TELEPORT 4 - Joshua Tree - E-Book

TELEPORT 4 E-Book

Joshua Tree

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Beschreibung

Sie hätten ein Leben in Sorglosigkeit führen können, trotzdem finden sich James, Mila und Adrian schon bald auf einem der unbekannten Planeten wieder, die an das Teleporternetzwerk angeschlossen sind. Was sie dort erwartet verändert alles: Nach einem Todesfall und verrückt spielenden Naturgesetzen müssen sie erkennen, dass von jenen Kolonisten, die der Militärrat an diesen Ort deportiert hat, möglicherweise niemand mehr am Leben ist und es keinen Rückweg gibt. Aber etwas lebt und es duldet keine Fremden in seiner Nähe. Einen Rückweg gibt es jedoch nicht und so beginnt ein unbarmherziger Kampf ums Überleben, an dessen Ende ein uraltes Geheimnis liegt.

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TELEPORT 4

ANOMALIE

JOSHUA TREE

INHALT

Kapitel 1

Kapitel 2

Rückblick

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Rückblick

Kapitel 15

Kapitel 16

Rückblick

Kapitel 17

Kapitel 18

Rückblick

Kapitel 19

Kapitel 20

Rückblick

Kapitel 21

Kapitel 22

Rückblick

Kapitel 23

Epilog

Nachwort

1

James stürzte ins Nichts. Von einem Schritt auf den anderen war da nichts mehr, das ihn hielt, kein Boden, der ihn trug, nichts, das er hätte greifen können, um seinen Sturz abzubremsen. Sein Magen schien sich umzustülpen und drückte gegen sein Herz, das in seiner Brust hämmerte wie ein wild gewordener Stier.

Es dauerte mehrere Sekunden, bis er realisierte, wo er sich überhaupt befand: in der Luft. Tosendes Rauschen erfüllte seine Ohren, es war kalt und der relative Wind des freien Falls zerrte heftig an seiner Haut.

»Scheiße!«, wollte er schreien, doch das Öffnen seines Mundes hatte nur zur Folge, dass er sich an der Atemluft ›verschluckte‹, was seine Panik nur noch weiter anfachte. Seine Glieder schlugen unkontrolliert hin und her. Anstatt auf der Luft zu liegen, drehte er sich im Kreis, sah den Horizont immer wieder in unwirklichen Winkeln abkippen und hatte bald das nächste Problem: zunehmende Übelkeit und Schwindel. Es würde nicht lange dauern, dann hätte er jegliche Orientierung verloren, denn die erratischen Bewegungen seines Körpers nahmen immer mehr zu. Hin und wieder sah er zwei dunkle Schatten, die über ihm (oder unter ihm?) durch das Nichts rasten, zappelnde Gestalten ohne jede Kontrolle.

Ich falle! Ich stürze! Was ist passiert?, rasten seine Gedanken. Lautstärke und Kälte zwängten seinen Geist in einen dunklen Tunnel aus Angst und Panik, aus dem es kein Entrinnen gab. Blasse Farben wechselten sich vor seinen Augen ab und er war unfähig, überhaupt etwas zu sehen, weil der Druck des Windes immer wieder unerträglich wurde. Er schoss unter seine Lider, trocknete die Tränenflüssigkeit, die ihm aus den Augenwinkeln rann.

Ruhig James, ermahnte er sich trotz seines galoppierenden Pulses und erinnerte sich an eine Entspannungstechnik, die er im Zuge einer Einheit progressiver Muskelentspannung nach der Trennung von Joana eingeübt hatte. Dazu spannte er jeden Muskel seines Körpers fest an, inklusive des Rückens, den er kräftig durchbog. Er wusste nicht, was es war, aber im nächsten Moment drehte er sich aus einer unkontrollierten Rückenlage auf den Bauch und lag mit dem Gesicht nach unten auf dem Wind. Als er seine Muskeln wieder entspannte und nicht mehr durchbog, setzten abermals die Drehungen und Purzelbäume ein, sodass er schnell wieder die Hüfte nach vorne streckte und erneut mit der Vorderseite seines Körpers nach unten zeigte.

Noch immer war der Winddruck in seinen Augen unerträglich, als hätten die Luftmoleküle sich in Metall verwandelt, die mit über zweihundert Stundenkilometern auf seine empfindlichen Sehorgane eindroschen.

Nur eine Illusion! Das muss eine Illusion sein. Ich träume. Ich kann nicht fallen! Der Teleporter, er … Sein Gedankenfaden riss ab, als sich etwas veränderte. Er wurde langsamer. Oder war das nur die Panik? Zu viel Sauerstoff, der gewaltsam in seine Lungen gepresst wurde? Eine erzwungene Hyperventilation? James wollte seine Angst hinausschreien, den Kloß in seinem Hals loswerden, zusammen mit dem sicheren Wissen, dass er sterben musste.

Was auch immer gerade geschehen war, was auch immer er nicht sehen konnte, er stürzte. Und zu stürzen bedeutete, in Richtung eines Hindernisses zu fallen. So lange wie er das bereits tat – Minuten? Oder erst Sekunden? –, dürfte selbst eine Wasseroberfläche die Härte von Beton bekommen, wenn er darauf aufschlug.

