Erhalten Sie Zugang zu diesem und mehr als 300000 Büchern ab EUR 5,99 monatlich.
Soul hat eine schwere Krankheit durchlebt und soll sich erholen. Ausgerechnet jetzt verschwindet der Mensch, der ihr immer zur Seite gestanden hat: Sir W.I.T. Auf der Suche nach ihm trifft sie alte Bekannte. Alle fragen sie nach dem Himmel, den sie gesehen hat, der alte Mann auf Kreta, Klon Nummer Drei aus dem Kornreservat, selbst der reservierte und sonst so nüchtern wirkende Reservatleiter denkt plötzlich über Spiritualität nach. Soul hingegen sucht Sicherheit und Geborgenheit im Hier und Jetzt. Dabei helfen ihr einige Serienhelden aus der Anfangszeit des Fernsehens, die sie bei einem Aufenthalt im Wellness-Satellitencenter entdeckt hat: Jeannie, Catweazle und Mister Ed. Ein würdiger Abschluss der Tambara-Trilogie: Während die Autorin in den ersten beiden Bänden die Beziehungen zwischen Natur und Technik (Bd. 1) beziehungsweise Gentechnik (Bd. 2) beleuchtet hat, spannt sie im vorliegenden Buch den Bogen zu Spiritualität und Liebe.
Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:
Seitenzahl: 301
Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:
Heike M. Major
TAMBARA
und überall der Himmel
Engelsdorfer Verlag Leipzig 2024
Bibliografische Information durch die Deutsche Nationalbibliothek: Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet über http://dnb.de abrufbar.
Copyright (2024) Engelsdorfer Verlag Leipzig
Alle Rechte bei der Autorin
Fotos und Collage „… sich zu entfalten”: Heike M. Major
E-Book-Herstellung: Zeilenwert GmbH
www.engelsdorfer-verlag.de
Gibt es nicht zu denken, dass Menschen, die eine Nahtoderfahrung durchlebten, in diesem Zustand des absoluten Friedens und bedingungslosen Angenommenseins auch sanfte Hügel, saftige Wiesen, leuchtende Blumen und kraftvolle Bäume zu sehen bekamen, aber kein einziges technisches Gerät?
Heike M. Major
1
2
3
4
5
6
7
8
9
10
11
12
13
14
15
16
17
18
19
20
21
22
23
24
25
26
27
28
29
30
31
32
33
34
35
36
37
38
39
Zitat-Nachweis
Soul hatte sich verändert. Zumindest behaupteten das die anderen. Zwölf Tage im Krankenhaus, davon sieben auf der Intensivstation, und eine simple Lungenentzündung hatten sie verändert. Die Ärzte sprachen von einer Turbo-Genesung, dank modernster Technik und maßgeschneiderter Medikation konnte sie schon nach kurzer Zeit das Hospital wieder verlassen, doch sie war ganz unten gewesen, hatte dem Tod ins Auge gesehen und nun war sie zu Hause und sollte sich erholen.
Soul ging in ihrem großzügigen, spärlich möblierten Wohnraum im Zeitlupentempo auf und ab. Nicht einmal ihrem Bruder Reb hatte sie erzählt, wie es gewesen war, als sie an all den Schläuchen lag, sich das Leben langsam verabschiedete und der Tod immer näher kam. Sie hatte gekämpft, wie eine Wahnsinnige gekämpft, als sich die ersten Bilder einstellten, ihre Vergangenheit wie ein Film vor ihr ablief und sie ihren Körper zu verlassen drohte, um in eine andere Dimension hinüberzugleiten. Am Ende, als ihr nichts und niemand mehr helfen konnte, hatte sie ihren Großvater angefleht, ihren Großvater, der zehn Jahre zuvor gestorben war. Wenn er nicht gewesen wäre, sie hätte nicht überlebt.
Nun stand sie wieder mit beiden Beinen auf der Erde und hielt es in Tambara schon fast nicht mehr aus. Wie gerne würde sie ihre Koffer packen und in die Welt hinausstürmen, aber die Ärzte hatten ihr solche Strapazen strikt untersagt. Auch heutzutage bräuchte der menschliche Körper zur vollständigen Genesung noch seine Zeit, denn er sei immer noch ein Stück Biologie, ein Teil der Natur und die habe ihren eigenen Rhythmus und ließe sich zu nichts zwingen.
Soul war wütend. Ausgerechnet ihr, der Naturfreundin, mussten sie solche Vorträge halten. Wussten sie denn nicht, mit wem sie es zu tun hatten? Immerhin war sie diejenige, die maßgeblich am Projekt „Stadtmensch auf Kreta“ mitgewirkt und als Musikfachfrau auch viele kretische Lieder der Öffentlichkeit zugänglich gemacht hatte, einer Öffentlichkeit, die, sobald ihr bewusst wurde, wie viel an eigener Geschichte ihr von der Regierung vorenthalten worden war, sich auf alles stürzte, was mit dem Begriff „Vergangenheit“ etikettiert wurde.
„Computer: Mails!“, wandte sie sich an ihre Wohnraumwand und warf sich auf das Sofa.
„You’ve got mail“, flötete eine weibliche Stimme.
„Schon gut – sprich Deutsch.“
„Eine Mail – als Film übersandt von …“, ergänzte ihr Computer.
„Mail ist kein deutsches Wort“, widersprach Soul.
„Dieser Begriff wurde in den Anfangszeiten des Computerzeitalters aus der englischen Sprache übernommen, um die elektronische Post von der damals noch üblichen, durch ein Transportunternehmen zugestellten, physischen Nachricht zu unterscheiden“, belehrte sie der Computer. „Das Wort ‚Mail’ ist in der deutschen Sprache durchaus gebräuchlich.“
„Als wenn ich das nicht wüsste“, murrte Soul. „Akzeptieren.“
„Worauf bezieht sich Ihr Wunsch ‚Akzeptieren’?“
„Auf die Mail natürlich, mein Gott, hast du ein kurzes Gedächtnis.“
„Gedächtnis? Möchten Sie eine Wiederholung …?“
„Nein! Mail öffnen!“
Der Kopf der Freundin erschien auf der Bildschirmwand.
