Tabak und Schokolade - Martin R. Dean - E-Book

Tabak und Schokolade E-Book

Martin R. Dean

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Beschreibung

Nach dem Tod der Mutter findet der Erzähler in einer Schublade ein Album mit Fotos seiner frühen Kindheit, die er auf der Karibikinsel Tri­nidad und Tobago verbracht hat. Als junge Frau hatte sich die Tochter von »Stumpenarbeitern« aus dem Aargau in ein Abenteuer mit einem Tunichtgut der westindischen Oberschicht gestürzt und ein Kind bekommen. Während die übrige Familie bemüht ist, das Gedächtnis an die Jahre der Mutter bei den »Wilden« aus­zulöschen, macht sich der Erzähler auf, diese Geschichte, die auch seine eigene ist, zu retten.Tabak und Schokolade führt in den tropischen Dschungel einer britischen Kronkolonie der fünfziger und sechziger Jahre. Indem der Er­zähler immer weiter zu seinen indischen Vor­fahren, die als Kontraktarbeiter in die Karibik verschifft wurden, vordringt, legt er nicht nur einen Familienstammbaum, sondern auch ein Stück Kolonialgeschichte frei. Dem gegen­über wird die Erinnerung an das Aufwachsen im »Tabakhaus« der Großeltern im Aargau gestellt und die Annäherung an eine Mutter, die zu Lebzeiten stets unnahbar erschien.

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Seitenzahl: 264

Veröffentlichungsjahr: 2024

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Martin R. Dean

Tabak und Schokolade

Roman

Atlantis

IKaffee und Kakao

Es scheint mir nicht, (…) dass wir die Gesetze verstehen, unter denen sich die Wiederkunft der Vergangenheit vollzieht, doch ist es mir immer mehr, als gäbe es überhaupt keine Zeit, sondern nur verschiedene, nach einer höheren Stereometrie ineinander verschachtelte Räume (…).

W.G. Sebald, Austerlitz

Haut retten

Eines Nachts, ich war kaum ein Jahr alt, rannte meinezwanzigjährige Mutter mit mir im Arm aus dem Haus, um mich vor meinem Vater zu schützen. Er war wieder betrunken nach Hause gekommen, sie hatten sich gestritten, und er hatte sie geschlagen. Danach hatte er versucht, seine Zigarette auf meiner Haut auszudrücken.

In jener Nacht war es unerträglich heiß gewesen, wie in den meisten Juninächten in Port of Spain. Eine feuchte, dunkle Hitze, die auf der Haut klebte und den Kopf lähmte. Oder den Wahnsinn austrieb, die Verrücktheit meines Vaters, der, aufgeheizt durch seine Trunkenheit, in sein eigenes Haus eingebrochen und auf meine Mutter losgegangen war.

Nun stand meine Mutter im dünnen Nachthemd auf der Straße; vielleicht zitterte sie vor Angst, weil sie spürte, dass ihre Ehe an einem Punkt angelangt war, wo sie zerbrechen würde. Erst wenige Monate zuvor war sie mit meinem Vater auf die Karibikinsel gekommen, nachdem sie sich in London in ihn verliebt hatte und schwanger geworden war.

Ich wüsste gern, von welcher Farbe und aus welchem Stoff ihr Nachthemd war, um sie mir besser vorstellen zu können. Immer hat sie, die wenigen Male, die sie darüber sprach, betont, dass es ein leichtes Nachthemd war. Vielleicht um zu sagen, wie unpassend sie angezogen war, als sie auf der Straße stand. Ich habe keine Erinnerung an diese Situation, meine Haut weist keine Brandspuren auf, ich bedaure, dass das Gedächtnis vor dem Babyalter kapitulieren muss.

Nachts sind die Straßen von Port of Spain voll von Betrunkenen und Kriminellen, die einsamen Passanten auflauern und sie überfallen. Nachts allein durch diese Straßen zu gehen, ist lebensgefährlich. Meine Mutter war jung und unerfahren. Sie war, außer kurz zuvor in London, noch nie im Ausland, geschweige denn in einem Drittweltland gewesen, sie kannte diese explosive Mischung von Menschen unterschiedlichster Herkunft nicht, nicht die übertrieben lauten Rufe und Schreie, das Hupen und quietschende Bremsen der Autos, das Plärren von Musik. Auch nicht die Maßlosigkeit der Menschen, dieses Ungehaltene und Unberechenbare. All diese Eindrücke müssen sie verstört haben, umso mehr, als sie aus einem Land kam, in dem das Leben reguliert und sicher ist, aus einer überschaubaren Welt. Um Mitternacht auf dieser von einer dunklen, feuchten Wärme aufgeheizten Straße in den Tropen zu stehen, verlassen und im Lärm fremder Männer an den Ständen der Rumshops, im Halbdunkel der angrenzenden Gärten, davor hatte sie niemand gewarnt; auch nicht vor diesem gewalttätigen Mann, der sie auf die Insel mitgenommen hatte.

Heute ist mein Erstaunen über meine junge Mutter, die mich rechtzeitig in Sicherheit brachte, noch immer groß. Damals war sie eine Liebende, sonst wäre sie nie auf diese abgelegene Insel mitgegangen, die irgendwo in der Karibischen See vor der Küste Venezuelas liegt. Meine aus einem kleinen Wynentaler Dorf stammende Mutter wollte damals tatsächlich in einem Land, in dem die Arbeitslosigkeit und die Kriminalität in der Bevölkerung absurd hoch waren, ihrem Liebesglück nachgehen.