Doch da war etwas! Er wurde wirklich langsamer! Zumindest ließ der Druck des relativen Windes ab, auf dem er lag. Nach kurzer Zeit bereits genug, dass er sich traute, seine fest zusammengepressten Augenlider zu öffnen.

Unter ihm waren weiße Flecken vor blauen und grünen Farbklecksen. Alles war unscharf, als befände er sich unter Wasser, das salzig auf seiner Netzhaut brannte. Nach mehrmaligem Blinzeln wurde das Bild etwas klarer, und ein scharfer Stich des Schreckens breitete sich wie ein Stromschlag in seinem Körper aus, als er begriff, was er da unter sich sah: eine Herde weißer Wolken, die vor einem von Horizont zu Horizont gespannten Teppich dahinzogen. Sie waren nah genug, dass er glaubte, sie anfassen zu können, wenn er nur seine Hand auszustrecken wagte. Und doch wusste er, dass sie noch einige hundert Meter entfernt sein mussten. Die Höhe einzuschätzen war beinahe unmöglich. Es konnten sogar Kilometer sein, da es hier oben nichts gab, das als Maßstab diente. Noch ehe sein Kleinhirn sich beruhigen und die Lage einschätzen konnte, war sein Sturz von einem auf den anderen Moment beendet. Durch den abrupten Wechsel von Geschwindigkeit und Richtung – zumindest kam es ihm so vor –, fühlte es sich an, als würden sämtliche Organe in seinem Körper einen Satz machen und nach oben in seine Brust geworfen. Übelkeit überkam ihn wie eine Woge, und er konnte nur mit äußerster Willenskraft seinen Mageninhalt bei sich behalten.

Zuerst begann er wieder zu taumeln, ruderte mit den Armen und Beinen im verzweifelten Versuch, seine Bewegungen abzubremsen, die mit jedem Impuls nur schlimmer wurden. Es gab keinen Halt, kein oben und unten, nicht einmal die nach unten ziehende Schwere seines Körpers, an die er gewöhnt war.

Zum erneuten Male zwang er sich zur Ruhe. Immerhin war das Gefühl des Fallens fort und auch das Rauschen des Windes. Stattdessen war es deutlich wärmer als zuvor und vor allem still. Kein Laut war zu hören, was seiner Panik jedoch keine große Erleichterung brachte. Beide Eindrücke waren extrem: erst zu viel und dann plötzlich nichts. Mit kontrollierten Atemzügen schloss er wieder die Augen, um die Übelkeit nicht weiter anzufachen, die der unvorhersehbar hin und her taumelnde Horizont in ihm nur verstärkte.

Mit Dunkelheit vor Augen und dem Rhythmus seines Atems folgend, verlor seine innere (und damit auch seine äußere) Welt an Schwere und Dringlichkeit und gab ihm den nötigen geistigen Freiraum, um seinen Körper wieder bewusst steuern zu können. Als Erstes hörte er auf, sich zu bewegen, verschränkte die Arme vor der Brust und streckte die Beine aus wie ein Turmspringer. Er stellte sich vor, wie er auf dem Rücken lag – was in der Schwerelosigkeit nicht zu spüren war –, in einem stillen Bergsee, angenehm warm und geschützt durch einladende grüne Gebirgshänge. Mit jedem Einatmen lud er weitere innere Ruhe ein, mit jedem Ausatmen ließ er bewusst etwas von seiner Angst und Unruhe ziehen. Nicht krampfhaft, um sie durch seinen Widerstand nicht unnötig lange zu verstärken. Er betrachtete sie, akzeptierte sie, und ließ sie dann über seinen inneren Horizont weiterziehen.

Nach einer Weile konnte James spüren, dass seine Bewegungen abebbten. Unendlich langsam, aber sie nahmen zweifellos ab. Irgendwann wagte er es sogar, wieder seine Augen zu öffnen.

Noch immer drehte er sich, mittlerweile aber deutlich sanfter als zuvor. Über ihm war alles blau, bis auf einen winzigen schwarzen Punkt in weiter Ferne, bei dem es sich auch um eine panikgeborene Sehstörung handeln konnte. Zwei andere dunkle Flecke dagegen waren deutlich näher. Der erste verwandelte sich innerhalb von Sekunden in die Silhouette einer wild um sich schlagenden Gestalt, ehe James’ Drehimpuls ihn wieder dem Boden zuwandte. Durch den Freiraum zwischen einigen Wolkenfetzen betrachtete er den Teppich der Landschaft unter sich genauer. Anders als auf der Erde, wenn er aus dem Flugzeug sah, gab es hier nicht das immer gleiche Schachbrettmuster der extensiven Landwirtschaft zu sehen, stattdessen bloß Streifen aus Grün- und Brauntönen mit gelegentlichen braunen und blauen Adern (Flüssen?), die sich durch die Farbpalette zogen.

Wieder brachte ihn seine Drehung mit Blick nach oben und aus der undeutlichen Gestalt war Mila geworden, die schreiend und mit den Armen rudernd durch das Nichts aus Luftmolekülen stürzte, bis sie urplötzlich langsamer wurde und in demselben unsichtbaren Gelee landete, das auch ihn so unnatürlich in Schwerelosigkeit hielt.

