TELEPORT 3 - Joshua Tree - E-Book

TELEPORT 3 E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Der Übergang durch den Versuchsteleporter von Al'Antis ist geglückt. James und sein Team haben den ursprünglichen Teleporter der Ältesten gefunden. Doch was sie auf der anderen Seite erwartet, ist nicht das, womit sie gerechnet haben. Sie finden die Antworten, die sie sich so sehnlich wünschen, aber keine davon macht ihre Zukunft angenehmer oder leichter. Im Gegenteil: Sie sehen sich plötzlich einer letzten, großen Gefahr gegenüber, die ausgerechnet ihrem Heimatplaneten gilt, der unerreichbar schien: die Erde. Doch der Ort, an dem James, Mila, Mette, Adrian, Meeks und Justus sich wiederfinden, stellt alles auf den Kopf, was sie bislang geglaubt haben - inklusive der Zeit selbst. Können sie es schaffen zur Erde zurückzukehren? Oder bleiben sie zwischen den Sternen gefangen? Und wenn es gelingen sollte, wird ihre Heimat überhaupt noch existieren?

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TELEPORT 3

JOSHUA TREE

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Epilog

Nachwort

1

James lag auf dem Rücken und genoss das sanfte Kitzeln des Grases auf seiner nackten Haut. Die Halme fühlten sich feucht genug an, um nicht kratzig zu sein, aber dennoch so trocken, dass ihm nicht kalt wurde. Ohnehin war die Temperatur überaus angenehm und er schwitzte genauso wenig, wie er fröstelte.

Durch seine geschlossenen Augen blickte er auf ein orangerotes Schimmern, das seine Lider zu einer warmen Wand machte, die einladend und entspannend auf ihn wirkte. Ein seichter Wind rauschte in der Ferne und strich sanft über ihn hinweg. Eine tief empfundene Leichtigkeit breitete sich in ihm aus und begünstigte das Abfallen einer Last, an die er sich so sehr gewöhnt hatte, dass sie ihm erst jetzt in ihrer Gänze bewusst wurde, wo sie sich von ihm löste. Wie eine Lawine aus unterdrückter Angst, Wut und sorgenvollen Gedanken, die einem erwachsenen Menschen den Verstand rauben konnten, fegten sie durch seinen Magen und seine Brust – ein Ball aus unausgesprochenen Reaktionen, die er nie ausagiert hatte. Entweder, weil er durch die Notwendigkeit des Überlebens keine Zeit für sie gehabt hatte oder aufgrund der Tatsache, dass er seine Freunde nicht unnötig in Angst und Schrecken versetzen wollte.

Die Lawine brachte eine Welle der Übelkeit mit sich, eine Schwere in seinen Eingeweiden, die sich konvulsivisch nach oben fortsetzte und sich als Kloß in seinem Hals festsetzte. Er schluckte und atmete ruhig die frische Luft durch seine Nase ein, spürte in sein Zwerchfell hinein, das sich sanft hob und senkte, ungerührt von dem psychosomatischen Orkan, der sein Vegetativum auf Hochtouren laufen ließ.

Je mehr er sich darauf einließ, der Einfachheit des Atems, dieser Basislinie des Lebens, zu lauschen und ihr als aufmerksamer, aber unbeteiligter Beobachter beizuwohnen, desto weicher wurde der Kloß in seinem Hals. Aus unmittelbarer Panik wurde eine bloße Regung, die er akzeptierte und als die flüchtige Reaktion seines physischen Systems sah, die sie war. Er überließ es der Intelligenz seines Körpers, sich davon zu lösen, und ein tiefer Frieden breitete sich langsam in ihm aus.

Die Tatsache, dass er nackt war und die anderen um ihn herum ebenfalls splitternackt im Gras lagen, machte ihm nichts aus. Noch vor einem halben Jahr hätte er niemals gedacht, dass er eines Tages wie ein Europäer ohne jegliche Scham entblößt vor anderen hätte herumlaufen – oder liegen – können, doch die Zeit bei den Tokamaku, die mit Nacktheit so umgingen, wie man es sollte, nämlich natürlich, hatte ihn verändert. Hinzu kam die Nähe, die gegenüber seines Teams, seinen Freunden empfand. Eine Nähe, die nur die gemeinsame Konfrontation mit Krankheit und Tod, widrigen Bedingungen und absolutem Zusammenhalt zustande kam. Sie waren für ihn wie eine Familie geworden, und erst als sie beinahe im Kampf mit Altan-117 gestorben wären, dem von einem Kazerun-Hacker besessenen Servitor auf Al’Antis, war ihm bewusst geworden, dass er für jeden Einzelnen von ihnen sterben würde, wenn es sein müsste.

»Ist das nicht wunderbar?«, fragte Mila neben ihm und löste ihn damit von seinen Gedanken ab. Sie lag dicht an seiner Seite, berührte ihn mit ihrer Schulter am Oberarm und mit ihrem Oberschenkel den seinen. Seine rechte und ihre linke Hand waren fest umschlungen. »Vögel zwitschern, die Sonne scheint – oder besser: die Sonnen – und der Himmel ist fabelhaft türkis.«

»Ich würde mich noch besser fühlen, wenn es hier Bäume gäbe, aber ja, du hast recht.«

»Was meinst du?«

»Es gibt keine Bäume oder Sträucher, nur endlose Wiesen, aber Vögel zwitschern um uns herum.« James lauschte und ließ das Geschnatter und die Gesänge auf sich einwirken. Jeder Ruf eines Vogels schien etwas Rohes, Evolutionäres im Menschen zu wecken, das mit Lebendigkeit und Geborgenheit einherging. Es fühlte sich einfach gut an, diese ätherischen Laute auf sich einwirken zu lassen – sanfte Melodien zarter Wesen, die sich von der Schwerkraft nicht niederziehen ließen, sondern sich im Laufe der Jahrmillionen über sie erhoben hatten und durch die Lüfte zogen. Oft versuchte er, sich daran zu erinnern, durch welche Augen er sie wohl betrachtet hatte, als er noch ein kleines Kind gewesen war, ehe man ihm gesagt hatte, dass dieses mysteriöse Wesen, das über ihm mit dem Schlag seiner Flügel flatterte, ein ›Vogel‹ sei. Sobald er ihren Namen kannte, und erklärt bekommen hatte, um was es sich handelte, hatten diese Wesen ihren Zauber verloren, das Unbekannt-Mystische, und er hatte nur noch ›Vögel‹ gesehen und nicht das Unbeschreibliche, das ihn so sehr beeindruckt hatte.

