Tal der Sehnsucht - Astrid Korten - E-Book
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Astrid Korten

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Beschreibung

Er spürt das Erwachen, den Duft von Jasmin, der sein Gesicht streift, und versteht die Liebe. Jamie McHannay, Mathematikprofessor an der Universität von Toronto, kehrt 1962 in die Einsamkeit der kanadischen Wälder zurück. Bei der Beerdigung seiner Mutter trifft er seinen Stiefvater Logan Taylor wieder. Trotz der gemeinsamen Jahre auf der Farm hegt Jamie einen Groll gegen den Mann, den er aber nie ergründen wollte. Nach der Beerdigung erhält Jamie aus dem Nachlass seiner Mutter ihre Tagebücher, und die seines leiblichen Vaters. Er taucht tief ein in das Leben der hart geprüften Siedler, erfährt von Katastrophen, Spannungen, Ausgrenzung, Sehnsüchten und großen, leidenschaftlichen Gefühlen ... Ein hochemotionaler Roman vor der grandiosen Kulisse der unendlichen Weiten Kanadas, in dem sich alle Höhen und Tiefen menschlicher Leidenschaft entfalten.

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Inhaltsverzeichnis

Über das Buch

Der Duft der Liebe

Prolog

TEIL I

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

TEIL II

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

KAPITEL 18

KAPITEL 19

KAPITEL 20

KAPITEL 21

KAPITEL 22

KAPITEL 23

KAPITEL 24

KAPITEL 25

KAPITEL 26

KAPITEL 27

KAPITEL 28

KAPITEL 29

KAPITEL 30

KAPITEL 31

KAPITEL 32

KAPITEL 33

KAPITEL 34

Kapitel 35

KAPITEL 36

KAPITEL 37

KAPITEL 38

Drei Jahre später

Epilog

Weitere Bücher der Autorin

Die Stille vor Lilou

Eiskalte Umarmung, Band 1

Eiskalter Schlaf, Band 2

Schatten des Todes

WINTERDÄMONEN

Der Puppenspieler

Tod der Schwalben

Über die Autorin

Impressum

Über das Buch

Er spürt das Erwachen,

den Duft von Jasmin, der sein Gesicht streift,

und versteht die Liebe.

Jamie McHannay, Mathematikprofessor an der Universität von Toronto, kehrt 1962 in die Einsamkeit der kanadischen Wälder zurück. Bei der Beerdigung seiner Mutter trifft er seinen Stiefvater Logan Taylor wieder. Trotz der gemeinsamen Jahre auf der Farm hegt Jamie einen Groll gegen den Mann, den er aber nie ergründen wollte.

Nach der Beerdigung erhält Jamie aus dem Nachlass seiner Mutter ihre Tagebücher, und die seines leiblichen Vaters.

Jamie taucht tief ein in das Leben der hart geprüften Siedler, erfährt von Katastrophen, Spannungen, Ausgrenzung, Sehnsüchten und großen, leidenschaftlichen Gefühlen...

TAL DER SEHNSUCHT: Ein hochemotionaler Roman vor der grandiosen Kulisse der unendlichen Weiten Kanadas, in dem sich alle Höhen und Tiefen menschlicher Leidenschaft entfalten.

Der Duft der Liebe

Ich lauschte dem Regen,

fragte die Stille,

so zerbrechlich,

die Knospen,

der Sonne Eifer unendlich,

und lebe.

Liebe

Extrakte von Gelb und Grün,

parfümieren die Steine,

entfernen Wege.

Liebe

Ich lebe das Erwachen,

den Duft von Flieder

und Jasmin,

wenn eine sanfte Brise,

dein Gesicht streift.

Prolog

Kanada 1962

Jamie

Der Friedhof am Hang von Brownsville war überfüllt mit den Gräbern der verstorbenen Siedler der ersten Stunde. Jamie mied, den Blick auf den offenen Sarg, als er mit den Trauergästen die kühle Kapelle betrat.

Ebenso war er Jack Miller ausgewichen, der, umgeben von Blumen und Trauergästen, im vorderen Teil des Raumes stand. Der ehemalige Polizist hatte ihm in groben Zügen berichtet, was während seiner Abwesenheit geschehen war.

Sein Stiefvater Logan wirkte um Jahre gealtert. Aufrecht und beinahe trotzig nahm er die Beileidsbezeugungen entgegen und zeigte eine Fassade, die niemand in Brownsville zu durchdringen vermochte.

Jamie nahm neben ihm Platz und blickte auf seine im Schoß gefalteten Hände. Tief in seinem Inneren spürte er immer noch das Zittern, von dem er gehofft hatte, es würde nachlassen. Er versuchte es zu ignorieren, indem er sich auf die Klänge von Bachs Präludium g-Moll BWV 558 konzentrierte, die im Hintergrund von der Orgel ertönten.

Er hatte in seinem ganzen Leben nur einem einzigen Begräbnis beigewohnt, dem seines leiblichen Vaters. Auch damals war er tief berührt, doch der Schmerz, den er heute empfand, war ungleich größer. Er griff nach einem Taschentuch in seiner Jackentasche und rutschte auf seinem Stuhl hin und her. Der Pfarrer stand steif am Sarg seiner Mutter, die Hände gefaltet, den Blick durch den Raum schweifend. Dann segnete er seine Mutter und gab seinem Stiefvater ein Zeichen.

Jamie warf einen letzten Blick auf seine Mutter im offenen Sarg. Ihr Kleid war ein wunderschönes Tribut an die vergangenen Jahre, aus schwarzer Spitze, die Ärmel wie eine zweite Haut. Auf dem weißen Satinkissen umspielte das lange, schwarzgraumelierte Haar ihr Gesicht. Er konnte es nicht sehen, ein zarter schwarzer Schleier verhüllte ihre Schönheit. Sekunden später schloss sich der Sarg.