Als sie in Port of Spain auf der Straße stand, mich im Arm, kam ein roter Jeep angefahren, und eine weiße Frau sprach sie mit Can I give you a ride? an. Im Jeep saß die Isländerin Asa Wright, mit der sie am nächsten Tag auf eine Plantage mitten im Urwald fuhr, auf holprigen, ungeteerten Straßen mitten in die krächzenden Regenwälder der Northern Range hinter Laventille, um diesem Mann, der ihr nicht gewachsen war, nicht mehr begegnen zu müssen.

In jener Nacht ging ihr Traum von einem neuen Leben in die Brüche.

Dabei hatte ihr Leben gerade eben begonnen. Sie war neunzehn und der Armut eines von der Stumpenarbeit geprägten Dorfes entkommen. Sie blieb ein Jahr lang bei Asa Wright und arbeitete als Sekretärin für die Kaffee- und Kakaoplantagenbesitzerin, führte die Buchhaltung und zahlte die Löhne an die Arbeiter aus. Einmal die Woche fuhr sie, mit mir auf der Rückbank und einem geladenen Gewehr auf dem Beifahrersitz, im Jeep in die zwei Stunden entfernte Hauptstadt, um Geschäfte zu tätigen und Einzahlungen zu machen. Sie war in einem gewissenhaften Haushalt aufgewachsen, in dem die Rechnungen immer pünktlich bezahlt wurden. Ich nehme an, dass sie, wenn sie sich durch die Straßen von Port of Spain bewegte, als Engländerin durchging, denn in den fünfziger Jahren war die Insel noch fest in britischer Hand, und blonde Frauen konnten gar nichts anderes sein als Engländerinnen. Sie muss viele Komplimente erhalten haben.

Aber sie verließ auch nach einem Jahr die Insel nicht; wir blieben noch drei weitere Jahre in Trinidad, und an ihrem achtzigsten Geburtstag, einige Jahre vor ihrem Tod, sollte sie vor versammelter Familie sagen, dies sei ihre glücklichste Zeit gewesen.

Rosen im Sarg

Vor wenigen Tagen ist meine Mutter mit achtundachtzig Jahren gestorben. Ich fahre zurück in das Dorf, in dem ich geboren wurde und in dem ich mit der Familie nach der Rückkehr aus Trinidad das Leben verbracht habe. Ich parke mein Auto vor dem Spital, in dem ich zur Welt gekommen bin, gehe durch die vertrauten Gänge, den Geruch des Linoleumbodens aufsaugend, das gelbe Licht in den Fenstern sowie das Flüstern und Tuscheln des Personals und Geschirrklirren wiedererkennend. Ich bin nur wenige Male in diesem Spital gewesen, länger als eine Stunde nur beim Tod meiner Großmutter.

Meine Mutter war zusammengebrochen, und als man einen Herzinfarkt feststellte, wurde veranlasst, sie zur Reanimation mit dem Rettungshelikopter ins Kantonskrankenhaus zu transportieren. Damit der Helikopter landen konnte, musste mitten im Dorf eine Straßenkreuzung abgesperrt werden. Auf dem Flug über die Hügel und Täler des heimatlichen Wynentals ist sie gestorben.

 

Eine Krankenschwester öffnet mir die Tür, hinter der der Leichnam aufgebahrt wird. Ich zögere, ich fürchte mich davor, die Tote zu sehen. Ich habe immer Angst vor Toten gehabt, davor, dass sie plötzlich mit mir zu sprechen anfangen könnten.

Schließlich wage ich mich zu ihr vor: Geschrumpft liegt sie, umgeben von sanften Wellen weißer Kunstseide, in einen übergroßen Geigenkasten gebettet. Sie trägt die schwarze Pluderhose, die sie gern zu Hause angehabt hat, dazu ein weites grünes Jackett. Man hat rote Rosen in ihre Hände gelegt, hat ihre geschwollenen Finger mit den blauen Nägeln um die dornigen Stiele gekrümmt. Man hat ihr die rotbraune Lieblingsdecke über die Knie gelegt.

Eine Mutterpuppe. Die Frau, die mich als Baby im Nachthemd über die Straßen von Port of Spain getragen hat.

Ich kann ihr nicht ins Gesicht schauen; sie könnte die Augen aufschlagen und mich zurechtweisen. Sie hat uns alle oft zurechtgewiesen, es war nie einfach, es ihr recht zu machen. In der Familie hat sie mehr Macht gehabt als irgendjemand sonst. Auch über mich, auch über meinen Stiefvater, den Dorfarzt. Man kam nicht gegen ihren Willen an. Sie bestimmte, wie viele Patienten er am Tag empfängt, wie viel Geld er verdient, was er anzuziehen hat und wie er seine Freizeit gestaltet. Ihre Autorität konnte von niemandem angezweifelt werden.

Ihre Lippen sind geschürzt, als wolle sie pfeifen; dazu macht sie ein vornehmes Gesicht. So hat sie immer ausgesehen, wenn sie ihren Willen bekommen hat. Dann setzte sie dieses noble Gesicht auf, wurde unnahbar. Nun sind ihre Runzeln versteinert.