»Jede Erklärung ist bloß ein Etikett, das wir Dingen geben, die wir im Grunde genommen nicht verstehen«, sagte er laut. »Wir bilden es uns nur ein, weil wir ihnen Namen geben, aber eigentlich wissen wir rein gar nichts über sie. Nicht, woher sie kommen, warum es sie gibt und wie es sich anfühlen muss, sie zu sein.«

»Reden wir immer noch über die Vögel?«, fragte Mila.

»Vielleicht«, gab er so nebulös zurück, wie es sich in seinem Kopf anfühlte. »Wir haben hier keine Vegetation gesehen, in der sie sich verstecken könnten. Trotzdem hören wir sie ganz nah um uns herum singen – es ist herrlich. Eine Erklärung habe ich dafür nicht, aber ich bin bereit, für einen Moment keine zu suchen und einfach nur zu genießen, dass es sich gut anfühlt.«

»Das tun wir viel zu selten.«

»Genau.« Er drehte den Kopf zur Seite und küsste sie auf die Stirn, ohne seine Augen zu öffnen. Ihr Haar kitzelte dabei in seiner Nase und roch leicht nach Gras – was für ein Geschenk diese einfachsten Empfindungen doch waren. Er musste diese Tatsache nicht hinterfragen, nur dankbar willkommen heißen, wodurch sie so viel kostbarer und tiefschürfender wurde.

Langsam öffnete er die Augen und blickte in den türkisfarbenen Himmel hinauf. Eine einsame weiße Wolke zog dort entlang wie ein Schaf, das seine Herde verloren hatte.

Wie wir, dachte er und sah ihr nach. Weit entfernt von unserer Herde, die wir nicht mehr sehen können, verloren an einem Himmel, der aber immerhin nicht mehr wolkenverhangen ist, sondern freundlich aussieht.

»Glaubst du, dass es funktioniert hat?«, fragte er.

»Ich weiß es nicht. Ich habe etwas anderes erwartet, schätze ich.« Mila machte eine kurze Pause, die er nicht mit ungeduldigem Nachfragen beschädigen wollte. Schließlich fuhr sie fort: »Sitze zum Beispiel.«

»Mhm.« Als er auf seinem Sitz auf der Teleporterplattform der Arche auf Al’Antis die Augen geschlossen hatte, war sein Körper zerschunden gewesen, ein geschundenes Wrack, das sich mit letzter Kraft über Wasser halten konnte, ohne in der Tiefe zu versinken und für immer zu vergehen. Die Schmerzen hatten ans Unerträgliche gegrenzt und seine halbe Welt ausgefüllt. Er hatte den Geruch nach Ozon und Staub noch immer in der Nase, obwohl es ihm jetzt wie ein ferner Traum vorkam, so wie man sich an einem sonnigen Sommertag kaum den kalten Regen des Winters vergegenwärtigen konnte. Dann hatte er seine Augen geschlossen und war hier aufgewacht, aber nicht wie erwartet in einem Sitz in relativer Anordnung, im Raum eines neuen Teleporters. Nein, er war genau wie seine Freunde mitten im Nirgendwo aufgetaucht – oder aufgewacht? –, ohne Zeichen von irgendeiner Form der Technologie, die für einen Teleport notwendig war. Da er aber seit seiner ersten Benutzung des Teleporters auf der Erde entschieden hatte, nicht mehr an ein Jenseits oder eine Illusion zu denken, musste es eine Erklärung geben, die er einfach noch nicht sah – oder nicht sehen wollte. Nach allem, was er wusste, war ihre Reise nach Al’Antis echt gewesen, und wenn sie es nicht war, dann gab es keinerlei Möglichkeit, über die Illusion, den Traum, oder das Metaphysische hinwegzublicken, das sie gefangen hielt. Diese Erkenntnis machte es müßig, überhaupt ein solches Szenario durchzudenken, denn dann hätte er sein ganzes Leben hinterfragen und für ein Gespenst halten müssen.

Diesen Weg zu gehen, war er nicht bereit, denn er wollte seine geistige Gesundheit behalten und wenn es nur das war.

»Wir sind einfach hier aufgetaucht, als wären wir schon immer hier gewesen und hätten bloß ein Nickerchen gemacht«, sagte er und seufzte.

»Glaubst du, dass es ihr Planet ist?«, fragte Mila. »Der Ursprung? Die Heimat dieser mysteriösen Ältesten, von denen Nasaku erzählt hat und die die Al’Anter so lange gesucht haben?«

»Ich weiß es nicht und ich traue mich nicht, es zu hoffen, obwohl ich es mir so sehr wünsche. Ein paar Antworten könnten uns allen gut tun.«

»Zumindest leben wir noch, das ist doch ein guter Anfang. Immerhin haben wir noch die Möglichkeit, Antworten zu hören, wenn man sie uns sagen würde. Für einen Moment dachte ich, dass es das mit uns gewesen ist.«

»Das dachte ich auch«, gab er zögernd zu. »Aber das ist jetzt nicht mehr wichtig.« Er drückte ihre Hand. »Wichtig ist nur, dass wir es geschafft haben und hier sind. Wir atmen, wir haben uns und wir haben niemanden verloren.«

Langsam richtete James sich auf und sein Rücken prickelte angenehm, wo sich die Grashalme sanft in seine Haut gebohrt hatten. Es fühlte sich an, als würde jemand eine Massagematte von ihm lösen. Justus, Meeks, Adrian und Mette lagen in einem unregelmäßigen Halbkreis vor ihnen aufgefächert, die Füße berührten sich dabei beinahe. Es war ein Bild der Entspannung und Erleichterung, das ihm einmal mehr das Herz wärmte.

Sie schienen trotz ihrer geschlossenen Augen zu bemerken, dass sich etwas verändert hatte, und räkelten sich nacheinander ebenfalls, bis sich Adrian als Erster aufrichtete. Er atmete laut und langgezogen aus, ein gestrecktes Seufzen, in dem eine Menge mitzuschwingen schien, das sich jetzt selbst befreite.