„Schön, dass du wieder zu Hause bist“, freute sich Botoja, „gib mir Bescheid, wenn du mich sehen willst, ich eile. Ach ja, und gräme dich nicht, wenn der mächtige Sir – du weißt schon, wen ich meine – sich nicht sofort bei dir meldet. Er ist bestimmt wieder unterwegs.“
Die Freundin zwinkerte Soul zu, während sich ihr Gesicht im Weiß der Wohnraumwand auflöste.
„Keine weiteren Nachrichten“, verkündete die Maschine.
Soul schmollte.
Der mächtige Sir …!
Sir W.I.T. hatte sie seit ihrem Abenteuer auf Kreta nur noch selten gesehen. Es war immer dasselbe. Kaum hatte er sein Ziel erreicht, verschwand er kommentarlos von der Bildfläche. So war es nach der Befreiung der Gefangenen aus dem Kornreservat gewesen und genau so nach der Geschichte mit dem alten Mann auf Kreta. Hier in ihrem Wohnraum hatten sie an jenem Abend vor dem Fenster gesessen und auf die Stadt Tambara hinausgeschaut, hatten sich ihre Abenteurer in Erinnerung gerufen, die letzten Fragen geklärt und über die Zukunft gesprochen, um anschließend still und friedvoll dem neuen Tag entgegenzuharren. Es war das erste Mal gewesen, dass er dieses Gefühl der Vertrautheit zwischen ihnen zugelassen hatte, ein Gefühl, das Soul schon lange empfand und das sie immer wieder veranlasste, ihm so gut wie alles zu verzeihen, so oft sie sich auch über ihn ärgerte. Sogar geküsst hatten sie sich. Es war ein langer, intensiver Kuss gewesen, der mehr gesagt hatte als all die Worte, die zwischen ihnen gefallen waren. Doch als die Sonne aufging, hatte er sich höflich, aber bestimmt verabschiedet, ohne ein Wort darüber zu verlieren, wohin es ihn trieb oder warum er es auf einmal wieder so eilig hatte. Ab und zu kam eine Mail von Wesley Havard, seinem Stellvertreter, sie solle sich diesen oder jenen Vortrag anhören oder eine Sendung aus dem Kornreservat ansehen, aber auf persönliche Nachrichten von ihm wartete sie vergebens. Auch die Mails unterschrieb er stets mit seinem Zeichen, einer Muschel, nie mit seinem eigenen Namen. Selbst seine geschiedene Frau wusste nie, wo er war. Sie ging ihrem Beruf als Journalistin nach, und es genügte ihr zu wissen, dass er wohlauf war.
Soul holte sich ein Glas Wasser aus der Küche und setzte sich auf das Sofa, das mittlerweile wieder an seinem alten Platz gegenüber der Videowand stand. Nur einmischen musste er sich immer und überall. Während sie auf der Intensivstation lag, hatte er sich täglich beim Krankenhauspersonal nach ihrem Gesundheitszustand erkundigt, soviel zumindest war ihr von den Schwestern verraten worden, aber nur ein einziges Mal hatte er sich persönlich bei ihr gemeldet und mittels Bildkopf auf dem Computerarmband nach ihrem Befinden gefragt. Danach war er wieder spurlos verschwunden, was natürlich nicht hieß, dass er sich aus ihrem Leben heraushielt. Es würde sie nicht wundern, wenn er die Ärzte veranlasst hätte, ihr so eindringlich zur Ruhe zu raten.
Schon oft hatte Soul mit dem Gedanken gespielt, den Code ihres Technikarmbandes zu ändern, damit Sir W.I.T. ihre Aktivitäten nicht auf seinem Computer verfolgen konnte, aber irgendetwas hielt sie immer wieder zurück. Dass einer seiner Gefolgsleute sie dank dieser Nummer schon einmal vor dem sicheren Tod bewahrt hatte, als sie um ein Haar in eine kretische Schlucht gestürzt wäre, verbannte sie in den hintersten Winkel ihres Bewusstseins.
„Dann lösche die Nummer doch endlich“, pflegte Botoja zu erwidern, wenn sie sich wieder einmal über seine bevormundende Art beschwerte. „Er kann sowieso nicht ständig auf dich aufpassen.“
„Auf mich aufpassen …“, protestiere Soul dann jedes Mal entrüstet, „also hör mal!“
Ein breites Grinsen seitens Botojas beendete diese Art von Gesprächen meist ziemlich schnell, denn die Freundin kannte Souls Gefühle Sir W.I.T. gegenüber nur zu gut.
Soul legte sich rücklings auf die Couch und wandte sich an den Computer.
„Favourite Songs“, forderte sie ihn auf.
„Would you like …?“
„Pardon, ich meinte …“, verbesserte sich Soul.
„Aimeriez vous …?“
„Quatsch, auf Deutsch!“
„Welche Ihrer Lieblingslieder …?“
„Herr Gott, fang einfach irgendwo an.“
Vielleicht sollte sie die Maschine doch einmal auf die deutsche Sprache umstellen. Die meisten Computer waren vom Werk aus so eingestellt, dass sie in der Sprache reagierten, in der man sie ansprach. Doch mitunter ging ihr dieser ständige Sprachenwechsel, den sie selbst durch das häufige Benutzen fremdsprachiger Begriffe regelmäßig auslöste, gehörig auf die Nerven.