»Mila!«, rief er, so laut er konnte, doch sie sackte einige Meter entfernt an ihm vorbei, ehe sie dort verharrte und vermutlich ebenso wie er zuvor hin und her taumelte in dem verzweifelten Versuch, irgendwo Halt zu finden. Sie erbrach sich und ihr Mageninhalt breitete sich in größeren und kleineren Kügelchen nach allen Seiten aus.

Als befänden wir uns im Weltraum, dachte er irritiert, während er erneut gezwungen war, nach unten zu sehen. Der Boden musste noch einige Kilometer entfernt sein, da es schwer war, von hier aus klare Reliefs zu erkennen. Es gab auch keinerlei Straßen oder größere Berge, wenn man von dem einen schräg rechts absah, der ihm seltsamerweise noch nicht ins Auge gefallen war. Seltsamerweise deshalb, weil er grau-weiß war, anders als der Rest der Landschaft. Ein verschneiter Berggipfel? Oder ein Salzberg?

Endlich kam Mila wieder in Sicht.

»Mila!«, brüllte er erneut, doch sie antwortete nicht. Konvulsivische Zuckungen erfassten ihren Körper wie bei einem epileptischen Anfall. »Verdammt!«

Hilflos dachte er nach, ehe er sich an ein Bild erinnerte, das sich irgendwo in den hinteren Winkeln seines Geistes befand und eine Szene aus einem Science-Fiction-Film zeigte. Er zog sich einen seiner Schuhe aus, indem er das Knie anwinkelte und ihn mit vorsichtigen Bewegungen von der Ferse zog. Darauf bedacht, Oberkörper und Bein etwa gleich schnell zueinander zu ziehen, war der neue Impuls nach hinten geringer als befürchtet. Mit ruderndem rechten Arm brachte er sich so in Position, dass sein Kopf etwa zu Mila zeigte. Irgendwo am Rand seines Sichtfelds raste eine zweite Silhouette ungebremst an ihnen vorbei, doch er achtete nicht weiter darauf, hob den Schuh über seinen Kopf und warf ihn dann mit aller Kraft in Richtung seiner Füße. Der neuerliche Richtungsimpuls ließ ihn in Milas Richtung gleiten.

»Ich komme, Mila!« Als er sie erreichte, wäre er beinahe an ihr vorbeigesegelt, hätte er nicht im letzten Moment mit den Fingerspitzen ihren Gürtel zu fassen bekommen. So packte er erst ihre Schnalle, dann mit der anderen Hand ihren Kragen und zog sie zu sich heran. Ihre Augen waren geöffnet, doch das Weiß in ihnen war deutlich vorgetreten. Ihr Hals bewegte sich merkwürdig und ihr Mund war aufgerissen wie der eines erstickenden Fisches.

Ohne nachzudenken, löste er seine Hand von ihrem Gürtel und schob zwei Finger zwischen ihre Lippen, bis die Spitzen auf eine zähflüssige Masse stießen und er alles, was er zu fassen bekam, herausschälte.

»Nicht ersticken!«, befahl er ihr, packte ihren Kopf und zog ihn ruckartig an den Haaren zurück. Bröckchen farbiger Speisereste lösten sich aus ihrem Mund und schwebten in einem dünner werdenden Halbkreis von ihr fort, gefolgt von Kügelchen grünlicher Magensäure. Der Eindruck, sich in der Schwerelosigkeit im Weltall zu befinden, nur irgendwo innerhalb der Atmosphäre eines fremden Planeten, der gleichzeitig seine Heimat war, war immer noch verwirrend. Doch die Not und Angst um Mila war stark genug, um all das vorerst ohne sein Zutun zu verdrängen. Er packte sie an den Schultern und zog sie dicht an sich.

»Ich hab dich!«, sagte er und wiederholte diese drei Wörter immer wieder: »Ich hab dich!«

»James?«, hustete sie irgendwann, ihre Stimme kratzig wie zu trocken gewordenes Pergament.

»Ich bin hier!« Er wollte lachen, schreien, seiner Erleichterung Ausdruck verleihen, doch stattdessen konnte er sie nur an sich ziehen und so fest drücken, dass es ihm beinahe wehtat, so als müsse er sich vergewissern, dass es sie wirklich noch gab.

»Was ist passiert?«, fragte Mila, als er ihr wieder etwas Freiraum gab und in ihr bleiches Gesicht sah. Der Geruch nach Erbrochenem war nichts mehr als eine unbedeutende Randnotiz in seinem Geist.

»Ich weiß es nicht. Ich bin durch die Öffnung gegangen und im gleichen Moment ins Nichts gefallen.«

»Wir sind in der Luft. Über den Wolken.«

»Ja, ich glaube schon.«

»Wie ist das möglich?«

James schielte hinauf zu dem schwarzen Punkt weit über ihnen, bei dem es sich um den Teleporter handeln musste.

»Ich weiß es nicht. Ich bin nicht der Naturwissenschaftler, aber sollte das nicht unmöglich sein?«

»Das sollte es.« Sie nickte schwach. »Genauso sehr, wie die Tatsache, dass wir mitten im freien Fall in eine Art Schwerelosigkeitsfeld geraten.«

Er wusste keine Antwort, darum schwieg er und schloss kurz die Augen, um einen neuerlichen Anflug von Übelkeit zu vertreiben.

