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Sally lernt Ricki als Kind im Sommer 1978 auf einem Campingplatz kennen, während sie Steine über das Wasser tanzen lässt. Die beiden Mädchen mögen sich auf Anhieb. 18 Jahre später sehen sie sich wieder, mittlerweile sind beide mit anderen Frauen liiert. Doch die Liebe, die sie als Kinder noch nicht benennen konnten, erfasst sie erneut. Ob es nun aber wirklich Liebe ist oder nur Sex, das müssen sie erst einmal herausfinden ..
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Seitenzahl: 352
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aus dem Amerikanischen übersetzt von
Originalausgabe: © 2001 ebook-Edition: © 2013édition el!es
www.elles.de [email protected]
Alle Rechte vorbehalten.
ISBN 978-3-95609-046-2
Coverfoto:
»Willst du etwa die ganze Zeit hier sitzen und deine Nase in dieses Buch stecken? Warum gehst du nicht ein bisschen raus? Ich wette, hier gibt es auch noch andere Kinder in deinem Alter.«
Keine Antwort. Nancy Morris legte eine Hand leicht auf die Schulter ihrer Tochter und nahm ihr mit der anderen das Buch aus der Hand.
»Petey«, schimpfte ihre Tochter Sally gedankenverloren, ohne von ihrem Buch aufzusehen. »Lass mich in Ruhe. Das sage ich Ma . . . Ma?«
»Du hast kein Wort von dem gehört, was ich gesagt habe, stimmt’s?« seufzte Sallys Mutter. »Wirklich Sally, ein bisschen Bewegung und Sonnenlicht würden dir so guttun. Geh ein bisschen raus. Vielleicht lernst du ein paar andere Kinder kennen. Das Buch wird immer noch auf dich warten, wenn du zurückkommst.« Sie reichte Sally das zugeklappte Buch. Sally legte es auf ihren Rucksack, der neben ihr am Boden lag.
»Schon gut, schon gut. Dann werde ich eben einmal um diesen doofen Platz herumlaufen«, schimpfte sie.
»Genau, gute Idee.« Gott helfe mir. Dabei ist sie noch nicht einmal ein Teenager.
Sally steckte die Hände in die Taschen ihrer Jeans und verließ schmollend den Zeltplatz der Familie Morris, den ihr Vater nach dem erfolgreichen Aufbau der beiden kleinen Dreimannzelte »Camp Morris« getauft hatte. Sie saß nicht nur in diesem bescheuerten Campingurlaub fest, sondern musste sich auch die ganze Nacht über anhören, wie ihr Bruder Petey im Schlaf ständig diese lästigen Pfeiftöne von sich gab.
Sie ging zum See hinunter. Dort würde sie ein paar Minuten lang Steine ins Wasser werfen. Dann würde sie eine Abkürzung nehmen und von der anderen Seite wieder zum Zeltplatz zurückkehren. Ihre Mutter würde denken, dass sie einmal um den Platz herumgelaufen wäre und »Miss Wohlerzogen« gespielt hätte – ein Mädchen, das von allen anderen gemocht wurde, niemals aber einen Preis in einem dieser Schönheitswettbewerbe gewinnen würde.
Sally warf ein paar Steine ins Wasser. Mit lautem Platschen gingen sie unter. Ihr Vater konnte sie über das Wasser tanzen lassen. Als sie noch kleiner war, hatte er ihr erzählt, das sei Zauberei.
»Du musst sie so werfen«, sagte eine Stimme hinter ihr. Sie drehte sich um und erblickte das blondeste Mädchen, das sie je gesehen hatte. Sie stand hinter ihr und hielt lauter Steine in der Hand.
Sally tat es ihr nach. Ein Hüpfer. »Holla«, sagte sie, beeindruckt von ihren eigenen Wurfkünsten.
Das blonde Mädchen kam näher. Sie warf noch einen Stein. Drei Hüpfer. Offenbar hatte sie das schon geübt.
»Ich heiße Sally. Und du?« fragte sie das blonde Mädchen.
»Ricki.«
»Ricki? Du spinnst ja. Das ist ein Jungenname.«
»Nö. Ich schreibe mich mit einem ›i‹.«
»Oh. Und wie alt bist du?«
»Man fragt eine Dame nicht nach ihrem Alter!«
»Entschuldige, Ricki mit ›i‹, ich wusste nicht, dass du so eine feine Dame bist«, sagte Sally und wiederholte damit einen Witz, den sie mal im Fernsehen gehört hatte.
Ricki warf noch einen Stein. Vier Hüpfer. »He, du bist ja ganz schön witzig«, sagte sie.
Bei dem dankbaren Publikum . . .
Ricki zog Sallys Ellenbogen ein wenig zurück. »Halt deinen Ellbogen so, und dreh dein Handgelenk zur Seite.« Sally versuchte es auf diese Weise. Zwei Hüpfer. Nicht schlecht für eine Anfängerin.
»Ich bin zwölf«, sagte Ricki.
»Ich auch . . . na ja, in sechs Wochen werde ich zwölf.«
»Gehst du gerne zelten?«
»Äh, du?«
»Klar.«
»Oh, ich auch.« Sally traute sich nicht zuzugeben, dass sie bis vor fünf Minuten vor Langeweile fast gestorben wäre.
Nachdem sie das Spiel mit den Steinen satt hatten, brachte Sally Ricki ihr Lieblingsspiel bei: Wörterbuch. Sie erklärte Ricki, wie es ging: »Du denkst dir ein Wort. Irgendein Wort. Dann sage ich ein Wort, und du sagst mir, ob es vor oder nach deinem Wort im Wörterbuch steht. Wenn dein Wort zum Beispiel ›Tisch‹ heißt, und ich sage ›Sofa‹, dann sagst du: ›Es kommt nach Sofa.‹ Ja?«
»Kapiert«, sagte Ricki.
»Hast du dir ein Wort gedacht?« fragte Sally.
»Ja.«
»Nuance?« sagte Sally und hoffte, Ricki mit ihrem großen Vokabular zu beeindrucken.
»Was heißt das?« fragte Ricki.
»Ich glaube, es bedeutet ›verschiedene Abstufungen‹. Es kam letzten Monat bei einem Buchstabiertest in der Schule dran.«
»Es steht vor ›Nuance‹. Bist du vielleicht ein Schlaukopf oder so? Ich nämlich nicht«, sagte Ricki, die plötzlich Angst hatte, dass dieses kluge Mädchen nun nicht mehr mit ihr befreundet sein wollte.
