Tanz der seligen Geister - Alice Munro - E-Book

Tanz der seligen Geister E-Book

Alice Munro

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Beschreibung

"Ich denke vor allem an die Kanadierin Alice Munro, mit der es auf diesem Planeten allenfalls eine Handvoll Schriftsteller aufnehmen kann. Ich meine, sie hat im Bereich der Kurzgeschichte Tschechow übertroffen, und der war nicht gerade ein Anfänger." Jonathan Franzen in einem Interview in der "Zeit" auf die Frage nach möglichen nordamerikanischen Nobelpreisträgern Tanz der seligen Geister war das Debüt der großen Meisterin der kleinen Form. Die Sammlung erschien im Original 1968 und wird nun erstmals auf Deutsch herausgegeben. Bereits hier zeigt sich Alice Munro als präzise, unsentimentale und abgründige Chronistin zeitgenössischen Alltagslebens. Stehen in ihren späteren Büchern Frauen mittleren Alters im Vordergrund, so finden sich in Tanz der seligen Geister vor allem Erzählungen vom Erwachsenwerden. Erstmals auf Deutsch!

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Seitenzahl: 379

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Alice Munro

Tanz der seligen Geister

Fünfzehn Erzählungen

Aus dem Englischen

Die Originalausgabe »Dance of the Happy Shades« erschien1968 bei The Ryerson Press in Toronto. eBook-Ausgabe 2012 Alle deutschsprachigen Rechte vorbehalten © 1968 by Alice Munro © 2010 by Dörlemann Verlag AG, Zürich Umschlaggestaltung: Mike Bierwolf unter Verwendung einer Fotografie von David E. Perry Porträt von Alice Munro: © Derek Shapton Satz und eBook-Umsetzung: Dörlemann Satz, Lemförde ISBN epub 978-3-908778-02-8 ISBN der gedruckten Ausgabe: 978-3-908777-55-7www.doerlemann.com

Alice Munro

Der Walker Brothers-Cowboy

Nach dem Abendbrot sagt mein Vater: »Magst du runtergehen und nachschauen, ob der See noch da ist?« Wir lassen meine Mutter unter der Esszimmerlampe nähen, Sachen für mich zum Schulanfang. Sie hat dafür ein altes Kostüm und ein altes kariertes Wollkleid von sich aufgetrennt, sie muss sehr geschickt zurechtschneiden und zusammenheften, und ich muss für endlose Anproben dastehen und mich umdrehen, die warme Wolle juckt, ich schwitze und bin undankbar. Wir lassen meinen Bruder im Bett in dem kleinen Wintergarten auf der vorderen Veranda, und manchmal kniet er auf seinem Bett, presst das Gesicht ans Fliegengitter und ruft traurig: »Bring mir eine Eistüte mit!«, aber ich rufe zurück: »Dann schläfst du schon«, und drehe nicht mal den Kopf um.

Dann gehen mein Vater und ich gemächlich eine lange, ärmliche Straße entlang. Silverwoods Ice Cream-Schilder stehen auf dem Bürgersteig vor winzigen, erleuchteten Geschäften. Wir sind in Tuppertown, einem alten Getreidehafen am Huron-See. Die Straße ist an manchen Stellen schattig, da, wo Ahornbäume wachsen, deren Wurzeln den Bürgersteig aufgeworfen und gesprengt haben und sich wie Krokodile in die kahlen Vorgärten hinstrecken. Leute sitzen draußen, Männer in Hemdsärmeln oder Unterhemden und Frauen in Kittelschürzen– keine Leute, die wir kennen, aber wenn jemand uns zunickt und »Warmer Abend« sagt, dann nickt mein Vater auch und erwidert etwas in derselben Art. Kinder spielen noch. Die kenne ich auch nicht, denn meine Mutter lässt meinen Bruder und mich nur in unserem Garten spielen, sie sagt, er ist noch zu klein für draußen und ich muss auf ihn aufpassen. Es macht mich gar nicht besonders traurig, ihren abendlichen Spielen zuzusehen, denn diese Spiele sind zerfasert, lösen sich auf. Die Kinder trennen sich freiwillig, bilden allein oder zu zweit Inseln unter den alten Bäumen und gehen so einsamen Beschäftigungen nach, wie ich es den ganzen Tag lang tue, pflanzen Steinchen in den Sand oder schreiben darin mit einem Stöckchen.

Jetzt lassen wir diese Häuser hinter uns, wir kommen an einer Fabrik mit vernagelten Fenstern vorbei, an einem Holzhandel, dessen hohes Tor für die Nacht abgeschlossen ist. Dann zieht sich die Stadt zurück und zerfällt in ein Durcheinander aus Schuppen und kleinen Schrottplätzen, der Bürgersteig verendet, und wir gehen auf einem Sandweg weiter, mit Kletten, Wegerich und namenlosem, niedrigem Unkraut ringsum. Wir betreten ein leeres Grundstück, eigentlich so etwas wie ein Park, denn Abfälle werden weggeräumt und es gibt eine Bank, in deren Lehne eine Bohle fehlt, einen Platz, um sich hinzusetzen und aufs Wasser zu schauen. Das am Abend meistens grau ist, unter einem leicht bedeckten Himmel, keine Sonnenuntergänge, der Horizont verschwommen. Ein ganz leises Plätschern auf den Steinen am Ufer. Ein Stück weiter, zur Stadtmitte hin, ist ein Sandstrand, eine Wasserrutsche, Bojen, die um den geschützten Badebereich tanzen, der wacklige Thron eines Bademeisters. Auch ein langgestreckter dunkelgrüner Bau wie eine überdachte Veranda, er heißt Der Pavillon und ist sonntags voller Farmer und ihrer Frauen in ihrem steifen Staat. Das ist der Teil der Stadt, den wir früher kannten, als wir in Dungannon wohnten und im Sommer drei oder vier Mal hierherkamen, an den See. Dieser Teil und die Docks, zu denen wir gingen, um die schlingernden Getreideschiffe zu betrachten, so uralt und verrostet, dass wir uns fragten, wie sie es am Wellenbrecher vorbeischafften, geschweige denn bis nach Fort William.

Lesen Sie weiter in der vollständigen Ausgabe!

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