»Schön, dich wieder wohlauf zu sehen«, sagte James, und zum ersten Mal, seit er sich erinnern konnte, sah er den Russen lächeln. Es war kein zynisches Lächeln, kein missbilligendes und auch kein resigniertes, sondern ein echtes und es stand ihm äußerst gut, nahm ihm etwas von der hemdsärmeligen Ernsthaftigkeit, die ihn stets umgab wie eine Aura der Professionalität.

»Gleichfalls. Dein Kiefer …« Adrian erschauderte. »Lass uns das einfach nicht wiederholen.«

»Keine Killerbots mehr«, stimmte Meeks zu, der sich das Gras vom kahlen Kopf wischte und Mette zuzwinkerte, die neben ihm auf die Ellenbogen kam und beinahe verschlafen wirkte. »Kein verstrahlter Planet mehr.«

»Wer auch immer diese Teleporter gebaut hat«, sagte Justus, der argwöhnisch an sich herabsah, als er in eine sitzende Haltung kam. »Hat ein merkwürdiges Faible für Nacktheit.«

James musterte den Deutschen, die sehnigen Muskeln, die sich unter seiner Haut wie Schlangen bewegten. Sie waren noch immer stattlich, sahen aber nicht mehr aus wie von dem Covermodel einer Men’s Health-Ausgabe. Auch sein Teint war nicht sonnengebräunt wie damals auf der Erde, sondern blass wie auf Al’Antis.

»Interessant«, murmelte er laut genug, dass sich sämtliche Augen auf ihn richteten. Als er es bemerkte, blinzelte er und deutete auf Justus. »Ich bin mir nicht sicher, was passiert ist, ob der Teleport funktioniert hat, aber falls es so ist, dann wissen wir schon mal eins: Unsere Al’Antis-Ichs wurden teleportiert und nicht unsere Erd-Ichs. Wir sind blass, Meeks hat seinen Bauch nicht mehr, Mette ist schlanker als ich.«

Er sah, wie Mila sich durch das volle Haar fuhr und die anderen, genau wie er, ihre Haut zum ersten Mal bewusst nach Abszessen, Schwellungen oder auch nur Rötungen absuchten. Nach ihrer Ankunft an diesem Ort vor vielleicht einer halben Stunde waren sie einfach nur erleichtert ins Gras geplumpst, ohne sich darüber Gedanken zu machen.

»Wir sind so wie auf Al’Antis, aber gesund und kräftig«, sagte Meeks nickend. »Meine Güte, das wird immer merkwürdiger. Der Teleport von der Erde nach Al’Antis verlief jedenfalls anders als dieser hier.«

»Was meinst du?«, wollte James wissen.

Meeks schob einen Fuß nach vorne und spreizte den großen Zeh von seinem schlankeren Nachbarn ab.

»Da, siehst du das?«

Er sah genauer hin und schüttelte den Kopf.

»Nein.«

»Eben! Als wir auf Al’Antis angekommen sind war ich ziemlich angepisst, weil mein verdammter Fußpilz mitgekommen ist.« Der Ingenieur deutete auf die Haut zwischen den Zehen, die gesund und rosig aussah. »Wenn jemand es schafft, so ein Ding zu bauen, dann doch wohl auch, so etwas Lästiges wie einen verdammten Fußpilz dazulassen, wo er hingehört. Eine Maschine von solch einer Intelligenz müsste doch unterscheiden können zwischen sinnvoll und nicht sinnvoll, malign und benign.«

»Aber was, wenn es generell malign für Menschen ist, wenn man ihnen das wegnimmt, was sie ausmacht? Dazu gehören auch Krankheiten«, gab Mette zu bedenken.

»Fußpilz? Komm schon!«

»Meine Großmutter war eine schreckliche alte Schranze, hat mich und meinen kleinen Bruder unter dem Tisch immer getreten, wenn wir bei ihnen zum Essen waren. Meine Eltern haben viel gearbeitet und uns darum immer bei ihr abgeladen. Sie war eine wirklich wütende alte Frau, die nicht viel Freude in ihrem Leben hatte, seit mein Opa bei einem Autounfall gestorben ist. Er wurde von einem Betrunkenen überfahren, und ich glaube, das hat sie wütend auf Gott und die Welt gemacht. Heute kann ich das irgendwie verstehen, und sie tut mir leid. Als ich zwölf war, hat sie Bauchspeicheldrüsenkrebs bekommen. Keine schöne Sache, kann ich euch sagen. Sie hat aus dem Mund nach Aas gerochen, und die Falten um ihre Augen sind noch tiefer geworden. Sechs Monate haben die Ärzte ihr noch gegeben. Am Ende waren es dreizehn – mehr als ein Jahr.« Mette machte eine Pause und blickte lächelnd ins Leere. »Dreizehn Monate, in denen ich eine Oma kennenlernte, die ich zuvor nie gehabt hatte. Sie war mit einem Mal äußerst sanft und gutmütig, wie ausgewechselt. Ich wusste gar nicht, was mit ihr passiert war, aber sie machte uns Geschenke, ging mit uns zum Minigolf, bestellte uns Pizza, wenn wir es wollten. Sie sah sich sogar all die Filme mit uns an, die sie immer so schrecklich gefunden hatte, und zeigte echtes Interesse an uns. Kurz vor ihrem Tod, als sie kaum noch sprechen konnte, war ich gerade dreizehn geworden und ich werde nie vergessen, was sie mir damals geantwortet hat, als ich weinend an ihrem Krankenbett lag und sie anbettelte, nicht zu sterben. Kinder geben ihre Liebe schnell und umfassend, wie ein Hund, der auch nach der härtesten Prügel immer zurückkehrt. Sie sagte: Kind, das ist schon in Ordnung. Ich wollte das natürlich nicht so stehen lassen und habe geschimpft, dass ich ihren Krebs hassen würde. Ich habe ihn mit der Verzweiflung eines Teenagers verflucht. Aber sie wollte davon nichts wissen und sagte mir, der Krebs sei der beste Freund, den sie je gehabt hatte, weil er ihr gezeigt habe, was wirklich wichtig sei und wie wertvoll jeder Atemzug sein könne. Sie liebte die dreizehn Monate mit ihm weitaus mehr, als all die Jahre der Verbitterung davor. Ich habe es damals nicht verstanden und bin nicht einmal sicher, ob ich es heute tue – wenn überhaupt auf intellektueller Ebene. Verstehen kann man es wohl nur, wenn man selbst vor diesem Abgrund stand. Was ich aber aus dieser schmerzlichen Erfahrung gelernt habe – meine Oma starb mit einem Lächeln auf dem Gesicht – war, dass die Umstände uns zu dem machen, was wir sind. Man könnte einwenden, dass es unsere Reaktionen darauf sind, die entscheiden, und das mag stimmen, aber Auslöser sind immer die Umstände.«

»Das Schicksal«, sagte Mila nachdenklich und nickte in sich hinein.

