdungen der Autonomie insbesondere dann ab, wenn die Betroffenen diese Abwehr nicht oder nur schlecht selbst realisieren können. Damit sind zum Beispiel gemeint:

•  unabgesicherte oder stigmatisierende Zuschreibungen in Berichten bzw. ablenkende, irrelevante und ausschmückende Details;

•  Ausschluss von Informationen während oder nach der Therapie (z. B. verdeckte oder nicht bekannt gegebene Notizen mit negativen Wertungen);

•  Verletzung der Pflicht zur Vertraulichkeit.

Logopädische Berichte sind demnach fokussiert, parteinehmend und schützend (ASHA 2016). Sie bleiben nah an den Schilderungen der Betroffenen hinsichtlich der Informationen über Auslöser bzw. kritische Ereignisse oder psychosomatische Belastungen und meiden interpretative Hinzufügungen ohne datengesicherte Grundlage. Sie würdigen zurückliegende Bearbeitungen des Problems durch die Betroffenen. Der Leser des Berichts erhält neben den fachlichen Informationen ein Bild über die Lebenszusammenhänge mit Beispielen, wie sich das Problem darstellt. Die Betroffenen werden zur Einsichtnahme eingeladen. Diese Vorgaben gelten für Berichte wie auch für mündliche Fallbesprechungen.

Universalien der Fallbearbeitung

Die Herangehensweise an einen Fall in beratenden Berufen ist professionsübergreifend vergleichbar. Man könnte von Universalien der Fallarbeit sprechen. Vor jeder Entscheidung im therapeutischen Setting gilt folgendes zu beachten:

•  schriftliche Dokumente wie Berichte aus der eigenen und aus fremden Professionen oder auch den Auftrag einzusehen, zusammenzufassen und Fragen für das Gespräch mit den Ratsuchenden zu sammeln,

•  eigene Erfahrungen in ähnlichen Fällen als Vorbereitung zu aktivieren bzw. gegebenenfalls erweitert Intervisions-Kolleginnen zu fragen oder neuere Studienergebnisse im Sinne externer Evidenz einzuholen,

•  vorbereitet zu sein für das Klienten-, Patienten- bzw. Elterngespräch, in dem die Informationen abgeglichen, aktualisiert und ergänzt werden.

Dieser Start in den Fall wird in Abb. 2.2 dargestellt.

Informationen einholen, auf Erfahrung rekurrieren und im Gespräch das Anliegen konkretisieren können mehr oder weniger zeitgleich erfolgen oder auch als zeitliches Nacheinander geschehen. Beispielsweise bringt der Klient im Erstkontakt alle schriftlichen Hintergrundinformationen und den Auftrag mit und bespricht diesen mit der Therapeutin. Sofern weder schriftliche Hintergrundinformationen noch ein klarer Auftrag vorliegen, ist das Gespräch der Ausgangspunkt.

Abb. 2.2: Start in die Fallarbeit

Komplexitätsstufen

Jeder Einzelfall bewegt sich, wie schon gesagt, zwischen den Polen von Allgemeinem und Besonderem. In manchen Fällen kann die Logopädin hinsichtlich Entscheidungen und Handlungen auf Routinen zurückgreifen, in Anderen handelt es sich um therapeutisches Neuland. Natürlich ist es dabei ein Unterschied, ob die Logopädin am Berufsanfang steht oder mehrjährig in verschiedenen Handlungsfeldern tätig war. Es lassen sich drei Fallstufen unterscheiden:

•  Routinefall: Unter Rückgriff auf Handlungsempfehlungen oder auf die bisherige Erfahrung ist der Einstieg in die Fallarbeit mit einer klaren Problemdefinition möglich.

•  Komplexer Fall: Handlungsempfehlungen aus der Literatur, aus Leitlinien oder anderen Quellen treffen nicht zu, und der Rückgriff auf Erfahrung ist nur teils möglich. Für den Einstieg in die Fallarbeit bedarf es der Recherche und der Intervision.

