Tachyon - Brandon Q. Morris - E-Book
SONDERANGEBOT

Tachyon E-Book

Brandon Q. Morris

0,0
14,99 €
Niedrigster Preis in 30 Tagen: 14,99 €

-100%
Sammeln Sie Punkte in unserem Gutscheinprogramm und kaufen Sie E-Books und Hörbücher mit bis zu 100% Rabatt.
Mehr erfahren.
Beschreibung

Ein faszinierendes Space-Epos vom erfolgreichen Hard-SF-Autor Brandon Q. Morris Talut Forest ist Waldarbeiter auf dem Planeten Terra Nova, wo sich das Leben in den Kronen der zwanzig Kilometer hohen Bäume abspielt. Eines Tages unterläuft Talut bei der Arbeit ein Fehler, der zu seiner Entlassung führt. Ihm bleibt keine Wahl, als sich für ein Himmelfahrtskommando einzuschreiben. Das Ziel der Mission: ein Artefakt auf der unerforschten Oberfläche zu untersuchen, wo tiefe Dunkelheit herrscht. Doch von Anfang an läuft alles schief. Und während Talut darum kämpft, seine Familie wiedersehen zu dürfen, beeinflusst er damit unwissentlich das Schicksal der gesamten Menschheit … Die Serie Tachyon ist ein dreiteiliges Abenteuer über eine außerirdische Bedrohung

Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:

EPUB
MOBI

Seitenzahl: 662

Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.



Brandon Q. Morris

Tachyon

Das Schiff

Roman

 

 

Über dieses Buch

 

 

Talut Forest ist Waldarbeiter auf dem Planeten Terra Nova, wo sich das Leben in den Kronen der zwanzig Kilometer hohen Bäume abspielt. Eines Tages unterläuft Talut bei der Arbeit ein Fehler, der zu seiner Entlassung führt. Ihm bleibt keine Wahl, als sich für ein Himmelfahrtskommando einzuschreiben. Das Ziel der Mission: ein Artefakt auf der unerforschten Oberfläche zu untersuchen, wo tiefe Dunkelheit herrscht. Doch von Anfang an läuft alles schief. Und während Talut darum kämpft, seine Familie wiedersehen zu dürfen, beeinflusst er damit unwissentlich das Schicksal der gesamten Menschheit …

Die Serie:

Band 1: Tachyon. Die Waffe

Band 2: Tachyon. Das Schiff

Band 3: Tachyon. Der Planet 

 

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Biografie

 

 

Brandon Q. Morris ist Physiker und beschäftigt sich beruflich und privat schon lange mit Weltraum-Themen. Er wäre gern Astronaut geworden, musste aber aus verschiedenen Gründen auf der Erde bleiben. Sein Ehrgeiz ist es deshalb, spannende Science-Fiction-Geschichten zu erzählen, die genau so passieren könnten.

 

Weitere Informationen finden Sie auf www.fischerverlage.de

Inhalt

Motto

13. Hatur 225, Terra Nova

9. Oktober 2802, Erdmond

14. Hatur 225, Terra Nova

10. Oktober 2802, Erdmond

4. Oktober 2802, Sirius Ab

16. Hatur 225, Terra Nova

11. Oktober 2802, Erdmond

5. Mai 2790, Ægir

11. Oktober 2802, Erdmond

17. Hatur 225, Terra Nova

12. Oktober 2802, Enceladus

25. Oktober 2802, Erdmond

13. Oktober 2802, Neomars

26. Oktober 2802, Erdmond

18. Hatur 225, Terra Nova

14. Oktober 2802, »CS Dreamtime«

27. Oktober 2802, Erdmond

19. Hatur 225, Terra Nova

25. Oktober 2802, Ceres

20. Hatur 225, Terra Nova

27. Oktober 2802, Skyring

21. Hatur 225, Terra Nova

28. Oktober 2802, Erdmond

22. Hatur 225, Terra Nova

29. Oktober 2802, Erdmond

23. Hatur 225, Terra Nova

30. Oktober 2802, Erdmond

24. Hatur 225, Terra Nova

31. Oktober 2802, Erdmond

2. November 2802, Skyring

25. Hatur 225, Terra Nova

19. August 2807, Erdmond

26. Hatur 225, Terra Nova

12. März 2864, Erdmond

22. Paopi 225, Terra Nova

12. März 2864, Erdmond

28. Hatur 225, Terra Nova

Nachwort des Chronoskribenten

Die lokale Wolke – der Reiseführer

Welche Ziele Sie in der Lokalen Wolke erwarten

Wie unsere Nachbarschaft aussieht

Die Lokale Flocke

Nachwort des Autors

Alles Wissen ist lokal, alle Wahrheit unvollständig.

Keine Wahrheit kann eine andere widerlegen.

Jede Erkenntnis ist Teil der Gesamtkenntnis.

Hat man das Muster einmal durchschaut, betrachtet man das Bruchstück nie mehr als das Ganze.

Ursula K. Le Guin, Four Ways to Forgiveness

13. Hatur 225, Terra Nova

»Mist, Mist, Mist!«, schrie Talut.

Der Sammler stürzte krachend in die Wurzelebene. Der Gurt schnitt ihm in die Schultern. Talut hielt sich schützend die Arme vor die empfindliche Gesichtsmaske, bis der Sammler wieder stabil stand. Wie viel Zeit hatte er? Er hörte das Knacken schon. Das trockene, tote Holz würde den Sammler nicht halten können. Er trat mit aller Kraft auf den Antriebshebel, und das Kettenfahrzeug machte einen Sprung nach vorn. Fast im selben Moment kippte es nach rechts. Talut prallte mit dem Kopf gegen den linken Holm.

Mist. Gestern war die Abkürzung noch völlig sicher gewesen. Seit wann formten sich Gletscherspalten über Nacht? Der Sammler rollte rückwärts, obwohl Talut mit voller Kraft beschleunigte. Die Ketten drehten einfach durch, frästen das trockene Holz unter ihnen zu Staub, der ihm beißend in die Augen stieg.

Jetzt bloß kein Funke. Die dichte Kohlendioxidatmosphäre verhinderte normalerweise jeden Brand. Aber hier unten in den Eingeweiden des Planeten produzierten Algen aus Wärme Sauerstoff, der sich anreicherte, bis irgendwann ein Dummkopf wie Talut die Oberfläche aufriss. Zusammen mit dem fein verteilten Holzstaub musste das eine explosive Mischung ergeben. Dummkopf. Das richtige Stichwort. Der Sammler wurde gnadenlos nach hinten gezogen, in die Tiefe, und wovon? Vom Sammeltank. Er musste ihn unbedingt loswerden, auch wenn die anderen ihn verfluchen würden. Immerhin war er halb voll. Sie würden die Arbeit der letzten drei Tage einbüßen, wenn er nicht …

Scheiß drauf. Er drückte den Knopf, der die Arretierung löste. Talut hörte ein Quietschen, das in heftiges Knacken überging. Der Tank musste umgekippt sein. Er stellte sich vor, wie der zähflüssige Inhalt langsam nach vorn schwappte, das Gewicht des zylinderförmigen Tanks verlagerte, der ins Rollen geriet und … Verflixt! Wenn der Tank von der Ebene fiel, auf der er mit dem Sammler gelandet war, würde sie nachfedern. Das Fahrzeug war leicht im Vergleich zum Tank. Er musste schnellstens hier raus. Talut nahm die Füße von den Lenkhebeln, löste den Gurt, riss die Tür auf und sprang.

Er landete auf einem morschen Blatt. Wo war der Stamm? Die Ebenen wurden nur von den mächtigen Stämmen der Altmütter durchbrochen, der uralten Bäume, die kilometertief bis zur eigentlichen Oberfläche des Planeten reichten, einem Ort, den so weit im Norden noch nie ein Mensch betreten hatte. Bei einem Stamm wäre Talut sicher. Kein Sturm, kein Erdbeben konnten eine Altmutter merklich ins Schwanken bringen, nicht einmal zum Zittern. Man baute Raumhäfen, indem man die Fläche zwischen drei Stämmen mit Plastconcrete überzog. So etwas hielt Jahrhunderte.

Aber wo befand sich der verdammte Stamm? Talut drehte am Steuerrad der Infrabrille, die das für einen Roten Zwerg typische Wärmelicht der Sonne verstärkte. Es war ein primitives Instrument, denn es musste absolut robust sein. Ohne Infrabrille gab es auf der Krone nur matte Farben, eine deprimierende Mischung mit minimalem Kontrast, und hier im Gezweig nur Grau. Da! Eine rötliche Mauer, hundert Meter breit, nur ein paar Schritte vor ihm. Er rannte los und stürzte. Sein rechter Stiefel hatte das Blatt durchbohrt, auf dem er stand, und die zähen Fasern hielten ihn fest.

Er hatte aber auch ein Pech, ausgerechnet jetzt eine Nestie zu erwischen. Nestie, das klang so harmlos. Die Pflanzen bauten Nester aus ihren eigenen Blättern und versuchten, darin Nahrung zu fangen. Sie rechneten mit anderen, mobilen Pflanzen, aber manchmal erhaschten sie auch Menschen. Nestien waren in der Krone zwar selten geworden, weil sich die Menschen an ihnen gerächt hatten. So selten, dass die Terraunion sie unter besonderen Schutz gestellt hatte. Doch hier, in den Tiefen des Gezweigs, schienen sie Asyl gefunden zu haben.