»Ooh nein. Igitt.«
»Ich finde es gut, wenn man schlau ist. Das ist etwas Besonderes.«
»Ich denke, ich bin schon so eine Art kluges Köpfchen.« Sally stellte fest, dass sie versuchte, etwas zu sagen, von dem sie dachte, dass Ricki es hören wollte. »Glücklich.«
»Es kommt vor ›glücklich‹.«
»Erziehung.«
»Nach ›Erziehung‹.«
»Fantastisch.«
Ricki schwieg einige Sekunden. »Es kommt nach ›Fantastisch‹.«
»Fantasie. Es ist ›Fantasie‹, stimmt’s?«
»Ja.«
»Ich liebe dieses Wort.«
Während der nächsten paar Tage verbrachten Ricki und Sally jede wache Minute zusammen. Sie spielten, kauften sich im Krämerladen Eis am Stiel, erzählten sich ihre Geheimnisse und Träume. Sie erfanden eine Art Geheimsprache, um sich heimlich miteinander zu verständigen und ein paar Jungs zu verwirren, die ab und zu kamen und sich zu ihnen setzten.
»Kennst du Schatzsuche?« fragte Ricki.
»Nein.«
»Bleib einfach sitzen und dreh dich um.«
»Ist das irgendein Trick?«
»Nein.« Ricki trommelte auf Sallys Rücken. »Wir gehen auf Schatzsuche, wir gehen auf Schatzsuche. Das X markiert die Stelle, das X markiert die Stelle.« Sie malte zwei Xe auf Sallys Rücken. »Drei große Kreise«, sagte sie, zeichnete die Kreise und fügte dann mit einem Stups »ein großer Punkt« hinzu. »Es rieselt hinauf« – sie lief mit ihren Fingern Sallys Rücken hinauf, »es rieselt hinunter«, und spazierte mit ihren Fingern wieder die Wirbelsäule hinunter. »Harte Erde«, dabei massierte sie ihre Schultern, »weiche Erde«, nun kniff sie mehrere Male in Sallys Taille. Massage und Kneifen wurden zweimal wiederholt. »Grab nach dem Schatz«, sagte sie dann zweimal und machte dabei grabende Bewegungen in der Mitte von Sallys Kreuz. »Schütte das Loch wieder zu« – sie klopfte Sally mehrere Male auf den Rücken und wiederholte auch diesen Satz noch einmal. Zum Schluss sagte sie: »Wir gehen nach Hause« und lief schnell mit zwei Fingern über Sally Rückseite davon.
Sally gefiel dieses raffinierte Massagespiel sehr gut, und sie übte es ausdauernd an Ricki. Ricki kannte wirklich viele lustige und praktische Sachen. Sie steckte bestimmt nicht dauernd ihre Nase in Bücher. Ricki dagegen war glücklich darüber, dass sie Sally etwas Neues zeigen konnte. Das war nur fair, wie sie fand. Schließlich hatte Sally ihr eine Menge schwieriger Worte beigebracht. Und überhaupt war Sally ihre erste Freundin, die in einer richtigen Großstadt lebte. Noch nie zuvor hatte sie jemanden aus Chicago kennengelernt.
Am Tag, bevor Rickis Familie abreiste, trafen sie sich morgens noch einmal an der gleichen abgeschiedenen Ecke am Seeufer und warfen Steine ins Wasser.
»Lust, schwimmen zu gehen?« fragte Ricki.
»Ich dachte, du schwimmst nicht gerne?« fragte Sally verwirrt.
»Das hab’ ich nur so gesagt. Mein Badeanzug passt mir nicht mehr richtig . . . wegen denen da.« Ricki zeigte auf ihre schwellenden Brüste.
»Oh.« Bei Sally war von denen da noch nichts zu sehen, darum hatte sie sich darüber noch nie Gedanken gemacht. »Aber wie willst du dann schwimmen gehen?«
»Zuhause in dem See bei uns in der Nähe gehen die Leute manchmal nackt baden.«
»Wie bitte?«
»Na ja, du schwimmst eben einfach so, wie Gott dich geschaffen hat . . .«, sagte Ricki und streifte ihre Kleider ab.
Ricki verwendete immer so tolle Ausdrücke, wenn sie sich unterhielten. Sally war ein bisschen schüchtern, aber niemand außer ihnen hatte sich bisher jemals an dieser Ecke des Sees blicken lassen. Sally versuchte, nicht allzu deutlich auf Rickis Die da zu starren. Sie ähnelten in keiner Weise den großen Auberginen, die ältere Frauen da vorne hängen hatten. Eher wie das spitze Ende von kleinen Birnen. Sally schaute auf ihre eigene Brust hinab. Bildete sie sich das nur ein, oder ragte dort ebenfalls ein kleines Etwas hervor? Sie war plötzlich ganz aufgeregt. »Schau mal, Ricki, ich glaube, meine fangen auch schon an herauszukommen. Was meinst du?«
Ricki betrachtete Sallys Körper mit der Objektivität eines Arztes. »Ich glaube, du hast recht. Irgendwas wächst dort . . . Aber das dauert seine Zeit. Schließlich wirst du ja auch erst in fünfeinhalb Wochen zwölf, oder?«
»Stimmt. Aber du hältst mich doch deswegen nicht für ein Baby?«
»Nee.«
Sie schwammen nackt und tobten und spritzten und vergaßen dabei, auf die Zeit zu achten.
Als sie mittags wieder Camp Morris erreichten, war Sallys Mutter recht ungehalten.
»Wo warst du denn? Ich rufe dich schon seit zehn Minuten zum Essen.«
»Entschuldigung. Wir sind runter zum See gegangen. Kann Ricki bei uns Mittag essen? Ihre Mum hat es erlaubt.«
»Natürlich. Geht und wascht euch die Hände.«
Als sie alle um den Picknicktisch versammelt waren, stöhnte Sally schmerzerfüllt auf, als sie sich auf ihrem Stuhl niederließ. Ricki wusste, warum und kicherte, während sie große Bissen von einem Brot mit Erdnussbutter und Bananen abbiss. Nach dem Mittagessen musste Sally dann eine Salbe gegen Sonnenbrand auf ihren Rücken und Hintern schmieren.
Da Ricki keine Geschwister hatte, schlief sie in einem Zelt für sich. Ihre Eltern hatten nichts dagegen, dass Sally in dieser Nacht bei Ricki übernachtete. Sie schwatzten stundenlang und schliefen erst sehr spät ein.
Mitten in der Nacht wachte Sally einmal kurz auf. Erst konnte sie sich nicht daran erinnern, wo sie war. Es verwirrte sie, Peteys pfeifenden Atem nicht zu hören. Statt dessen vernahm sie wütende Stimmen aus dem Zelt nebenan. Rickis Eltern stritten sich.
Am Morgen tauschten Ricki und Sally noch Adressen aus. »Ich würde gerne mal deine Haare anfassen«, sagte Ricki und schaute auf Sallys schwarze Korkenzieherlocken. Sally erlaubte es ihr. Ricki hatte geglaubt, dass die Haare ganz hart sein würden, aber sie fühlten sich weich und geschmeidig an.