Soul seufzte. Erneut musste sie an Sir W.I.T. denken, den Erfinder des Tambara-Apfels, des einzigen Apfels, den es heutzutage noch zu kaufen gab. Mittlerweile hatte er auf seiner privaten Plantage auch eine vielversprechende Tomatenpflanze gezüchtet, die vielleicht schon sehr bald die noch im Verkauf befindliche Kimbola-Tomate vom Markt verdrängen würde, was Soul im Grunde ihres Herzens bedauerte. Denn momentan gab es wieder zwei Tomatensorten in Tambara, eine kleine Sensation in einer Stadt, in der von den vielen Obst- und Gemüsesorten, die es früher einmal gegeben hatte, nur die jeweils wirtschaftlich einträglichste übrig geblieben war. So hatte es bisher nur den Tambara-Apfel, die Lianca-Birne, den Petrochini-Pfirsich und die Chicotora-Banane gegeben, und plötzlich existierten wieder zwei Tomatensorten in der Stadt. Vielleicht hatten die Bürger Tambaras ja auch dazugelernt, überlegte Soul. Manchmal jedenfalls beobachtete sie Kunden, die wiederholt beide Sorten in den Einkaufswagen legten, so als könnten sie auf diese Weise verhindern, dass eine der beiden wegen zu geringer Verkaufszahlen wieder vom Markt verschwand.
Soul rekelte sich ausgiebig. Während sie die weiße, makellose Decke ihres Wohnraums betrachtete, ließ sie in Gedanken die Abenteuer mit Sir W.I.T. Revue passieren. Wieso reiste er eigentlich immer noch in der Welt umher? Er hatte doch alles erreicht, was er sich vorgenommen hatte, all seine Pläne in die Tat umgesetzt, alle seine Vorhaben zu einem guten Abschluss gebracht. Seine Frau und die anderen Gefangenen waren mit seiner Hilfe aus dem Kornreservat befreit worden, die Klone lebten zufrieden mit ihrer neuen Aufgabe, den Städtern die Natur zu erklären, der alte Mann genoss seinen Lebensabend auf Kreta fernab der Städte, die immer noch weitgehend ohne Natur auskommen mussten, sich aber nach und nach ersten Projekten wie zum Beispiel dem Halten von Topfpflanzen in speziell dafür ausgewählten und behördlich genehmigten Wohnräumen öffneten, und sogar seine neue Tomatensorte hatte er mit Erfolg auf den Markt gebracht. Was gab es denn nun noch zu erforschen? Wieso blieb er nicht einfach mal zu Hause auf seiner Apfelplantage? Wieso war er immer so schwer zu erreichen, und wieso machte er auch jetzt noch ein Geheimnis aus seiner Existenz? Immer noch sah man kein einziges Bild von ihm in der Zeitung, er hielt keine Vorträge vor der Fachwelt und wenn man im Net einen Hinweis auf seinen Aufenthaltsort zu entdecken glaubte, konnte man sicher sein, dass er längst weitergereist war. Er hatte einmal zu Soul gesagt, er wolle noch über die Straße gehen können, ohne erkannt zu werden, und dies sei für einen Mann seiner Berühmtheit sonst kaum möglich. Auch Soul liebte die Anonymität und konnte ihm diesbezüglich nur beipflichten, und natürlich wusste sie, dass die Klone ihn nie in das Kornreservat eingeladen hätten, hätten sie ihn nur irgendwie mit der Journalistin in ihrem Reservat in Verbindung gebracht, die sich schließlich als seine Frau entpuppte. Das hieß, in der Anonymität ließ es sich schlichtweg besser forschen. Aber gab es denn überhaupt noch etwas zu erforschen?
Soul stutzte. Vielleicht war er ja genau deshalb für sie nicht zu erreichen. Vielleicht war er tatsächlich wieder einem Geheimnis auf der Spur, einem Geheimnis, von dem sie nichts wusste, nichts wissen durfte. Sollte er etwas vor ihr verbergen?
Nervös setzte sie sich auf. In diesem Moment sprang die Videowand an. Das helle Licht der Bildschirmfläche erschien schlagartig, noch bevor sie die Erlaubnis zum Öffnen irgendeiner Mail erteilt hatte.
„Schöne Musik“, stand in großen schwarzen Buchstaben an der Wohnraumwand. Darunter erschien die ihr bekannte Muschel. Eine Stimme war nicht zu hören.
„Geht es Ihnen gut?“
„Wieso hören Sie meinen Computer ab?“, sprach Soul mit der Wand. Diese schrieb ihre Worte in den gleichen schwarzen Lettern unter die seinen.
„Ich wollte Sie nicht aus dem Schlaf reißen und habe zugegebenermaßen gelauscht. Als ich die Musik hörte, wusste ich, Sie sind noch wach.“
„Und woher wissen Sie, dass ich im Wohnraum sitze?“
„Ihr Technikarmband bewegt sich nicht von der Stelle.“
„Sie können es nicht lassen.“
„Was?“
Mir nachzuspionieren, wollte sie antworten, doch stattdessen ließ sie ihren Computer schreiben: „Recht zu behalten“.
„Es war nicht böse gemeint“, entschuldigte sich Sir W.I.T., „aber ich gebe zu, es macht mir ein wenig Spaß, Sie zu ärgern. Meine Angestellten trauen sich ja nicht, mir zu widersprechen. Das ist auf Dauer ziemlich langweilig.“
Soul seufzte.
„Dann ist das also mein Schicksal.“
„Lassen Sie es mich wissen, sollte ich über die Stränge schlagen. Und ruhen Sie sich aus, damit Sie bald wieder gesund sind. Was halten Sie davon, wenn wir Ihre Genesung bei einem Gläschen Wein oder einem Glas frischen Traubensaft feiern? Weiterhin gute Besserung, Sie hören von mir.“
Das weiße Licht erlosch, und die schwarzen Buchstaben verschwanden von der Wohnraumwand.