»James?«

»Ja?« Er öffnete seine Lider wieder und sah sie an.

»Wo ist Adrian?«

Adrian!, schoss es ihm durch den Kopf, ehe als Nächstes der kurze Seitenblick von eben vor seinem inneren Auge auftauchte. Die Silhouette, die ungebremst einige Dutzend oder hundert Meter an ihnen vorbeigestürzt war, auf den weißen Berg zu.

»Ich … ich glaube er ist weitergestürzt«, sagte er mit flatternden Nasenflügeln.

»Oh nein …«

»Er lebt noch«, versicherte er ihr und sich selbst gleichermaßen.

»Das überlebt niemand!«

»Im Konstrukt, meine ich. Da lebt er doch weiter, oder?« Als er nicht antwortete, fasste sie sein Gesicht und zwang ihn, sie anzublicken. »James! Sag mir, dass sein Bewusstsein im Konstrukt gespeichert ist!«

»Ich weiß es nicht«, entschied er sich für die Wahrheit. »Das würde bedeuten, dass wir auch gespeichert waren, als wir zurück auf der Erde waren. Aber da wir uns an alles erinnern können, muss es unsere neue Version sein, die im Konstrukt gelandet ist. Wenn wir Glück haben, wurden die alten bei der Rückkehr überschrieben, und wenn Adrian nicht zurückkommt, wird der Zwischenspeicher nicht überschrieben.«

»Und wenn nicht?«

Diesmal antwortete er nicht und fasste stattdessen auch ihren Kopf mit seinen zitternden Händen. »Aber wir beide leben noch, und wir müssen herausfinden, wie wir hier wegkommen und was vor sich geht. In Ordnung?«

Mila nickte. »Du hast recht.«

Die letzten Reste der Panik lösten sich aus ihrer Miene und wichen einer grundlegenden Angst, die ihrer Situation entsprechend beinahe fremdartig wirkte.

»Es muss sich um einen lokalen Effekt handeln«, sagte sie und der pragmatische Unterton war in ihre Stimme zurückgekehrt, was in James eine Welle der Erleichterung auslöste. Ihre hemdsärmelige Art war schließlich etwas, das ihn schon häufig beruhigt hatte, weil sie immer Antworten auf Fragen fand, die er nicht einmal zu stellen verstand. »Zuerst sind wir gefallen. Freier Fall aus einer hohen Atmosphärenschicht. Ich hatte Probleme zu atmen, glaube ich, also war der Sauerstoffgehalt bereits sehr niedrig. Aber wir sind schnell genug gefallen, um in etwas sauerstoffreichere Schichten zu gelangen. Bis wir in dieses Feld geraten sind.«

»Dieses Feld funktioniert dann aber merkwürdig.«

»Ja. Wenn es sich um normale Schwerelosigkeit handeln würde, also das Nichtvorhandensein von Schwerkraftsenken in der Nähe – was nicht zutrifft, da ich die Erde sehen kann –, müssten wir mit unserer Eintrittsgeschwindigkeit in das Feld weiterfliegen. Wir beschleunigen zwar nicht mehr, weil offenbar die Schwerkraftquelle fehlt, aber wir sollten eigentlich auch nicht auf null gebremst werden. Das würde nur mit einem Gegenimpuls gehen.« Mit jedem Wort, das ihren Mund verließ, konnte er sehen, wie ihr Gesicht an Farbe gewann und der Ausdruck des Schocks in ihren Zügen nachließ, wenn auch nicht verschwand. Sie redete etwas schneller als sonst, aber das Problem zu intellektualisieren, schien ihr zu helfen.

»Also ist nicht nur die Existenz des Feldes unnormal und wissenschaftlich nicht erklärbar, sondern auch sein Verhalten«, fasste er zusammen.

»Ja, so scheint es.«

»Irgendeine Idee, wie groß es ist?«

»Nein, keine Anhaltspunkte.«

Wäre ja auch zu schön gewesen.

»Siehst du das da?«, fragte sie und deutete auf eine große blaue Fläche, die sich zwischen zwei riesigen Wolken auftat. »Das könnte ein See sein, oder?«

»Schon möglich, ist ziemlich weit weg.«

»Wie weit, würdest du schätzen?«

»Vertikal?«

Sie nickte, während sie sich wie zwei Himmelskörper umeinander drehten, mit den Köpfen nach unten.

»Zwei, drei Kilometer?«

»Das wäre auch meine Schätzung«, erwiderte Mila. »Wenn wir Glück haben, geht das Feld weit genug, dass wir herunter kommen, ohne groß Geschwindigkeit aufzunehmen. Ohne solch ein Feld fallen wir etwa fünfzig Meter pro Sekunde, was ich relativ genau sagen kann, wenn es sich bei diesem Ort immer noch um eine der sechs identischen Erden handelt.«

»Mhm«, machte er, um nicht aussprechen zu müssen, was er eigentlich dachte: Nichts an diesem Ort ist wie auf der Erde, die wir kennen. Besser gesagt auf beiden, die wir kennen. Nicht einmal die Naturgesetze.