Dann schaute Sally Ricki fragend an. »Jetzt will ich auch mal deine Haare anfassen.« Sie griff mit beiden Händen in Rickis blonde Mähne. Die Haare fühlten sich ein bisschen an wie Stroh.
Ricki küsste Sally ganz schnell auf den Mund. Sally war überrascht. »Was soll das denn?«
»So verabschiedet man sich von jemanden, den man besonders gern hat.«
»Ach so. Das wusste ich nicht.« Und auch Sally gab Ricki einen Kuss auf den Mund.
Zwei Stunden später winkte Sally zum Abschied, während Ricki und ihre Eltern davonfuhren. Lange Zeit stand sie vor dem Zeltplatz und schaute zu, wie das blaue Auto mit dem Nummernschild von Minnesota immer kleiner wurde. In ihren Augen schwammen große Tränen. Es war zwar bestimmt übertrieben, aber sie hatte das Gefühl, als hätte sie in nur knapp einer Woche die allerbeste Freundin des gesamten Universums gefunden und wieder verloren.
Sechs Mal schrieb Sally in diesem Sommer an Ricki. Die ersten drei Briefe wurden rasch beantwortet, auf die anderen drei jedoch kam keine Antwort mehr. Dann folgte der Herbst mit den Freuden und Schrecken des neuen Schuljahrs an der High School, und langsam verblasste der Sommer von 1978 zu einer entfernten Erinnerung.
»Sind wir bald da?«
»Ich glaube, es sind noch etwa zwanzig Minuten. Laut meiner Karte müssen wir auf die Hawthorne Road rausfahren. Da müsste es dann sein.«
»Dann führt uns also die Hawthorne Road nach Camelot . . .«
»Ich bin mir sicher, dass es dir dort gefallen wird, Faith. Es ist schön und ruhig. Und vom Ufer aus kannst du bis nach Kanada sehen.«
»Warum fahren wir dann nicht einfach nach Kanada, Sara? Was soll denn dieser Ausflug in die Vergangenheit? Nach dem Musikfestival ist eine ganze Gruppe von Frauen nach Kanada gefahren. Wir hätten uns ihnen anschließen können!«
»Du hast doch gesagt, du würdest gerne mal wieder zelten gehen, und da ist mir eben dieser friedliche und schöne Ort wieder eingefallen«, sagte Sara mit finsterer Miene. »Und überhaupt – hab’ ich etwa die ganze Zeit gemeckert, als du zu diesem Vergnügungspark nach Ohio wolltest?«
»Ja, das hast du. Du hast keine einzige Gelegenheit ausgelassen, dich zu beschweren. Ich kann mich noch an alles ganz genau erinnern: Deine Füße schmerzten, es war zu voll, von den Fritten hast du Blähungen bekommen, die Fred-Feuerstein-Figur hat dich mit ihrem bösen Blick verhext . . .«
»Die letzten zwei hast du erfunden«, sagte Sara gutmütig. »Hawthorne ist die nächste Ausfahrt, halt dich lieber rechts.«
Als der Zeltplatz in Sichtweite kam, hörte Faith auf zu meckern und fügte sich schweigend. Alles sah immer noch beinahe so aus, wie Sara es in Erinnerung hatte. Es wirkte nur ein wenig kleiner, so wie das Klassenzimmer der ersten Klasse, wenn man es Jahre später wiedersah.
Sie meldeten sich am Tor und erhielten den Zeltplatz Nr. 67 zugeteilt. Auf dem Weg dorthin kamen sie an einigen sehr gemütlich aussehenden, winzigen Hütten vorbei. »Ist es zu spät, vielleicht doch eine von diesen zu mieten?« fragte Faith hoffnungsvoll.
»Ich werde das Zelt aufbauen. Du brauchst keinen Finger zu rühren und kannst einfach nur herumsitzen und Bier trinken. Vielleicht gibt es ja noch ein paar andere Kinder in deinem Alter, mit denen du spielen kannst.« Hatte das nicht ihre Mutter damals gesagt, als Sara fürchtete, sich auf dem Zeltplatz zu Tode zu langweilen?
»Wie süß.« Faith überlegte einen Moment. »Wirklich, Sara, ich würde sagen, dass es hier so aussieht, als wäre es der Heterosexuellste Ort auf dieser Welt. Das stand übrigens auch in ihrer Infobroschüre. Und dann war da noch dieses Schild weiter vorne an der Straße mit einem roten Blitz über einem lila Lambda . . . du weißt schon, das internationale Zeichen für Schwule unerwünscht.«
Sara lachte und nahm Faiths Hand in die ihre. Sie kitzelte die Handfläche und sagte: »Wir könnten Zeltplatz Nr. 67 für die Queer Nation besetzen . . . und unsere zweiten Flitterwochen hier verbringen!«
Faith zog ihre Hand zurück. »Hey!«
Sara bremste, um das Tempolimit von dreißig Stundenkilometern nicht zu überschreiten. Faith zeigte nach links, wo Platz 67 in Sichtweite kam. Sara hielt mit dem Auto vor dem abgeteilten Platz und stellte den Motor ab. Sie befanden sich auf einer kleiner Erhebung, und hinter dem Dickicht, das den Platz nach hinten abschloss, konnte man den See sehen.
»Schön, nicht wahr?« meinte Sara.
»Hmm.« Faith rollte ihren Kopf hin und her.
Sara griff nach ihr und knetete Faiths Schulter. Faith beugte den Hals, damit Sara besser an ihren Rücken gelangen konnte. Sara rutschte vom Fahrersitz ein wenig zu ihr hinüber, und Faith machte eine Vierteldrehung. Dann begann Sara, Faiths Rücken gründlich zu massieren.
Nachdem auf diese Weise einige Minuten vergangen waren, griff Sara nach vorne und zog den Reißverschluss von Faiths Shorts nach unten.
»Das reicht«, sagte Faith.
»Ach komm . . . es wird dir gefallen. Es gefällt dir doch immer – wenn du mich mal lässt.«
»Ich bin nicht in Stimmung, Sara.«
Sara zog ihre Hände zurück. »Du bist nie in Stimmung.« Warum mache ich mir überhaupt noch die Mühe, die Initiative zu ergreifen? Wie konnte ich nur auf die Idee kommen, dass ein halberzwungener Campingausflug als magisches Aphrodisiakum für Faith geeignet sein könnte?
»Du weißt doch, wie ich bin, Sara. Es ist einfach nicht so . . . wichtig für mich. Auf dem Musikfestival hattest du doch so viele Frauen zur Auswahl. Du hättest dich ruhig dort um deine . . . Bedürfnisse kümmern können. Schließlich wissen wir doch beide, dass das Problem bei dir liegt!«
Sara wandte den Blick ab. Es ist also mein Problem . . . ja, klar. Ihr Gehirn vollführte Saltos. Warum nur ließ sie sich diese Behandlung gefallen? Vielleicht brauchte sie den Sex im Grunde auch nicht. Nein, so ein Blödsinn.