Soul saß noch eine Weile auf dem Sofa und überlegte. Ihre Gesundheit lag ihm also doch am Herzen. Er wollte sie tatsächlich sehen. Sie fühlte sich geschmeichelt. Nach einer Weile allerdings kamen ihr Zweifel. Das Jazz-Konzert im Mediencenter fiel ihr ein, dort waren sie sich das erste Mal begegnet. Erst allmählich hatte sie begriffen, dass er damals ganz bewusst ihren Kontakt gesucht hatte. Er wusste, dass sie mit ihrem Bruder Reb und den Freunden Mortues und Botoja regelmäßig in der Vergangenheit stöberte, und er konnte davon ausgehen, dass die jungen Leute wertvolle Informationen für ihn bereithielten. Auch später, als er sie im Kornreservat zu einem Spaziergang in der Naturschau einlud, wollte er nur das Gelände mit seinem Technikarmband scannen. Es war schlicht unauffälliger, mit einer jungen Dame durch die Landschaft zu wandern, als das Tal mit dem großen See alleine zu erkunden. Und als sie im Büro des Reservatleiters auf den Fahrstuhlknopf drücken durfte, brauchte er einfach zwei Leute, sie für den ersten, seine Frau für den zweiten Schalter. Soul seufzte. Und ausgerechnet dieses Mal sollte er sich für sie persönlich interessieren? Sie gab sich keinen Illusionen hin. Sie war Anfang dreißig, er um die fünfzig. Was konnte sie da erwarten? Auch wenn er noch sehr jugendlich wirkte und der Altersunterschied in einer Gesellschaft, in der man ohne Probleme einhundertzwanzig Jahre alt werden konnte, nicht mehr so ins Gewicht fiel wie in Zeiten mit wesentlich kürzerer Lebenserwartung, hatte er sie das Mehr an Lebenserfahrung doch oft genug spüren lassen.
Soul konnte aus all dem nur schließen, dass er wieder Nachforschungen anstellte. Genau, er war einem neuen Geheimnis auf der Spur, und er brauchte ihre Hilfe. Eigentlich hätte sie sich über ihn ärgern müssen. Aber sie ärgerte sich nur darüber, dass er sie wieder nicht eingeweiht hatte. Stattdessen war sie eher ein wenig stolz, dass er ihre Gesellschaft suchte, und die Aussicht auf ein neues Abenteuer ließ ihre Brust anschwellen. Endlich waren die langweiligen Tage vorbei. Sie musste schnell wieder gesund werden.
„Entspann dich, du hast Urlaub.“
„Ich habe keinen Urlaub, ich bin krank“, korrigierte Soul ihre Freundin.
„Aber du brauchst nicht zu arbeiten.“
„Wenn ich Urlaub hätte, hätte ich schon längst …“
„… wieder etwas angestellt“, stichelte Botoja, die sich insgeheim freute, dass Soul zum Nichtstun verdammt war und nicht schon wieder auf Abenteuer sann.
Die beiden Freundinnen lagen auf der Dachterrasse des Medienkonzerns und nutzten die Mittagspause für ein Sonnenbad. Zwar konnten die künstlichen Palmen hinter ihren Liegestühlen keine echten Bäume und das Chlorwasser des hauseigenen Swimmingpools kein kretisches Meer ersetzen, aber sie waren zumindest dem Himmel ein Stück näher.
„Was treibst du eigentlich so den ganzen Tag?“, wollte Botoja wissen.
„Ich rede mit meinem Computer“, antwortete Soul nüchtern.
„Ernsthaft?“
„Quatsch, ich füttere ihn mit irgendwelchen Begriffen und sehe mir an, was er ausspuckt. Ich sage dir, wenn du nicht zielgerichtet suchst, sondern dich einfach mal treiben lässt, stößt du auf Dinge, von denen du vorher noch nie etwas gehört oder gelesen hast.“
„Erzähl.“
„Nun ja, ich habe da zum Beispiel einige alte Fernsehsendungen aus der Anfangszeit des Farbfernsehens ausgegraben, als die Schauspieler tatsächlich noch schauspielern mussten und ihre Gesichter nicht digital nachbereitet werden konnten. Die Leute wurden zwar schon geschminkt, aber anschließend ging alles nur um die Darstellung, das Spiel. Die Kamera rückte ihnen so nah auf die Pelle, dass man ihre Mimik genau beobachten konnte. Die mussten wirklich etwas können. Sogar das Make-up kann man in diesen Filmen deutlich erkennen. Und man hat als Zuschauer Zeit, die dargestellten Gefühle hautnah mitzuerleben. Du erwartest eine Reaktion und genießt es geradezu, wenn diese dann auch eintritt. Gleichzeitig hast du genügend Zeit, die schauspielerische Leistung zu beurteilen. Die Bildsequenzen sind auch viel länger als in unseren heutigen Filmen. Du musst nicht den Bildern hinterherhetzen, wenn du die Geschichte verstehen willst, und es gibt auch keine dramatische Musik. Die Schauspieler sind da ganz auf sich allein gestellt.“
„Das muss ja eine tolle Sendung sein, die du da entdeckt hast.“
„Ach …, na ja …, das trifft schon auf viele Sendungen von damals zu.“
Soul druckste ein wenig herum.
„Und was ist an dieser so besonders?“, wunderte sich Botoja.
„Wieso an dieser? Ich habe doch gar nicht von einer bestimmten Sendung gesprochen.“
„Doch, hast du, ich kenne dich. Also, was ist es?“
„Tja …, wenn ich jetzt eine herausgreifen sollte …, ach, eigentlich ist es nichts Aufregendes“, meinte Soul ein wenig verschämt. „Man muss bedenken, dass die Zuschauer von damals noch nicht so verwöhnt waren wie wir heutzutage.“
„Also komm, nun mach es bitte nicht so spannend“, drängte Botoja ungeduldig.
„Nun ja, die Geschichte ist eigentlich ganz einfach. Ein Astronaut kommt vom Kurs ab, muss auf einer einsamen Insel notlanden und findet dort eine alte, verwitterte Flasche. Er öffnet sie, und ein weiblicher Gin schlüpft heraus. Die junge Dame verliebt sich in ihren Meister und spickt fortan sein Leben mit einer Überraschung nach der anderen. ‚I dream of Jeannie’, hieß der Originaltitel, glaube ich.“
„Nie gehört.“
„Kannst du auch nicht. Die Serie stammt aus den 1960er-Jahren.“
„Ach so, ja dann …“, erwiderte Botoja erleichtert, die froh war, nicht bei einer Bildungslücke ertappt worden zu sein.