Was versuche ich nur aus ihrem Gesicht zu lesen?! Eine Wahrheit, die sie mit sich ins Totenreich nimmt? Ihre Wahrheit, unsere Wahrheit?

Es scheint ihr zu gefallen, dass sie nicht mehr Auskunft geben kann. Dass ihr toter Körper nun all das abwehrt, worüber sie nie reden wollte. In zwei Tagen wird ihr Körper Asche sein.

Ich möchte sterben, sagte sie, als ich sie zuletzt besuchte.

Sie hat keinen Platz im Jenseits in Anspruch genommen und sich mit keiner Religion verbündet.

Je älter sie wurde und je mehr sie an Gewicht zulegte – Wasser im Bauch, Wasser in den Beinen –, desto körperloser schien sie zu werden. Der aufgedunsene Leib spaltete sich von ihrem Willen ab.

Nun ist sie ganz zur Puppe geschrumpft. Sie lächelt hinter geschlossenen Lidern und sagt: Habe mein Leben beendet; mein schwieriges, kompliziertes und mühseliges Leben ist vorbei. Ich gehe jetzt, und ihr müsst für euch selbst sorgen. Ich habe euch nichts mehr zu sagen.

Das Album

Aufgewühlt fahre ich wenige Tage darauf zu ihrem Haus, einer Betonvilla mit vielen Zimmern und einer angebauten Arztpraxis.

Dort wartet schon der Willensvollstrecker im Kreis meiner Familie, Ruedi, ein zupackender Mann aus dem Emmental, offenbar ein langjähriger Freund meiner Mutter. Ich setze mich auf einen der knarrenden Louis-quinze-Stühle, meine Mutter hat ihren Salon mit einer Garnitur von Louis-quinze-Imitaten ausgestattet, auch mit einem Flügel und einem antiken Sekretär. Bereits sind alle Vorkehrungen für die Bestattung getroffen, und ich versuche vergebens, meine Vorstellung bezüglich des feierlichen Rahmens einzubringen. Jetzt, in der Pandemiezeit, wird mir gesagt, sei es schwierig, eine passende Örtlichkeit zu finden, die groß genug ist für die Versammlung der Trauernden. Ich stimme schließlich zu, ich kenne mich im Dorf nicht mehr aus.

Was das Erbe angeht, die beweglichen und unbeweglichen Güter in der Betonvilla und im Großelternhaus, also meinem Kindheitshaus, brauche man, so erklärt der Willensvollstrecker aus dem Emmental, kaum ein Inventar anzulegen, da laut Testament alles an die Familie und allein eine kleine Wohnung in der Südschweiz an mich gehe. Ich sei nicht in der Erbengemeinschaft inbegriffen.

Ich kann mein Erstaunen nicht verhehlen.

Der Willensvollstrecker, ein gemütlicher Mensch, lächelt, atmet tief ein und redet dann weiter; er spricht jetzt im Namen der Paragraphen, zieht sein Kinn wie an einer Schnur nach oben und reckt die Brust nach vorne. Meine Familie, wortlos wie immer, hört ihm andächtig zu. Alle sind mehr oder weniger über den Wortlaut des Testaments im Bild, alle nicken, während ich keine Ahnung habe. Zu weit habe ich mich aus dem Dorf entfernt, zu weit auch vom Leben meiner Mutter.

Ich schaue zum Fenster hinaus auf die besonnten Hügel, ein vertrauter Anblick, während Ruedis Sätze, gesalbt mit seinem Wissensvorsprung, an mir vorbeiziehen. Ich höre die aus dem nahen Wald kreischende Kreissäge und gleite eine Sekunde zurück in meine Kindheit, bin im Garten des Großelternhauses. Wie ein geblähter Fischbauch liegt der Stierenberg vor mir, den ich als Kind im harten Schnee hinuntergeschlittelt bin, den Bäumen ausweichend, nachdem ich mir einmal die Nase aufgeschlagen hatte. Das Hochhaus der Aluminiumfabrik ragt silberglänzend in den Himmel, und die selbstvergessenen Nachmittage meiner Kindheit fallen mir ein.

Im Weiteren wird über das Vermögen meiner Mutter gesprochen, das nicht unbeträchtlich sei. Ich lehne mich müde zurück und höre, wie in weite Ferne gerückt, kaum mehr zu. Immer absurder kommt mir die Aufzählung der Immobilien und der sie umgebenden Quadratmeter Umschwungs vor. Meine tote Mutter scheint nur aus Bankkonti, Aktien, Immobilien und Mobiliar zu bestehen, die an die Familie gehen, während ich allein ihre Geschichte zu erben scheine. Ihre schwierige, mit allen Unmöglichkeiten und Absurditäten des Lebens gespickte Geschichte, die sich aus zwei miteinander verfeindeten Männern derselben (fernen) Herkunft zusammensetzt, ihrem Aufbruch in jungen Jahren in ein tropisches Land, wo sie einige Jahre unter Wilden gelebt hat. Aber diese Hinterlassenschaft kommt heute nicht zu Wort. So wie sie in all den zurückliegenden Jahren nie zu Wort kam. Meine Familie hat die frühen Jahre meiner Mutter im Dschungel verdrängt, vergraben, ins Vergessen gestoßen. Und damit auch den frühesten Teil meines Lebens. Diese Zeit ist der Familie und ihrem Oberhaupt, meinem Stiefvater, immer peinlich gewesen. Schon immer waren die drei Jahre auf der Insel für meinen Stiefvater unspoken language gewesen, ein versunkener Kontinent, zu dem niemand hinabtauchen durfte. Ein brennendes Geheimnis, das auch dem Dorf, insbesondere seinem Patientenstamm, verschwiegen wurde.