»Wir könnten uns das Feld zunutze machen.«

»Würden wir nicht schon bei fünfzig Metern Fallhöhe über dem Wasser sterben?«

»Ja«, gab sie zu. »Aber wir könnten etwas am Winkel arbeiten.«

»Unsere Freifallfähigkeiten sind nicht nur gering, sondern schlicht nicht vorhanden, fürchte ich.«

»Wir müssen mit dem arbeiten, was wir haben.«

James nickte und schalt sich innerlich. Defätismus hat noch niemanden weitergebracht. Und zur Not haben wir ja immer noch die Hoffnung auf den Zwischenspeicher. »Du hast recht, entschuldige.«

»Wie ich sehe, hast du schon herausgefunden, wie du dich in der Schwerelosigkeit bewegen kannst.« Sie deutete vorsichtig auf seinen linken Fuß, der in einer grauen Socke steckte.

»Ja. Das habe ich irgendwann mal im Fernsehen gesehen.«

»Wir machen es jetzt noch mal, in Ordnung? Wir ziehen einen Schuh aus und werfen ihn in die entgegengesetzte Richtung dieses Sees da unten. Die Ausrichtung unserer Körper stimmt ungefähr.«

»Hältst du das wirklich für eine gute Idee?«

»Nein, aber ich habe gerade keine bessere.« Sie sah ihn an und atmete tief ein. »Falls du eine hast, wäre ich mehr als offen, sie zu diskutieren.«

James sah in Richtung des weißen Berges, der unter ihnen durch sein Sichtfeld streifte, und schluckte schwer. Er stellte sich vor, wie ihr gemeinsamer Freund ungebremst auf die rau aussehenden Hänge gestürzt war. Wieder kam die Übelkeit zurück.

»Nein, habe ich nicht«, gestand er. »Tun wir es.«

Sie zogen beide ihre Schuhe aus, er seinen letzten, den rechten, und sie ihren linken. Dann hoben sie sie zwischen sich und küssten sich noch einmal.

»Ich liebe dich, das weißt du, oder?«, fragte er und drückte seine Stirn an ihre.

»Du hast mich gerade geküsst, obwohl ich ziemlich sicher bin, eben gekotzt zu haben«, entgegnete sie. »Eine bessere Rückversicherung hättest du mir gar nicht geben können.«

»Da ist sie wieder, deine russische Romantik. Warm wie ein Schneesturm, sanft wie ein Vulkanausbruch.«

»Romantik hat noch nie ein Kind geboren.«

»Also gut. Tun wir es.«

»Ich liebe dich auch, James.«

»Na toll, jetzt habe ich noch mehr Angst als vorher«, erwiderte er wahrheitsgemäß und verzog das Gesicht, ehe er sich ein Lächeln abrang und ihr zunickte. »Tun wir es.«

»Auf drei. Mit der anderen Hand nicht loslassen.«

»Keine Sorge, das werde ich nicht.«

Sie zählten bis drei und warfen dann mit ganzer Kraft die Schuhe nach oben, über ihre Füße hinweg. Ihre Flugbahn war merkwürdig. Sein Gehirn wollte, dass sie einen leichten Bogen beschrieben, langsamer wurden und dann wieder nach unten fielen, doch stattdessen flogen sie in gerade Linie weiter und taumelten dabei leicht.

Für ihn und Mila ging es nun abwärts. Zwar spürte er keinerlei Fallen oder Beschleunigen, doch sie bewegten sich ganz klar in eine neue Richtung. Auch ihr gemeinsamer Drehimpuls hatte sich verändert. Die baue Fläche (der See?) wurde langsam größer, und es gab keinerlei Möglichkeit zu bremsen.

Ob das meine letzte ach so gute Idee war?

2

RÜCKBLICK

»Kein einziger Tropfen ist echt«, erklärte Adrian und drehte die Flasche mit dem kyrillischen Etikett in seiner Hand so, dass die letzten Reste des scharf riechenden Wodkas behäbig auf den Grasboden tropften. In dem feuchten Glas spiegelte sich das Lagerfeuer wie durch ein Kaleidoskop. »Trotzdem schmeckt jeder einzelne genau so, wie ihn mein Vater gebrannt hat.«

»Was ist schon echt?«, fragte Mette, die mit Mila am knisternden Feuer saß und ihre Hände ausgestreckt hielt, als sei ihr kalt. Justus tanzte auf der anderen Seite, als wäre er allein, und James beneidete ihn ein wenig, auch wenn der Auftritt des deutschen Astrophysikers auf verstörende Weise an eine Mischung aus Indianerhäuptling und Jack Sparrow erinnerte. Sie waren schon die vierte Woche am Stück damit beschäftigt, sich alles zu wünschen, was ihnen in den Kopf kam, weil das Konstrukt ihnen alles geben konnte. ›Es‹ gab sich mittlerweile nicht mehr die Form einer Gottesfigur aus wahlweise archaischer oder kindlicher Vorstellung. Stattdessen schienen die kumulierten Persönlichkeiten der Sphäre Spaß daran zu entwickeln, sich immer neue Gestalten auszudenken, die sie in ihren Erinnerungen fanden. So sahen sie mal einen Darth Vader mit Hasenohren, dann eine Fee mit Wünschelrute, einen Gartenzwerg, eine russische Babuschka mit Scheren statt Händen, einen Santa Claus oder noch absurdere Figuren wie einen Leprechaun, den Grinch, Jim Raynor in Weihnachtsbemalung und den Gottimperator der Menschheit auf seinem goldenen Thron.