„Das Schema ist einfach“, fuhr Soul fort. „Jeannie will ihrem Meister helfen, bringt ihn aber mit ihrem impulsiven Temperament und ihrer oft unbedacht eingesetzten Zauberei immer wieder in Verlegenheit. Der Arzt und Psychiater des Astronauten, Dr. Bellows, wird Zeuge irgendeiner Unmöglichkeit, und der Astronaut Tony Nelson gerät in Erklärungsnot. Dieser Dr. Bellows kann sich immer so schön wundern, weil es die Dinge, die er dort sieht, ja eigentlich gar nicht gibt, einen Apfelbaum im Wohnzimmer, einen Elefanten im Schlafzimmer oder Schnee, der von der Bürodecke herunterrieselt. Meist holt er dann seinen Vorgesetzten, um ihm dieses Kuriosum zu zeigen, doch bevor er mit dem General den Ort des Geschehens erreicht, hat Jeannie alles wieder in Ordnung gebracht. Dr. Bellows ist den beiden ständig auf der Spur, schafft es aber nie, das Geheimnis von Tony Nelson zu lüften.“
„Und was fasziniert dich so an dieser Sendung, wenn das Schema so einfach zu durchschauen ist?“
Botoja war nun doch neugierig geworden. Vielleicht ließ das Interesse der Freundin Schlüsse auf ihren Seelenzustand zu.
„Das habe ich selbst noch nicht herausgefunden. Deshalb beschäftigt mich dieses Phänomen ja so. Auf alle Fälle habe ich gelernt, was Unterhaltung bedeutet. Es ist Ablenkung, ein Hineinschlüpfen in eine andere Welt, um dem Alltag zu entfliehen. Genau das machen wir ja heute auch immer noch. Wir haben diese Art des Medienkonsums nur so verinnerlicht, dass wir oft gar nicht mehr merken, dass wir eigentlich nur vor einem Kasten sitzen. Kein Mensch sagt heutzutage mehr: ‚Geh lieber an die frische Luft!’ Diese Art der Bildbetrachtung ist allgemein akzeptiert, ist zum Kulturgut geworden. Wir tauschen unsere Erfahrungen aus, empfehlen diesen oder jenen Film weiter, man findet immer einen gemeinsamen Gesprächsstoff. Und auf unterhaltsame Weise werden uns dann natürlich auch gleich die Inhalte der Werbung untergejubelt. Wenigstens das haben wir ja mittlerweile begriffen.“
„Dank dir und deiner Entdeckungen auf Kreta“, ergänzte Botoja nicht ohne Stolz auf ihre Freundin.
„Doch die Mechanismen der Mediengestaltung sind viel komplexer geworden“, fuhr Soul fort. „Auch wenn wir uns dieser bewusst sind, können wir uns ihrer Wirkung kaum entziehen. Perfekt geschminkte Gesichter im Großformat, ausgefeilte Beleuchtungstechniken, schnelle Bild- und Szenenwechsel, mitreißende Musik, Einfärbung des Filmmaterials der jeweiligen Grundstimmung entsprechend, dem Helden wird ein zerrüttetes Privatleben angedichtet …, und alles nur, um dich einzufangen beziehungsweise für die Dauer eines Films an den Bildschirm zu fesseln. Und es kostet so viel Geld. Leider bin ich – und ich spreche jetzt mal nur von mir – nach den meisten Unterhaltungssendungen ganz und gar nicht erholt, sondern eigentlich nur überreizt von den aufdringlichen Bildern, der aufreibenden Musik und all diesen kaputten Typen. Wahrscheinlich finde ich deshalb die Jeannie-Serie so gut, weil sie mit ganz wenigen und vor allem einfachen Elementen auskommt, einer simplen Kulisse und guten Darstellern, die dich tatsächlich zum Lachen bringen.“
„Und du lachst wirklich?“, fragte Botoja, „also, so richtig laut?“
„Na ja, manchmal erwische ich mich dabei, dass ich auf der Couch sitze und laut loslache. Diese Szenen sind aber auch zu verrückt. Es ist alles mit einer einzigen Kamera gedreht worden, und die Tricks sind ausnahmslos physischer Natur, das heißt, wenn sich der Hauptdarsteller in die Lüfte bewegt, wird er an irgendwelchen Seilen hochgezogen, die du natürlich nicht siehst. Es ist auch sehr reizvoll zu überlegen, wie haben sie das jetzt wieder gemacht. Du denkst auf mehreren Ebenen mit, genießt die Geschichte, beurteilst die Leistung der Schauspieler und stellst dir die Dreharbeiten vor.“
Eine Weile schwiegen die Frauen. Auf der Dachterrasse des Medienkonzerns pulsierte das Leben. Die Angestellten genossen die Annehmlichkeiten, die ihnen ihr weltumspannender Konzern kostengünstig zur Verfügung stellte, saßen an der Bar bei einem kühlen Drink, aßen eine Kleinigkeit im Firmen-Café, ließen sich im Wasser des großzügig angelegten Swimmingpools treiben oder jagten im Aquariumbecken bunten Plastikfischen hinterher.
„Wenn dich die Geschichte so fasziniert oder doch zumindest beschäftigt“, kam Botoja auf ihr Gesprächsthema zurück, „dann müsste es doch eigentlich noch einen weiteren Grund geben.“
„Ich weiß nicht“, überlegte Soul, „es ist sicher so wie bei den meisten Serien. Du lernst die Charaktere kennen und willst wissen, wie es mit ihnen weitergeht. Dieses Phänomen befriedigt ein Grundbedürfnis des Menschen. Früher redeten die Leute am Gartenzaun miteinander. Man hörte dem Nachbarn zu, ohne große Verpflichtungen einzugehen, erfuhr, wie diese ihr Leben meisterten, und erhielt Orientierungshilfen, um die eigene Position zu bestimmen. Ja, ich bin genauso wie du, oder nein, an dieser Stelle mache ich es anders. Meiner Meinung nach ersetzen diese Sendungen die realen Begegnungen mit Menschen. Wenn ich richtig recherchiert habe, tauchten die ersten Sendungen dieser Art genau zu der Zeit auf, als die Gärten nach und nach aus den Städten verschwanden und die Leute immer mehr Zeit vor dem Fernseher verbrachten, als die vielen Tante-Emma-Läden, in denen man noch ein kleines Schwätzchen mit dem Besitzer und dessen Kunden halten konnte, den großen Supermarktketten wichen und man hauptsächlich in seinem Auto zur Arbeit fuhr, mit anderen Worten, als die realen, physischen Kontakte mit den Mitmenschen deutlich nachließen.“
„Das mag ja sein“, überlegte Botoja, „nur warst du nie ein Freund von solchen Serien.“
„Ja, das stimmt. Aber hier wird niemand verprügelt, missbraucht oder ermordet. Stell dir vor: eine ganze Sendung, ja, sogar eine ganze Serie ohne Gewalt! Diese Personen sind heil und zufrieden und schaffen es dennoch, dich zu unterhalten. Bei dieser Sendung kannst du sicher sein, dass es keinen Mord, keine Vergewaltigung und keine Vertreibung geben wird, höchstens mal eine Ohrfeige. Kein Mensch wird entführt, es gibt keine traurigen Abschiedsszenen und keine aufgeschnittenen Toten in der Pathologie. Nenne mir eine einzige moderne fiktive Serie, in der das – in dieser Konsequenz – heutzutage noch der Fall ist. Du wirst lange suchen müssen.