Während der massige Leib des Willensvollstreckers auf dem Louis-quinze-Stuhl gefährlich hin und her schwankt und er eloquent die uneindeutige Rechtslage auslegt, sehe ich all die Gegenstände, die Möbel und Kleinodien, in denen mein Mutterverhältnis steckt, weiter und weiter von mir wegrücken.

Als ich aufstehe und einen Blick in das Schlafzimmer meiner Mutter werfe, steht die Schublade ihres Nachttischs offen. Es ist die Schublade mit all ihrem Schmuck, intrikate Stücke, hat sie doch nach ihrer Rückkehr aus Trinidad eine Zeit lang bei einem Juwelier gearbeitet. Die Kassetten und Schatullen sind geöffnet und geleert, man hat das Gold und Silber weggetragen, fast so, als hätte man den Mutterkörper geplündert.

Aber ich entdecke, neben dem Nachttisch liegend, ein Fotoalbum, das ich an mich nehme und heimlich in Sicherheit bringe. Es ist ein rot eingebundenes Album aus den fünfziger Jahren, in dem jede Seite zur Schonung der Abzüge mit einem dünnen Seidenpapier versehen ist. Ich blättere und sehe Bilder, die mich wie ein Blitzschlag treffen. Es sind Bilder aus der versunkenen Welt meiner Kindheit. Schwarz-weiße Abzüge von meiner Mutter und mir, von meinem trinidadischen Großvater und von tropischen Stränden, Palmen, von lachenden Schwarzen Menschen. Insgesamt mehrere Dutzende gezackte Fotos, von deren Existenz ich nichts gewusst habe.

Verschwiegenheit

Auf einem der ersten Bilder throne ich inmitten der Kaffeeplantage von Asa Wright auf meinem Kindersitz. Ich trage eine Latzhose, meine Haare sind linksseitig gescheitelt, ich bin etwas über ein Jahr alt und lache. Das Lachen suggeriert, dass es mir gut geht. Und das dürfte ja auch stimmen, denn schließlich war meiner Mutter die Flucht vor meinem Vater geglückt, und wir waren in Sicherheit. Vielleicht lache ich auch nur, weil meine Mutter mich fotografiert. Das Lachen unterbricht meine Einsamkeit, ich lache meiner Mutter zu. Es ist das erste Dokument ihres Blicks auf mich. Und nebenbei der Beleg dafür, dass es diese unglaubhafte, unwahrscheinlich weit von der Schweiz entfernte Welt wirklich gegeben hat.

Mitte des letzten Jahrhunderts kam ich in einem Dorf im aargauischen Wynental zur Welt. An einem Julitag, an dem die Temperaturen am Eidgenössischen Turnfest ganz in der Nähe in tropische Höhen kletterten. Wenige Monate nach meiner Geburt ging meine Mutter mit mir und meinem Vater in die Tropen.

Das Foto erzählt von diesem Anfang meiner Geschichte. Über diese erste Zeit existieren nur wenige, schamvolle Andeutungen meiner Mutter, ihre aus lakonischen Sätzen zu einem Puzzle zusammengesetzten Beschreibungen der Plantage. Meine Mutter war immer eine Meisterin des Schweigens und Verschweigens; es hatte sich im Laufe ihres Lebens immer mehr ihrer bemächtigt. Aufgehoben wurde es erst die letzten Jahre, aber da war die Erinnerung schon löchrig und von dieser Verschwiegenheit durchsetzt. Bei jeder Auskunft schwang mit, dass mich diese Zeit und die Geschichte mit ihrem ersten Mann eigentlich nichts angingen und dass ich froh sein könne, noch am Leben zu sein.

Schwieg meine Mutter aus Scham? Oder hatte ihr mein Stiefvater das Schweigen auferlegt? Was ich in den letzten Jahren über unseren Aufenthalt in Trinidad erfuhr, war so widersprüchlich, dass es genauso gut eine Erfindung hätte sein können. Etwa wenn sie von einem Mann erzählte, der mein Großonkel war und der fast zum Premierminister von Trinidad gewählt worden wäre. Oder wenn sie meinen Großvater Budri und dessen Ehe mit meiner Großmutter Olive schilderte, in allen Stufen der Zerrüttung.

Kolibris

Ein Schnappschuss, wohl auch von meiner Mutter, die mich tagsüber in die Obhut dieser Plantagenarbeiterinnen und -arbeiter gegeben hat. Auf dem Boden verstreut sind Kaffeebohnen. Es sind keine anderen Kinder zu sehen, niemand, mit dem ich hätte spielen können.