Talut riss das Abwehrspray aus der Hosentasche. Er hätte seinen Stiefel zwar nur ausziehen müssen, aber er wollte ihn auf keinen Fall einbüßen. Was würde seine Frau sonst sagen? Da kam die Welle. Der Tank musste endgültig von den Hauptästen dieser Ebene gestürzt sein, und sie federten nach. Die Bewegung schleuderte Talut in die Luft. Dass er nicht in hohem Bogen davonflog, verhinderte nur der feste Griff der Nestie um seinen Fuß. Er musste der Pflanze dankbar sein, wenn sie auch aus eigenen Motiven gehandelt hatte. Schnell besprühte er die Fasern, die ihn hielten. Es britzelte und rauchte, als sie sich auflösten. Er bekam ein schlechtes Gewissen. Ob die Nestie Schmerzen litt? Bestimmt. Und doch war er froh, denn sein Stiefel sah wie neu aus. Das Spray griff direkt die Zellbindungen der Pflanzenfasern an.

[ ]

 

Vorwärts! Er sprang auf, orientierte sich an der Zentralachse des riesigen Blattes und erreichte so den Stamm. Jetzt brauchte er bloß noch den Weg nach oben zu finden. Das war der schwierige Teil, denn das Diamantholz trug seinen Namen zu Recht. Es war glatt, und mit Taluts Mitteln war es völlig unmöglich, irgendetwas hineinzubohren. Immerhin gingen Äste vom Stamm ab. Talut musste sich von Ast zu Ast schwingen wie ein Mockzilla. Diese Tiere lebten in den mittleren Ebenen des Gezweigs, hielten sich aber normalerweise von den Menschen fern.

Talut lief um den Stamm herum. Bei hundert Metern Durchmesser brauchte er dafür knapp drei Minuten. Danach hatte er drei brauchbare Äste identifiziert, von denen ihn aber keiner in eine höhere Ebene bringen würde. Blöd. Der Sammler war mindestens drei Ebenen tief gestürzt. Jede Ebene war etwa dreißig bis fünfzig Meter hoch. Seine Freunde waren also gerade einmal hundert Meter über ihm und trotzdem unerreichbar.

Er musste sich einen anderen Stamm suchen. Uff. Das war gefährlich. Natürlich gab es Querverbindungen zwischen den Altmüttern, aber je weiter er sich von einem Stamm entfernte, desto unsicherer wurde es. Die Äste waren morsch und brachen schnell. Er war zwar nicht so schwer wie der Sammler, doch man konnte den Blättern nicht ansehen, wie stabil sie noch waren. Manche würden nicht einmal mehr eine Speratte aushalten.

Talut rutschte mit dem Rücken am Stamm herunter, bis er auf dem Boden saß. Das alles war nur passiert, weil er verschlafen hatte. Nur deshalb hatte er die Abkürzung gewählt, statt auf der Plastconcrete-Straße zu bleiben. Den Weg mitten durch das gesetzlich vorgeschriebene Schutzgebiet war er schon oft gegangen – zu Fuß. Dabei war er ihm so stabil vorgekommen, dass der Sammler es seiner Meinung nach ebenfalls schaffen musste. Ohne den Tank hätten die anderen auch nicht rechtzeitig mit ihrer Arbeit beginnen können.

Ob schon jemand nach ihm suchte? Vielleicht war es ja besser, wenn er einfach sitzen blieb. Irgendwann würden sie jemanden zu ihm nach Hause schicken, der auch die Abkürzung nehmen und die neue Gletscherspalte bemerken würde. Es krachte. Talut sah sich um, aber das Geräusch kam von oben.

»Aiaiai!«, rief jemand.

Das hörte sich nicht nach einer Rettungsmission an. Talut sprang trotzdem auf.

»Ich bin hier«, rief er.

Er erhielt keine Antwort, sah aber, wie ein heller Fleck herabfiel. Es war ein Mensch, der da mit den Armen fuchtelnd auf ihn zukam.

»Hilfe!«, rief der Mann, der offenbar immer wieder erfolglos versuchte, sich irgendwo festzuklammern.

Talut schätzte ab, wo er auftreffen würde, und lief ihm entgegen. Krachend prallte der Mann auf dem Blatt auf, auf dem Talut stand. Er geriet ins Schwanken und fiel auf die Knie. Gleichzeitig griff er nach dem anderen. Er erwischte einen Fuß, der plötzlich sein Gewicht verdoppelte. Offenbar stürzte der Mann jeden Augenblick in die nächste Ebene. Talut zog mit allen Kräften, bis er nach hinten fiel. Seine Infrabrille verrutschte. Er hatte einen leeren Stiefel in der Hand.

Er wartete auf weitere Sturzgeräusche, aber es blieb ruhig. Da hörte Talut schweres Atmen.

»Danke«, sagte der Mann. »Das war ja Rettung in letzter Sekunde.«

Petros. Jetzt erkannte er ihn.

»Mann, Petros, was machst du denn hier unten?«, fragte Talut.

Er rückte die Infrabrille wieder gerade. Ja, kein Irrtum möglich. Petros lag direkt vor ihm auf dem Boden und hielt sich den Bauch. Talut kroch zu ihm. Das Gesicht seines Kollegen war schmerzverzerrt.

»Ich … sollte dich abholen«, stieß Petros stöhnend hervor.

»Pssst, sag am besten gar nichts. Lass mal sehen, was du da am Bauch hast.«

Petros reagierte nicht, also griff Talut nach seinen Händen und schob sie vorsichtig beiseite. Er erschrak. Darunter war das harte Ende eines Zweiges zu sehen.

»Diamantholz«, sagte er. »Immerhin ist es keimfrei.«

»Krch-krch«, gab Petros von sich.

Talut konnte sich nicht entscheiden, ob es belustigt oder gequält klang. Aber Petros war jemand, der an jeder Situation etwas Positives fand. Solche Leute konnte Talut eigentlich nicht ausstehen, doch Petros war so herzlich und nett, dass er ihm überhaupt nichts übel nehmen konnte. Talut tastete die Wunde ab. Sie war überraschend trocken. Er hatte eine starke Blutung erwartet. Vielleicht lag es daran, dass Petros einen ausgeprägten Bauch hatte, so groß, als wäre er im neunten Monat schwanger.

»Ich glaube, dein Bauch hat dich gerettet«, sagte Talut.

»Wusste, dass er … zu was gut is«, presste Petros heraus.

Offensichtlich litt er heftige Schmerzen. Seine inneren Verletzungen waren vielleicht schlimmer, als es den Anschein hatte. Er brauchte dringend Hilfe.

»Kannst du aufstehen?«, fragte Talut.

Petros schüttelte den Kopf. Das hatte er vermutet. Talut wischte ihm den Schweiß von der Stirn und rückte ihm die Atemmaske zurecht. Er musste Hilfe holen, und zwar schnell. Petros war seinetwegen abgestürzt, auch wenn ihm sein Kollege nie entsprechende Vorwürfe machen würde.

Talut stand auf. »Ich hole Hilfe. Bleib hier und rühr dich nicht.«

»Kein Problem«, ächzte Petros. »Bekomm ich hin.«

[ ]

 

Die nächste Altmutter war einen halben Kilometer entfernt. Talut balancierte über riesige Blätter und uralte Zweige, immer wieder nur einen falschen Handgriff vom Sturz in die nächste Ebene entfernt. Daran würde er vermutlich nicht sterben, aber ob er dann je in diese Ebene und zurück zu Petros finden würde, war zweifelhaft.

Talut schaffte es. Ein letzter, großer Sprung. Der Ast federte, Talut stürmte voran und erreichte den Baum. Er lehnte sich mit der Vorderseite an den Stamm und breitete die Arme aus. Wenn er von hier aus aufsteigen konnte, wären sie beide gerettet.

Aber auch dieser Stamm besaß keine geeigneten Äste. Vielleicht war er tiefer gestürzt als gedacht. Es sollte einen Bereich geben, in dem das Gezweig so dünn und morsch war, dass man gar nicht mehr zwischen den Ebenen klettern konnte. Da unten liefen angeblich die verirrten Seelen von Menschen umher, die sich selbst das Leben genommen hatten.

Talut setzte sich vor den Stamm, und zwar so, dass er ihn betrachten konnte. Er brauchte ein paar Minuten Pause, obwohl er wusste, dass Petros auf ihn wartete. Plötzlich fiel ein Blatt neben ihm zu Boden. Er nahm es auf. Es war ziemlich klein und frisch, musste also aus der Krone kommen. Die Krone, das war die oberste Schicht des Altmutter-Urwalds, der die gesamte Landfläche des Planeten bewuchs. Dort lebten die Menschen und neun Zehntel der bekannten Tierarten.

Wenn etwas von dort herabfallen konnte, musste es eine Verbindung geben.

»Hallo! Hört mich jemand? Hilfe!«, rief Talut.

Keine Antwort. Stattdessen landete ein weiteres Blatt neben ihm. Er hob es auf. Es hatte Bissspuren. Irgendein Tier musste daran geknabbert haben.

»Hallo! Seid ihr das, Kollegen? Ich bin hier, direkt unter euch!«

Niemand reagierte. Es fiel auch kein weiteres Blatt herab. Woher waren die anderen beiden gekommen, wenn nicht von ganz oben? Er fokussierte die Infrabrille und fand einen hellen Fleck, der auf einem Ast über ihm saß. Es war ein Tier, ungefähr von der Größe eines Mockzillas. Er hatte keine Ahnung, wie die Tiere wirklich hießen. Hier nannte man sie Mockzilla, weil sie wie Miniaturversionen der legendären japanischen Giganten aussahen. Es waren tatsächlich Echsen, die gern auf zwei ihrer insgesamt sechs Beine liefen.

»He, Mockzilla!«, rief er.

Das Tier zischte. Die Mockzillas waren etwa so groß wie irdische Hunde. Sie stellten keine echte Gefahr dar. Mit ihrem Schwanz konnten sie hervorragend klettern, benutzten ihn aber auch, um kleinere Beute zu fangen. Es war noch nie vorgekommen, dass ein Mockzilla einen Menschen angefallen hatte. Allerdings hieß es, dass sie sich gern von Aas ernährten. Vielleicht sah das Tier in ihm eine künftige Mahlzeit.