Welche Form das Konstrukt auch immer wählte, die Gespräche ähnelten sich immer mehr und liefen letztendlich darauf hinaus, dass sie sich alles wünschen konnten, was sie wollten. Da es sich um eine Simulation handelte (wenn auch eine lebensechte), war ihrer Fantasie keine Grenzen gesetzt. Die ersten Tage hatten sie sich die Landschaft neu gewünscht, waren von Klippen gesprungen, in türkisfarbenen Seen geschwommen, hatten an einem endlosen Strand aus weißem Sand unter den beiden Sonnen gebadet und auf einer Wolke gepicknickt. Doch wie es der menschliche Zustand so wollte, hatte sie nichts davon zufriedengestellt.

»Wie schwer ist es doch, mit sich selbst zu leben«, hatte Mila eines Tages treffenderweise gesagt und damit den Nagel auf den Kopf getroffen. Egal wie kreativ sie darin wurden, sich Dinge oder Erfahrungen zu wünschen – selbst Sex in einer durchsichtigen Muschel am Grund eines wunderschönen Ozeans hatte sich abgenutzt –, am Ende stand immer ein gedankliches »Und jetzt?«. Es musste immer weitergehen, schließlich trugen sie ihre Köpfe und damit ihre Gedankenwelt immer mit sich herum. Das hatte letztlich dazu geführt, dass ihre Freude darüber, überlebt und die Erde gerettet zu haben, langsam verflog und sich die Frage stellte, was sie mit ihrem Leben anfangen sollten. Für immer in einer Simulation leben, die ihnen alles gab, was sie wollten?

Seit drei Tagen verbrachten sie ihre Zeit nur noch damit, an ihrem Lagerfeuer zu sitzen und schwermütigen Gedanken nachzuhängen oder Geschichten von früher zu erzählen.

»Verstehst du, was ich meine?«, wollte Adrian wissen, und James merkte auf.

»Entschuldige, wie bitte?«

»Schau her.« Sein Freund drehte die leere Flasche in seiner Hand um und schwankte dabei leicht. Sobald der Hals wieder nach oben in Richtung des falschen Sternenhimmels zeigte, war sie wie von Geisterhand bis oben gefüllt. »Sie ist wieder voll.«

»Magie. Wie jeden Abend.«

»Und deswegen schmeckt er mir nicht.«

»Ich dachte, er schmeckt genau wie der Selbstgebrannte von deinem Vater?« James runzelte die Stirn und sah aus den Augenwinkeln, wie Mila ihren Kopf an Mettes Schulter lehnte und versonnen in die Flammen blickte.

»Das tut er auch. Aber mein Vater hat im Jahr zwanzig Flaschen Wodka abgefüllt. Mehr hat er nie gebrannt. Fünfzehn davon hat er verkauft, vier verschenkt.« Adrian seufzte.

»Klingt, als wäre er großherzig gewesen.«

»Das war er, das war er.« Der Kosmonaut schüttelte sich wie ein nasser Hund und warf die Flasche ins Feuer. Die Flammen kommentierten den Nachschub an Brandbeschleuniger mit einem kurzlebigen, aber intensiven Freudenflackern. Mila und Mette erschraken kurz.

»Ähm, alles in Ordnung?«

»Dieser hier schmeckt mir nicht mehr.«

»Dass er nicht echt ist, ist nur ein Gedanke, Adrian. Der Geschmack ist derselbe. Ob deine Geschmacksknospen ihn an dein Gehirn senden oder der entsprechende Bereich in deiner grauen Grütze von selbst aktiviert wird, spielt doch keine Rolle«, erklärte James.

»Das meine ich nicht!« Adrian rollte mit den Augen. »Mein Vater hatte eine Flasche! Eine.«

»Ich verstehe. Die Flasche deines Vaters war etwas Besonderes, weil es wenig von dem Inhalt gab. Jetzt kannst du das, was früher knapp war, so oft genießen wie du willst und es verliert seinen Wert.«

»Ja. Alles hier hat keinen Wert, weil es keiner Leistung bedarf, es zu bekommen! Wie sehr würden sich Menschen freuen, eine Million Dollar geschenkt zu bekommen, wenn alle anderen das gleiche Geld erhalten? Gar nicht!«

»Ich glaube nicht, dass der Wert von Dingen bloß von ihrer Verfügbarkeit abhängt, auch wenn die Kapitalgesellschaft uns das glauben machen wollte«, hielt James dagegen.

»Nein, da hast du recht. Es hängt davon ab, was wir dafür getan haben. Wie wohl hast du dich in deiner Wohnung in New York gefühlt?«

»Was?« Überrascht schüttelte er den Kopf.

»Du hast in New York gewohnt, ja?«

»Ja.«

»Zur Miete.«

»Ja.«

»Wie wohl hast du dich da gefühlt?«, wiederholte Adrian.