Während die Arbeiter die Bohnen zum Trocknen zu Haufen zusammenkehrten und wieder zerstreuten, verwandelten sie sich vor mir in lustige Käfer, die ich einfangen wollte, um sie in den Mund zu nehmen. Die Plantagenarbeiter hat das sicher amüsiert, während sie sich gleichzeitig gefragt haben werden, was diese junge, attraktive Frau hinter der Kamera hier bei ihnen im Urwald zu suchen hatte. Immerhin: Ein junger Arbeiter hält ihr lächelnd eine Flasche zum Trinken entgegen.

Mehrmals und nicht ohne Stolz hat sie mir von ihrer Anstellung als Sekretärin bei Asa Wright erzählt, für die sie ein Jahr lang, versteckt vor meinem Vater, gearbeitet hat. Das Wohnhaus der Asa-Wright-Siedlung befand sich in der Nähe der Plantagen. Meine Mutter verbrachte viel Zeit mit der Besitzerin, die eine Art mütterliche Freundin wurde. Asa war mit dem Engländer Wright verheiratet, der die Plantage 1936 der britischen Kolonialmacht abgekauft hatte, um sie in eigener Regie zu bebauen. Heute ist das Vogelschutzgebiet, das Asa Wright Nature Centre, eine Idylle mitten im Regenwald hinter dem Strand von Blanchicheusse, das seinen Namen den französischen Kolonisatoren verdankt, die die Insel 1783 besetzten. Blanchisseuse war der Lieblingsstrand meiner Mutter. Der Name bedeutet Bleicherin, ein schillerndes Wort in einem Land, in dem fast niemand weiß ist.

Als ich vor ein paar Jahren diese Plantage erstmals als Erwachsener besuchte, blieb die Erinnerung stumm. Dennoch traf mich eine Einbildung, nach der die leicht salzige Schokolade, die ich im Restaurationsbetrieb auf der hölzernen Veranda vor dem Haus mit Blick ins Arima Valley schlürfte, dem Geschmack meines Schoppens in meinem Gaumen gleichkam. Und das Piepsen der winzigen, in allen Farben im Sonnenlicht schillernden Kolibris, die sich zur Teezeit auf der hölzernen Terrasse einfanden, um die Krumen von den Tischen zu picken, haben ein glückliches Zwitschern in meinen Ohren erzeugt, das vielleicht noch in meinem Körpergedächtnis gespeichert war, im Rückenmark, wie die Schamanen glauben.

Das heutige Asa-Wright-Gelände, das früher Spring Hill Plantation hieß, war bereits nach dem Zweiten Weltkrieg für seine seltene und prächtige Vogelwelt sowie unzählige Kolibri- und Schnurrvögelarten bekannt. Nicht weit entfernt liegen die Dunston-Höhlen, benannt nach ihrem Entdecker, einem englischen Ingenieur. Zur Zeit der spanischen Besetzung der Insel hießen diese Höhlen Guacharo Caves, und in ihnen hauste die seltene und nur schwer zugängliche Kolonie der Oilbirds. Diese Fettschwalm genannte Vogelart, die auch gern in Bäumen nistet, ist die einzige nachtaktive Population, die sich, wie die Fledermäuse, durch Echoortung orientiert. Alexander von Humboldt entdeckte diesen Vogel 1799, war von ihm entzückt und lobte sein dunkles graublaues Gefieder. Und dass die Augen der Vögel das Tageslicht nicht ertragen, ist ihm nicht entgangen.

Von allen Tieren habe ich Vögel immer am liebsten gehabt, unruhige Flatterwesen zwischen Himmel und Erde. Auf der Veranda sitzend, umgeben von Regenwald und den heranfliegenden Kolibris zuschauend, die mit einem Flügelschlag von vierzig bis achtzig Schlägen in der Sekunde ihre langen Schnäbel in die Blütenkelche versenkten, um sie, nach der Einnahme des Nektars, rückwärts fliegend herauszuziehen, trank ich meinen Kakao, ein hauseigenes Gemisch aus der Criollo- und der Forasterobohne, das einen süß-bitteren Geschmack im Gaumen hinterlässt. Ich dachte an meine Mutter und daran, wie sehr ich in dieser Abgeschiedenheit auf sie angewiesen gewesen sein musste, sodass eine symbiotische Beziehung entstanden war. Beide hatten wir noch die Gewalt meines Vaters in den Knochen. Ich musste an seine Wut denken und daran, was es meine Mutter gekostet hatte, uns zu retten.

Wenn er meine Mutter geliebt hat, fragte ich mich, musste ihm doch ein Kind von ihr willkommen gewesen sein?

Aber vielleicht hatte seine Wut gar keinen triftigen Anlass, sondern war die Wut eines Menschen, der sich gewohnheitsmäßig in Rage trank? Vielleicht war es eine Wut, die sich aus dem scheinbar natürlichen Recht indischer Männer über ihre Frauen herleitete, ein von Rassismus gespeistes Rasen des Farbigen gegenüber einer weißen und eigenständigen Frau? Oder es war, eigentlich, eine aus der Gewalt eines Kolonialsystems stammende Wut, die den Menschen das Selbstwertgefühl raubte.

Meine Mutter hat ihre Liebe zu den Tropen, zum Glückstaumel der gelbblauen Kolibris, zum Atem des Regenwaldes nach einem Regenschauer oder zum Sonnenuntergang über der Meeresbucht erst sehr spät verloren.