Sie begruben seine Mutter am späten Nachmittag. Logan und er standen vor dem Sarg, der Priester neben ihnen, die Siedler warfen in der winterlichen Sonne lange Schatten. Wenn der Wind sich zwischendurch nachließ, konnte man das Echo ihrer Schluchzer im Tal der Sehnsucht und der Tränen hören. Nachdem der Priester den Sarg und die Trauergäste gesegnet hatte, defilierten die Siedler vorbei, einige legten Blumen auf den Sarg. Jamie blieb am Grab stehen, bis auch der Letzte den Friedhof verlassen hatte.

Seine Mutter war tot. Mit ihr war alles hell, strahlend und leicht gewesen, auch zuletzt, in der Zeit, in der sie sich nicht oft gesehen hatten. Sie hatte ihn beschützt, den Jungen mit dem dunklen Lockenkopf, ihn getröstet, ihn geliebt. Sie schien ihm stets unsterblich. Jetzt hatte sie ihn verlassen, und Logan, und ihnen eine blühende Farm hinterlassen. Es gab kein Lebewohl, keinen Abschied. Jetzt konnte er nur abwarten, wie es ohne sie weitergehen würde.

Jamie beobachte die durch das Friedhofstor gehenden Trauergäste. Jeder von ihnen kehrte in das harte Siedlerleben zurück. Erst, als sie alle fort waren, konnte er endlich weinen.

Am Abend ging er noch einmal zum Friedhof. Als er die Baumgrenze verließ und auf das einsame Grab zuging, nahm er nur die Schatten wahr, die die Bäume im Mondlicht warfen. An der Hügelflanke spiegelten die polierten Grabsteine das Mondlicht wider, als wäre die Sonne der Nacht eine Vorbotin des Jenseits, die ihn mit dem Lichtspiel auf den quecksilbrigen Schattenriss locken wollte.

Er ging auf den hohen Ahornbaum neben der Grabstelle zu und befestigte das zarte Mobile, das stets an dem Baum vor seinem Zimmer gehangen hatte, an einem Ast, so dass der Wind damit spielen konnte. So hätte seine Mutter es gewollt. Danach verließ er den Friedhof und radelte zurück zur Farm.

In seinem alten Zimmer lag ein Päckchen auf dem Bett. Für Jamie, stand da in der Handschrift seiner Mutter. Er steckte es in seine Reisetasche und ging ins Wohnzimmer.

Logan saß vor dem Kamin und machte einen verstörten Eindruck. Je länger Jamie ihn ansah, desto mehr spürte er, wie ihn ein seltsamer Impuls überkam, der ihn fast zwang, den Schmerz seines Verlustes mit ihm zu teilen.

Sein Stiefvater deutete auf das Hochzeitsbild an der Wand. „Ach Jamie, wie soll ich nur ohne mein Glück, ohne ihr Licht, zurechtkommen? Hast du darauf eine Antwort, mein Junge?“, fragte er und konzentrierte sich auf das Foto, um nicht in dem Loch der Trauer zu stürzen, in diese tödliche Leere, die so erbarmungslos war.

Wie ferngesteuert ging Jamie auf den alten Mann zu, blieb dicht vor ihm stehen und umarmte ihn. Einen Moment verharrten sie so, dann löste sich Logan aus seiner Umarmung.

„Hast Du das Päckchen gefunden, Jamie? Deine Mutter wollte, dass du es nach ihrem Tod bekommst.“

„Hab ich. Ich werde es später öffnen.“

„Hast du deine Sachen schon gepackt?“

Jamie nickte. „Wirst du allein zurechtkommen, Logan?“

„Ja, Ja, mein Junge.“ Er stand auf. „Ich werde mich jetzt hinlegen. Es war ein anstrengender Tag. Das solltest du auch tun. Du musst morgen früh raus. Gute Nacht, Jamie.“

„Gute Nacht, Logan.“

Morgen würde er die Farm wieder verlassen. Ohne seine Mutter hielt er es hier nicht aus. Er brauchte Abstand, von Logans Trauer, von dessen Dunkelheit … und vom Tal der Glut, der Leidenschaft, der Tränen.

Die ersten acht Jahre seines Lebens war er auf der McHannay-Farm glücklich gewesen. Er hatte eine wunderbare Mutter gehabt, und einen Vater, dessen Lächeln sich nur zögerlich auf seinem Gesicht ausbreitete, aber es war ansteckend gewesen, und er hatte oft gelacht. Logan konnte ihn nicht zum Lachen bringen, ihn nicht glücklich machen. Er konnte ihn nicht lieben, wie ein Vater sein Kind liebt.

Seine Eltern hatten ihm oft von den Anfängen ihres Glücks erzählt, als er noch ein Kind war. Die Farm war damals voller Freude gewesen. In der vergangenen Nacht hatte er kaum Luft bekommen und trotz der eisigen Kälte die Fenster einen Spalt offengelassen. Alte Wunden brachen wieder auf.

Nun war auch seine Mutter fort, was sollte er noch hier…? Einmal mehr fühlte er sich beraubt und zerrissen.

Und allein.

Am nächsten Morgen verließ Jamie die McHannay-Farm in aller Früh. Es war ihm nicht leicht gefallen, aber er konnte Logans Anblick nicht mehr ertragen. Jedes Mal, wenn er in all den Jahren an den Mann zurückdachte, drehte sich ihm der Magen um.

Früher hätte er vielleicht um seine Zuneigung gekämpft. Aber jetzt nicht mehr. Er war zu müde. Zu oft hatte er seine Ressourcen und seine psychische Gesundheit überstrapaziert, hatte immer wieder aufgegeben und sich geschlagen gegeben. So wie heute mit seinem überstürzten Aufbruch.