So nicht! Er griff in seine Hosentasche. Sein achtjähriger Sohn Luqa hatte ihm gestern ein paar Murmeln geschenkt, wofür er ihm im Gegenzug hatte versprechen müssen, heute nach der Arbeit mit ihm zu spielen. Er nahm eine der Murmeln in die Hand und warf nach dem Mockzilla. Das Tier zischte erneut, aber der kleine, helle Fleck verschwand.

Talut kam wieder auf die Beine. Vielleicht half es, noch einmal um den Baum herumzulaufen. Er machte sich zwar keine großen Hoffnungen, doch er konnte ja etwas übersehen haben. Aua! Er war auf etwas draufgetreten. Talut bückte sich. Es war eine Murmel. Er betrachtete sie. Sie war genauso groß wie die, die er eben nach dem Tier geworfen hatte. Hatte er es verfehlt, und sie war irgendwo abgeprallt und zu ihm zurückgeflogen? Dann würde er wenigstens Luqa nicht Rede und Antwort stehen müssen, falls er es je nach Hause schaffte.

Er sah sich um. Die nächste Altmutter war 800 Meter entfernt. Das machte den Weg dorthin besonders gefährlich. Je länger ein Ast wurde, desto zerbrechlicher war er. Aber was war das? Ein paar Meter vor ihm saß der Mockzilla. War es wirklich dasselbe Tier? Wie war es nach unten gekommen? Konnten Mockzillas so weit springen? Talut blieb stehen. Das Tier bewegte sich ein paar Schritte rückwärts. Es schien sehr neugierig zu sein. Normalerweise suchten Mockzillas schon das Weite, wenn sie einen Menschen auch nur bemerkten.

Talut ging in die Hocke. Vielleicht wirkte er so weniger bedrohlich. Er nahm die Murmel in die Finger und zeigte sie mit einer deutlichen Geste vor. Ob das Tier sie sehen konnte? Er hatte keine Ahnung, über welches Sehvermögen Mockzillas verfügten. Talut ließ die Kugel vorsichtig in Richtung seines Gegenübers rollen. Er gab ihr nur so viel Schwung, dass sie vor dem Tier liegen bleiben musste.

Aber die Murmel wurde immer schneller. Er hatte nicht bedacht, dass die Strecke leicht abschüssig war. Als sie den Mockzilla erreichte, schnellte dessen linker Fuß ein Stück nach vorn und fing die Kugel ein. Anschließend zeichnete der Fuß einen schwungvollen Bogen auf den Untergrund und ließ die Kugel im richtigen Moment los. Sie kam genau auf Talut zu und hatte exakt so viel Momentum, dass sie kurz vor ihm zum Stillstand kam. Bevor sie wieder zurückrollen konnte, nahm Talut sie an sich. Das Tier legte den Kopf schräg und zischte. Es klang fast wie ein Lachen.

»Schlaues Kerlchen«, sagte Talut. »Wenn ich dich mit nach Hause nehmen könnte, wäre Luqa glücklich.«

Sein Sohn hatte sich schon lange ein Geschwister oder ersatzweise ein Haustier gewünscht, aber seine Mutter hatte beides abgelehnt, weil sie es sich nicht leisten konnten. So einträglich war Taluts Arbeit nämlich nicht; die Samenflüssigkeit der Elkpflanzen, die die Sammlerfahrer ernteten, war zwar auf anderen Planeten sehr teuer, aber hier war sie kaum mehr wert als Trinkwasser. Und auch Kasrins Job brachte nicht übermäßig viel ein. Doch zu dritt kamen sie gut über die Runden.

Das Tier zischte und kam ein paar Schritte näher. Talut schüttelte den Kopf. Während er sich mit dem Mockzilla beschäftigte, starb vielleicht sein Kollege. Er musste nach oben, und zwar so schnell wie möglich. Er hob den Arm und tat so, als würde er die Murmel werfen. Der Trick funktionierte wie bei einem Hund. Der Mockzilla rannte in die Wurfrichtung. Und wie er rannte! Er ging auf alle sechs Beine und stürmte davon, bis Talut ihn nicht mehr sah. Er wollte gerade wieder aufstehen, als er das bekannte Zischen hörte. Diesmal kam es von etwas weiter links. War er etwa in der Geschichte von dem Hasen und dem Igel gelandet? Handelte es sich um dasselbe Exemplar oder um dessen Freund? Hatten sie sich zusammengetan, um ihn zu veralbern?

Talut konnte keinen Unterschied erkennen, aber das bedeutete in der Dunkelheit nicht viel. Er seufzte. Das führte doch zu nichts. Dann fiel ihm ein, wo er das Tier zum ersten Mal gesehen hatte. Es hatte vierzig Meter über ihm gesessen. Also musste es einen Weg hier herunter geben. Und wenn es ihn gab, führte er auch wieder hinauf. Talut stand auf. Das Tier zischte, als wollte es ihn davor warnen, es erneut zu vergackeiern.

Talut holte aus und warf die Murmel hoch. Ha! Sie kam nicht zurück, also musste sie oben gelandet sein. Er starrte auf den Mockzilla. Der sah kurz nach oben, dann rannte er davon. Talut versuchte, Schritt zu halten, hatte aber keine Chance. Immerhin bemerkte er noch, dass das Tier erst halb um die Altmutter gerannt war und danach den Übergang zu einem anderen Baum gewagt hatte. Wenn, dann musste es also dort einen Weg nach oben geben.

Vorsichtig lief er dem Mockzilla hinterher. Er musste aufpassen, denn es war nicht gesagt, dass der Weg, den das Tier genommen hatte, auch für ihn geeignet war. Er war bestimmt dreimal so schwer wie ein Mockzilla. Das Blatt, auf dem er sich bewegte, reagierte auf jeden seiner Schritte. Talut ging auf die Knie, um sein Gewicht besser zu verteilen. Der gegenüberliegende Stamm kam näher und näher. Noch ein paar Meter. Plötzlich griff seine linke Hand ins Nichts. Mist. Er legte sich auf den Bauch und robbte eine Armlänge nach vorn. Dort setzte sich das Blatt fort. Es war wohl eingerissen. Oder? Er tastete den Riss ab. Sein Rand war klebrig. Das hatte er befürchtet. Er befand sich im Revier eines Baumhais. Die Tiere hießen wegen ihres kräftigen, haiartigen Gebisses so. Sie jagten, indem sie eine süße, klebrige Substanz absonderten, die Kleintiere anlockte. Sobald das Buffet gedeckt war, bissen sie einfach ihr Lockmittel mitsamt der Beute vom Blatt ab. Es gab nur wenige Tiere, die in der Lage waren, Altmutter-Blätter zu beschädigen.

Schnell weg hier. Talut atmete tief durch. Menschen gehörten zwar nicht zum Speiseplan des Baumhais. Er durfte dennoch nicht unvorsichtig werden. Langsam kroch er weiter. Das Blatt reagierte jetzt nicht mehr so empfindlich. Hatte er es geschafft? Er rollte sich hin und her, schaffte es aber nicht, seine Unterlage mitzudrehen. Offenbar hatte sich das Blatt über ein größeres Blatt des nächsten Baumes geschoben. Plötzlich hörte er ein Zischen. Der Mockzilla war wieder da! Seine roten Augen glühten ein paar Schritte vor ihm. Talut glaubte, die senkrecht stehenden Pupillen erkennen zu können. Talut ging wieder auf alle viere. So kam er schneller vorwärts. Der Mockzilla lief ihm in respektvollem Abstand voraus, als würde er ihm den Weg zeigen. Die Murmel hielt das Tier mit dem mittleren Beinpaar.

Die nächste Altmutter maß im Durchmesser nur etwa vierzig Meter. Es musste ein junges Exemplar sein, schätzungsweise zwanzigtausend Jahre alt. Hier waren die Zweige noch optimal verteilt. Erst später verloren die Bäume einen Teil ihrer Äste. Der Mockzilla zischte und legte die Murmel direkt an den Stamm. Talut ignorierte sie und machte sich sofort an den Aufstieg. Ob der Mockzilla schlau genug war, die Murmel als Belohnung für seine Dienste zu betrachten? Talut hatte noch genügend davon in der Hosentasche, und sein Sohn konnte auf eine verzichten.

9. Oktober 2802, Erdmond

»Was machst du denn hier?«, fragte Zahir.

Der Hausmeister hatte die Arme vor dem Bauch verschränkt. In seine Stirn hatte sich eine tiefe Falte gegraben.

»Ich … ich arbeite. Wie jeden Tag«, sagte Kang verwundert und legte das Holomodul beiseite, dessen Linse er gesäubert hatte.

»Hat dir niemand gesagt, dass Smith dich sehen will?«

Smith? Diesen Allerweltsnamen konnte er nicht zuordnen. Ein neuer Wissenschaftler?

Kang schüttelte den Kopf. »Nein. Ich habe allerdings auch den Nicht-stören-Modus eingeschaltet.«

»Hm, hm.«

Zahir bewegte den Unterkiefer, als würde er kauen. Dann schluckte er.

»Jedenfalls soll ich dich sofort zu Smith schicken«, sagte er mit mürrischem Ton.

»Smith? Tut mir leid, wer …«

»Du kennst Smith nicht? Der Mann vom Geheimdienst der Terraunion. Selbst Ulita kuscht vor ihm.«

Da wurde eine vage Erinnerung wach. Yini hatte erzählt, dass ein seltsamer Typ ihr komische Fragen gestellt hatte. Aber seinen Namen hatte sie nie genannt, jedenfalls nicht, soweit er sich erinnern konnte. Und wer wusste schon, ob dieser Smith wirklich so hieß.