Irene, Irene …

Wenn ich nicht bei den Plantagenarbeitern weilte, war ich in der Obhut von Irene. Irene ist ungefähr Mitte dreißig, eine der Schwarzen Angestellten, die in der Küche arbeiten, die Wäsche machen, den Haushalt besorgen oder eben die Kinder hüten. Mir ist ihr Gesicht noch heute vertraut, obwohl ich mich nicht wirklich erinnern kann. Gern würde ich mehr über Irene wissen, aber ich kenne nicht einmal ihren Nachnamen. Wäre es der ihrer Vorfahren in Westafrika gewesen, müsste es ein Yoruba-Name sein. Obwohl ich nicht weiß, woher Irene kam und wo sie wohnte, erinnere ich mich an den Geruch ihrer Haut, der sich mir einprägte, wenn sie mich herumtrug oder auf ihrem Schoß hatte. Sie roch dunkelgelb nach Vanille und Salz, und zu dieser Farbe gesellt sich der Klang ihrer tiefen Stimme; diese kehrte Jahrzehnte später in den Stimmen von Billie Holliday, Sarah Vaughan und Natalie Cole wieder, die mir immer nahegingen.

Irene wäre nie auf der Insel gelandet, wenn im 18. Jahrhundert nicht auch der Kakaoanbau nach Trinidad gekommen wäre. Mit der Plantagenarbeit wurden die Sklavinnen und Sklaven von den französischen Inseln Martinique und Guadeloupe auf die spanischen Antillen Trinidad und Margarita gebracht, bevor man sie auch auf die holländischen Kolonien in Südamerika, vor allem nach Niederländisch-Guayana deportierte. Irenes Vorfahren pflückten die schweren Kakaofrüchte von den Bäumen, spalteten sie mit dem Buschmesser, um mit agilen Händen die Samen aus dem Fruchtfleisch herauszuholen. Irene verdankte ihre Anstellung als Kinderfrau dem Umstand, dass sie von der weißen Isländerin Asa Wright in Dienst genommen worden war. Weiße hatten in der Kolonialzeit zur Schwarzen wie zur indischen oder chinesischen Bevölkerung keine Berührungsängste, während die Ethnien sich untereinander mieden und kaum vermischten. Nach der Unabhängigkeit 1962 gehörten die Schwarzen einesteils zur regierenden Oberschicht, andernteils zur zudienenden Unterschicht, auf den Ölfeldern, in den Restaurants, Hotels und in den städtischen Verwaltungen. Heute stellen die Afrotrinis den Großteil der Arbeitslosen, und Schwarze Jugendliche sind die am meisten von Gewalt und Drogen heimgesuchte Bevölkerungsgruppe. Daran hat auch die Unabhängigkeit Trinidads nichts geändert. Oder der erste afrotrinidadische Präsident der Republik, Dr. Eric Williams. Zwar führte Williams die Insel aus der britischen Knechtschaft in die Unabhängigkeit, aber selbst er konnte die Armut der Schwarzen Stadtbevölkerung wie der indischen Landbevölkerung nicht aufheben.

Irene war nicht nur meine erste Kinderfrau, sondern auch meine Heilerin. Als ich eines Tages an hohem Fieber erkrankte, gegen das selbst der Hausarzt auf der Plantage nichts ausrichten konnte, war es Irene, die ein Feuer machte, Kräuter hineinwarf, mich bei den Füßen packte, durch den Rauch schwenkte und dazu Lieder sang. Daraufhin soll, so meine Mutter, das Fieber auf einen Schlag verschwunden sein. Irene war also eine Shango Woman und Anhängerin des aus Westafrika mitgebrachten synkretistischen Voodookults. Sie hat in ihren Nächten Orisha, den obersten Gott des Shango, der christlich-katholische mit Yoruba-Elementen verschmilzt, angerufen. Mit Sicherheit war sie nicht die einzige Person dieses Glaubens auf der Plantage; viele hingen den Shouters an, einer seit 1917 von den Engländern verbotenen Glaubensrichtung. Orisha muss also auf der Plantage allgegenwärtig gewesen sein und brach, wenn ein Gewitter über dem Regenwald niederging und auf die großen Blätter und die dünnen Wellblechdächer trommelte, mit Donner und Blitz über die Köpfe der Arbeiter herein. Vielleicht habe ich heute noch Orisha im Ohr, wenn es donnert, wenn sich die Blüten und Blätter unter dem Regenschauer krümmen und mir die Welt bis auf einen Kern zusammenschmilzt.

Meine Mutter hatte nichts gegen Orisha. Sie sagte, sie sei froh gewesen, dass mein Fieber verschwunden war. Ihr war es egal, dass ich durch Voodooworte geheilt wurde, sie bemerkte kaum, dass mein Körper zum Ohr für abergläubische Laute geworden war.

Sonntagsschule

Letzte Nacht habe ich von einer Mumie geträumt. Ich wachte auf, als ich sie an mich drücken wollte. Natürlich war die Mumie meine Mutter, aber was mich irritierte, als ich meine Arme um sie schlang – und was mich wie aus den Augenwinkeln ansprang –, war, dass sie ganz schwarz war.