Er würde den Zug zurück nach Toronto nehmen.

Er würde seine Post aus dem Briefkasten holen, seinen Koffer in den Flur stellen.

Er würde sich ein kühles Bier einschenken, eine CD einlegen und die Tagebücher seiner Eltern lesen.

Er würde weinen, wenn er noch konnte. Sich geräuschvoll die Nase putzen, seinen Kummer im Alkohol ertränken.

Aber warum fühlte es sich nicht wie ein Befreiungsschlag an?

Während eine Stimme die Fahrgäste aufforderte, von der Bahnsteigkante zurückzutreten, fuhr der Zug langsam in den Bahnhof von Brownsville ein. Jamie stieg im zweiten Waggon ein.

Die Stirn an die Fensterscheibe gelehnt, sah er die Häuser von Brownsville an den Gleisen vorbeiziehen, halb geöffnete Vorhänge, im Wind flatternde Unterhosen, Blumentöpfe auf den Fensterbänken, ein Kindertraktor auf einem Balkon, all diese winzigen, vervielfachten, unzähligen Leben.

Im Zug zogen die Leute auf der Heimfahrt fast immer eine Bilanz des Tages. Sie seufzten, entspannten sich, klagten und tauschten die eine oder andere Indiskretion aus. Wenn es wirklich vertraulich war, beugten sie sich vor und sprachen leiser, manchmal lachten sie.

Jamie saß einfach da, mit geschlossenen Augen, und wartete darauf, dass sich seine Glieder entspannten, dass sich die Anspannung langsam löste. Wie immer, wenn er mit dem Zug unterwegs reiste. Aber heute war es anders. Es gelang ihm nicht. Etwas sträubte sich, ganz tief, er spürte es, etwas, das nicht loslassen konnte. Eine Art Wut, die sein Körper nicht los wurde, etwas, das in ihm anschwoll, etwas, das auf seine Brust drückte, als würde er den Boden unter den Füßen verlieren.

Plötzlich wollte er schreien. Aus Leibeskraft schreien, wie er es oft am Biberdamm getan hatte, so laut, dass es die Schritte und Gespräche im Waggon übertönte. So laut, dass alles verstummte, innehielt, erstarrte. Er bekam kaum noch Luft.

In Ingersoll würde er umsteigen. Er kaufte sich am Schalter eine Fahrkarte, ging die Treppe hinunter und wechselte den Bahnsteig. Dort stellte er seinen Koffer ab und setzte sich auf eine Bank. Auf dem gegenüberliegenden Bahnsteig verbreiteten Werbeplakate dieses gewisse sommerliche Licht: goldene Strände und türkisfarbenes Meer, eine Stadt, die die Menschen erdrückte und zum Entspannen einlud. Die Anzeigetafel zeigte an, dass der Zug nach Brantford noch anderthalb Stunden auf sich warten ließ. Er öffnete seine Tasche, nahm das Tagebuch seiner Mutter zur Hand und begann zu lesen…

TEIL I

EVERLY UND RYAN

Kapitel 1

Brownsville, Kanada, 1921 - 1925

Ryan McHannay

Ryan war von kleiner Gestalt, ein spindeldürrer Pflock mit schmalen Schultern und Hüften und einer struppigen schwarzen Haarmähne über den dunklen Augen.

Seine Sprache und die wilde Entschlossenheit in seinem glühenden Blick verrieten seine irische Herkunft. Als er in das kalte Land im äußersten Norden Kanadas kam, besaß er kaum mehr als die Kleidung, die er trug. Was er vorfand, war ein raues, aber wunderschönes, unberührtes Land, mit Seen und sprudelnden weißen Flüssen, an deren Ufern die Wipfel der Zedern- und seltenen Laubwälder in den Himmel ragten und durch die schwarze Erde die knochigen Knie der Granitfelsen schimmerten. Eine einsame Landschaft, in der die Menschen sich mithilfe des pfeifenden Schlages der doppelschneidigen Axt mit und dem grausamen Klang der stählernen Tierfallen ernährten, die zuschnappten, um die wertvollen Felle zu fangen.

Am Anfang verstand er nichts von Pelztieren, Bären oder das Legen von Eisenbahnschienen. Und als er nach dem ersten Schnee den Versuch unternahm, in den plumpen Schneeschuhen zu gehen, stolperte er hilflos wie eine verwundete Antilope. Die Trapper, Holzfäller und Schienenarbeiter schüttelten nur den Kopf über den störrischen jungen Mann. Sie fragten ihn, was ihn nach Kanada verschlagen habe, wollten sie von ihm wissen. Er wolle hier zu Geld kommen, hatte er erklärt.

Sie machten sich lustig über ihn, bis sie ihm in die Augen sahen und neugierig fragten, wie lange er denn dafür brauchen würde. Er antwortete mit trotziger Überzeugung, dass er es in zwei Jahren schaffen müsse. Im Winter würde er Fallen stellen und im Sommer für die Eisenbahngesellschaft arbeiten. Die Männer sahen, wie ernst es ihm war, und warnten ihn vor den Gefahren des nordischen Winters, in dem die Temperaturen auf 30 bis 40 Grad unter null sinken konnten. Sie erzählten ihm, dass schon mancher, den der Schnee in der Einsamkeit der Wildnis gefangen hielt, verrückt geworden sei. Sie sprachen von Fieberträumen, vom Tanz des Wahnsinns im Schnee, von der Seele, die dem Körper entwich und nur selten zurückgewonnen werden konnte. Aber auch davon, dass ein Trapper genau wissen müsse, wann und wo er die Fallen aufstellen müsse, damit sich der Fang lohne. Ryan hörte zu und nickte ernst, denn ein Narr war er nicht. Er stellte eine Menge Fragen, notierte jede Einzelheit in ein kleines schwarzes Notizbuch und studierte seine Aufzeichnungen am Abend im schwachen Licht seiner Petroleumlampe, während die anderen schliefen.