»Und wo soll ich ihn treffen?«, fragt er.

»In Ulitas Büro. Wo das ist, weißt du aber?«

»Natürlich.«

Pflichtschuldig stand Kang auf, ging zur Tür und griff nach der Klinke. Dabei spürte er Zahirs Blick im Nacken. Der alte Mann hatte ihn noch nie so angesehen. So … missbilligend.

»Warte Mal, Junge.«

Er ließ die Klinke los und drehte sich halb um. »Was ist?«

»Was hast du denn mit Smith zu schaffen?«

Schweiß sammelte sich auf seiner Stirn und unter den Achseln. So warm heizte der Hausmeister sein Büro sonst eigentlich nie.

»Ich? Nichts. Ich kenne ihn ja nicht einmal.«

Das war nicht gelogen. Er hatte nicht gewusst, wo seine Nachricht landen würde. Es war dumm gewesen. Dabei wollte er doch nur, dass jemand das Schiff aufhielt, mit dem Yini den Mond zu verlassen versuchte.

»Anscheinend kennt er dich«, sagte sein Chef.

»Wissen Sie etwas, das ich nicht weiß?«, fragte Kang.

»Ich mache mir bloß Sorgen«, antwortete Zahir. Die tiefe Falte auf seiner Stirn zog sich zurück, was seinem Gesicht die gewohnte Sanftmut zurückgab. »Mit Smith musst du vorsichtig sein. Der verschluckt dich mit Haut und Haaren.«

»Danke. Ich passe auf«, sagte Kang und konnte dabei nicht verhindern, dass seine Stimme bebte.

[ ]

 

Die Tür zu Ulitas Vorzimmer stand offen. Kang trat hindurch. Pedersen, der sonst den Eingang bewachte, war nicht da. Der Raum war leer. Es roch nach Pfefferminz. Ulitas Sekretär hatte wohl kürzlich erst Tee gekocht. Kang sah sehnsüchtig auf die Kanne. Konnte Herr Pedersen nicht einfach auftauchen und ihm eine Tasse Tee anbieten? Dann würden sie über den bevorstehenden Mondfeiertag plaudern oder die geplante Neugestaltung des Raumhafens diskutieren.

»Nun kommen Sie schon«, schallte es dumpf von der Tür, die zu Ulitas eigentlichem Büro führte.

Kang nickte, als müsste er sich bei den nicht Anwesenden entschuldigen, und durchquerte den Raum. Er wollte gerade klopfen, als ihm die Tür bereits entgegenschwang. Kang konnte gerade noch zur Seite springen.

»Hoppla«, sagte jemand.

Das musste Smith sein. Jetzt erinnerte er sich. Kang hatte ihn doch schon einmal gesehen. Der Mann trug noch immer dieselbe Uniform, die ihn als Marineangehörigen auswies. Er schien aber gewachsen zu sein. Heute maß er bestimmt zwei Meter.

»Sie haben recht«, sagte Smith. »Ich bin größer als beim letzten Mal.«

Er konnte Kangs Gedanken lesen. Ha, ein billiger Trick. Jeder hätte sich das gefragt. Kang nickte bloß.

»Ich komme gerade vom Neomars, wo eine gewisse Körpergröße hilfreich sein kann, und hatte noch keine Zeit, den Biobag zu wechseln.«

»Vor mir müssen Sie sich nicht rechtfertigen, Herr Smith«, sagte Kang.

Smith grinste. Er ging um Ulitas Schreibtisch herum und setzte sich auf den Stuhl dahinter. Kang erwartete, dass er auch ihm einen Platz anbieten würde, aber Smith machte keine Anstalten. Auch gut. In der geringen Mondgravitation war das Stehen nicht besonders anstrengend.

»Danke, dass Sie meiner Bitte gefolgt sind«, sagte Smith. »Ich will unser Treffen auch nicht unnötig in die Länge ziehen.«

»Es klang sehr dringend«, sagte Kang.

»Ich verstehe. Dann haben Sie sich bestimmt Sorgen gemacht, was ich von Ihnen wollen könnte. Dabei habe ich eine sehr angenehme Aufgabe: Ich darf Ihnen gratulieren.«

»Wozu?«, fragte Kang.

»Zu einer Belobigung. Sie haben uns durch Ihren Hinweis ermöglicht, einer wichtigen Person unbemerkt, sagen wir, zu folgen.«

Smith stand auf und reichte ihm über den Schreibtisch hinweg die Hand.

»Ich wollte doch bloß …«, begann Kang.

Aber es hatte keinen Sinn. Er musste sich eingestehen, dass er seine Schwester verraten hatte. Dann konnte er das Spiel auch gleich richtig mitspielen.

»Es war mir eine Ehre«, sagte er. »Ich habe es für die Terraunion getan.«

Er drückte die Hand des Uniformierten, die sich warm und fest anfühlte. Smith lachte.

»Ach, lassen Sie das doch. Sie haben uns den Tipp gegeben, weil Sie eifersüchtig waren. Das sage nicht ich, sondern unsere Psychologen, die den Fall untersucht haben. Mit Ihrer Abneigung gegen den Neomars hatte das nichts zu tun.«

Kang biss die Zähne zusammen. Wie hatte er nur so naiv sein können? Ein kleiner Tipp an die Polizei …

»Das kann man so nicht …«, versuchte er es.

»Doch, das kann man sagen«, unterbrach ihn Smith. »Es ist mir sogar lieber so. Eifersucht ist eine viel stärkere Motivation als Vaterlandsliebe. Was ist das denn überhaupt, die Terraunion? Seien wir doch ehrlich. Es ist ein loser Verbund von Welten, die ihre eigenen Zwecke und Motive stets voranstellen. Vielleicht kann man die Erde lieben oder den Neomars, aber doch nicht die Terraunion.«

Der Geheimdienstmann hatte recht. Wahrscheinlich war das Teil seiner Strategie. Je öfter Kang ihm – selbst widerwillig – zustimmte, desto schwächer wurde seine eigene Position. Smith erschien ihm jetzt wie eine riesige Spinne, die ihn in ihr Netz verstricken wollte. Obwohl er schwitzte, bekam er Gänsehaut. Er konnte Spinnen nicht ausstehen, auch wenn sie in der Mondbasis ein normaler Anblick waren. Zahir hatte ihm verboten, ihnen etwas anzutun.

Endlich ließ Smith seine Hand los. Kang atmete tief durch. Die Spinne zog sich zurück. War das etwa schon alles?

»Was ist eigentlich …?«

»Aus Ihrer Schwester geworden? Keine Sorge, es geht ihr sehr gut. Sie befindet sich an einem sicheren Ort, an dem ihr niemand etwas tun kann und wird. Das haben mir meine Ansprechpartner vom Neomars versichert.«

An einem sicheren Ort? Das klang ja eher nach einem Gefängnis. »Wo ist sie?«

»Diese Information darf ich leider nicht teilen, noch nicht. Aber Sie fragen gar nicht nach Ihrer Mutter?«

Seine Mutter. Er hatte sie bei seinem anonymen Hinweis gar nicht erwähnt. Woher wusste Smith von ihr? Kang schüttelte den Kopf. Das musste ein billiger Trick sein. Er hatte nur eine Mutter, und die lebte mit seinem Vater unbehelligt auf dem Skyring. In ein paar Wochen erwartete er ihren nächsten Besuch.

»Meine Mutter wohnt friedlich auf dem Skyring. Warum sollte ich nach ihr fragen?«

Smith verzog das Gesicht. Es sollte wohl so aussehen, als mache er sich Sorgen.

»Oh, mein Bester, die Frau, die Sie aufgezogen hat, ist nicht Ihre Mutter. Es tut mir leid, dass ich Ihnen das mitteilen muss.«

Auch Smiths Stimme hatte sich verändert. Sie triefte vor Mitleid, komplett gespielt, da war Kang sicher. Er wusste nur nicht, welchen Zweck der Agent verfolgte.

»Ich glaube Ihnen nicht«, sagte Kang und biss die Zähne zusammen.

Ihm wurde etwas schwindelig, also hielt er sich an der Arbeitsplatte von Ulitas Schreibtisch fest. Wäre sie jetzt hier gewesen, hätte er deshalb Ärger bekommen. Die Platte aus echtem Holz durfte außer ihr niemand berühren.

Smith störte das offenbar nicht. »Nun, wir haben ja Glaubensfreiheit, haha«, sagte er. »Das ist Ihre Sache. Ich will Ihnen trotzdem nicht vorenthalten, dass Ihre Schwester uns wie erwartet zu der Frau geführt hat, die wir für Ihre Mutter halten.«

Sein Griff um die Platte verstärkte sich. Er durfte sich keine Blöße geben. Smith wollte ihn demütigen, ihn erst kleinmachen, bevor er ihm gnädig wiederaufhelfen würde. Das durfte ihm nicht gelingen.

»Wie gesagt, das interessiert mich nicht«, sagte Kang.

»Das ist Ihre Sache. Dennoch möchten wir Ihnen vorschlagen, für uns zum Neomars zu fliegen. Natürlich nicht offiziell.«

Kang tat, als würde er ernsthaft darüber nachdenken. »Wie könnte das helfen?«, fragte er. »Vertrauen Sie Ihren Neomars-Kollegen denn nicht?«

»Vertrauen ist gut, Kontrolle ist besser. Darum wäre es gut, wenn jemand an besagtem Ort ein Auge auf Ihre Schwester und Ihre Mu… Verzeihung, diese Frau hätte. Man würde Ihnen sicher glauben, dass Sie als Flüchtling kommen. Schließlich haben Sie ein starkes Motiv, wenn Sie glaubwürdig behaupten, nach Ihrer Mutter zu suchen. Wir würden uns dafür sehr erkenntlich zeigen. Darauf können Sie sich verlassen.«

Smith wollte ihn als Spion anwerben. Aber warum sollte er darauf eingehen? Was sprang für ihn dabei heraus? Kang ließ die Tischplatte los und rieb sich demonstrativ nachdenklich die Schläfen.