Sara sah auf und entdeckte, dass Faith ihr zulächelte. Faith tätschelte ihre Hand. »Komm schon, Sara, darüber haben wir doch schon millionenmal gesprochen.« Sie erhöhte die Wattzahl ihres Lächelns. »Das ist doch nicht so tragisch.«
Sara atmete tief aus und rutschte wieder zurück auf den Fahrersitz. Gleichzeitig öffneten sie die Autotüren. Faith half mit, das Auto auszuladen, und entschied sich dann, zu dem kleinen Laden zu gehen, an dem sie kurz vorher am Eingang des Zeltplatzes vorbeigekommen waren.
Sara schuftete vor sich hin und schwitzte sehr. Insgeheim hatte sie gehofft, dass Faith ihr Angebot, das Zelt alleine aufzustellen, zurückweisen und ihr helfen würde. Hatte Camping denn nicht auch etwas mit einem Gemeinschaftserlebnis zu tun? Nun, vermutlich nicht.
Gedankenverloren hämmerte Sara die Heringe in den Boden. Faith und sie definierten sich eindeutig als Lesben, dabei praktizierten sie nicht einmal die elementarsten Dinge. Ob es auch auf dem Gebiet der sexuellen Praxis ein Gesetz über Verjährung gab? Bei diesem Gedanken musste Sara kichern. Das wäre eine gute Regel. Wenn eine Lesbe sechs Monate lang keinen Sex mehr hatte, könnte sie sich ja einfach als nichtausübende Lesbe bezeichnen. Was wäre, wenn irgend jemand sie beide, also Faith und sie, fragen würde, ob eine von ihnen genau angeben könne, wann sie das letzte Mal tatsächlich miteinander geschlafen hatten? Die Antwort wäre schlicht und ergreifend: Ist schon verdammt lange her.
Faith kam eine halbe Stunde später wieder zurückspaziert. Das Zelt war aufgebaut, Sara saß auf einem Baumstumpf und las in einem Buch. Kaum hatte sie sich den Schweiß von der Stirn gewischt, bildeten sich schon neue Perlen auf ihrer Haut. An den Armen hatte sie schwarze Streifen vom Aufstellen der Zeltstangen. Faith betrachtete sie von oben bis unten. »Du solltest dich ein wenig säubern. Ich habe zwei Frauen bemerkt, die sehr interessant aussehen, und dachte, wir könnten fragen, ob sie Lust hätten, heute mit uns zusammen zu essen.«
Sara fühlte, wie ihr Gesicht noch heißer wurde. Wie typisch! Faith war wieder auf der Suche nach neuen Spielkameradinnen. Sie biss die Zähne zusammen. »Es wird eine ganze Weile dauern, bis ich wieder einigermaßen präsentabel bin. Geh doch einfach los, und mach alleine etwas mit ihnen.«
»Warum bist du denn so gereizt? Ich dachte, wir wären hier, um Spaß zu haben.«
Spaß? Ja, aber nur, solange kein Sex dabei ist, und du bestimmst, was gemacht wird! Sara zählte bis zehn und blies die Luft aus ihren Lungen. Es hatte keinen Sinn, den Urlaub mit ständigen Streitereien zu verderben. »Ich brauche zwanzig Minuten, um zu duschen und mich umzuziehen. Warum gehst du nicht schon mal los und vereinbarst etwas?«
»Ich weiß nicht genau, ob sie Lesben sind oder nicht. Ich dachte, es wäre ein bisschen offensichtlicher, wenn wir zusammen hingingen.«
»Was wäre dann offensichtlicher?« fragte Sara etwas bissig.
»Du weißt schon.«
»Du siehst alleine schon genug nach Butch aus, Faith. Sie werden es gleich kapieren.« Faith versuchte, ein böses Gesicht zu ziehen, brachte aber nur ein schiefes Grinsen zustande. Sie war stolz auf ihr Erscheinungsbild als klassische Butch.
»Hast du denn vor, sie links liegen zu lassen, wenn sie keine Lesben sind?« Sara schaute Faith direkt in die Augen und sprach weiter. »Schließlich ist dir Sex doch angeblich gar nicht wichtig. Also nehme ich an, dass du keinen Partnertausch mit ihnen planst.«
»Aber ich unternehme eben gerne etwas mit anderen Lesben.«
»Weißt du, ich versteh’ das nicht so recht. Gerade erst hast du mich daran erinnert, dass Sex völlig unwichtig ist. Warum willst du dann deine Einladung von ihren sexuellen Präferenzen abhängig machen? Ich hätte schon ein bisschen mehr Political Correctness von dir erwartet.«
Faith zog eine Augenbraue nach oben. »Du weißt genau, dass es beim Lesbisch-Sein nicht nur um den Sex geht. Und außerdem bist du nur wütend auf mich wegen vorhin. Mir war heute einfach nicht danach, betatscht zu werden. Ich werde mal losziehen und sie einladen, ungeachtet ihrer . . .«, Faith räusperte sich, ». . . sexuellen Präferenzen. Warum gehst du nicht solange schon mal duschen?«
Klar, Faith, ich bin ein braves Mädchen und tue, was du sagst. Sara verstaute ihr Buch und suchte Seife, Handtuch und frische Kleider zusammen. Sie trabte zu den öffentlichen Duschen und entdeckte eine, die einen akzeptablen Wasserdruck aufwies.
Unter dem Wasserstrahl fuhr sie mit der Seife über ihre Brüste und fühlte, wie sich ihre Brustwarzen aufrichteten. Die Dusche war einer ihrer Lieblingsplätze, um den Schmerz zu lindern, der sie so oft durchzog.
Faith war ihre beste Freundin. Sie war immer für Sara da und interessierte sich dafür, wie Saras Tag gewesen war. Und als Sara den großen und ziemlich riskanten Sprung vom Zeitungs- zum Radiojournalismus wagte, war es Faith gewesen, die sie stets ermutigt und unterstützt hatte. Vielleicht hatte Faith ja recht. Es gab vermutlich jede Menge möglicher Sexpartnerinnen auf der Welt. Aber wo würde sie wieder eine Freundin wie Faith finden?
Mary Jo trug eine knallrote, knappe Unterhose. Das war alles. Sie las in einem Trivialkrimi und schnalzte jedes Mal mit der Zunge, wenn sie auf eine der häufig auftauchenden sexistischen Anspielungen stieß. Mit einem lauten Knall warf Erica die Tür auf. Mary Jo zuckte leicht zusammen und bedeckte ihre Brüste mit dem Buch. Sie warf Erica einen bösen Blick zu. Diese runzelte die Stirn und schloss die Tür hinter sich. Hätte sie etwa »Buh!« sagen sollen, bevor sie hereinkam? Schließlich war es ja Mary Jo gewesen, die sie zum kleinen Lebensmittelladen des Zeltplatzes geschickt hatte. Da hätte sie sich doch denken können, dass Erica auch irgendwann wieder zurückkehren würde.