Ryan klapperte die Händler ab und prägte sich jedes Detail, bis er die Qualität und den Wert der Felle genauso beurteilen konnte wie alle anderen. Als die Männer sahen, wie hartnäckig und vehement er seine Informationen einholte, brachten sie ihm auch bei, wie man mit einem Rudel Hunde umgeht, wie man ein Tier häutet, ein Fell spannt und Fallen setzt. Einen Monat später kaufte er von seinem Ersparten Vorräte und verschwand.

Die Männer schlossen Wetten ab, ob sie ihn jemals wiedersehen würden. Er könne in der sibirischen Wildnis kaum überleben, behaupteten sie. Niemand ahnte, wie nahe sie damit der Wahrheit kamen.

Er erlitt Erfrierungen und fast wäre er gestorben. Ein Vielfraß oder ein ähnliches Raubtier, das in eine seiner Fallen getappt war, verletzte ihn schwer. Drei Wochen war er eingeschneit, vier Tage war er dem Wahnsinn nahe. Im Frühling kehrte er zurück, mit hohlen Wangen, die Augen in tiefen Höhlen und mit dem Gang eines Schlafwandlers. Aber er trug das größte Bündel Felle in Ontario bei sich.

Die Männer im Lager sagten ihm, dass nichts auf der Welt die Anstrengung wert gewesen wäre, die er sich selbst auferlegt hatte. Sie sagten auch, dass ein Mann mit einem Körpergewicht von knapp einhundert Pfund kaum eine Chance in einem Schienenarbeiterlager hätte, wo Durchhaltevermögen und Muskelkraft für eine Anstellung entscheidend wären. Aber der Vorarbeiter der Gesellschaft war ein Mann mit großer Menschenkenntnis. Er sah Ryan in die Augen, ohne auf seinen ausgemergelten Körper zu achten, und stellte ihn ein.

Ryan schwang nun die Axt und legte Schienen. Manchmal war er abends zu erschöpft von der schweren körperlichen Arbeit, um zu essen, und in der ersten Woche waren seine Hände wie rohes Fleisch. Er klagte nie. Als die andern sahen, dass der Griff seiner Axt voller Blut war, wollten sie ihm seine Arbeit abnehmen, aber er schob sie beiseite, biss die Zähne zusammen und schuftete weiter.

Später, wenn er auf seiner Pritsche in der Holzbaracke lag, betrachtete er still das Foto eines Mädchens. Ein hübsches Mädchen mit großen Augen, das ihn selbstbewusst mit erhobenem Kopf ansah. Dann blickte er auf seine zerschundenen Hände und betete im Stillen, dass sie schnell heilen würden. Denn das Mädchen auf dem Foto war jung und schön, sie würde nicht ewig auf ihn warten. Sie hatte ihm nicht einmal versprochen, dass sie warten würde. Aber er hatte so ein komisches Gefühl und er täuschte sich nie, wenn es um Gefühle ging.

Er hatte Everly bei einem Picknick kennengelernt, und als sich ihre Blicke getroffen hatten, war sein Herz aufgegangen und in seinem Kopf war alles strahlend hell und klar geworden. Sie hatten nicht viel geredet. Die Zeit war zu kurz gewesen. Aber ihre Hände hatten sich berührt und sie hatten sich tief in die Augen geschaut. Schließlich hatte er kurz und entschlossen gefragt: „Bist du schon jemanden versprochen, Everly?“

Sie war errötet, hatte die Pracht ihrer blauschwarzen Haare aus dem elfenbeinfarbenen Gesicht geworfen und ihre melodische Stimme hatte sanft geklungen. „Ich habe noch keinem mein Wort gegeben. Hast du die spezielle Frage in Erwägung gezogen, Ryan?“

Er hatte mit ernster Miene genickt. „Ja, das habe ich, aber ich habe dir nichts zu bieten.“ Dann hatte sie gelächelt, ihre ebenmäßigen weißen Zähne blitzten in der Sonne, und gesagt: „Es gibt Männer, die haben viel und es gibt solche, die haben wenig, aber ein Mann, der nichts hat, bin ich noch nie begegnet.“

Er schaute auf seine Hände, dann hielt er beide hoch. „Ich habe diese Hände und eine große Sehnsucht. Und ich habe gehört, dass man in Kanada viel erreichen kann, wenn man will. Aber die Zeit ist eine andere Sache.“

Sie nickte. „Ich fange im Herbst wieder mit der untersten Schulklasse an … Ich glaube, die Zeit wird schnell vergehen.“

„Wirst du einem Mann glauben, Everly, der dir sagt, obwohl er dich kaum kennt, dass er dich von ganzem Herzen liebt?“

Sie warf den Kopf zurück, und er dachte: Wie schön sie ist. Und ihre Haut, so zart.