James, der den Schmerz des Verlusts kannte, der in ihrer Erinnerung schlummerte, spürte eine Welle des Mitgefühls in sich aufsteigen. »Das, was größer ist als wir, egal wie wir es nennen. Schicksal, Zufall, Gott – alles dasselbe, nämlich das Größere. Ob es lenkt oder einem intelligenten Design folgt, wie wir zumindest zu einem Großteil annehmen müssen, nach allem, was wir erfahren haben, oder eben nicht, spielt keine Rolle. Es gibt Dinge, auf die wir keinen Einfluss, über die wir keine Kontrolle haben. Vielleicht ist es das, was deiner Großmutter ihren Frieden gegeben hat: die Erkenntnis, keine Kontrolle zu haben und die Illusion einer Kontrolle durch einen äußeren Umstand abgeben zu müssen und zu dürfen. Das kann wirklich befreiend sein.«

»Eigentlich hatte ich nur Fußpilz«, brummte Meeks und hob abwehrend die Hände, als er die finsteren Blicke sah, die er sich von den anderen einfing. »Was denn?«

Mette begann als Erste zu schmunzeln und zu lachen und schließlich fielen sie alle mit ein.

»Freut mich, dass ich euch erheitern konnte!« Der Amerikaner deutete im Sitzen eine lakonische Verbeugung an.

»Sie hat schon recht«, beendete Adrian die Heiterkeit und rieb sich das kräftige Kinn. »Dein fehlender Fußpilz verrät uns etwas über die Ältesten und ihre Teleporter. Wenn vielleicht auch nur über ihre Philosophie, ihre Weltsicht.«

»Nicht eingreifen kann es wohl kaum sein«, wandte Meeks ein. »Allein die Schöpfung von sechs identischen Sonnensystemen ist ein Eingriff, der jegliches Vorstellungsvermögen sprengt. Und dann die Teleporter, die alles miteinander verbinden. Alles, was sie tun und hinterlassen haben, ist die Definition eines Eingriffs, einer Veränderung.«

»Da hast du recht, mit einer Einschränkung: Alles was den Menschen betrifft, beeinflussen sie ganz offensichtlich nicht mehr seit dem Punkt der Schöpfung, an dem die Evolution ihren Lauf genommen hat. Sonst hätten sie nicht zugelassen, dass die Kazerun die Al’Anter vernichten. Sie hätten vielleicht eingegriffen, als auf Al’Antis der Versuchsteleporter gebaut wurde.«

»Ja«, stimmte James Adrian zu. »Wenn es stimmt, dass jeder Planet einen eigenen Avatar hat und sie sich in ihrer Kernprogrammierung ähneln, dann haben sie die Weisung, nur zu beobachten und nicht einzugreifen.«

»Aber Nasaku hat eingegriffen«, gab Justus zu bedenken.

»Ja, aber mit dem Avatar ist etwas geschehen, das ich nur schwer beschreiben kann.« Er dachte zurück an die erste Blume, die auf Al’Antis ihren Kelch der Sonne geöffnet hatte, diesen wertvollen Zeitpunkt im steten Atemrhythmus der Pflanzenwelt, der eine so ätherische Veränderung mit sich gebracht hatte, kurzlebig und vergänglich, und doch eine Zäsur dargestellt hatte, die weit über die Farben der Blüten hinausgegangen war, die dem Planeten das Konzept der Schönheit brachten. »Es hat ihn grundlegend verändert, über seine Programmierung hinaus, wie auch immer die ausgesehen haben mag.«

»Gut, also greifen sie möglicherweise nicht bewusst ein, folgen so etwas wie einer obersten Direktive«, fasste Meeks zusammen.

»Oberste Direktive?«, fragte Mette verwirrt und fing sich ein Augenrollen ein.

»Star Trek? Sorry, aber damit wir Freunde bleiben können, tue ich jetzt so, als hätte ich das überhört.« Ein flüchtiges Lächeln zuckte über sein Gesicht, um den gutmütigen Scherz in seiner Aussage zu unterstreichen, dann wandte er sich wieder an die Runde. »Aber selbst mit einer obersten Direktive ist es hier anders. Wir sind unversehrt, obwohl wir es nicht waren.«

»Was, wenn es sich nur auf akute Traumata bezieht?« James fasste sich an den Kieferbogen und zuckte innerlich zusammen.

»Fußpilz!«

»Ach ja.«

»Wir haben es hier nicht mit dem normalen Teleporternetzwerk zu tun«, erinnerte Adrian sie. »Also können wir davon ausgehen, dass auch die Regeln und Gesetzmäßigkeiten sich geändert haben oder nicht mehr gelten. Wenn wir davon ausgehen, dass es funktioniert hat und wir zum Masterteleporter gereist sind, dann haben wir etwas getan, das zumindest vordergründig nicht von seinen Erbauern intendiert war.«

»Oder es gibt eine Fehlfunktion«, schlug Mila vor, und alle Augen richteten sich auf sie. Mit einem Mal fand James, dass die Brise etwas frischer wirkte, und seine Haut begann sich in einer Gänsehaut zu kräuseln.

»Fehlfunktion?«, fragte er.