»Ich komme einfach nicht darauf, warum ich auf Ihren Vorschlag eingehen sollte. Wie gesagt, meiner Mutter geht es gut, danke der Nachfrage. Wieso sollte ich mich mutwillig in Gefahr begeben?«

Smiths Lächeln gefror. Seine Reaktion hatte ihn offensichtlich überrascht.

»Wir hatten immer den Eindruck, dass Ihre Schwester und Sie … sich sehr gut verstehen. Es muss Sie doch schmerzen, dass sie so unerreichbar fern ist? Sie hätten die Möglichkeit, wieder auf sie aufzupassen, wie Sie es über all die Jahre getan haben.«

Auf Yini aufpassen? Kang musste sich ein Lächeln verkneifen. Wenn er ehrlich war, hatte seine Schwester immer auf ihn achtgegeben. Was hatte er nicht für Dummheiten angestellt! Smith hatte doch keine Ahnung. Aber er durfte ihn nicht unterschätzen. Vielleicht ging der Geheimdienstmann davon aus, dass er ein schlechtes Gewissen hatte. Schließlich hatte er seine Schwester alleingelassen, obwohl sie ihm immer geholfen hatte.

Scheiße. Damit hatte Smith leider recht. Aber Kang war trotzdem nicht so dumm, auf das vorgeschlagene Geschäft einzugehen. Dann hätte Smith ihn in der Hand. Gehorchte Kang nicht, würde ein Tipp an die zuständigen Neomars-Stellen genügen, um ihn für immer kaltzustellen.

»Nein, danke«, sagte Kang. »Es geht mir hier sehr gut. Yini ist erwachsen. Sie hat noch nie einen Aufpasser gebraucht.«

»Sie wollen wirklich allein hierbleiben, während Ihre Schwester sich auf dem Neomars in Gefahr bringt?«

»Ja, das will ich. Ich habe mein eigenes Leben. Wer soll sich denn um unsere Eltern kümmern, wenn ich ebenfalls verschwinde? Noch sind sie rüstig, aber irgendwann werden sie Hilfe brauchen.«

Das klang gar nicht schlecht. Kang glaubte sich beinahe schon selbst.

»Wir können Ihnen versichern, dass Ihre Eltern gut aufgehoben sind. Sie werden jegliche Unterstützung erhalten, die sie brauchen.«

»Von Fremden. Das ist doch etwas völlig anderes. Sie haben uns großgezogen und haben verdient, dass wir ihnen etwas zurückgeben. Wie ist es bei Ihren Eltern, Herr Smith? Würden Sie sie jahrelang alleinlassen wollen?«

»Ich habe kei… Meine Eltern spielen hier keine Rolle«, entgegnete Smith.

Er hatte ihn tatsächlich aus dem Konzept gebracht! Kang entspannte sich innerlich ein wenig. Smith war gar kein so harter Knochen, wie er sich gab. Seine Eltern waren offenbar eine Schwachstelle.

»Na gut. Gibt es sonst noch etwas, worüber Sie mit mir sprechen wollten?«, fragte Kang und trat einen Schritt vom Schreibtisch zurück.

Es roch nach Schweiß. War es sein eigener? Aus dem Vorzimmer waren leise Schrittgeräusche zu hören. Anscheinend war Pedersen zurückgekehrt.

»Nein, das war es auch schon«, sagte Smith. »Ich danke Ihnen für Ihre Zeit.«

»Tut mir leid, dass Sie umsonst hergekommen sind«, sagte Kang.

Smith schüttelte den Kopf. »Ich bin nicht nur Ihretwegen hier. Ehrlich gesagt sind Sie derzeit das geringste meiner Probleme.«

Ehrlich gesagt. Es war seltsam, aus dem Mund eines Geheimdienstmitarbeiters diese Worte zu hören. Aber sie klangen aufrichtig. Vermutlich war kein Mensch im Universum in der Lage, stets die Fassade aufrechtzuerhalten.

»Dann noch viel Erfolg«, sagte Kang, drehte sich um und verließ das Büro.

[ ]

 

Draußen stieß er beinahe mit Pedersen zusammen. Hatte der Sekretär etwa an der Tür gelauscht? Pedersen erbleichte und tat, als würde er die Pflanzen im Büro gießen wollen. Kang überzeugte sich davon, dass die Tür hinter ihm geschlossen war.

»Herr Pedersen, haben Sie eventuell eine Idee, wie ich möglichst schnell und unauffällig zum Neomars gelange?«, fragte er flüsternd.

Pedersen kam näher und schirmte den Mund mit einer Hand ab. »So wie Ihre Schwester?«

Kang nickte.

»So wie Ihre Schwester«, wiederholte Pedersen, diesmal als Feststellung. »Tut mir leid, da kann ich Ihnen nicht weiterhelfen. Zum Neomars wollte ich noch nie.«

Natürlich. Pedersen hatte ihm geholfen, auch wenn er es nicht ahnte. Wer hatte Yini den Transfer verschafft? Viele Menschen kannte seine Schwester auf dem Mond nicht. Ulita, ihre Chefin, hatte ihr bestimmt nicht geholfen. Zahir allerdings kam durchaus in Frage. Der Hausmeister kannte jeden, und alle kannten ihn. Er wusste sicher auch, wie man vom Mond verschwinden konnte. Aber würde er seine Position aufs Spiel setzen, indem er Yini half? Eher nicht. Damit blieb bloß noch dieser Mike aus der Abteilung für Sonstiges. Yinis neuer Freund, auch wenn sie sich geweigert hatte, ihm Genaueres darüber zu erzählen.

[ ]

 

»Was wollte der Mann denn eigentlich?«, fragte Zahir.

Sie saßen sich in einem großen Umkleideraum gegenüber, in dem sie die Schränke ausgetauscht hatten. Kang schwitzte. Es war eine anstrengende Arbeit, aber er war dankbar dafür, denn immerhin hatte sie sein Gedankenkarussell gestoppt.

»Er wollte, dass ich meiner Schwester hinterherfliege«, sagte Kang.

Zahir war absolut vertrauenswürdig. Kang hatte zwar keinerlei Beweis dafür, aber der Hausmeister wirkte einfach so, als würde er alle Geheimnisse mit ins Grab nehmen, die ihm im Lauf seines langen Lebens anvertraut worden waren.

»Zum Neomars?«, fragte Zahir.

Kang nickte. Hatte Zahir geraten, oder hatte er etwas von Yinis Plänen gewusst?

»Du hast dich geweigert.«

Er nickte erneut.

»Das war klug«, sagte Zahir. »Diese Leute geben nichts her. Sie nehmen nur.«

Kang fragte sich, welche persönlichen Erfahrungen Zahir mit dem Geheimdienst der Terraunion gesammelt haben mochte. Als Hausmeister der kompletten Station wäre er sicher eine interessante Informationsquelle.

»Nun frag schon«, sagte Zahir. »Ich sehe doch, dass es dich quält.«

»Haben Sie … Erfahrungen mit diesen Leuten?«

»Jede Menge. Ich war selbst mal einer von ihnen. Es war spannend, abenteuerlich. Bis ich …« Zahir brach ab.

Bis er? Kang betrachtete das Gesicht seines Vorgesetzten. Die dunklen, braunen Augen schimmerten eigentümlich. Er würde nicht nachfragen.

»Und die haben Sie entlassen?«, fragte er stattdessen.

»Ich weiß etwas, das besser unter der Decke bleibt. Es hat mir diesen Job hier gesichert – und mein Leben. Das ist der Deal.«

»Worum ging es da?«, fragte Kang, ohne eine Antwort zu erwarten.

Irgendwann hatte ihm Zahir einmal erzählt, dass er im Krieg gewesen war. Es konnte sich nur um den Marskrieg gehandelt haben, der mit der vollständigen Zerstörung der Kolonie geendet hatte. Sicher stammte sein Geheimnis aus dieser Zeit. In Kriegen ging es nie ganz sauber zu.

Zahir lachte. »Ich kann nur verraten, was du sowieso siehst: Mein Pfand verliert mit den Jahren nicht an Wert. Ich bin jetzt schon so lange auf dem Mond, und ich werde hier ganz gemütlich in meinem eigenen Bett sterben.«

»Kennen Sie einen Weg, wie ich zum Neomars komme? Also, ohne Smith.«

Zahir zog die Brauen hoch. »Du willst es auf eigene Faust versuchen?«

Kang nickte.

»Es tut mir leid, mein Junge. Es gefällt mir, dass du aktiv wirst, es hat ja lange genug gedauert. Aber helfen kann ich dir da nicht. Ich bin sicher, dass man mich nach wie vor beobachtet. Sie würden es mitbekommen.«

»Danke trotzdem, Zahir. Aber es gibt einen Weg?«

»Sicher gibt es den. Es gibt immer einen Weg. Du musst nur mit den richtigen Leuten sprechen. Deine Schwester hat es ja auch geschafft.«

[ ]

 

Sein Rücken schmerzte. Kang drückte die Schultern durch. Er sollte mehr trainieren, dann fielen ihm solche Umzüge auch nicht mehr so schwer. Es war später als sonst geworden. In den Gängen, die er durchquerte, traf er kaum noch andere Menschen. Er hörte ein Rascheln. Ein hellbraunes Etwas erschien in einer Lüftungsöffnung, streckte seine schwarz glänzende Nase heraus, schnüffelte und rannte über den Gang bis zur nächsten Öffnung. Das Tier hatte einen langen Schwanz, war aber kaum größer als eine Maus. Kang lächelte. Es gab immer einen Weg. Yini hatte es ja auch geschafft.