»Na ja, ich habe mich meistens ziemlich einsam gefühlt. Was aber an meinen Lebensumständen lag. Die Lage war gut und sie war recht groß, aber ich vermisse sie nicht.«

»Ha!«

»Ähm …«

»Das meine ich! Mein Vater hat unser Haus mit den eigenen Händen gebaut und mit der Hilfe seiner Brüder. Weißt du, wie er über unsere vier Wände gesprochen hat? Als wäre er verliebt! Er konnte sich an jeden Handschlag erinnern, den er getan hatte, um es zu dem zu machen, was es schließlich war. Er hat hart für das Ergebnis gearbeitet und es so zu etwas Besonderem gemacht, das ihm langanhaltende Freude gebracht hat.« Adrian breitete die Arme aus und drehte sich einige Male im Kreis wie ein Derwisch. »Das hier ist deine New Yorker Wohnung, James. Tolle Lage, bestimmt teuer und der Traum vieler ärmerer New Yorker. Aber ich will lieber eine Hütte bauen, in der ich im Winter friere!«

»Ich verstehe.« Er nickte nachdenklich und sah zu, wie sein Freund auf den weichen Grasboden plumpste und unvermittelt ein russisches Lied anstimmte, das äußerst melancholisch klang. James entschied sich, ihn vorerst in Ruhe zu lassen und setzte sich neben die beiden Frauen. Mila schloss ihn in die Arme und er genoss den Geruch nach frischem Gras und der süßlichen Note aus dem Schweiß des Tages und ihrem Körper.

»Er hat recht, weißt du?«, sagte sie nach einer langen Weile leise.

»Ich weiß«, gab er zurück. »Selbst die Pizza schmeckt mittlerweile fad, obwohl es genau die ist, die ich liebe. Sie ertrinkt schon in Sauce Hollandaise.«

»Wir können hier nicht bleiben, oder?«

Er antwortete nicht, doch das brauchte er auch gar nicht. Sie alle wussten es und gingen unterschiedlich damit um. Justus hatte angefangen zu trinken und wurde durch den Alkohol auf seine Weise niedlich, weil optimistisch und viel nahbarer, aber auch ungewöhnlich aktiv und expressionistisch. Adrian verfing sich in Melancholie und ellenlangen Monologen, die so gar nicht zu seiner pragmatischen Raumfahrernatur passen wollten und James vor Augen führten, dass der Kosmonaut am Rande dessen stand, was er ertragen konnte. Vermutlich verlangte es seine Persönlichkeit, Probleme zu lösen und immer auf einem gewissen Stresslevel zu bleiben, um zu funktionieren – großartige Eigenschaften für einen Kosmonauten, schlechte für einen erzwungenen Dauerurlaub. Mette und Mila waren eher wie er selbst und wurden ruhiger und nach innen gewandter.

»Aber wir können auch nicht zurück«, fuhr sie fort und das Prasseln des stattlichen Feuers knisterte fröhlich in der lauen Nachtluft. Kurzlebige Funken flogen wie Glühwürmchen in Richtung des Sternenbands und vergingen wieder.

»Ich denke nicht«, seufzte er. Natürlich hatten sie schon darüber diskutiert, zur Erde zurückzukehren, den Gedanken aber einhellig wieder verworfen. Sie waren froh, am Leben zu sein – besonders er selbst, dessen letzte Erinnerung an die Erde sein eigener Tod gewesen war. Doch der Upload zum Konstrukt, knapp fünfzehn Lichtjahre entfernt, hatte mindestens fünfzehn Jahre gedauert und die Rückkehr würde weitere fünfzehn dauern. Dreißig Jahre. Wer konnte schon wissen, wie sehr sich ihre Heimat in der Zeit verändert hatte? War es doch noch zum Krieg mit den Flüchtlingen gekommen? Hatten die Kazeruni eine weitere Flotte ausgesandt, die irgendwann ankommen würde und die Welt in eine neue militaristische Irrung geschickt? Ehrlich gesagt wollte er es nicht wissen, und den anderen ging es genauso. Ihre letzte Rückkehr war zu einem Trauma geworden, das in ihnen allen etwas zerstört hatte und Angst zurückließ. Doch solange sie diese Tür nicht aufstießen, war die Erde ein blühendes Paradies und eine rauchende Ruine zugleich, wie bei Schrödingers Katze – ein Zustand in der Schwebe, mit dem sie alle leben konnten.

»Da wäre immer noch die andere Möglichkeit«, erinnerte Mila ihn und drehte sich so, dass er in ihre großen Augen sehen konnte.