Mary Jo fuhr mit Lesen und Zungenschnalzen fort. Erica legte das Eis und die gefrorenen Sachen in das Eisfach. Dann stellte sie die übrigen Einkäufe, zwei Dosen und einige andere Lebensmittel, auf den Tisch.
Mary Jos Geräusche der Missbilligung wurden immer lauter. Nach ein paar Minuten wurde sie von Erica unterbrochen. »Kannst du damit bitte aufhören? Warum liest du diesen Müll überhaupt?« Das war eine dumme Frage. Denn Mary Jo musste immer den schweren Weg nehmen. Sie musste Dinge lesen, die ihr nicht gefielen und sich dann ständig darüber beklagen. Oder halb nackt vor der Tür sitzen und sich aufregen, weil Erica es wagte, die Tür zu öffnen und ihre Einkäufe hereinzubringen.
»Du willst, dass ich ruhig bin? Dann komm doch her und zwing mich!« entgegnete Mary Jo in einem höchst anzüglichen Ton. Erica wog ihr Verlangen nach Sex mitten an einem heißen, schwitzigen Tag gegen ihr Bedürfnis ab, Mary Jo klarzumachen, wie nervig ihr dummes Benehmen war. Sie nahm eine Tüte mit Marshmallows vom Tisch und warf sie. Eigentlich hatte sie auf das blöde Buch gezielt, aber stattdessen traf der Beutel Mary Jo direkt zwischen den Brüsten.
Ein Wunsch wurde Erica nun zumindest erfüllt: Mary Jo hörte auf, den Krimi zu lesen. Außerdem rang sie Erica zu Boden und drohte, sie zu Tode zu kitzeln. Nachdem sie mehrere Male über den Boden der Hütte gerollt waren, saugten sich Ericas Lippen an Mary Jos Mund fest. Manche Entscheidungen, wie zum Beispiel die, an einem glühenden Sommertag lieber keinen Sex zuzulassen, wurden vielleicht doch zu übereilt getroffen . . .
Mary Jo döste an Ericas Brust gekuschelt, als es an der Tür klopfte. »Wer zum Teufel kann denn das sein?« grummelte sie.
»Keine Ahnung. Hast du neue Freunde kennengelernt, als ich einkaufen war?«
Mary Jo warf Erica einen dreckigen Blick zu und fragte dann laut: »Wer ist da?«
»Hallo. Meine Freundin und ich sind heute angekommen, und wir wollten fragen, ob ihr vielleicht Lust hättet, heute Abend mit uns zu essen«, hörten sie eine weibliche Stimme sagen.
»Oh . . . ähm, wir machen gerade einen Mittagsschlaf. Ist es okay, wenn wir in ein paar Minuten bei euch vorbeikommen?« entgegnete Mary Jo.
»Ja, klar. Wir haben Platz Nr. 67.«
Erica spähte unauffällig durch die Vorhänge neben dem Bett, während die Frau sich entfernte.
»Uuuuh . . . wer ist die härteste Butch im Land?« pfiff sie, als sie Faith davongehen sah.
»Die Geschichte kommt mir bekannt vor. Mussten wir das nicht mal in der Schule lesen?« scherzte Mary Jo und stand auf. Sie streckte einen langen, muskulösen Arm über ihren Kopf. Ihre perfekten Brüste standen frech hervor, wie bei einer Frau, die nur halb so alt war wie sie.
Erica beobachtete, wie Mary Jo sich streckte und ihren eigenen Körper bewunderte. Sie hasste sich selbst dafür, derartig oberflächlich zu sein. Zwar versuchten sie ständig herauszufinden, ob sich nicht etwas mehr zwischen ihnen entwickelte, aber im Grunde beruhte ihre Beziehung zu mindestens achtzig Prozent ausschließlich auf Sex. Also musste Erica wohl sehr oberflächlich sein, denn sonst hätte sie sich schon lange von Mary Jo getrennt. Doch irgendwie schien diese körperliche Beziehung, die so gut wie nichts Freundschaftliches beinhaltete, trotzdem gut zu gedeihen. Die Gedanke daran, dass sie niemals wieder fühlen würde, wie sich diese perfekten Brüste gegen ihre eigenen drückten, hielt Erica bei der Stange. Oft fühlte sie sich wie gelähmt und unfähig, den Absprung zu einem Singledasein mit etwas mehr Selbstachtung zu schaffen. Statt dessen hatte sie sich für den Selbsthass entschieden und damit für den sexuell allerdings sehr befriedigenden Umstand, es bei jeder Gelegenheit mit Mary Jo treiben zu können, sogar Sex bei strömendem Regen auf dem Dach war denkbar. Ganz rational tröstete sie sich mit dem Gedanken, wenn die Beziehung sie sowieso eines Tages umbringen würde, dann könnte sie auch ebensogut im Todesrausch der Lust sterben.
Als könnte Mary Jo ihre Gedanken lesen, kam sie zurück ins Bett und presste ihre Brüste gegen Ericas. »Hast du Lust auf ein Abendessen mit den Mädels? Ich glaube, es könnte ganz spaßig sein.«
Erica kannte diesen Tonfall. Es war der Tonfall der vollendeten Tatsachen. Mary Jo wollte Gesellschaft.
»Klar«, sagte sie abwesend. »Ich geh mal duschen«, fügte sie hinzu und schlüpfte in ein T-Shirt und Shorts.
»Prima. Ich auch.«
»Hast du vor, unser ganzes Zeug ins Auto zu schließen?« fragte Erica und warf einen Blick auf ihre gesamte Überlebensausrüstung, darunter ein tragbarer CD-Player, ein Camcorder und ein teurer Fotoapparat.
»Wozu? Wir werden doch nicht so lange weg sein.«
»Geh du schon mal vor. Ich bleibe hier bei den Sachen«, bot Erica an.
»Nein. Ich werde die Kronjuwelen bewachen, bis du fertig bist«, sagte Mary Jo bockig.
Erica fielen unzählige kleine Gemeinheiten ein, die sie darauf hätte erwidern können, aber dann dachte sie nur: Wenn du nichts Nettes zu sagen hast . . . Sie griff sich ein paar frische Kleider, ihren Waschbeutel und ein Handtuch. Dann wandte sie sich zu Mary Jo, um sich einigermaßen nett von ihr zu verabschieden, doch die schlug spöttisch die Hacken zusammen und salutierte vor ihr. Das reichte. Ericas Geduld war am Ende. Während sie aus der Hütte stiefelte, zeigte sie Mary Jo den Mittelfinger.