Mit der Zeit werden dir die Figuren auch so vertraut. Der Rahmen, in dem sich die Serie abspielt, bleibt immer gleich, auch das gib dir ein gewisses Vertrauen. Irgendwann hast du das Gefühl, du wärst mit ihnen in ihrem Wohnzimmer …, oder im Studio …, so als wärst du bei den Dreharbeiten dabei. Oft spule ich die Szenen zurück, um mir die Tricks noch einmal anzusehen. Denn Jeannie zwinkert und verschwindet oder erscheint plötzlich aus dem Nichts. Vom Regisseur kam das Kommando „Freeze“, die Schauspieler hielten in der Bewegung inne, froren sie sozusagen ein, und Barbara Eden, die Schauspielerin, die die Jeannie spielte, lief in das Bild hinein oder aus dem Bild heraus. Die Aufnahmen dazwischen wurden später herausgeschnitten. Damals waren das ja noch richtige Filmstreifen, nichts Digitales …, und jetzt stell dir vor, wenn die Schauspieler die Garderobe wechseln mussten, wie lange die Partner dann in der Bewegung verharren mussten.“
„Ach, das geht doch gar nicht“, überlegte Botoja.
„Siehst du“, triumphierte Soul, „jetzt wirst du auch neugierig. Dafür gab es sogenannte Standmodels, die während dieser Zeit die Stellung der Hauptdarsteller einnahmen.“
„Die ganze Zeit über?“
„Die ganze Zeit über.“
„Miller’s Group – Comtemporary Systems of Media Research – Unsere Information ist Ihr Gewinn“, dröhnte eine überaus freundliche Stimme aus den Lautsprechern in den Palmen hinter ihnen.
„Weißt du, was ich seltsam finde?“, überlegte Botoja. „Ich wundere mich, dass du überhaupt fündig geworden bist. Solche nutzlosen, das heißt nicht wirtschaftsfördernden Seiten erscheinen plötzlich im Net? Wenn sie nicht von den öffentlichen Stellen gelöscht worden sind, müssen sie doch für jemanden von Nutzen sein. Gibt es eigentlich Werbung dazwischen?“
„Nein, keinerlei Werbung, jedenfalls habe ich bei meinen Nachforschungen nichts dergleichen entdeckt.“
„Findest du das nicht seltsam?“, überlegte Botoja und stutze gleichzeitig über ihre Unbedachtheit, denn rätselhafte Dinge übten auf ihre Freundin eine magische Anziehungskraft aus.
Ein wenig verunsichert schielte sie zu Soul hinüber. Botoja konnte sehen, wie es in ihr arbeitete.
„Ich habe gelesen, dass die Jeannie-Serie selbst Jahrzehnte später, als es die Reihe dann endlich auf digitalen Speichermedien zu kaufen gab, genauso beliebt war wie sechzig Jahre zuvor und auch im Fernsehen immer wieder auf irgendeinem Sender lief“, erzählte Soul weiter. „Dabei sind die Geschichten nicht nur sehr simpel, sondern enthalten auch einige logische Fehler und die Realität beschreiben sie ganz und gar nicht. Wenn zum Beispiel ein einzelner Raketenstart gezeigt wird, werden die Bilder von verschiedenen Flugkörpern ganz unbedarft gemischt. Na ja, es war halt die Anfangszeit des Fernsehens. Damals sah man das sicher noch nicht so eng. Aber wenn die Veröffentlichung dieser Serie trotz allem heutzutage wieder geduldet wird, muss da doch irgendetwas dran sein.“
„Suche nach Geborgenheit?“, überlegte Botoja.
„Das habe ich auch schon gedacht. Die Figuren in der Geschichte sind sich ihrer so sicher“, pflichtete Soul ihr bei. „Sie stehen an genau der richtigen Stelle im Leben. Die hübsche, sexy Jeannie, die jeden Mann haben könnte, möchte nur ihren Meister glücklich machen – was sicherlich zum Erfolg der Sendung beigetragen hat, denn welcher Mann wünscht sich solch eine Frau nicht –, und auch Tony Nelson wollte nie etwas anderes sein als ein zuverlässiger Astronaut. Er braucht all die Schätze, die seine Jeannie ihm beschaffen könnte, nicht, weil er genau das tut, was er immer tun wollte, nämlich seinen Beruf als Raumfahrer auszuüben. Diese beiden Charaktere brauchen keine Sinnfragen zu stellen, sie haben den Sinn in ihrem Leben gefunden. Und diese Sicherheit überträgt sich, während du die Sendung verfolgst, auch auf dich. Ich fühle mich dann selber immer irgendwie warm und unbeschwert.“
Die Freundinnen schwiegen.