»Nun, wir sehen keinen Teleporter«, sie streckte einen Finger ihrer rechten Hand aus, »keine Sitze«, und dann einen zweiten Finger, »und stecken zwar in unseren Al’Antis-Körpern, haben aber keinen Fußpilz mehr, der eigentlich da sein sollte.« Sie streckte einen dritten aus und sah zu Meeks. »Scheint mir, als wenn hier einiges anders ist, als wir es erwartet haben, und zugegebenermaßen war unsere Stichprobe nicht groß genug, um fundierte Ableitungen vorzunehmen, aber wir haben doch genug gelernt, um eine gewisse begründete Erwartung zu hegen, die auf vielen Ebenen nicht eingetroffen ist. Ich sage: Es gab eine Fehlfunktion.«

2

James schirmte die Augen gegen die beiden Sonnen ab. Es geschah mehr aus Reflex, als dass sie ihn wirklich geblendet hätten. Die eine schien in einem sanften Orangeton, die andere hatte einen Rotstich, als würde man eine sehr dünne Membran über eine Lampe legen. Für sich allein hätte sie womöglich ein merkwürdiges Zwielicht erzeugt, doch als Doppelgestirn mit ihrem helleren Partnerstern sorgte sie für eine angenehm lebendige Atmosphäre und ließ das Gras satt und leuchtend erscheinen. Es erstreckte sich, so weit das Auge reichte, über eine hügelige Landschaft. Die endlosen Weiten aus frischen knöchelhohen Halmen bildeten im Wind wellenartige Muster, die alles in Bewegung hielten.

»Sieht ein bisschen aus wie im Auenland«, befand Meeks.

»Stimmt. Fehlen nur noch die Hobbits. Bei denen war es nämlich nicht so einsam«, stimmte Mette ihm zu.

»Und Bier und Unmengen von Essen.« Justus drehte sich einmal im Kreis und zuckte mit den Achseln.

»Definitiv Auenland.« James nickte. »Einen schöneren Ort hätte ich mir nicht ausdenken können.«

»Wenn jetzt noch Gandalf um die Ecke käme, wüssten wir wenigstens, dass wir nicht im Nichts gestrandet sind und hätten jemanden, der uns ein paar Fragen beantworten könnte.«

»Die Fragen enden doch nie«, wandte Mila ein. »Ob Gandalf oder nicht.«

»Wer ist Gandalf?«, fragte Adrian ernst.

»Echt jetzt?« Meeks rollte mit den Augen. »Was gab es bei euch? Grummelow den Roten?«

Mette und Justus glucksten, doch der Kosmonaut runzelte bloß die Stirn.

»Was haltet ihr davon, wenn wir einfach nach da gehen?« James streckte wahllos eine Hand aus. »Scheint mir so gut wie jede andere Richtung auch.«

»Warum nicht?«, antwortete Mila und deutete auf das plattgedrückte Gras zwischen ihnen. »Wir sollten aber diese Stelle markieren, damit wir zurückfinden.«

»Wozu? Hier gibt es nichts, was es ringsum nicht auch geben würde: Gras und noch mehr Gras.«

»Solange wir nicht wissen, ob unser Auftauchen genau hier zufällig war oder einer Gesetzmäßigkeit folgt, sollten wir die Stelle markieren«, sprang Adrian seiner Landsfrau bei. »Wir könnten mit den Händen ein Kreuz in den Boden graben.«

Kurz darauf taten sie genau das: sechs splitternackte Erwachsene, die Gras ausrissen und die Hände zu Schaufeln formten, um das feuchte Erdreich auszugraben, bis sie ein zwei mal zwei Meter großes Kreuz ausgehoben hatten, das von weither sichtbar sein würde, zumal sich ein großer Haufen gebildet hatte. James blickte auf seine dreckigen Hände hinab und wischte sich reflexhaft über die Stirn, nur um verwundert zu blinzeln, als er danach seinen Handrücken betrachtete.

»Was ist?«, fragte Mila.

»Kein Schweiß.«

»Wie bitte?«

»Ich habe nicht einen Tropfen geschwitzt, dabei war das eigentlich anstrengend. Oder hätte es zumindest sein sollen«, murmelte er.

»Hm, ich fand es nicht anstrengend.«

»Eben. Ist das nicht seltsam? Wir graben mit den Händen den Boden um und kommen nicht ins Schwitzen, empfinden es nicht einmal als anstrengend. Zumindest in meiner Welt ist das merkwürdig.«

»Er hat recht«, bemerkte Adrian, der sich zu ihnen stellte und zu den beiden Sonnen hinauf deutete, die in etwa so weit voneinander entfernt waren, dass man eine Hand ausstrecken und zwischen sie halten konnte. »Meine Haut verbrennt auch nicht. Ich kann sonst nach zehn Minuten in der prallen Sonne merken, wie gereizt sie ist und sie sich rötet.«

James musterte den kalkweißen Russen, der schon vor ihrer Zeit bei den Tokamaku, die so gut wie keine direkte Sonneneinstrahlung kannten, äußerst bleich gewesen war. Tatsächlich mussten sie schon über eine Stunde hier sein, ungeschützt und ohne Schatten mit nichts am Leib. Auf der Erde hätten sie längst einen Sonnenstich bekommen und erste Symptome einer Verbrennung gezeigt, aber auch das geschah hier nicht.

»Es gibt hier wohl so einige ungeklärte Fragen«, sagte er. »Am besten gehen wir los und sehen nach, was sich zwischen den Hügeln befindet, was meint ihr?«

Alle nickten, und so gingen sie los, nachdem sie sich die Hände saubergeklopft und an dem Gras abgewischt hatten. Der Untergrund war, wie erwartet, äußerst weich und angenehm für die Füße, kein Vergleich zu dem abwechselnden Morast und scharfkantigen Gestein in der Todeszone auf Al’Antis, als sie aus dem Teleporter gestürzt waren. Alles dort war lebensfeindlich und von einer tragischen Melancholie erfüllt gewesen, während hier genau das Gegenteil der Fall war: Das Licht war warm und freundlich, der Himmel strahlte türkis mit hier und da einer weißen Wolke, der Geruch von Humus und Chlorophyll lag in der frischen Luft, die seine Nüstern kitzelte und das Gezwitscher der Vögel begleitete sie wie eine Melodie des Lebens und der Vertrautheit. Im Grunde genommen war es beinahe kitschig, als befände er sich inmitten einer schottischen Highland-Schmonzette, in der die Sättigung hochgedreht worden war, um ja keine schlechten Gefühle aufkommen zu lassen.