Die sanitären Anlagen bestanden aus einem halben Dutzend Duschen in einem großen Raum, die nicht durch Vorhänge voneinander getrennt waren. Obwohl Sara ganz am Ende des Raumes unter der sechsten Dusche stand und so früh noch kein anderer da war, fühlte sie sich entblößt und unbehaglich. Das Wasser war jedoch überraschend angenehm, und so entspannte sie sich gleich darauf. Es war schön warm und hatte einen gleichmäßig starken Strahl. Trotzdem fehlten die Annehmlichkeiten ihres Zuhauses. Was sie in diesem Moment wirklich wollte, war, die Beine zu spreizen und sich selbst zu streicheln, wie sie es in ihrer eigenen Badewanne getan hätte. Stattdessen ließ sie die Seife immer wieder über ihre Brustwarzen kreisen und stellte sich eine gesichtslose Liebhaberin vor, die ihre eigene Lust Stoß um Stoß erwiderte.
Erica betrat die Duschen. Das Wasser lief, also war sie nicht allein. Sie blickte kurz auf die Gestalt ganz hinten. Das sehr, sehr dunkle Haar klebte am Kopf der Frau, die weiße Haut war fast durchscheinend. Sie wollte eigentlich die Augen abwenden, aber dann nahm sie der Rhythmus der Frau gefangen. Wäre sie eine freche Draufgängerin wie Mary Jo gewesen, wäre sie schnurstracks hinübergegangen und hätte der Frau angeboten, ihr behilflich zu sein. Unwillkürlich vollführten Ericas Augen Kreise, während sie verfolgten, wie die Frau die Seife immer wieder über ihre Brustwarzen gleiten ließ. Nach einer Weile konnte Erica beobachten, wie die Hand der Frau an ihrem Bauch hinunterwanderte. Das war zu viel. Sie konnte unmöglich noch länger dabei zusehen, wie weit die Fremde wohl gehen würde. Sie tadelte sich selbst dafür, so eine Spannerin zu sein, und drehte hastig den Wasserhahn der Dusche auf, die am weitesten von der Frau entfernt lag. Gleich darauf konnte sie hören, wie die andere Dusche abgedreht wurde. Erica sah auf. Die Frau griff nach einem Handtuch, als sich ihre Blicke trafen. Mit offenen Augen war die Frau mit den rabenschwarzen Haaren noch schöner, als Erica gedacht hatte.
»Hallo«, sagte Sara.
»Oh, hallo«, sagte Erica und schaute zur Seite. Sie fühlte, wie ein leichter Schauer durch ihren Körper fuhr. An diesen Moment würde sie noch lange zurückdenken.
»Faith, ich glaube, deine Freundinnen sind auf dem Weg zu uns«, zischte Sara. Faith kam aus dem Zelt und winkte ihnen zu. Sara sah zur Seite. Sie hasste diese Partyatmosphäre, die Faith für ihr Wohlbefinden brauchte. Ihr hätte es vollkommen ausgereicht, in Ruhe zu zweit zu essen und hinterher noch ein wenig zu lesen.
»Hallo. Tut mir leid, dass wir vorhin nicht aufgemacht haben, aber . . . nach einem Mittagsschlaf bin ich kein besonders schöner Anblick«, plapperte Mary Jo gleich drauflos. »Ich heiße Mary Jo, und das ist . . . meine Freundin Erica.«
»Hallo. Ich bin Faith, und das hier ist Sara.« Winzige Pause. »Ihr tragt aber auch ganz schön robustes Schuhwerk, was?« Faith kicherte.
»Wir kommen gerade vom Frauenmusikfestival«, sagte Mary Jo erklärend.
»Wenn ihr hochhackige Pumps angezogen hättet, dann hätte Faith die Einladung zum Abendessen unter einem Vorwand wieder abgeblasen«, sagte Sara grinsend. Alle lachten.
»Tja, ich weiß ja, dass ich sofort zu erkennen bin, aber ihr könntet vielleicht noch als Heteras durchgehen«, tröstete Faith und straffte etwas angeberisch die Schultern.
Sara biss die Zähne zusammen. Faith war die perfekte Verkörperung des Sprichworts »Große Klappe und nichts dahinter«, doch diese Frauen hatten sie eben erst kennengelernt und hingen an jedem ihrer Worte. Faith war eindeutig auf Frauenjagd. Der Butch-Hahn reißt den Schnabel auf und schmeichelt den Hennen.
Erica entdeckte auf einmal, wie Saras nach hinten geglättetes, rabenschwarzes Haar trocknete und sich zu kleinen Locken ringelte. Der kleine, ruhige Lockenkopf war die Frau aus der Dusche.
Sara bemerkte Ericas Blick. »Du kommst mir so . . . bekannt vor. Kennen wir uns von irgendwoher?«
Ich habe dich beobachtet, als du dich in der Dusche gestreichelt hast. »Ich glaube, wir haben uns kurz in der Dusche gesehen.«
»Oh.«
Sie teilten sich auf. Faith unterhielt sich bald angeregt mit Mary Jo an einem Ende des Picknicktisches. Anfänglich versuchte Sara noch, beiden Unterhaltungen zu folgen, aber Faiths Begeisterung für fremde Frauen ärgerte sie, während sie gleichzeitig nicht richtig weghören konnte. So bekam sie mit, wie Faith vom Musikfestival und ihrem ›Presseausweis‹ erzählte. Ihrem Presseausweis? Du hast das Ding als meine Geliebte bekommen . . . Halt nein: als meine offiziell bestätigte lesbische Lebensgefährtin.
Faith sprach weiter und erwähnte die Namen einiger bekannter Sängerinnen und Kabarettistinnen, mit denen sie beim Festival zusammengekommen waren. Sara hörte schweigend dabei zu, wie Faith sich aufspielte, und schluckte die Galle hinunter. Ach, Faith, Frischfleisch liebst du wirklich über alles, was?
Mittlerweile flirtete Faith schon ganz offen. Mary Jo lachte schallend über Faiths Witze. Wirkte der Zauber etwa bei ihr? Sara wusste, dass sie Faith am besten ignorierte, bis sie ihrer neuen Beute überdrüssig wurde.
Saras Aufmerksamkeit schweifte zu der jungen Frau, die ihr gegenübersaß. Sie sah Erica unauffällig an und schaute dann schnell wieder weg. Faiths Stimme schien auf einmal von ganz weit her zu kommen. Wieder warf Sara Erica einen neugierigen Blick zu. Dabei fühlte sie, wie ihr Puls raste. Was hat es mit dieser Frau bloß auf sich?