Ihre dunklen Augen schenkten ihm den Hauch eines Lächelns. „Ich habe gelernt, keinem von euch zu trauen. Ihr könnt jedem Mädchen den Kopf verdrehen“, sagte sie mit sanfter Stimme und nach einer kurzen Pause: „Ja, Ryan, da ist etwas in deinen Augen, das mir sagt, dass du es ehrlich meinst.“

Bald darauf trennten sie sich. Er war nach Dublin gefahren, um sich einen Pass ausstellen zu lassen; dann hatte er die Überfahrt nach Montreal als Viehknecht auf einem Transportdampfer gemacht, sich bis zu dem Holzfällerlager durchgeschlagen und in einem Jahr dreitausend Dollar gespart. Geschrieben hatte er nur ein einziges Mal. Ihre Antwort war jetzt zerknittert und fast unleserlich, aber er kannte jedes Wort auswendig. Sie schrieb nicht, dass sie auf ihn warten würde, aber sie hatte auch keinen andern genommen. Noch ein Jahr musste er sich gedulden. Nur noch ein einziges Weihnachtsfest in der Wildnis, dann würde er ihr weniger bieten können, als sie verdiente, aber viel mehr als dieses Nichts vor seiner Abreise. Der Gedanke war tröstlich.

Das darauffolgende Jahr verlief nicht besonders gut, weil er merkte, dass er einen ganzen Winter nicht durchhalten würde. Er kehrte früher aus den Wäldern zurück, mit nur halb so viel Tierfellen wie beim ersten Mal. Aber er bekam für die Pelze immerhin zweieinhalbtausend Dollar. Den größten Teil seines Geldes legte er auf einer Bank in Montreal an, vom Rest kaufte er Reisechecks und fuhr nach Irland. Es war Ende April, die Osterglocken blühten. Im Dorf wartete er an der Schulpforte, bis sie die Kinder entlassen hatte.

Als Everly ihn erblickte, hielt sie sich die Hand an den Hals und biss sich auf die Lippen, dann rieb sie sich die Augen, als wäre ein Staubkörnchen hineingeraten.

„Da bist du endlich, Ryan McHannay.“

Ryan betrachtete Everly in der Sonne, die ihr Haar, von dem er so oft geträumt hatte, leuchten ließ, er brachte er kein Wort über die Lippen. Tief in seinem Brustkorb hörte er wieder dieses stürmische Rauschen. Er blieb stehen wie ein Schuljunge, bis sie auf ihn zukam und seinen Arm nahm.

Sie gingen Seite an Seite, sprachen kein Wort. Sie verließen das Dorf, liefen über die Felder bis zu dem Hügel, von dem das Tal unter ihnen grün und sanft war und das Dorf einer Puppensiedlung glich. Er konnte es immer noch nicht fassen, dass er ihre Hand hielt, dass ihre Zartheit neben ihm war, dass ihr Duft ihn schwindlig werden ließ und dafür verantwortlich war, dass ihm kein Wort über die Lippen kam.

Sie setzten sich auf einen umgestürzten Baumstamm, und da ihm nichts einfiel, was er hätte sagen können, nahm er seinen Kontoauszug und die Reiseschecks aus der Tasche und legte sie ihr auf den Schoß. Aber sie beachtete beides nicht. Stattdessen sah Everly ihn an und ihre Augen waren voller Zärtlichkeit, denn sie sah, wie mager er war, und sah die große Narbe über seine Wange, die er einem Vielfraß verdankte. Die zwei Jahre hatten tiefe Furchen in seinem Gesicht und dunkle Schatten unter seinen Augen hinterlassen. Und sie flüsterte: „Es ist ein großes Geschenk, das du für jemanden wie mich mitgebracht hast.“

Er begriff die Tragweite ihrer Worte erst, als sie die Reiseschecks und den Bankauszug wieder zusammenfaltete und ihm zurückgab, ohne einen Blick darauf zu werfen. In diesem Moment geschah etwas mit ihm, er spürte den Klos in seinem Hals, die aufkommenden Tränen, ihre Arme, die ihn hielten, als er hemmungslos weinte, und auch sie schmeckte das Salz ihrer Tränen, weil sie den Mann gefunden hatte, mit dem sie bis ans Ende der Welt gehen würde.

Ryan schob die Erinnerungen an Kälte, Wahn und Einsamkeit beiseite und richtete seine Aufmerksamkeit auf das Hier und Jetzt. Er erzählte Everly von dem Land, wo er gewesen war; von den grünen Wäldern und den Granitfelsen und dem furchtbaren dunklen Boden und den Seen und Inseln und der einsamen Schönheit.

Sie sagte nur: „Zeig es mir.“

Er sah sie an. „Aber zuerst musst du einwilligen, mich zu heiraten, Everly.“

Da kehrte ihr Lächeln zurück. „Das habe ich schon bei unserer ersten Begegnung getan. Wenn du damit meinst, dass ich die Worte sprechen soll, dann lass es uns tun.“

Und die feierlichen Worte wurden gesprochen: „Uns zu lieben, zu ehren und zu gehorchen, bis dass der Tod uns scheidet.“ Dann küsste er sie zum ersten Mal. Er hielt sie für die schönste Braut. Die weißen Spitzen schienen weißer, denn je auf ihrem blauschwarzen Haar, und die Farbe ihrer Wangen war lebhafter als die rosa Blüten in ihrem Arm, und in ihren Augen lag eine Seligkeit, die der Verstand nicht begreifen kann. Sie flohen unter einem Regen von Reiskörnern, Schuhen, Umarmungen und Glückwünschen und eilten zum Schiff.

Einen Monat später standen sie auf einer andern Anhöhe. Vor ihnen erstreckten sich die breiten, immergrünen Hügel bis zum Horizont, unter Wolkentürmen, die der Wind über den Himmel schob. Im Tal glitzerte die Sonne auf einem tiefblauen See. Die Luft roch nach Tannen und wilden Blumen. Everly zitterte innerlich, so großartig war das Bild, das sich ihr bot.

Ryan deutete auf eine kleine Waldlichtung unter ihnen, wo junge Bäumchen, Margeriten und Butterblumen wuchsen. „Dort“, sagte er.