Den ganzen Morgen kommen mir die fehlenden Umarmungen meiner Mutter in den Sinn. Tatsächlich erinnere ich mich an keine einzige Gelegenheit, bei der sie mich umarmt und gar geküsst hat. Küsse und Umarmungen kamen von anderen, am meisten von der schönen Tante Astrid, die mich bis zum Überdruss herzte. Ich erinnere mich aber daran, wie mich meine Mutter als Bub gern ankleidete, zum Beispiel wenn ich zur Sonntagsschule musste. Denn der Sonntag war in meinem Großelternhaus immer ein besonderer Tag. Die Kirchenglocken läuteten, und meine Großmutter begann gleich nach dem Aufstehen mit dem Kochen. Sie war eine begnadete Köchin, sie wäre es auch in jedem Restaurant gewesen, wenn man sie nur gelassen hätte. Gern stand sie in der Küche, bis der Duft des Sonntagsbratens durch die Ritzen des Hauses zog und man sich zum Essen zu Tisch setzte. Nach dem Essen brach man, in Sonntagskleidung gewandet, zum Spaziergang durchs Dorf auf. Spazieren war Luxus, am Sonntag konnte man sich etwas davon gönnen. Dabei ging es nicht um die Förderung der Beweglichkeit, sondern darum, dass man sich im Dorf als rechtschaffener Arbeiter zeigte. Für die Büezer gab es keine Freizeitindustrie und keine Freizeitangebote. Die Männer gingen in die Beiz, um zu jassen oder zu saufen, die Frauen plauderten über den Gartenzaun hinweg miteinander.

Am Sonntagmorgen, wenn das Licht milde über dem Garten aufgegangen ist, sehe ich den sechsjährigen Buben vor seiner Mutter stehen. Er trägt ein weißes Hemd, dazu eine Hose mit der Andeutung einer Bügelfalte. Seine Mutter kniet vor ihm und will ihm den blauen Blazer mit den Goldknöpfen anziehen. Wie immer stellt er sich ungeschickt an, die Jacke ist zu eng geschnitten, und er muss sich verrenken, um den linken Arm in den Ärmel stecken zu können. Er tut so, als wäre ihm das Jackett zuwider, sodass die Mutter ihn zurechtweist, ein kleiner Kampf entsteht, bis er schließlich vollständig angezogen als junger Engländer vor ihr steht. Im Hintergrund spielt die Marschmusik von John Philip Sousa, seine Lieblingsplatte, die ihm die Mutter geschenkt hat.

Dann zieht er los, und zwar allein um das Häuserviertel, bis er vor der kleinen Kapelle steht, in der die Sonntagsschule stattfindet. Dort gehört er zu den bestgekleideten Buben, worauf niemand achtet, weil er sowieso auffällt. Aber die Kleidung erinnert ihn undeutlich an seine Insel, an die blauen Schuluniformen der Schwarzen Kinder und die goldenen Knöpfe, die im Sonnenlicht der Tropen leuchteten. Er ist stolz, sonntags diese Kleider zu tragen, er ist stolz, ein kleiner Brite zu sein; die Macke der Mutter stärkt ihn. So hält er den Blicken der anderen stand, die sich nur schwer an ihn zu gewöhnen scheinen. In der Sonntagsschule hört er die Geschichte von Daniel in der Löwengrube, und seine Phantasie malt sich die Szene aus, bis der Pfarrer befiehlt, dass sie wieder aufstehen und singen und beten sollen. Beim Verlassen der Kapelle muss auch er an einem »Nickn*« vorbei. Seine Mutter hat ihm eine Münze in die Außentasche des Blazers gesteckt und ihm eingeschärft, diese in den Schlitz unter der Schwarzen Figur einzuwerfen. Wenn man es richtig macht, sagt sie, nickt die Figur. Kaum hat er die Münze eingeworfen, hört er hinter sich einen Jungen das N-Wort sagen. Er hört es geflüstert, gezischt, der andere wiederholt es lauter und lauter und hört nicht auf, bis dem Bub klar wird, dass er selbst gemeint ist, dass der andere ihn mit dem hölzernen Afrikaner gleichsetzt. Eine Hitze steigt in ihm auf, die ihn zu verbrennen droht. Er weiß nicht, was tun, denn das Wort schwächt ihn und treibt ihm die Tränen ins Gesicht. Aber er wird nicht vor den anderen zu weinen beginnen, nicht hier und nicht in diesen Sonntagskleidern.

Vor der Kapelle draußen tanzt der gleiche Kerl um ihn herum und schreit ihm weiter das Wort entgegen. Mehr hilflos als entschlossen schlägt der beschimpfte Bub los und gibt dem anderen eine Maulschelle. Dieser gibt zurück, es kommt zur Balgerei. Der Junge heißt Friedli, ja, die anderen rufen immerzu: Hopp Friedli, gibs ihm! Also verhaken sie sich ineinander, bis man sie auseinandernimmt, seine Mutter kommt und ihn nach Hause bringt.

Du bist ein Schweizer Bub, hörst du!