Anders als Faith und Mary Jo sprachen Erica und Sara kein Wort, und doch schienen sie miteinander zu kommunizieren. Ihre Augen trafen sich, woraufhin beide schnell zur Seite blickten, dann fanden sich ihre Blicke wieder, und erneut schauten beide nach unten auf den Tisch. Nachdem sie dieses Muster einige Male wiederholt hatten, lächelte Erica Sara gewinnend an. Sara fühlte, wie sie unwillkürlich zurücklächelte.
»Du gehörst wohl eher zu den stillen starken Frauen, Sara, oder?«
Was? Saras Magen verkrampfte sich, während sie nach einer geeigneten Antwort suchte. »Da liegst du nur zur Hälfte richtig.«
»Wenn du mir noch ein paar Minuten Zeit lässt, dann finde ich bestimmt heraus, welche Hälfte du meinst«, versicherte Erica ihr.
Sara stockte der Atem. Doch gerade als sie genug Mut gefasst hatte, um Erica auch eine Frage zu stellen, kam Faith zu ihr hinüber. Mensch, du bist nie da, wenn ich dich brauche, aber warum kommst du immer dann, wenn ich dich nicht gebrauchen kann? Sara presste die Augen zusammen.
Faith fragte, was die anderen gerne zu essen hätten. Sie einigten sich auf gegrilltes Hühnchen und Salat. Faith und Mary Jo entschlossen sich, in den nächsten Ort zu fahren und die Sachen dafür zu besorgen.
Als sie gegangen waren, drehte sich Erica um und sah Sara direkt in die Augen. »Was ist mit dir?«
»Nichts. Warum fragst du?« Die Worte kamen weitaus abweisender aus ihr heraus, als sie beabsichtigt hatte. Sara begann, mit dem Fuß auf den Boden zu klopfen. Sie wurde immer nervös, wenn sie vor anderen Lesben so tun musste, als sei sie Teil eines glücklichen, harmonischen Paares. Dann fühlte sie sich zugleich verpflichtet und bedroht. Das ergab überhaupt keinen Sinn. Sie und Erica kannten sich gerade mal fünf Minuten. Ich habe nicht die Absicht, meine Probleme einer völlig Fremden anzuvertrauen.
Nun stockte die Konversation. Erica starrte in die Ferne. Sara nutzte die Atempause als Gelegenheit, um ihr Gegenüber etwas eingehender zu betrachten. Süß. Mit ihrem jugendlichen, androgynen Gesicht erinnerte sie Sara an einen Engel. Sara wusste, dass sie jetzt eigentlich wieder ihre Augen abwenden sollte, aber sie erlaubte ihnen dennoch, weiter nach unten zu wandern. Ihr gefiel, was sie sah. Dann trafen ihre Blicke noch einmal auf Ericas. Sara fühlte, wie ihr die Hitze in die Wangen schoss. Erica musterte sie ebenfalls von oben bis unten.
Erica musste ihre Augen zwingen, sich wieder von Saras Brüsten zu lösen. Das Bild in ihrem Kopf, wie diese Frau sich in der Dusche eingeseift hatte, wollte einfach nicht verschwinden. Ihre Blicke verhakten sich erneut ineinander.
Ericas Blick war unglaublich eindringlich. Sara zuckte zusammen. Was geht hier vor? Sie hatte das Gefühl, Erica würde ihr direkt bis in die Seele schauen.
»Die Beziehung zwischen Mary Jo und mir ist rein körperlich.« Erica schüttelte den Kopf über sich. Hab’ ich ihr das gerade wirklich erzählt? Warum war sie so offen zu dieser Frau? Sie kannten sich doch kaum.
Du kriegst es also und ich nicht. Sara sah Erica ins Gesicht und versuchte, stark und selbstsicher zu wirken. Ich bin stark, verdammt. Ich bin sehr stark . . . Scheiße, wem versuche ich denn hier, was vormachen? Wenn sie so richtig darüber nachdachte, fühlte sie sich nicht besonders stark. Ein Damm in ihrem Innern brach. »Ich würde sagen, es ist alles andere als körperlich zwischen Faith und mir«, gestand sie. Sara fühlte sich auf einmal zehn Kilo leichter, als diese Worte heraus waren. Entweder lässt es sich mit dieser Frau verdammt gut reden, oder ich verliere den Verstand.
»Alles andere?« hakte Erica mit sanfter, freundlicher Stimme nach.
»Sie ist meine beste Freundin.«
»Es ist immer gut, eine beste Freundin zu haben. Ich habe schon seit Tausenden von Jahren keine mehr gehabt«, sagte Erica.
»Vielleicht schreckt es die Leute ein bisschen ab«, sagte Sara, »wenn du ein paar Sekunden, nachdem du sie kennengelernt hast, gleich den Finger auf den wunden Punkt legst.«
»Danke für den Tipp. Ich werde beim nächsten Mal dran denken«, versetzte Erica schmollend. Es herrschte ein kurzes Schweigen, dann prusteten beide los vor Lachen.
»He«, fing Erica an, »ich bin Sozialarbeiterin. Bei einer Beratungsstelle für Familienangelegenheiten. Wenn ich jemanden sehe, der offensichtlich nicht mit der Familie klarkommt oder der missbraucht wurde – körperlich, seelisch, durch das Verweigern von gutem Sex oder sonst wie – dann muss ich da einfach meine Nase reinstecken. Berufskrankheit.«
»Ich wusste gar nicht, dass man seinen Lebensunterhalt damit verdienen kann, sich überall einzumischen. Sonst hätte ich das dem Journalismus bestimmt vorgezogen!«
»Du bist Journalistin? Wie toll. Schreibst du für eine Zeitung?«
»Früher mal. Jetzt bin ich beim Rundfunk. WLCK heißt unser Sender. Ich arbeite mit der Programmabteilung und mit der Werbung zusammen. Eigentlich ist es ein Job, bei dem ich eher organisiere als journalistisch tätig bin, aber das gefällt mir. Es ist außerdem wichtig, dass dort jemand sitzt, der das Medium als Ganzes versteht und nicht nur die Bilanz im Auge hat.«
Während sie zuhörte, wie Sara ihre Arbeit beim Radiosender beschrieb, konnte Erica nicht die Augen von ihr lassen. Sara kam ihr sehr eloquent und klug vor, aber sie erkannte schnell, dass sie ihre Gesellschaft auf einer weitaus tieferen Ebene genoss. Sie war richtiggehend hypnotisiert von ihr. Was für eine Stimme. Um ehrlich zu sein, hätte Sara auch Quadratwurzeln aufsagen oder eine Einkaufsliste vorlesen können, anstatt von ihrer Arbeit zu erzählen . . . Allein der Ton ihrer Worte, die Art, wie sie ihren Mund bewegte – Erica fand einfach alles an dieser Frau faszinierend.