Everly nickte mit strahlenden Augen. „Ja, dort.“

Er legte den Arm um ihre Schultern und zog sie an sich. „Ich will aber nicht, dass du nur meinetwegen bleibst. Du hast noch Zeit, es dir zu überlegen. Du sollst sicher sein, dass es das ist, was du willst.“

Everly blickte lange in die Ferne. „Das ist alles, was ich will.“

„Es wird kein leichtes Leben. Im Winter sind wir wochenlang eingeschneit sein und die Temperatur sinkt bis auf 40 Grad.“

Everlys Blick schweifte über die Heerscharen von Tannen, die sich bis zum Horizont erstreckten. Mit einem hellen Lachen hielt sie dagegen. „Nun, an Brennstoff wird es uns nicht fehlen, um uns warm zu halten.“

„Du wirst auf einem Holzherd kochen müssen. Und es gibt keine Wasserleitung, überhaupt keinen Komfort.“

„Willst du mich etwa entmutigen?“

Er lächelte auf seine langsame Art, um seine Augenwinkel bildeten sich Fältchen. „Du weißt, was ich will, mein Herz.“

Mit Everly bekam er in der neuen Heimat ein neues Zuhause.

In dieser wilden Einsamkeit wurde ihr Sohn am Weihnachtstag geboren, in dem riesigen Himmelbett, das sie aus Irland mitgebracht hatten. Ein Arzt war nicht dabei, denn Jamie kam kurz nach Mitternacht zur Welt, und das neugebaute Haus steckte bis zu den Fenstern im Schnee. Ryan hörte den ersten Schrei des Kindes, als er zwischen dem sprudelnden Wasserkocher in der Küche und den Geburtshilfebüchern auf dem Esszimmertisch hin und her lief. Er eilte herbei, nahm das rote Bündel und durchtrennte die Nabelschnur, wie er es in den Büchern gelesen hatte. Dann badete er seinen Sohn, wickelte ihn in weiche Flanelltücher und legte ihn in Everlys Arme. Er betrachtete das kleine zusammengekniffene Gesicht, die fleckige Haut und die fest geschlossenen Augen, und er wusste, warum er ein Mann war und warum er diese eine Frau gewählt hatte. Plötzlich begann er vieles zu verstehen, was er nicht gewusst hatte.

Nachdem Everly geschlafen hatte, packten sie das Baby aus und betrachteten es vom Kopf bis zu den winzigen Zehen, und fanden es vollkommen. Draußen fegte der Wind die Schneeflocken gegen die Fensterläden, und irgendwo in der Ferne heulte ein Wolf, aber das Feuer knisterte warm und beruhigend, und sie schauten voller Staunen und Entzücken auf ihr Kind, wie es Eltern seit Urzeiten taten. Sie hatten es gemeinsam vollbracht.

„Machen das alle Babys so?“, fragte Ryan. „Ich meine, klammern sie sich alle so fest an und saugen und schlucken, dass man es in ihrem Magen plätschern hört?“

„Ja. Aber nur wenige haben so viel Kraft. Er sieht dir ähnlich, Ryan.“

„Haben sie alle solche Haare?“

„Ganz gewiss nicht. Sie kommen sehr selten mit einem Haarschopf auf die Welt, den man schon kämmen kann.“

„Er hat Schultern wie ein Lastenträger. Warum macht er wohl die Augen nicht auf?“

„Er ist ja doch erst ein paar Stunden alt. Lass ihm Zeit, Ryan!“

„Ich würde aber gerne die Farbe sehen.“

„Sie sind blau.“

„Woher weißt du das?“

„Da, sieh mal.“

„Pass auf! Du tust ihm weh! Herr im Himmel, sie sind blauer als Vergissmeinnicht! Bleiben sie so?“

„Ich bin nicht sicher, aber ich glaube, zuerst haben alle Babys blaue Augen.“

„Und wann ändert sich die Farbe dann?“

„Nach ein paar Monaten.“

„So ein Wunder! Warum trinkt er nicht mehr?“

„Er ist satt.“

„Er ist so still. Ist das in Ordnung?“

„Siehst du denn nicht, dass er schlafen will, Ryan? Trag ihn in seine Wiege.“

„Ich? Er könnte in meinen Händen in Stücke gehen.“

„Ich habe gesehen, wie du ein neugeborenes Lämmchen gehalten hast. Du hast so gute Hände. Nimm ihn einfach.“

„Everly, ich …“

„Nimm ihn!“

Behutsam, die Stirn ängstlich gerunzelt, hob er seinen Sohn auf, legte ihn vorsichtig in die Wiege und deckte den Kleinen zu. Als er zum Bett zurückkehrte, war Everly eingeschlafen.

Lange Zeit stand er reglos da. Ihr dunkles Haar lag offen auf dem Kissen, ihre sanft geschwungenen Lippen waren ein wenig blass vor Erschöpfung. Dann blickte er wieder auf die Wiege, die seit Monaten leer gestanden hatte und in der nun ein kleines Leben friedlich schlief.

Und er beugte sich über seine Frau und küsste sie zart auf die Stirn. Später schrieb er in sein Tagebuch: Mit Jamie ist unser Glück vollkommen.

Kapitel 2

Acht Jahre später

Ryan & Everly

Das Kaninchen hatte seine langen rosa Ohren flach an den Körper gelegt. Seine Augen glänzten. Ein leichtes Zittern lief über seine Flanken, und wieder fiel ein nacktes, feuchtes Junges ins Stroh. Sechs waren gleich groß, aber das siebte war wesentlich kleiner. Die Mutter warf sich auf die Seite, und ihre blinden, mausartigen Jungen witterten die Milchquelle. Sie krochen an die Zitzen, stemmten ihre Pfoten gegen die Köpfe und Bäuche der anderen und versuchten, die Geschwister wegzustoßen. Bald saugten sechs gierig, nur das siebte und Kleinste war zu schwach, um sich dazwischen zu drängen. Es strampelte kläglich auf dem Stroh.