»An so einem Ort wollte ich immer ein Haus bauen«, sagte Mila, während sie gemächlich in Richtung Osten gingen – zumindest hatte James das subjektive Gefühl, nach Osten zu gehen – und dabei den ersten Hügel erklommen, hinter dem die Landschaft sich genauso fortsetzte wie bisher. Er wusste nicht, was er überhaupt erwartet hatte. Eine Stadt? Eine andere Vegetation? Vielleicht auch nur einen einzigen Baum, irgendein Zeichen dafür, dass es hier etwas anderes außer Gras und unsichtbare Vögel gab.

»An einem Ort ohne Regenwürmer?«

»Was soll das denn schon wieder heißen?«

»Als wir gegraben haben«, erklärte er, »habe ich keine Regenwürmer gesehen. Normalerweise ist der Boden voll von denen. Als Kind habe ich ganze Einmachgläser mit ihnen gefüllt, weil ich sie umsiedeln wollte. Ich habe mich vor ihnen geekelt, bis meine Eltern mich gezwungen haben, im Dreck zu spielen. Bei so einer Spielgruppe für schwierige Kinder. Da hat man uns beigebracht, dass das ganze Ökosystem Gras und Wald ohne die Regenwürmer nicht funktionieren würde, weil sie Myriaden winziger Tunnel in den Boden graben, durch den Flüssigkeit und Nährstoffe laufen. Die Vegetation hier scheint auch ohne sie klar zu kommen.«

»Vielleicht hat dieser Planet einen anderen Mechanismus gefunden?«, schlug sie vor.

»Vielleicht.« Ihm war bewusst, dass er nicht besonders überzeugt klang, wollte sie jedoch auch nicht mit seinem Misstrauen belasten. Sie hatten es sich verdient, die aktuelle Sorglosigkeit ein wenig zu genießen, ohne zwanghaft nach dem Haken zu suchen. Er hatte sich schon vorher vorgenommen, mehr wie ein Al’Anter zu denken, auch wenn es ihm auf ihrem zerstörten Heimatplaneten, der ihm täglich vor Augen gehalten hatte, was passieren konnte, wenn man zu naiv war, schwergefallen war. »Dieses Haus, das du dir vorgestellt hast, wie sah es aus?«

Mila lächelte und nahm seine Hand.

»Ich wollte es immer in Neuseeland bauen, da wo der Herr der Ringe gedreht worden ist. Sanfte Hügel wie diese hier, viel Sonnenschein und saftiges Grün, so weit das Auge reicht. Ein Rauschen in den Bäumen, das Zwitschern der Vögel in den Ohren und weit und breit kein Beton. Nur Stein und Holz, vielleicht eine Hobbithöhle mit runden Türen und Fenstern.« Sie schnaubte. »Ist es nicht erstaunlich, dass man einen Ort vermissen kann, an dem man noch nie gewesen ist?«

»Ich weiß, was du meinst«, gab er zurück. »Ich hatte dasselbe Gefühl, als ich den Film gesehen habe. Alles dort hat Sorglosigkeit und eine friedliche Atmosphäre versprüht, die mich sogar durch den Fernseher berührt hat. Bislang habe ich immer gedacht, das sei bloß meiner Fantasie entsprungen, weil die Bilder genau das in uns triggern, was unser Eidechsenhirn als heimelig und sicher sieht, als perfektes Jagdgebiet oder so was.«

»Als unerreichbar, weil es zu perfekt ist«, fasste Mila zusammen.

»Ja. Wenn du einen Film siehst, dann riechst du ja nicht den Misthaufen um die Ecke, du spürst auch nicht den Splitter, den du dir unter den Zehnagel rammst, wenn du über die Wiese spazierst, nicht die Mückenstiche, nicht den Schweiß bei der Arbeit und hörst auch nicht das Summen der Wespe, die dich schon den ganzen Tag lang plagt.« James deutete mit seiner freien Hand nach vorne. »Es ist genau wie hier. Es gibt rein gar nichts Störendes, das ist wirklich … bemerkenswert.«

»Du bist der lebendige Beweis dafür, dass die erste Matrix nicht funktioniert hat.«

»Was?«, fragte er und bedachte sie mit einem irritierten Seitenblick.

»Matrix, der Film. Neo fragt, wieso die Matrix so imperfekt ist, es Gewalt und Krieg gibt, Armut und all so was. Da bekommt er die ungeschminkte Wahrheit zu hören, dass die Menschen eine perfekte Welt nicht angenommen haben. Ich glaube, das ist das grundsätzliche Problem unseres Daseins: Wir müssen immer nach dem Haken suchen, weil das ein evolutionärer Vorteil war. Die Gefahren ausfindig machen, bevor sie uns in den Hintern beißen. Überleben ist eine fragile Sache.«

»Dann bin ich ja absolut im Flow mit der Evolution.«

»Du vielleicht, dieser Ort aber nicht.«

»Sage ich doch …« Er hielt inne, als er bemerkte, dass auch die anderen angehalten hatten. Sie standen auf einer der immergleichen Hügelkuppen und sahen nach vorne. James folgte ihren Blicken und blinzelte einige Male. Sein Mund wurde trocken. Etwa einhundert Meter entfernt sah er auf der ausladenden Grasebene ein dunkles Kreuz inmitten all des Grüns.

»Wie ist das möglich?«, hauchte Mette. »Sind wir im Kreis gegangen?«

»Offensichtlich«, murmelte Adrian mit düsterer Miene.

»Wie?«, fragte James. »Die Hügel ergeben ein klares Profil, das sich gut erkennen lässt. Es ist ja nicht so, als wäre alles identisch. Wie sollen wir also im Kreis gegangen sein?«

»Es gibt nur eine Möglichkeit, das zu überprüfen. Wir teilen uns in drei Zweiergruppen auf und gehen in drei Himmelsrichtungen. So lange wie jetzt, etwa zehn Minuten, oder eine Viertelstunde.«

Genau das taten sie, nachdem sie bei ihrem grob gegrabenen Kreuz angekommen und sich versichert hatten, dass Größe und Beschaffenheit dem entsprachen, was sie zurückgelassen hatten. Es gab keinen Zweifel, dass es so war, und James’ ungutes Gefühl im Magen verstärkte sich noch.

»Wir sind nicht im Kreis gegangen«, sagte er, als er zusammen mit Mila unterwegs war, um eine andere Himmelsrichtung zu erkunden.