•  Hochkomplexer Fall: Handlungsoptionen sind ohne ausführlichere Konsultation anderer Fachpersonen nicht ableitbar, da sich Probleme aus unterschiedlichen Bereichen überlagern; die eigene Erfahrung kann nicht mit Intervision angereichert werden. Der Einstieg in die Fallarbeit wird von einem Supervisor begleitet.

Die Bemühungen des Faches Logopädie um Evidenz und um die Entwicklung von Leitfäden sind zwingend im Prozess der Professionalisierung, wobei die Praktikerin jedoch der Einzigartigkeit ihres Falls folgt. Neben einer wissenschaftlich fundierten Fachkompetenz braucht es eine situative Fallkompetenz, um individuelle Lösungen zu entwickeln. Die Logopädin handelt, indem sie subjektives Geschick und intersubjektives Wissen zusammenbringt. Dass ein Mangel an Routine die Logopädin verunsichert, ist offensichtlich, aber auch ein sehr hohes Maß an Routine birgt ein Risiko: Handelnde neigen dazu, ihre Aktionen so zu gestalten, dass sie den geringsten Widerstand erwarten dürfen. Messmer (2017) hat dies als Wind-Tunnel-Effekt der Profession bezeichnet.

Situative Kompetenz

Mit situativer Fallkompetenz ist die Anwendung der Fachkompetenz zur situationsgerechten, schlüssigen und zielführenden therapeutischen Aktion im jeweiligen Fokus der Kontexterfassung, Diagnose, Zielbestimmung, Intervention und Beratung, Dokumentation, Evaluation und Modifikation gemeint. Reflexion und Kommunikation sind dabei die ständigen Prozessbegleiter. Eine klare Problemdefinition über die Erfassung von Kontext und Status ist die Voraussetzung jeder Intervention. Die situative Fallkompetenz sollte stets mit der generalisierten Fachkompetenz verknüpft und abgeglichen werden. Aus diesem Grund werden sie in der nachfolgenden Grafik ( Abb. 2.3) gemeinsam dargestellt.

Abb. 2.3: Fachkompetenz und Fallkompetenz

Doppelte Unsicherheit

Im Therapieprozess gibt es zur fallbezogenen Problembearbeitung einen prinzipiellen Therapieplan, der dann situativ für die aktuelle Therapieeinheit angepasst und umgesetzt wird. In jedem Fall muss die Logopädin singulären Einflussfaktoren Rechnung tragen. Das bedeutet, dass die prinzipielle Vorgehensweise mit Besonderheiten und Unsicherheiten behaftet ist. In den verschiedenen Fachdisziplinen ist die Unsicherheit der Entscheidung unterschiedlich brisant. In der Pflege beispielsweise kann sich das geplante Vorgehen sehr schnell ändern, und Fachpersonen müssen Notfallsituationen gerecht werden. Neben der situativen ist dann zusätzlich eine intuitive Kompetenz gefragt (vgl. Schrems 2016). Die Unsicherheit der Vorgehensweise und das Zurückgreifen auf intuitive Kompetenz muss durchaus auch in therapeutischen Berufen als Handlungsmöglichkeit angesehen werden, da Entscheidungen vor dem Hintergrund der Auswahl zwischen Optionen immer wieder neu zu überdenken und zu treffen sind. Die situative Fallkompetenz ist dabei entscheidend. Einfühlendes Verstehen und ordnende Analyse sind zwei Seiten einer Medaille.

Unkenntnis managen

Kösel (2017) plädiert dafür, der Intuition im Prozess Raum zu geben, und begründet dies mit einem Mangel an Wissen, das sich fünffach zeigt. Aufgrund der Komplexität, Intransparenz und Verwobenheit sind Daten oder Fakten:

1) fehlend,

2) im Übermaß vorhanden,

3) widersprüchlich,

4) unverständlich und/oder

5) nicht vertrauenswürdig.

Die Intuition ist somit beim logopädischen Handeln erwünscht und teilweise zwingend notwendig, setzt jedoch gleichzeitig eine entsprechende Fall- und eine Fachkompetenz voraus.

Hohe Individualität