Jamie McHannay hockte vor dem Verschlag, das Kinn in die Hände gestützt. Er war für sein Alter ein kleines Kind, braungebrannt von der Sommersonne, barfuß und nur mit einem zerschlissenen Drillich-Overall bekleidet. Die schmutzigen Hände, die sein Gesicht bedeckten, hatten ein halbes Dutzend Schnitte und Kratzer, aber die Finger waren lang und wohlgeformt. Eine Locke seines eigenwilligen schwarzen Haares fiel ihm in die Stirn, und über den großen dunklen Augen zogen sich die schwarzen Brauen besorgt zusammen.

Nach ein paar Minuten öffnete er den Verschlag, nahm eines der Jungen von der Mutter und legte das Kleinste an die Brust, bis es zu saugen begann. Zufrieden hockte sich Jamie wieder hin, aber das kräftigere Kaninchen war schon auf dem Weg zur Mutter. Es folgte ein ebenso leiser wie unerbittlicher Kampf, bei dem das kleinere Kaninchen zur Seite gedrängt wurde. Jamie schüttelte ungeduldig den Kopf und half ihm zurück an seinen Platz. Eine ganze Weile ging das so. Immer wieder schob er ein anderes zur Seite, um dem schwächeren Platz zu machen, und als alle aufhörten zu saugen, hatte das siebte Kaninchen etwas mehr getrunken als die anderen.

Jamie schloss den Verschlag, verließ den Stall und lief barfuß durch den weichen Staub des Hofes. Vor der Stalltür war ein junger Bär angekettet; er lief auf Jamie zu, wurde aber von der Kette zurückgerissen und überschlug sich. Jamie lachte, band ihn los und legte beide Arme um ihn. Der kleine Bär bäumte sich auf und versuchte, das Ohr des Jungen zu lecken, während Jamie sein Gesicht im staubigen Fell vergrub.

„So, jetzt halt still“, sagte er, „ich will deine Pfote untersuchen. Ganz ruhig!“ Die entzündete Stelle, in die sich die Borsten eines Stachelschweins gebohrt hatten, war fast verheilt. Jamie nickte zufrieden.

„Guten Morgen, mein Junge!“

Jamie schaute lächelnd auf. „Das Kaninchen hat Junge bekommen, Dad!“

„Und du warst der Geburtshelfer? Sehr gut.“ Ryan sah seinen Sohn an, der eine Überzeugung ausstrahlte, die alle immer wieder in ihren Bann zog.

„Eins war ganz schwach, da musste ich ihm helfen, Dad. Es wäre gestorben, wenn ich nicht da gewesen wäre.“ Das Gesicht des Achtjährigen wurde plötzlich ernst. „Das ist nicht gut. Die Kleinsten brauchen die Milch am meisten.“

Ryan blickte auf die gestikulierenden Hände des Kindes, die seine Worte begleiteten. „Das stimmt, Jamie, aber so ist die Natur. Sie hält das Gleichgewicht zwischen Leben und Tod.“

Jamie runzelte die Stirn und in seinen Augen las Ryan nur Fassungslosigkeit. „Aber vielleicht wird ausgerechnet dieses Junge hübscher als die anderen oder klüger.“

„Schon möglich. Wir werden sehen.“

„Ich werde das Kleine nicht sterben lassen, Dad.“

Ryan nickte und strich ihm zärtlich über den Kopf. „Ja, das weiß ich.“

„Heute Morgen habe ich auch Blitz gesehen.“

„Das Reh mit dem weißen Fleck auf der Stirn? Das du vor zwei Jahren gesundgepflegt hast?“

„Ja. Es war kurz nach Sonnenaufgang. Ich wollte gerade in den Stall gehen, da stand es plötzlich am Waldrand und hat mich angeschaut. Da habe ich mich mit ihm unterhalten.“

„Unterhalten? Hm… Jedenfalls bin ich froh, dass es ihm gut geht.“

„Blitz hat mir damals die Milch von den Fingern geleckt. Aber ich glaube, er hat mich heute erkannt. Darf ich jetzt zum Biberdamm gehen, Dad?“

Ryan lächelte über die unerwartete Wendung. „Hast du deine Arbeit erledigt?“

„Ich … ja, fast“, antwortete Jamie. Er griff nach einem Stück Holz und zeichnete damit einen unregelmäßigen Kreis in den Staub.

„Fast? Und was bedeutet fast, Jamie? Was fehlt noch?“

„Ach, die Kaninchen und so … Ich bin noch nicht ganz fertig.“

Ryan holte seine Pfeife aus der Jackentasche und blickte in den Wald. Das Immergrün leuchtete in der gleißenden Sonne, und die hohen schlanken Birken winkten ihnen wie weiße Finger zu. Es muss schwer für ein Kind sein, an einem solchen Morgen auf dem Hof zu helfen, wenn draußen die schönste Welt wartet, dachte er. „Also gut, mein Junge, dann geh schon.“

Jamies Gesicht strahlte. Noch bevor sein Vater den Satz zu Ende gesprochen hatte, stürmte er los, schlüpfte unter dem Zaun hindurch und lief quer über das Kartoffelfeld.

Ryan sah ihm nach, bis er im Wald verschwunden war, dann betrat er die Küche, wo Everly gerade den Brotteig knetete. Als er hereinkam, strich sie sich mit dem Arm eine Haarlocke aus der Stirn.