Er musste wohl in den sauren Apfel beißen und mit diesem Mike sprechen. An der nächsten Kreuzung bog er in Richtung der Abteilung für Sonstiges ab.

[ ]

 

»Wer ist da?«, fragte eine hohe Stimme.

»Hier ist Yinis Bruder«, antwortete Kang.

Die Tür öffnete sich quietschend.

»Sie … du solltest die Scharniere ölen lassen«, sagte Kang.

Wilson war der Freund seiner Schwester, also waren sie ja quasi verschwägert.

»Was kann ich für dich tun?«, fragte Wilson.

Was fand Yini bloß an dem Mann? Er hatte die vierzig auf jeden Fall überschritten. Der Zugwind, der durch die offene Tür wehte, fuhr in seine langen Haare, die am Scheitel schon dünn wurden. Die Haut war bleich, vermutlich ließ Wilson die medizinisch vorgeschriebenen Termine zur UV-Bestrahlung ausfallen. Der Anzug, den er unter dem schmutzigen Kittel sah, wirkte alt und abgetragen. Die Krawatte war fest geschlossen, obwohl Wilson sicher selten Besuch bekam. Ein seltsamer Mann, und doch hatte seine Schwester ihn ins Herz geschlossen. Da er ihre Kompetenz in Sachen Menschenkenntnis anerkannte, beschloss er, Wilson eine Chance zu geben, obwohl er ohne seine Genehmigung mit seiner Schwester schlief.

»Was …?«, fragte Wilson erneut.

»Ich bin Kang.«

»Ja, Yinis Bruder. Das sagtest du schon.«

»Hm?« Der Ton des Mannes gefiel ihm nicht.

»Ich kenne dich. Du warst schon öfter hier, mit Zahir, um etwas zu reparieren. Zuletzt habt ihr euch um die Tiefkühllagerung gekümmert.«

Wilson hatte recht. Das musste etwa ein halbes Jahr her sein. Kang konnte sich nicht erinnern, dass sie hier damals jemanden getroffen hatten. Aber es hatte sich um dieselbe Abteilung gehandelt. Wilson musste ihnen über den Weg gelaufen sein. Er war ihm bloß nicht aufgefallen, vielleicht, weil er wie Inventar wirkte, das man in einer Abteilung für Sonstiges eben erwartete.

Er musterte ihn von oben bis unten. Wilson besaß ein sympathisches Gesicht mit kleinen Grübchen. Er hatte sich bestimmt drei Tage lang nicht rasiert, und der Kragen des weißen Hemdes wirkte grau. Der Kittel hatte diverse Spritzer abbekommen, die aber schon älter zu sein schienen. Wilson trug schwarze Schuhe mit einer dicken Staubschicht. Zumindest das Äußere schien nicht der Grund zu sein, warum Yini sich in ihn verliebt hatte.

»Kann ich dir helfen, Kang?«, fragte Wilson.

»Du erinnerst dich an meinen Namen?«

»Schon, ja, aber du hast ihn auch gerade genannt.«

»Ah, ich dachte, Yini hätte von mir erzählt.«

»Hat sie auch. Aber nun komm doch erst einmal herein. Entschuldige, wenn es etwas unordentlich aussieht. Ich war nicht auf Besuch eingestellt.«

Wilson hielt ihm die Tür auf, und Kang trat hindurch. Sie befanden sich auf dem oberen Absatz einer Treppe. Von hier konnte man die riesige Lagerhalle gut überblicken, die Wilsons Reich darstellte. Kang betrachtete sie zum ersten Mal bewusst. Ihm war klar, dass hier Dokumente aus dem ganzen Universum lagerten, alles, was sich nicht in Dateien stecken ließ. Aber der Begriff »Dokument« war hier sehr weit gefasst. Er konnte zwar die einzelnen Exponate nicht erkennen, wohl aber ihre Behälter. Es gab zahlreiche Regale, aber er sah auch Fässer, Kisten aus den unterschiedlichsten Materialien, mächtige Rollen, Aufhängungen, Thermoschränke und Käfige. Käfige?

Er zeigte auf ein Exemplar. »Was ist das denn?«, fragte er. »Wen hältst du da gefangen?«

Wilson lachte. »Nichts. Das ist ein Käfig, wie ihn die Jäger auf Epsilon Eridani c benutzen.«

»Ist das hier also so eine Art Museum?«

»Nein. Die Jäger bringen auf den Käfigen Markierungen an, die ihre Kollegen lesen können. Sie funktionieren wie die Infosäulen in der Kantine. Wenn etwas Informationen enthält, aber nicht auf einem klassischen Träger, gehört es in meine Abteilung.«

»Das klingt spannend.«

»Das ist spannend«, sagte Wilson. »Möchtest du eine kleine Führung? Es gibt noch viel skurrilere Informationsträger. Wusstest du, dass die Grosnopfe vor langer Zeit ihre Legenden auf Aaszahnketten festgehalten haben?«

Wilsons Augen leuchteten, als wären Aaszahnketten ungeheuer wichtig und wertvoll. Und ja, das mussten sie wohl tatsächlich sein. Mikes Gesichtsausdruck war so ansteckend, dass Kang sich zwingen musste, den Kopf zu schütteln. Vermutlich war es diese Begeisterung, in die sich Yini verliebt hatte. Wilson ging ganz in seiner Arbeit auf, und er zeigte dabei alles von sich.

Wilson legte den Kopf schräg. »Nein? Keine Aaszahnketten?«

»Vielleicht später«, sagte Kang.

Mikes Lächeln schlich sich zurück, während er nickte.

»Ich wollte dich etwas fragen«, sagte Kang.

»Sollen wir in mein Büro gehen? Ich habe Tee und Kekse«, sagte Mike.

Wieder schüttelte Kang den Kopf. Er musste die Frage gleich loswerden.

»Hast du eine Idee, wie Yini es zum Neomars geschafft hat?«, fragte er.

Wilson zuckte zusammen, als hätte er ihm eine Ohrfeige gegeben.

»Ich … ich weiß nicht. Wieso?«

»Du bist der Einzige, der in Frage kommt.«

»Aber wer will das wissen und wieso? Hat sie sich gemeldet?«

»Ich will es wissen. Ich muss es wissen. Offenbar wurde sie gefasst und steckt in Schwierigkeiten. Ich muss sie da herausholen.«

Wilson straffte sich wieder. Er stand jetzt da, als müsste er auf ein Signal hin losrennen.

»Also hat sie sich gemeldet?«, fragte Mike.

»Ja … sozusagen«, sagte Kang.

»Und wieso bei dir und nicht bei mir?«

Wilson klang dabei nicht eifersüchtig, sondern ganz neutral, als wäre es die natürlichste Frage der Welt.

»Weil sie mich schon länger kennt als dich? Nein, bestimmt will sie dich nicht in Gefahr bringen. Du bist ihr wichtig.«

»Komm, Kang. Was ist wirklich geschehen? Wenn sich Yini bei dir gemeldet hätte, würdest du mir andere Fragen stellen. Ich bin zwar naiv, aber nicht doof.«

Kangs Wangen wurden heiß. Wilson hatte ihn durchschaut. Was sollte er ihm sagen? Dass er seine eigene Schwester verraten hatte, aus einem dämlichen Impuls heraus? Ja, wahrscheinlich war es das Beste. Wenn er Yini helfen wollte, musste er ehrlich zu ihrem Freund sein.

»Ich habe einen Fehler gemacht«, gestand Kang.

»Wir machen alle mal Fehler«, sagte Wilson und sah ihm ins Gesicht.

Kang musste den Blick abwenden. Durch die Schlitze im Metallboden konnte man in die Tiefe sehen, wo an einem Computer ein paar Lampen blinkten.

»Ich habe sie verraten«, sagte Kang.

»Komm, wir gehen jetzt doch in mein Büro«, sagte Wilson.

Plötzlich sackten Kang die Beine weg. Er bemerkte noch, wie Wilson auf ihn zusprang. Als er wieder aufwachte, saß er in der Ecke der Plattform, mit dem Oberkörper an das Geländer gelehnt.

»Irgendwie scheint es deine Familie auf diese Treppe abgesehen zu haben«, sagte Wilson. »Yini ist mir auch schon beinahe hinuntergestürzt.«

Yini, seine Schwester, die er verraten hatte. Was hatte ihn nur geritten? Was für ein armseliger Wicht war er? Das durften seine Eltern nie erfahren. Wenn er es doch bloß rückgängig machen könnte!

Wilson streckte ihm die Hand hin.

»Komm, Kang, unten auf dem Sofa ist es bequemer.«

Kang griff nach der Hand und ließ sich hochziehen. Mike war überraschend stark. Das sah man ihm gar nicht an. Schweigend stiegen sie nebeneinander die Treppe hinunter.

[ ]

 

»Möchtest du einen Tee?«, fragte Wilson.

Kang schüttelte den Kopf. Warum war der Freund seiner Schwester so freundlich zu ihm? Das hatte er gar nicht verdient. Wären die Rollen vertauscht, hätte er dem Verräter ein paar Schläge verpasst.

»Ein Bier, hast du eins? Das wäre mir jetzt ganz recht«, sagte Kang.

Wilson verließ den Raum. Durch die offene Tür glaubte Kang ein Bett zu sehen. Es war weiß bezogen. Hatte Wilson hier mit seiner Schwester geschlafen? Es ging ihn nichts an. Am liebsten hätte er sich selbst eine Ohrfeige versetzt. Aber bevor er dazu kam, war Wilson auch schon wieder da. Er warf ihm eine Dose zu. Sie war angenehm kühl. Kang hielt sie sich an die Wange. Dann erst betrachtete er sie.