Erica rückte ein wenig näher und nickte immer dann, wenn sie dachte, es wäre angebracht. Aber währenddessen grübelte sie die ganze Zeit über Saras merkwürdige Beziehung nach. Diese Freundin – wie hieß sie noch gleich? Faith? –, sie musste verrückt sein. Wie konnte eine Lesbe, die alle fünf Sinne beisammen hatte, dieser Stimme, diesem Lachen zuhören, ohne dass ihr heiß und kalt wurde? Wie konnte Faith zusehen, wie sich diese Lippen bewegten, ohne sie auf der Stelle küssen zu wollen? Die Kombination dieser wunderschönen, kobaltblauen Augen und der langen, schwarzen Wimpern war einfach atemberaubend. Erica jedenfalls benötigte keine Bedienungsanleitung, um zu wissen, was sie mit dieser Frau alles anstellen würde.
Sara empfand nach wenigen Minuten eine tiefe Verbundenheit mit ihrer Gesprächspartnerin. Erica schien jedem Wort zu lauschen, das sie sagte. Sara fühlte sich plötzlich ganz schüchtern. Sie hatte das seltsame Gefühl, von Ericas durchdringenden grünen Augen ausgezogen zu werden. Das hatte noch nie jemand mit ihr gemacht.
»Ich vermute, die Radiosender in Chicago machen sich untereinander ganz schön Konkurrenz?«
»Ja, aber wir sind ziemlich einzigartig.«
Erica wollte noch mehr über ihre Arbeit wissen. Sara hörte sich darauf antworten, war aber eindeutig nicht ganz bei der Sache. Nach wenigen Augenblicken schwiegen beide wieder, sahen sich in regelmäßigen Abständen an und taten dann erneut so, als wären sie von irgendeinem Baum in der Ferne fasziniert.
Was könnte wohl jemand, der so selbstbewusst und erfahren wirkt wie Erica, von mir wollen? Vermutlich bildete sie sich das nur ein. Mary Jo hatte eine Figur wie ein Fotomodell, und ganz offensichtlich hatten die beiden erst heute Nachmittag ein paar vergnügliche Momente miteinander verbracht. Sara nahm ihren ganzen Mut zusammen und betrachtete Erica etwas genauer. Ihr gefiel das kurze blonde Haar. Es wirkte ganz weich. Und ihre vielen Ohrringe sehen wirklich toll aus. Manchmal war auch Sara selbst nicht diejenige, die sich in einer Unterhaltung nur langsam vortastete. So platzte sie dann auch plötzlich heraus: »Wie viele Löcher hast du denn?«
Erica lachte ganz unkontrolliert los. Sie hielt sich mit einer Hand am Tisch fest und wischte sich mit der anderen die Tränen aus den Augen. Dreimal versuchte sie, etwas zu sagen, musste aber jedes Mal wieder loslachen. Sara war entsetzt und vergrub ihr Gesicht in ihren Händen.
»Ich bin . . .« Schallendes Gelächter. »Tut mir . . .« Kichern. »Wusste nicht, dass wir schon beim Thema der Körperöffnungen gelandet waren«, stieß Erica schließlich prustend hervor.
Sara hob den Kopf. In ihren Augen standen ebenfalls Tränen, denn sie schämte sich in Grund und Boden. Erica streckte die Hand über den Tisch und wischte Saras Tränen weg. Wie sie vermutet hatte, fühlte sich Saras Gesicht weich und warm an. »Wein doch nicht. Ich war nur . . . Ach, komm schon, ich habe eben einfach eine schmutzige Phantasie. Du hast von meinen Ohren gesprochen, stimmt’s?«
Sara nickte und sah weg. Erica bemerkte, dass Faith und Mary Jo mit dem Auto auf den Zeltplatz zusteuerten. Sie legte ihre Hand auf Saras. »Wenn du nicht auf der Stelle sagst, dass du mir verzeihst, dann werde ich dich so heftig küssen, dass sie einen Krankenwagen rufen müssen, um dich wiederzubeleben.«
Sara keuchte. Was sollte das denn? Mit riesengroßen, erstaunten Augen starrte sie Erica an.
Verdammt, sie will mich auch küssen. Erica flüsterte: »Also gut, wenn ich dir einen Aufschub auf den Kuss gewähre, verzeihst du mir dann, bevor die Katzen zurück sind?«
»Katzen? Oh . . . du meinst, wir sind die Mäuse, die auf dem Tisch tanzen?«
Erica nickte, und Autotüren knallten.
Sara sagte: »Ich verzeihe dir, wenn du mir verzeihst, dass ich so überempfindlich war.«
»Abgemacht. Und mit dem Aufschub, das habe ich ernst gemeint.«
Saras Antwort bestand aus einem fast unmerklichen Schaudern, das Ericas Unterleib zum Zucken brachte. Da Erica aus Prinzip stets gerne noch einen draufsetzte, kitzelte sie noch ganz schnell Saras Hand, bevor sie die Finger wieder losließ, während die anderen mit den Einkaufstüten herankamen.
»Mädchengeplapper?« fragte Faith, als sie wieder an den Tisch trat, an dem Erica und Sara immer noch zusammengekauert saßen, wenngleich sie sich nicht mehr berührten.
»Bitte, hab doch wenigstens so viel Anstand, es ›Frauengeplapper‹ zu nennen«, sagte Erica in gespieltem Entsetzen. Sie erhob sich, um Mary Jo zu helfen, die einen Beutel mit Grillkohle schleppte.
Das Abendessen war sehr informativ für Erica, die sich im Geist zahlreiche Notizen machte. Faith und Sara waren seit drei Jahren zusammen. Sie wohnten in einem nördlichen Vorort von Chicago. Erica überlegte, dass sie es in dreieinhalb Stunden von ihrem Büro in Indianapolis dorthin schaffen könnte, wenn sie nach der Arbeit mal vorbeischauen wollte.
Irgendwann verlor Erica den Überblick über die zahlreichen Hochs und Tiefs des Abends. Die schnellen Blicke, die sie einige Male mit Sara tauschte, erfüllten sie mit Sehnsucht und Begehren. Dagegen stiegen jedes Mal, wenn Mary Jo etwas sagte, Verlegenheit oder Ärger in Erica hoch. Sie dachte darüber nach, dass sie Sara am liebsten von den anderen wegholen wollte, um sie zu küssen, zu lecken und zu reiben, bis sich ihre Zehen bogen. Dann erinnerte sie sich daran, dass sie erst vor wenigen Stunden Mary Jo bis in lustvolle Höhen gestreichelt hatte, und eine Mischung aus Schuld und Selbstgefälligkeit durchströmte sie. Klar, sie hatte auch schon einiges hinter sich, aber sie hatte noch nie das Verlangen oder den Hauch einer Möglichkeit gehabt, an einem Tag mit zwei Frauen zu schlafen. Der Gedanke reizte sie, gleichzeitig fühlte sie sich jedoch auch schamlos und primitiv.