Botoja wusste, Soul hatte den Nagel auf den Kopf getroffen. Nachdem der alte Mann auf Kreta seine Entdeckungen veröffentlicht hatte, war die Welt nicht mehr dieselbe. Er hatte herausgefunden, dass fast der gesamten Bevölkerung von Tambara vor langer Zeit eine Gen-Kombination implantiert worden war, die den Normalbürger regelmäßig zum Kaufen nötigte. Während sich die Kunden in früheren Jahrhunderten noch der Illusion hingeben konnten, irgendwann in ihrem Leben einmal ihr eigenes privates Glück zu finden, wurden die Menschen heutzutage ständig von ihrem eigentlichen Lebensweg abgelenkt, weil sie immer wieder etwas sahen, das sie unbedingt besitzen wollten. Solange sie noch nicht wussten, dass es sich um einen von außen eingesetzten Kaufzwang handelte, konnten sie sich wenigstens noch über das Erstandene freuen, doch nachdem das Geheimnis gelüftet worden war, versuchten die Menschen diesem Drang zu widerstehen und verloren doch ständig den Kampf gegen ein Selbst, das nicht ihr eigenes war. Und Soul, die sich als Teil der Natur begriffen und in den letzten Jahren immer wieder weite, strapaziöse Reisen auf sich genommen hatte, um in den wenigen Reservaten, in denen es diese Natur noch gab, ein zu Hause zu finden, indem sie in natürlichen Seen badete, durch wild wachsende Wälder wanderte und in liebevoll gepflegten Gärten blühende Blumen pflückte, war schlagartig herauskatapultiert worden aus ihrer neu gewonnenen Sicherheit. An diesen Orten war sie zur Ruhe gekommen, hatte sie sich mit allen Lebewesen verbunden gefühlt und auch die quälenden Fragen über den Sinn ihres Lebens hatten, wenn sie Geduld aufbrachte und sich lange genug dort aufhielt, aufgehört sie zu bedrängen. Sie wusste, woher sie kam, begriff sich als Teil der Natur, war eingegliedert in ein größeres Ganzes, das gab ihr Halt und eine tiefe Zufriedenheit. Nun musste sie lernen, dass sie auch dort nicht mehr wirklich zu Hause war, weil die Körper ihrer Vorfahren von skrupellosen Wissenschaftlern gentechnisch manipuliert worden waren. Das hieß, ein richtiges „Stück“ Natur war sie selber nun auch nicht mehr, denn jemand hatte den natürlichen Entwicklungsprozess unterbrochen, sie abgekappt von den Ursprüngen ihres Seins, um sie für seine eigenen Zwecke zu missbrauchen.
„Das Glück ist uns verloren gegangen“, sagte sie laut.
Botoja gab zwar immer wieder zu bedenken, dass jedem Menschen aufgrund seiner Natur schon immer Grenzen gesetzt worden waren, doch das ließ Soul nicht gelten.
„Nein, das war noch richtige Natur, das war vorgegeben, kein Mensch konnte daran etwas ändern, kein einziger“, antwortete sie regelmäßig. „Hier aber hat sich eine Kategorie von Menschen eine andere untertan gemacht. Das ist nichts anderes als Sklaverei.“
Es gab tatsächlich einige Menschen in der Gesellschaft, die dieses Kauf-Gen nicht in sich trugen. Den Besitzern der großen Konzerngruppen war es gelungen, ihr Erbgut rein und natürlich zu halten, indem sie Heirat und Fortpflanzung ihresgleichen streng kontrollierten. Die Einwohner von Tambara hätten die Verursacher dieses Verbrechens gerne gelyncht, doch die Schuldigen lebten schon lange nicht mehr und die heutigen Konzerninhaber waren, nun da der Kaufzwang die breite Masse beeinflusste, selber zu Außenseitern geworden, denn „normal“ waren ja jetzt die anderen.
„Also? Was ist der Sinn unseres Lebens?“, fragte Soul provozierend.
„Meine Güte, das ist auch ein Thema für eine Mittagspause“, erwiderte Botoja derart heftig, dass die Leute auf den Liegestühlen ringsum erstaunt aufblickten.
Botoja war so überrascht über ihre eigene Lautstarke, dass sie gehörig zusammenzuckte, was bei den beiden Frauen einen befreienden Lachanfall auslöste und die erschreckte Menge beruhigte.
„Siehst du, lachen kannst du auch im wirklichen Leben“, freute sich Botoja.
„Du und deine praktische Art“, sagte Soul versöhnt. „Was würde ich nur ohne dich anfangen?“
„Trübsal blasen?“, konterte Botoja und war zufrieden.
„Willkommen zu Hause“, begrüßte Klon Nummer Eins die junge Dame und reichte ihr die Hand. „Mein Bruder freut sich schon auf Sie.“
Soul hatte die Ärzte überreden können, sie zumindest ins Kornreservat reisen zu lassen, in dem sie vor Jahren gefangen gehalten worden war und das sie seit einiger Zeit wieder regelmäßig besuchte. Sie hatte betont, wie gut man sich dort erholen konnte, in dem Tal mit dem großen See und der märchenhaften Hügellandschaft, die von den drei Brüdern in dem Reservat angelegt worden war. Die Ärzte hatten schließlich zugestimmt unter der Bedingung, dass sie nicht arbeitete.
Soul folgte dem Reservatleiter über den blumengeschmückten Innenhof und betrat mit ihm den Flur des Verwaltungstraktes. Sie wunderte sich, wie wenig sich seit ihrem letzten Besuch verändert hatte. Der lange Gang sah aus wie immer, eng und ein wenig düster, nur hinter den Türen zu beiden Seiten vernahm sie geschäftiges Treiben. Das Klappern von Geschirr war zu hören, Stühle wurden verrückt, irgendwo lief ein Wasserhahn, Kinder plapperten fröhlich durcheinander.
„In diesem Trakt haben wir unsere Gäste aus der Stadt untergebracht“, erklärte der Reservatleiter. „Die Räume standen ja sowieso meist leer, und so brauchten wir im Reservatkern keine einschneidenden Veränderungen vorzunehmen. Selbst Restaurants konnten wir in dem Gebäudering unterbringen, indem wir einfach mehrere Zimmer miteinander verbanden. Die Gäste sind zufrieden. Sie haben von dort einen herrlichen Blick auf die Landschaft, und unser Essen aus naturbelassenen Lebensmitteln schmeckt ihnen ausgezeichnet.“
„Und es gibt keine Probleme … mit unachtsamen Touristen?“, wollte Soul wissen.