Zu Hause spielt noch immer die Platte von John Philip Sousa, aber die Heiterkeit ist verflogen. Keiner sagt ein Wort zu dem, was vorgefallen ist. Seine Mutter schweigt verärgert, erst recht Großmutter und Großvater, die dafür keine Sprache haben. Der River Kwai March tönt durchs ganze Haus, das zu seiner Geschäftigkeit zurückfindet. Tante Astrid setzt sich in die Waschküche ab, wo sie endlos lange in der Badewanne sitzt, während seine Mutter neben ihm in der Stube an einem Kleid näht. Die strammen Musiker von John Philip Sousa geben den Takt vor und überspielen alle Katastrophen der Familie mit Pomp. Gleichzeitig kehrt mit der Marschmusik die Hitze der Kolonie zurück in die Stube, ein perfektes Gemisch aus Drill, Disziplin und tropischer Schwüle. Die Kraft und Stärke des durchgetakteten Lebens, die Trommelschläge in ihrem strengen Rhythmus wirbeln durch die kleinen Zimmer des Arbeiterhauses. Diese Märsche im Ohr geben dem Bub ein Gefühl von Geborgenheit. Die Schallplatte, sagte seine Mutter, ist ein Abschiedsgeschenk von seinem Großvater Budri. Kehrt die Mutter vielleicht im Takt von John Philip Sousa auf die geliebte, verrückte, gehasste Insel zurück?

Rule, Britannia, rule the waves; Britons never will be slaves

In einem Aufsatz in der fünften Klasse, den mir meine Mutter einmal zum Lesen gegeben hat, beschreibt sie einen Ausflug mit ihrem Vater Eddie Galliker. Sie fahren nach Luzern und besteigen dort ein Schiff der Vierwaldstättersee-Flotte. Sie kennt die Berge ringsum, sie kann sie benennen, es ist ihr Lieblingsausflug mit ihrem Vater, der nur sie mitnimmt. Die Großmutter läuft sich derweil mit Astrid auf einem Stadtbummel die Füße wund.

Neben meiner Mutter sitzen Engländerinnen, die ihre Aufmerksamkeit auf sich ziehen. Sie tragen Gold- und Silberschmuck, den meine Mutter, als Kind einer armen Stumpenarbeiterfamilie, noch nie gesehen hat. Und die Fingernägel und Lippen der Frauen sind, wie sie schreibt, blutrot gefärbt. Als der Schiffskassier kommt, zücken die Engländerinnen ein Bündel Banknoten, sodass meine Mutter große Augen macht. So was hat sie noch nie gesehen. Wenn sie selbst nur zwei von diesen Noten hätte! Später wird sie es schaffen, in ihrem Leben viele Banknoten zu besitzen. Aber zuerst einmal wird sie eine Anhängerin der Britishness, und das ausgerechnet in einer britischen Kolonie.

Sie knipst Königin Margaret, die Schwester der britischen Queen, anlässlich eines Besuches auf Trinidad, wie diese sich von einem Beamten die straußeneigroßen und schwer in der Hand liegenden Kakaofrüchte zeigen lässt. Was man nicht sieht, was meine Mutter nicht sieht, sind die Nachfahren der Sklaven, die diese Früchte gezogen und geerntet haben, und was das Bild zur Gänze verschweigt, sind diejenigen, die von solchen Feierlichkeiten ferngehalten wurden, die Untertanen der Kronkolonie – der Uniformierte im Hintergrund ausgenommen. Meine Mutter, die offenbar als Weiße zu diesem Anlass zugelassen war, lebte und arbeitete jahrelang mit Schwarzen Menschen zusammen und konnte dennoch die Königin und die Monarchie bewundern, ohne das Unrecht, das die Krone mitverursachte, in Rechnung zu stellen.

Das Bild lässt erahnen, wie sehr meine Mutter die Perspektive der Kolonialmacht wohl übernommen hat, die sie dann als Faszination für das Königshaus an mich weitergab. Andrerseits hat sie auf vielen Fotos auch ihre indisch-trinidadischen sowie afrotrinidadischen Freundinnen und Freunde verewigt. Aber es bleibt dabei, dass mir meine seltsame Begeisterung für den britischen Lifestyle buchstäblich mit der Muttermilch eingegeben wurde.

Während des Zweiten Weltkriegs hatten die Briten ihren Einfluss an die Amerikaner abgegeben, die im Westen der Insel, auf Chaguaramas, ihre Militärbasen unterhielten. Die Ankunft meiner Mutter fiel in die Nachkriegszeit, in der die Lebenslust zusammen mit den Ölpreisen und der Prostitution explodierte. Zehn Jahre vor meiner Geburt sangen die Andrew Sisters ihren Song »Rum and Coca Cola«, der in einer neuen, Lord Invader abgekupferten Fassung um die Welt ging und das Klischee der lebenslustigen Kariben weiter vertiefte. Lord Invaders Version war wütender und trauriger gewesen, eine Anklage gegen die Prostitution, die durch die Stationierung der Yankees grassierte. Während die Andrew Sisters … and make Trinidad like paradise sangen, hatte es bei Lord Invader noch geheißen … and they give them a better price. Welche Version meine Mutter gehört hat, die anklagende oder die geglättete, und welche ihr mehr im Ohr geblieben ist, weiß ich nicht. Bestimmt sind ihr aber die zahllosen Diskussionen und Prozesse nicht entgangen, die sich um die Songrechte rankten und die nebenbei Einblick in die koloniale Abhängigkeit der Insel gaben. Der ursprüngliche Song war eine Erfindung der Inselcalypsonians, wie auch der Rum, den man seit der Ankunft der Yankees nun mit Coca Cola mischte. Meine Mutter, die sich schnell mit den Sitten und Bräuchen der Insel vertraut machen musste, hat Rum and Coca Cola