»Tsingdao«, sagte er. »Nicht schlecht.«

»Eine Marke aus dem alten Japan«, sagte Wilson.

»China«, korrigierte Kang ihn.

»Ach ja, natürlich.«

Wilson zog am Verschlussring. Es zischte. Auch Kang öffnete seine Dose, setzte sie an und ließ sich die Hälfte des Inhalts in den Rachen laufen.

»Du scheinst ganz schönen Durst zu haben«, sagte Wilson.

»Ja, das war ein Scheißtag heute.«

Das erklärte zwar seinen Durst nicht, aber welche Rolle spielte das schon? Kang machte es sich auf dem kleinen Sofa bequem, indem er sich in eine Ecke quetschte und die Beine anzog.

»Du meintest, du hättest einen Fehler gemacht.« Wilson ging in dem kleinen Raum auf und ab.

»Scheiße, ich habe Yini verraten.«

»Hast du das? Ich hatte ihr noch den Rat gegeben, dich nicht einzuweihen. Entschuldige, aber das erschien mir sinnvoll.«

»Daran hat sie sich auch gehalten.«

»Aber wie konntest du sie dann verraten? Du wusstest doch gar nichts. Du wusstest nicht einmal, wie sie zum Neomars kommen wollte. Sonst hättest du mich nicht danach fragen müssen.«

»Ich habe der Sicherheitsabteilung anonym mitgeteilt, dass Yini die Absicht hat, zum Neomars zu fliehen.«

»Das war nicht sehr schlau, Kang. Aber ganz gleich, was mit ihr geschehen ist, dein Hinweis allein kann nicht der Auslöser gewesen sein. Die Schmuggler sind unbemerkt vom Mond abgehoben. Ich habe das in den Logbüchern überprüft. Sie haben sich erfolgreich am Radar vorbeigeschlichen, wie jedes Mal.«

»Aber Smith hat behauptet …«

»Wer ist Smith?«, unterbrach ihn Wilson.

»So nennt sich ein Mann vom Geheimdienst, der mich heute befragt hat.«

»Ah, so ein hagerer Typ mit kurzen Haaren, der an einen Roboter erinnert?«

»Genau der.«

»Und was hat er behauptet?«

»Dass sie aufgrund meiner Hinweise Yini und meine angebliche Mutter fassen konnten.«

»Der Mann belügt dich, Kang. Und dafür muss es einen Grund geben.«

Wilson hatte schon wieder recht. Er war wirklich klug. Vielleicht hatte sich Yini deswegen in ihn verliebt. Und Kang war so naiv. Er hatte Smith einfach geglaubt. Dabei hatte der ihn bloß mit Hilfe seines schlechten Gewissens für seine Pläne einspannen wollen.

»Ja, den Grund kenne ich«, sagte Kang. »Er wollte, dass ich für ihn spioniere.«

»Das hat er auf jeden Fall klug eingefädelt«, sagte Wilson. »Du hast abgelehnt?«

»Na, hör mal, wäre ich sonst hier?«

Wilson antwortete nicht. Kang kratzte sich am Kopf. Wäre er auf den Deal eingegangen, säße er jetzt vermutlich trotzdem auf diesem Sofa. Wie konnte er beweisen, dass er kein Spion war? Gar nicht. Wilson musste ihm vertrauen.

»Tja, eine verfahrene Situation«, sagte Kang. »Ich fürchte, ich kann dir nicht beweisen, dass ich ehrlich bin. Ich würde einem Mann, der seine Schwester verraten wollte, jedenfalls gar nichts glauben.«

»Ich weiß, dass du deine Schwester liebst«, sagte Wilson. »Sie hat mir von dir erzählt. Du bist ein bisschen egoistisch, aber ihr seid schon seit eurer Kindheit unzertrennlich. Du willst nur das Beste für sie, oder zumindest das, was du für das Beste hältst.«

Kang schluckte. War er wirklich ein Egoist? Er war sauer auf sie gewesen, weil sie ihre gemeinsamen Eltern aufgeben wollte. Oder nicht?

»Also vertraust du mir?«, fragte Kang.

»Auf jeden Fall«, sagte Wilson. »Du musst mir aber auch vertrauen.«

»Das bekomme ich hin.«

»Dann sollten wir darüber sprechen, was du überhaupt auf dem Neomars willst.«

»Ich will versuchen, meine Schwester zu finden.«

»Und was ist mit deiner Mutter? Ich denke, wenn du sie aufspürst, hast du auch Yini gefunden.«

»Meine Mutter wohnt auf dem … Wahrscheinlich hast du recht. Aber Smith hat behauptet, die beiden säßen auf dem Neomars im Gefängnis.«

»Glaubst du ihm?«

»Ich weiß es nicht. Warum sollte er sich das ausdenken?«

»Stell dir vor, die beiden haben sich gefunden und sind erfolgreich untergetaucht.«

»Haben sie das? Das wäre ja großartig. Woher weißt du das?«

»Du sollst es dir bloß vorstellen. Wie käme Smith dann an sie heran? Indem er sie aus der Reserve lockt. Das funktioniert am besten mit einem Köder, der überall nach ihnen fragt.«

»Das wäre eine schlaue Strategie.«

»Natürlich können wir nicht wissen, ob das seine Hintergedanken sind. Aber wir müssen damit rechnen. Wenn du zum Neomars fliegst, darfst du dort nicht als Köder auftreten. Du brauchst eine andere Identität. Und du musst natürlich ganz unauffällig dort ankommen.«

»Kannst du mir dabei helfen?«, fragte Kang.

»Ich denke schon. Aus alten Zeiten habe ich noch ein paar Verbindungen. Gib mir zwei Tage.«

»Danke, Mike. Das wäre wirklich großartig.«

»Ja.«

Wilson war stehen geblieben und sah im Raum umher, als betrachte er die Einrichtung zum ersten Mal.

»Du siehst unschlüssig aus«, sagte Kang.

»Ich frage mich, ob ich mitkommen sollte«, sagte Wilson. »Dann wärst du nicht auf dich allein gestellt. Andererseits fallen zwei Besucher stärker auf als einer. Und ich habe das Gefühl, dass Yini das gar nicht wollen würde. Ich sollte wohl lieber hier auf sie warten.«

»Hat sie das gesagt?«

»Ja, genau das.«

»Und du fühlst dich daran gebunden?«

»Schon, ja.«

»Und wenn sich die Verhältnisse bei ihr geändert haben? Wäre es nicht möglich, dass sie dann auch ihre Meinung ändert?«

»Absolut.«

»Ich an deiner Stelle würde ihr folgen«, sagte Kang.

»Und wer organisiert dann euren Rückweg von hier aus?«, fragte Wilson.

»Ein Dilemma.«

»Sieht ganz so aus. Aber genug davon. Ich kümmere mich um deinen Abflug. Dann sehen wir weiter.«

14. Hatur 225, Terra Nova

»Du musst aufstehen, Habibi«, hörte er eine Stimme.

Seine Frau streichelte ihm über die Wange. Kasrin roch gut. Mit geschlossenen Augen versuchte Talut, sie zu umarmen und an sich zu ziehen. Wenn sie ihn weckte, schlief sein Sohn noch. Also hatten sie Zeit für ein bisschen Spaß.

Aber Kasrin entzog sich ihm. »Es ist schon spät«, sagte sie. »Du musst doch zur Arbeit.«

»Wie spät?«, fragte er.

»Halb acht.«

»Wo ist Luqa? Schläft er noch?«

»Er ist schon unterwegs zur Schule. Schien ziemlich sauer auf dich zu sein. Habt ihr euch wieder gestritten?«

O Mann. Die Murmel. Es war ausgerechnet Luqas Lieblingsexemplar gewesen, das er dem Mockzilla geschenkt hatte. Das hatte ihm sein Sohn anscheinend immer noch nicht verziehen. Luqa konnte sehr nachtragend sein. Sonst hätte er alles darum gegeben, seinen Vater wecken zu dürfen.

»Aber die Schule beginnt doch erst um neun?«, fragte er.

»Er wollte sich vorher noch mit Oqoq treffen«, antwortete seine Frau.

Oqoq war Luqas Freund. Es war eine ungewöhnliche Freundschaft, denn Oqoq war drei Jahre älter. Was wollte ein Elfjähriger von einem Achtjährigen? Talut war skeptisch, aber Luqa bewunderte Oqoq, und der sonnte sich in dieser Bewunderung. Offenbar reichte das, denn die Freundschaft hielt schon seit zwei Jahren.

»Komm, zieh dich an«, sagte seine Frau. »Ich muss heute in die Stadt.«

»Oh, was ist los?«, fragte er.

Normalerweise arbeitete sie zu Hause. Kasrin beherrschte eine spezielle Sticktechnik, die aus traditionellen Gründen für die Uniformen der Beamten vorgeschrieben war und nur von Mutter zu Tochter weitergegeben werden durfte. Es war ein gutes, sicheres Einkommen. Deshalb arbeiteten sie fast jeden Tag daran, endlich eine Tochter zu zeugen.

»Es gibt Streit«, sagte Kasrin. »Einige arbeiten zu schnell.«

Zu schnell zu arbeiten, das hieß, die anderen Stickerinnen zu betrügen. Die Tradition verlangte ein bestimmtes Arbeitstempo. Schneller konnte nur sein, wer seine Familie mitarbeiten ließ oder Technik zu Hilfe nahm. Beides war verboten, aber auch schwer nachzuweisen. Die staatlichen Aufträge waren begrenzt. Wer schneller arbeitete, nahm sich mehr von einem nicht wachsenden Kuchen.

»Ich hoffe, ihr bekommt das hin«, sagte Talut.