„Ganz und gar nicht“, erwiderte der Reservatleiter, „für die Menschen aus der Stadt ist hier ja alles neu. Sie haben viel zu viel Angst vor der Natur, als dass sie sich auf irgendwelche Abenteuer einließen, sondern sind dankbar für jede Anleitung. Zwar kann man in den Medien mittlerweile schon einiges über unser Reservat erfahren, doch die meisten von ihnen haben ja noch nie eine echte Blume gesehen oder einen lebenden Baum angefasst. Nur ein einziges Mal war jemand dabei, der immer wieder erklärte, wie langweilig er das alles fand, und an allem und jedem etwas auszusetzen hatte, ein echter Nörgler.“
„Und haben Sie ihn belehren können?“
„Allerdings! Wir haben ihm vorgeschlagen, beim Schlachten eines Huhnes zuzuschauen. Er fand den Vorschlag zwar ein wenig lächerlich – ein unbedeutendes Huhn, was sollte es da schon zu lernen geben –, ging aber darauf ein.“
„Und?“
„Wir haben ihn zunächst das Huhn streicheln lassen, damit er spürte, dass es sich um ein lebendes Wesen handelte, keine Imitation aus Plastik, keine Computeranimation. Als der Bauer das Tier dann am Schwanz packte und umherschwenkte, damit es nicht mitbekam, was da mit ihm passierte, veränderte sich die Gesichtsfarbe des Skeptikers schon merklich. Als schließlich der Kopf des Huhns auf dem Baumstumpf landete und sich das Beil hob, verließen ihn seine Sinne. Er fiel schlichtweg in Ohnmacht.“
„Recht so“, kommentierte Soul und wollte nicht weiter über das Bild mit dem geschlachteten Huhn nachdenken.
„Apropos Ohnmacht“, fragte sie neugierig, „haben Sie das Betäubungsgas eigentlich schon einmal wieder eingesetzt?“
„Ja, das haben wir“, antwortete Klon Nummer Eins und schmunzelte über Souls erschrecktes Gesicht. „Ein Schwein war ausgerückt, und die hysterischen Reaktionen der Städter, die ja schon vor einer Raupe Angst haben und selbst mit einem niedlichen Spatzen nichts anfangen können, machte das Tier so verrückt, dass es immer wieder davonlief und wir es einfach nicht einfangen konnten. Als es dann in die Flure lief, war sein Schicksal besiegelt. Leider fielen dem Betäubungsgas auch ein paar Touristen zum Opfer, die sich zufällig im selben Trakt aufhielten. Das Schwein war dann schneller wieder auf den Beinen als unsere Gäste, die sich trotz des Gegenmittels tagelang mit Kopfschmerzen herumplagen mussten, weil die Dosis, die zur Betäubung des Tieres eingesetzt worden war, die für den Menschen verträgliche Menge um ein beträchtliches Maß überschritt.“
Soul musste lächeln, auch wenn ihr die armen Touristen leidtaten, denn die Wirkung des Betäubungsgases hatte sie noch gut in Erinnerung.
„Ich werde meinem Bruder Bescheid geben, dass Sie da sind“, sagte der Reservatleiter, als er sie in ihr ehemaliges Zimmer entließ, und obwohl dieser zwei Brüder hatte, wusste Soul, dass er Klon Nummer Drei meinte, denn dieser hatte ihr damals die Gesetze in dem Tal mit dem großen See erklärt und so maßgeblich zu ihrem Naturverständnis beigetragen.
Soul zog die städtische Hightech-Kleidung aus, schlüpfte in ihre alte Jeans und ein T-Shirt aus natürlicher Baumwolle und fühlte sich sofort wohl. Nirgendwo sonst gab es so etwas zu kaufen. Kein Konzern stellte heutzutage noch Kleidung aus Naturfasern her. Die Rohstoffe wurden kaum noch geliefert, und die Herstellung war viel zu kostspielig. Kunststoffkleidung hingegen war preisgünstig, der Nachfrage entsprechend zügig zu produzieren, uneingeschränkt formbar, und man konnte sie wieder einschmelzen und für die Herstellung neuer Waren verwenden.
Soul legte sich auf ihr Bett und starrte an die Decke. Während sie noch über ihre Kleidung nachdachte, schlief sie kurz ein, die Reise hatte sie doch mehr ermüdet, als sie zugeben mochte.
Als sie wieder aufwachte, fühlte sie sich frisch und erholt. Voller Tatendrang sprang sie ins Bad, benetzte ihr Gesicht mit Wasser, sparte sich das Abtrocknen, strich stattdessen mit den nassen Händen ihr glattes, schulterlanges Haar aus dem Gesicht und lief nach draußen.
Sie nahm den alten Weg durch die Gemüsefelder an den Gewächshäusern mit den Tomatenpflanzen vorbei und durch das Wäldchen bis hin zur Naturschau. Soul hatte erwartet, dort keine Menschenseele anzutreffen, und war überrascht, als sie, am Talrand angekommen, einen Hang voller Touristen vorfand. Es musste sich um einen der neuen Kurse handeln, die die Klone für die Gäste aus der Stadt abhielten. Hier lernten die Besucher, sich in natürlichen Landschaften zu bewegen, ohne über Steine zu stolpern oder mit ihrer Kleidung an Büschen und Sträuchern hängen zu bleiben, zarte Blumen in die Hand zu nehmen, ohne sie zu zerdrücken, und gefährliche Gewächse von harmlosen zu unterscheiden. Wer wollte, durfte auch beim Gärtnern helfen. Fast andächtig gingen die Neulinge zu Werke, zupften das Unkraut aus den Beeten, streuten Blumensamen in die vorbereiteten Rillen, beschnitten Sträucher oder gruben Löcher in die Erde, um unter der Anleitung ihrer Lehrer junge Bäume zu pflanzen.