»Ich hatte auch nicht das Gefühl, aber so ist es wahrscheinlich immer, wenn man im Kreis geht und nicht genügend Landmarken hat, an denen man sich orientieren kann. Selbst in einem Wald kann das schnell passieren. In Sibirien ist es mir als Teenager häufig passiert, obwohl ich dort aufgewachsen bin. In der Tundra ist es am schlimmsten.«

»Aber in so einer Landschaft?«

Sie antwortete nicht, und so gingen sie schweigend weiter, konzentriert darauf, eine gerade Linie zu beschreiben und nachzuschauen, ob sie irgendwo vor oder neben sich Stellen sehen konnten, die auf von ihren Füßen plattgedrücktes Gras hingewiesen hätten. Sie fanden nichts dergleichen, doch nach einigen Minuten hielt er abrupt inne.

»Siehst du das auch?« Er deutete auf die zwei grob menschlichen Umrisse, die er in der Ferne auf einem der Hügel ausgemacht hatte. Sie waren kaum zu erkennen, und er musste die Augen zusammenkneifen, um sich sicher zu sein, aber das waren zwei Personen.

»Nein, was … oh, doch. Da ist jemand!«, sagte Mila halb erschrocken, halb erfreut. Seite an Seite liefen sie wie auf ein Kommando los, nur um nach fünfzig Metern auf dem nächsten Hügel stehenzubleiben und enttäuscht die Schultern hängen zu lassen. Es waren Adrian und Mette, die direkt auf sie zu kamen. Zwischen ihnen befand sich auf der runden Ebene das Kreuz, das sie hinterlassen hatten. Justus und Meeks kamen von links dazu und schließlich trafen sie sich wieder an ihrem Ausgangspunkt.

»Also gut, hier ist ganz offensichtlich etwas faul«, befand Meeks. »Ich muss gestehen, dass ich es anders gewollt habe, aber jetzt mache ich mir Sorgen.«

»Was ist das?«, fragte Mila. »Egal wohin wir gehen, wir kommen immer wieder hierher zurück. Dass das physikalisch unmöglich ist, brauche ich euch ja wohl nicht zu erzählen.«

»Da ist noch etwas.« Adrian deutete nach oben zu den beiden Sonnen. »Die haben sich nicht einen Zentimeter bewegt, seit wir hier sind.«

»Vielleicht befindet sich dieser Planet in einer gebundenen Rotation?«, schlug Mette vor.

»Unmöglich.« Justus schüttelte den Kopf. »Gebundene Rotation in einem Doppelsternsystem ist selten, wenn auch nicht unmöglich. Aber der Grund, warum das nicht sein kann, sind Wind und Temperatur. In dem Fall wären wir gerade auf der Tagseite und die würde ständig beschienen und damit quasi gegrillt, während die andere eiskalt ist. Heftige Stürme würden uns jetzt um die Ohren fliegen, die an der Temperaturamplitude am Äquator entstehen.«

»Gut, also noch ein Fehler in der Matrix.« James sah zu Mila, die jedoch nicht lächelte, sondern mit einem Mal blasser schien als zuvor.

»Vielleicht ist die Welt der Ältesten anders, als wir es erwarten oder erklären können«, schlug er vor. »Immerhin haben sie es vollbracht, vor über vier Milliarden Jahren sechs Sonnensysteme in die Milchstraße zu pflanzen und sechs Evolutionen anzustoßen, an deren Ende immer Menschen standen. Vor ein paar Tagen hätte ich noch gesagt, das sei absolut undenkbar, und ich bin nicht einmal Wissenschaftler. Ist es nicht denkbar, dass ihre Heimatwelt anderen Gesetzmäßigkeiten folgt, die sie selbst festlegen?«

»Ich denke, alles ist möglich. Das Wort unvorstellbar gibt es in meinem Wortschatz nicht mehr, seit ich durch diesen Teleporter gegangen bin.« Meeks brummte wie ein Grizzlybär. Es war ein tiefer, rollender Laut.

»Wir sollten in Ruhe nachdenken und das durchsprechen«, schlug Adrian vor. »Wir haben weder Eile noch akute körperliche Bedürfnisse, und es besteht keine unmittelbare Gefahr.«

Kurze Zeit später saßen sie um ihr Kreuz herum und James pflückte einzelne Grashalme aus den Grassoden, die sie auf den Erdhaufen geworfen hatten. Er hielt sie vor sich wie überaus faszinierende Gebilde und musterte ihre Zellstruktur, die sich mit den Augen direkt davor als Muster vage rechteckiger Felder, die von winzigsten Fugen umgeben waren, erkennen ließ. War es ein Grashalm wie auf der Erde oder war etwas daran anders, als er es in Erinnerung hatte? Hatte er überhaupt jemals einen so nahe betrachtet, dass er sicher sein konnte? Er sah genau so aus, wie er ihn sich vorstellte, aber er war schließlich kein Biologe. Was, wenn er künstlich war, wie in der Matrix? Anblick und Haptik mochten identisch sein, aber der Ursprung nicht. Andererseits galt das mit Sicherheit auch für die Erde und Al’Antis. Was war an den beiden Planeten schon natürlich oder gar normal?

Seine Freunde redeten stundenlang über verschiedene wissenschaftliche Erklärungen für das, was sie schlicht nicht erklären konnten. Er verstand nicht einmal die Hälfte von dem, was sie da von sich gaben, und je länger die Diskussionen andauerten, desto komplizierter und verstiegener wurde ihr Vokabular, als schraubten sie sich einen wissenschaftssemantischen Turm hinauf, im Versuch einen Gipfel zu erreichen, den es nicht gab. Wenn er diesen Gedanken allerdings laut aussprach, bedachten sie ihn bloß mit Blicken, die eine Mischung aus Mitleid und Ungeduld ausdrückten, also hielt er sich zurück und betrachtete weiter seine Grashalme. Sie rochen frisch in ihrer Gesamtheit, aber nach nichts, wenn er an einzelnen schnupperte, was ihm reichlich merkwürdig vorkam. Aber zu Hause war es auch so gewesen. Oder? Hatte er jemals an einem Grashalm gerochen?