Er hasste Streit. Für ihn war die Welt gut, wenn alle miteinander auskamen.

»Wird schon«, sagte Kasrin.

Die Glocke schepperte. Einmal, zweimal, dreimal, viermal. Talut hatte automatisch mitgezählt, weil das verriet, für wen die Nachricht bestimmt war.

»Es ist für uns«, sagte Kasrin.

»Dann geh ran«, sagte Talut.

Seine Frau schüttelte den Kopf. »Ich muss mir noch die Haare machen.«

Talut versuchte wieder, sie an sich zu ziehen. Unfrisiert war Kasrin noch viel anziehender. Aber sie war stärker als er. Er spürte den Muskelkater von der gestrigen Anstrengung.

Die Glocke schepperte wieder. Es galt als unhöflich, den Menschen am anderen Ende der Schnur warten zu lassen.

»Kannst du nicht …?«, fragte Talut und zwinkerte.

»Na gut, aber du ziehst dich an! Ich will den Schweber nicht verpassen.«

Seine Frau verließ das Zimmer. »Hill hier«, hörte er sie.

Hill, das war ihr Nachname, weil sie aus der Bergregion stammte, so wie er Forest hieß, wie alle Bewohner der Kronenebene. Talut zog die Decke bis zum Kinn. Der Gedanke, aus dem Bett steigen zu müssen, ließ ihn frösteln. Vielleicht war es auch die Erinnerung an die gestrigen Ereignisse, die er zu unterdrücken versuchte.

»Aha, aha«, sagte seine Frau. »Das ist ja interessant.«

Die Tonhöhe ihrer Stimme stieg dabei merklich an. Das bedeutete, dass sie sich gerade über irgendetwas aufregte. Und das war nicht gut.

»Komm jetzt, Talut!«, rief Kasrin schließlich. »Es ist für dich.«

Talut sprang aus dem Bett. Der Boden federte. Nackt, wie er geschlafen hatte, lief er ins Wohnzimmer, wo der Altmutter-Kommunikator stand. Es war ein primitives System, typisch für die noch weitgehend unerschlossenen Regionen der Kronenebene. Hier gab es noch keine Telefonkabel, und Funksender wurden von der ständigen Feuchtigkeit in der Luft und den Emissionen der Sonne gestört. Stattdessen spannte man straffe Schnüre von Haus zu Haus, die aus Fasern der Altmutter-Blätter geflochten waren und trotz der Feuchtigkeit trocken und straff blieben.

Kasrin drückte ihm die Dose in die Hand, aus der die Stimme von Hanri klang. Hanris Haus lag etwa zwei Kilometer entfernt, was beinahe die Maximalentfernung für eine Kommunikator-Etappe darstellte. Er fungierte gewissermaßen als Verteiler und hatte die Aufgabe, Nachrichten an all diejenigen weiterzugeben, die mit seinem Haus per Altmutter-Faden verbunden waren.

»… soll sich seine Unterlagen abholen«, sagte Hanri gerade.

»Ich bin es«, sprach Talut laut in die Dose. »Was für Unterlagen?«

Es dauerte einen Moment, bis die Antwort kam. Die Übertragungsgeschwindigkeit auf dem Faden war begrenzt.

»Gerade habe ich deiner Frau schon erzählt, dass du deinen Job los bist«, sagte Hanri.

Wie bitte? Sie wollten ihn loswerden? Diese Schweine! Seine Hand krampfte sich um die Dose, die bedenklich zu knacksen begann.

»NCP macht dich für den Verlust des Sammlers verantwortlich«, erklärte Hanri.

Das mochte ja sein, aber immerhin hatte er Petros gerettet! Sein Kollege wäre an seinen Verletzungen gestorben, hätte er nicht den Weg nach oben gefunden.

»Ja, und natürlich auch für den Absturz deines Kollegen«, sagte Hanri. »Alles nur, weil du nie pünktlich sein kannst.«

Die Dose knarzte. Talut legte sie ab. Er durfte den Kommunikator nicht beschädigen. Am liebsten hätte er hineingeschrien, aber Hanri war nur der Überbringer der Nachricht. Talut ließ die Fingergelenke knacken. Was sollte er tun?

»Das war’s schon. Soll ich eine Antwort zurückgeben?«, tönte es aus der Dose, und Talut nahm sie wieder hoch.

»Nein, danke.«

»Wie du willst. Dann vergesse ich die Angelegenheit«, sagte Hanri.

Das war eine Standardformel, die jedes Relais nach der Weitergabe der Informationen von sich gab. Natürlich würde Hanri nichts vergessen, im Gegenteil, er würde es weitererzählen, und was er wusste, würde kaum langsamer als per Altmutter-Kommunikator durch die Kronenebene wandern.

Aber das war Talut egal. Er würde die Antwort selbst zum Absender bringen. Das Unternehmen, das ihn gerade rausgeworfen hatte, besaß eine Filiale in der nächsten Stadt, und dort müsste auch sein Distriktchef sitzen, wer immer das genau war. Die Stadt mied Talut nach Möglichkeit, sie war ihm einfach zu hektisch. Aber wenn er seinen Job wiederkriegen wollte, musste er wohl oder übel einmal persönlich aufkreuzen. Er sah auf die Uhr.

»Kasrin, bist du fertig?«, fragte er. »Wir müssen in sechzehn Minuten beim Schweber sein.«

»Wir?«, fragte sie.

»Ja, ich begleite dich in die Stadt.«

»Geht es um deine Kündigung? Das können sie doch nicht mit uns machen! Wovon sollen wir leben?«, fragte Kasrin und stemmte die Arme in die Seiten.

»Ja, ich werde ihnen die Hölle heißmachen. Sie brauchen mich doch!«

»Hoffentlich!«

»Danach können wir zusammen essen gehen. Und vielleicht noch ins Holokino. Ich habe so lange kein Holo mehr gesehen.«

»Wie kannst du an Kino oder Essen denken, wenn du gerade arbeitslos geworden bist?«

»Ich bekomme das schon hin. Es soll bestimmt nur eine Warnung sein. Sie brauchen uns alle, um die Quoten zu erfüllen. Vertrau mir. Vertraust du mir?«

Kasrin seufzte. »Na gut. Und was ist mit Luqa?«

»Der bleibt bestimmt gern bei Oqoq. Er bettelt doch immer, dass er bei seinem Freund übernachten darf. Ich sage schnell seiner Mutter Bescheid.«

»Dafür ist jetzt keine Zeit mehr«, sagte Kasrin. »Der Schweber wartet nicht.«

»Dann machen wir es von unterwegs«, sagte Talut.

»Na gut.«

Sie sagte es zwar nie, aber Talut wusste, dass sie die Berge vermisste. Ein Besuch dort würde sie bei Laune halten. Er war sich gar nicht so sicher, dass er seinen Job zurückbekommen würde. Wenn er ihn wirklich los war, würden sie von ihrem Einkommen leben müssen, sofern sie nicht in die Stadt ziehen wollten. Und das kam überhaupt nicht in Frage. Talut war in der Kronenebene aufgewachsen. Ohne die Altmütter in seiner direkten Nähe konnte er nicht ruhig schlafen. Er hatte es versucht, als er Kasrin Hill in der Stadt kennengelernt hatte, aber obwohl er frisch verliebt gewesen war, war er schon nach einer Woche in den Wald geflüchtet. Für ihn war das Abenteuer damit beendet gewesen, doch Kasrin hatte es tatsächlich geschafft, ihn in den Weiten der Kronenebene ausfindig zu machen. Wenn sie sich etwas in den Kopf gesetzt hatte, bekam sie es auch meistens.

[ ]

 

Der Aufstieg zum Schweber war anstrengend. Es gab zwar einen Korb, in dem man sich mit Motorkraft nach oben ziehen lassen konnte, aber der war dauernd defekt – auch heute mal wieder. Also mussten sie die Leitern nutzen, um die etwa dreihundert Meter nach oben zu steigen. Zwei Leitern führten nach oben, zwei weitere waren für den Rückweg vorgesehen. Die ganze Konstruktion bestand aus Altmutter-Holz, auch die Sprossen. Etwa alle dreißig Meter bot ein Absatz mit einem schmalen Sitz Gelegenheit zum Verschnaufen oder Überholen.

Die Leitern führten spiralförmig nach oben und waren rundum mit einem Gitter aus dünneren Ästen verkleidet, so dass selbst dann keine echte Gefahr drohte, wenn man einmal abrutschen sollte. Für Menschen mit Höhenangst musste der Aufstieg mit dem freien Blick in die Tiefe allerdings die Hölle sein. Ein Glück, dass Talut dafür nicht anfällig war.

Leider schwitzte er schnell, vor allem wenn er noch eine Maske tragen musste. Bis er bei der Filiale seiner Firma ankam, würde er müffeln wie ein Teenager. Aber das geschah den Leuten dort nur recht. Sie konnten ihn doch nicht einfach auf die Straße setzen!

»Talut, kommst du?«, fragt Kasrin. »Der Schweber muss gleich da sein.«

Er sah nach oben. Seine Frau war schräg über ihm.

»Du sollst klettern, nicht in der Gegend herumstarren«, sagte sie.

»Ich komme ja schon.«

Sie hätte auch als Sklaventreiberin im Alten Rom Karriere machen können. Aber meistens war sie nett. Talut schätzte sich glücklich, sie gefunden zu haben. Die meisten Städterinnen empfanden das Leben auf der Kronenebene als unzivilisiert. Dabei hatten sie Strom, den sie aus den Temperaturunterschieden in den tieferen Ebenen des Altmutter-Walds generierten, es gab Schulen und Krankenstationen, alles kostenlos, und es gab einen bequemen Weg in die Berge.

Nun ja, bequem. Talut zuckte mit den Schultern und kletterte weiter.

[ ]