„Ist die Geburt vorbei, Ryan? Dein Sohn ist in aller Herrgottsfrühe aufgestanden, nur um dabei zu sein.“

„Er hat ein Junges das Leben gerettet. Nach meinem Kenntnisstand haben wir jetzt fünfundvierzig Kaninchen.“ Er schüttelte den Kopf. „Im Herbst werden wir in Fellen schwimmen.“

„Hast du mit Jamie darüber gesprochen?“

Ryan rieb sich verlegen über das Kinn. „Das hatte ich vor, Everly, aber ich … ach, ich konnte es nicht.“

Sie seufzte. „Wenn es um Jamie geht, bist du eine … Haselnuss“, erwiderte sie, aber ihr Blick war sanft. „Wo treibt sich unser Sohn jetzt herum?“

„Im Wald.“

„Was macht er denn da, so ganz allein?“

Ryan grinste. „Er spricht mit den Tieren. Wusstest du das? Vorhin hat er mir erzählt, er hätte sich mit diesem Reh unterhalten, das wir vor zwei Jahren gesund gepflegt haben.“

„Ach, Ryan, das ist doch Blödsinn!“

„Da wäre ich mir nicht so sicher. Weißt du noch, als er letzte Woche nicht zum Essen nach Hause kam und ich ihn suchen musste?“

„Natürlich.“

„Es war so still im Wald, da konnte ich nicht einfach nach Jamie rufen, das hätte sich angehört, als würde ich in einer Kirche herumbrüllen. Also war ich auch leise, und plötzlich sah ich ihn. Er saß ganz still unter einer Tanne und beobachtete alles mit seinen großen Augen. Seltsam war es, sonst läuft, springt und tobt er immer herum, aber da saß er, ohne sich zu rühren, ganz still, ohne mit der Wimper zu zucken.“

„Was gab es da Interessantes zu sehen?“

„Nichts. Absolut nichts. Ich dachte, ich sei auch mucksmäuschenstill und er könne mich nicht sehen, aber dann drehte er sich um und sagte: Die Tiere werden sich nicht zeigen, Dad, wenn du so einen Lärm machst, dabei habe ich kaum geatmet!“

Everly lächelt. „Worauf hat er denn gewartet?“

„Auf Rebhühner und Kaninchen, manchmal sieht er auch Füchse und Rehe. Er wartet einfach, bis sie kommen. So wie er da saß … Es war, als würde eine Welle der Wärme in mir aufsteigen, die ich kaum beschreiben kann, so schön und tröstlich zugleich. Es war ein Moment, wie ich ihn nicht oft erlebe und der eine ungeheure Intensität ausdrückte.“

„Es ist wunderbar, dass du so empfindest. Jamie ist ein sensibler, einfühlsamer Junge. Das hat er von dir. Aber …“

„Ja?“

„Die kleinen Tiere sind nicht gefährlich. Aber was ist mit den Bären?“

„Er sagte, er habe den Fischottern am Fluss zugeschaut und plötzlich sei ein Bär gekommen, um einen Fisch zu fangen, und der sei ihm ganz nahegekommen.“

„Ryan, um Himmels willen!“

„Zwischen Jamie und dem Bären war nur ein wilder Himbeerstrauch. Der Bär sah ihn über den Strauch hinweg an, legte überrascht den Kopf schief und brummte, und unser Sohn – stell dir vor – brummte auch. Die Tiere hören Jamie einfach zu, intensiv und ohne störende Halblaute. Schließlich fand der Bär das Gespräch langweilig und trottete wieder davon.“

„Oh, Ryan! Ryan! Das ist doch verrückt, das Kind muss verrückt sein!“

„Hm… ich weiß nur, dass ich nie auf die Idee käme, mich mit einem riesigen Tier zu unterhalten, das direkt vor mir steht.“

„Ryan, du musst mit ihm reden. Meinst du, wir sollten ihm verbieten, alleine in den Wald zu gehen?“

„Das können wir nicht. Er hat sich zu lange an seine Freiheit gewöhnt. Jamie würde das nicht verstehen.“

„Aber wenn das alles stimmt, dann spielt er im Wald mit seinem Leben.“

„Ich habe ihm schon gesagt, dass er vorsichtig sein muss.“

„Und was sagt er dazu?“

„Dass er nie unvorsichtig ist. Tatsächlich hat er noch nie einen Kratzer abbekommen. Aber wenn das so weitergeht, sieht unser Haus bald aus wie eine Tierklinik.“

„Ryan McHannay … wer hat das Bärenjunge mit nach Hause gebracht und auf meinen Küchentisch gesetzt?“

„Ach, es hat keinen Sinn. Wir können es nicht ändern. Gib lieber der Haselnuss einen Kuss.“

„Geh weg! Ich bin voller Mehl. Sei froh, dass ich die ganze Arbeit mache, während du herumlungerst und jammerst, dass wir ein paar hilflose Tiere füttern müssen!“

Er umfasste ihre Taille und drückte sein Gesicht an ihren Hals.

„Ryan, lass mich los! Siehst du nicht, dass ich arbeite?“

„Gut, aber was kann ich tun, um dir zu zeigen, wie sehr ich dich liebe?“

„Du kannst uns einen Rehbraten besorgen. Wir haben nichts mehr.“

„Ich habe schon lange kein Reh mehr gesehen.“

Ein verhaltenes Lächeln blitzte in Everlys Augen auf. „Kein Wunder, wenn du so viel Lärm machst, wie Jamie behauptet! Aber versuch's noch mal. Und nimm ihn mit. Er brennt darauf.“

„Er wird mir nur im Weg sein.“

„Mag sein, aber ich würde mich nicht wundern, wenn er dir zeigt, wo sich die Rehe verstecken.“

„Blödsinn. Ihr bekommt beide euren Willen. Morgen früh nehme ich den Jungen mit.“

Everly beugte sich vor und gab Ryan einen flüchtigen Kuss.

---ENDE DER LESEPROBE---