Irgendwann – es musste zig Stunden gedauert haben, sosehr wie ihm der Kopf schwirrte – einigten sie sich darauf, dass sie nicht einmal mit Gewissheit sagen konnten, ob sie Al’Antis verlassen hatten. Justus hatte die Theorie aufgestellt, dass sie sich in einem virtuellen Zwischenspeicher des Versuchsteleporters befanden, weil ihre Umgebung äußerst einladend und geradezu naiv zu betrachten war, und das etwas sei, das den Al’Antern eingefallen wäre. Mette glaubte nicht daran und wandte ein, dass sie dann auch tot und im Jenseits sein könnten, nur um zu zeigen, dass sie an diesem Punkt keine Theorie falsifizieren konnten, so abstrus sie auch klingen mochte. Dementsprechend mochte auch Adrian richtigliegen, der glaubte, auf der Welt der Al’Anter zu sein, die aber nach anderen Regeln funktionierte, die keiner Linearität folgten, wie der, nach deren Maßstäben Menschen dachten und ihre Umwelt erlebten. Oder Meeks, der vorschlug, dass sie sich im Unterbewusstsein von Mila aufhielten, weil sie sich so eine Landschaft immer erträumt hatte – bis die meisten anderen ähnliche Fantasien mitgeteilt hatten und er bloß mit den Achseln gezuckt und gesagt hatte, dass auch das Teil ihres Unterbewusstseins sein könnte.

»Es gibt kein Unterbewusstsein«, hatte James ihm erklärt. »Das ist überholte Psychologie. Unser Geist ist flacher, als wir glauben, eher ein zusammenhängendes Gebilde aus wiederkehrenden Gedanken und Automatismen, die wir nicht immer vor Augen haben.«

Schließlich schwiegen sie eine Weile, bis Justus wieder das Wort erhob.

»Fühlt ihr euch müde?«

»Nein«, antwortete Meeks, und auch die anderen schüttelten der Reihe nach die Köpfe. Auch James, dem jetzt erst auffiel, dass auch das merkwürdig war. Sie waren schon lange hier, vielleicht einen halben Tag – zumindest nach seinem Gefühl. Die Sonnen standen immer noch an derselben Stelle, keine Anzeichen von einsetzender Dämmerung oder gar Dunkelheit.

»Es wird nicht dunkel«, sagte er mehr zu sich selbst und sah blinzelnd in den türkisen Himmel auf. »Und wir werden nicht müde. Ich fühle mich immer noch blendend.«

»Mhm«, stimmte Meeks ihm zu. »Ich habe auch keinerlei Hunger oder Durst. Normalerweise müsste ich jetzt ein halbes Schwein verdrücken können.«

»Ich nehme erhöhte Stresslevel bei euch wahr«, sagte eine neue Stimme, und ihr gesamter Sitzkreis fuhr zusammen wie ein Schwarm Vögel, der abrupt seine Richtung änderte.

Neben ihnen stand ein Mann in einem weißen Gewand. Er war alt mit vollem silbrigem Haar und langem Rauschebart, die Augen groß und gütig, die Nase kräftig und an der Spitze rund, eine eindrucksvolle Gestalt mit dem Körper eines Mannes, der ein gemütliches Leben geführt hatte.

»Scheiße!«, entfuhr es Meeks und Adrian sprang auf wie ein Raubtier. »Wo ist der denn hergekommen?«

»Ich wollte euch nicht in Angst versetzen«, beteuerte der Fremde und hob beschwichtigend die großen Hände. Seine Stimme versprühte eine angenehme Tiefe und damit einhergehende Ruhe. »Bitte, fürchtet euch nicht.«

»Wo kommst du denn her?«, fragte Mila und sah sich geradezu fiebrig um, als könnten jeden Augenblick weitere Gestalten aus dem Nichts auftauchen.

»Ich komme aus dem Himmel«, antwortete der Mann freundlich und bedachte sie mit einem warmen Lächeln. »Es gibt keinen Grund, Angst vor mir zu haben. Ich bin hier, um mich um euch zu kümmern und dafür zu sorgen, dass es euch an nichts mangelt.«

James tauschte einen Blick mit Mila aus und schluckte.

»Okay, jetzt wird es richtig schräg«, befand Meeks und versuchte es vergeblich mit einem defätistischen Grinsen, das jedoch irgendwo zwischen blanker Panik und der Gleichgültigkeit von jemandem versackte, der keine Lust mehr hatte, Fragen zu stellen.

»Wer bist du?«, fragte Adrian angespannt.

»Oh«, machte der Fremde und lächelte unbeschwert. »Ich bin Gott.«

3

James stand einfach nur sprachlos da, genau wie die anderen, und starrte ›Gott‹ an. Der alte Mann mit dem Rauschebart entsprach so ziemlich dem Klischee des kindlichen Gottesbildes, das er selbst gehabt hatte, als er klein gewesen war. Er faltete die Hände vor dem Bauch und betrachtete sie ruhig und gelassen.

»Es tut mir leid, meine Kinder, ich wollte euch nicht verunsichern.«

»Verunsichern?« Es war Adrian, der als Erster seine Sprache wiedergefunden hatte. »Du bist nicht Gott.«

»Nein? Warum zweifelt ihr an mir?«

»Weil es keinen Gott gibt«, sprang Mette ein.

»Woher weißt du das?«, entgegnete Gott. »Hast du einen Beweis dafür?«

»Nein, aber auch keinen Beweis, dass es ihn gibt. Schon gar nicht, weil jemand auftaucht und mir sagt, er wäre Gott.« Die Dänin blinzelte und schüttelte den Kopf. »Führen wir dieses Gespräch gerade wirklich?«

»Also ist dein Glaube, dass es mich nicht gibt, auch nur das: ein Glaube. Entweder man glaubt, es gibt mich, oder man glaubt, es gebe mich nicht. So hat jeder seine Religion, was?« Gott legte den Kopf in den Nacken und lachte in einem volltönenden Bass. »Ihr wollt also Beweise?«

Der Fremde schnippte mit dem Finger und sie zuckten alle kollektiv zusammen, als neben ihm ein Blitz wie aus dem Nichts in den Boden schlug und Gras und Erde aufspritzen ließ. Die Luft knisterte von der statischen Entladung. Ein zweites Schnippen und die Sonnen begannen sich zu bewegen.

---ENDE DER LESEPROBE---