»Hey, das ist gemein!«

»Ich will hier nicht auf meinen Händen sitzen, James.«

»Ich weiß. Aber …«

»Was? Willst du mir wirklich sagen, dass du in diesem Wünsch-dir-was-Land von Milch und Honig deinen Optimismus verloren hast?«

»Mila, die Menschen, die auf den anderen Teleporterplaneten leben, sind nicht gerade die besten unserer Spezies gewesen. Wie gut kann es da schon zugehen?«

»Sie wurden von einem Militärregime entsorgt«, brauste sie auf. »Da kannst du sie doch nicht mit Verbrechern gleichsetzen! Man wurde ja schon eingebuchtet, wenn man die Existenz der Kazerun-Flotte in Zweifel gezogen oder unter den Augen des falschen Militärpolizisten die Straße überquert hat. Außerdem waren ganze Familien dabei, um die Reproduktion zu sichern. Glaubst du, dass das alles Verbrecher sind, die sich in der Zwischenzeit zu wilden Barbarenstämmen zurückentwickelt haben?«

»Hey, das Risiko dafür ist gar nicht so gering. Sie haben alle mit nichts neu angefangen. Nicht einmal Kleidung!«, entgegnete er abwehrend. »Was denkst du, was sie als Erstes gemacht haben? Das, was Menschen in Notsituationen immer tun: auf ihre evolutionären Notfallprogramme zurückfallen! Die Stärksten reißen die Macht an sich und sorgen für eine natürliche Hackordnung, die mit den Errungenschaften der Aufklärung und Emanzipation nichts mehr zu tun haben.«

»Ein tolles Menschenbild.«

»Ein realistisches. Nichts daran ist gut oder schlecht, es ist einfach nur unser in die Gene eingeflochtenes Programm, das dem Überleben dient.«

»Okay gut«, sagte sie und er wusste, dass gar nichts gut war. »Dann finden wir eben keine blühende Zivilisation vor. Aber eine Möglichkeit vielleicht, dass etwas ganz Neues, anderes entstanden ist.«

»Was denn?«

»Anders als in deiner Schreckensvorstellung haben alle Kolonisten eine Sache, die sie eint und auf einen gemeinsamen Nenner bringt: Sie wurden von einem Militärregime verbannt und dazu gezwungen, eine Reise ins Unbekannte zu unternehmen. Wie sehr werden sie wohl auf Obrigkeiten und eine harte Hand stehen, hm?«

James brummte bloß.

»Es ist gar nicht so unwahrscheinlich, dass sie eine strikte Hierarchie ablehnen und Kulturtechniken entwickeln, um jede Art der Diktatur und des Faschismus zu verhindern. Ein Trauma wie ihres kann so etwas bewirken. Sag mir, dass ich mich irre.«

»Du irrst dich nicht per se, aber …«

»Siehst du? Also, was kann es schon schaden, nachzusehen?«

»Wir könnten das hier verlieren.« James deutete mit seiner freien Hand auf das Feuer und dann auf sie beide. »Denkst du nicht, dass wir genug Angst für zwei Leben durchlitten haben? Warum sehnst du dich so sehr nach mehr davon?«

»Weil wir gelebt haben, James. Wir haben etwas bewirkt, die Grenzen der Menschheit erweitert, ein Tor zu den Sternen aufgestoßen.«

»Und einen intergalaktischen Krieg verhindert«, fügte er hinzu und bereute es sofort.

»Ja! Wir haben die Erde zu einem besseren Ort gemacht. Was, wenn wir das auch für diese anderen Erden tun könnten? Mit all unserem Wissen über die Teleporter und die Ältesten sollte es doch unsere Pflicht sein, es zum Guten zu nutzen.«

»Aber wir wissen nicht einmal, ob es da draußen überhaupt Kolonisten gibt«, wandte er ein und wusste doch, dass sie gewonnen hatte. Er konnte sich ihrem Argument nicht entziehen, dass sie eine gewisse Pflicht hatten, ihre besondere Stellung als Experten des Teleporter-Netzwerks – sofern sie sich so nennen konnten – dafür zu nutzen, anderen das Leben leichter zu machen. Ein Held zu sein, weil man dem Schicksal einmal einen Streich gespielt hatte, war leicht, vielleicht sogar Glück. Es aber wieder zu tun, erforderte echten Mut.

»Aber wir können nachsehen.« Mila löste sich von seiner Schulter und drehte sich zu ihm. Ihre Augen zeigten nicht mehr die Spur von Müdigkeit, während Mette, plötzlich ihres Halts beraubt, zur Seite sackte und im weichen Gras weiterschlief. Ihr leichtes Schnarchen vermischte sich mit dem Zirpen der falschen Grillen zu einer einlullenden Melodie. Mila hatte ihm den tödlichen Biss verpasst und brauchte nur noch dafür zu sorgen, dass sich das Gift rasch verteilte. Er war erledigt. »Was gibt es schon für ein Risiko? Wenn der Teleporter nicht aktiv ist, sind wir wieder hier. Zeit spielt für uns ohnehin keine Rolle mehr. Wir alle wissen, dass wir nur noch uns haben, die einzige Konstante.«

»Was ist, wenn wir auf etwas Schreckliches stoßen? Alle Kolonisten sind tot oder zu Kannibalen geworden, die uns aufessen wollen?«, versuchte er es mit einem eher kläglichen Einwand.

»Dann reisen wir eben ab.«

»Vielleicht ist es dann zu spät.«

»Vielleicht auch nicht. Außerdem speichert das Konstrukt unsere Persönlichkeit bis zu unserer Rückkehr, oder?«

»Das ist richtig!« Vor ihnen tauchte Ellen Ripley im grauen Tanktop mit Lockenmähne und verschmutzt-verschmitzter Haut auf. Ihr Gewehr hatte sie über die Schulter gelegt. »Wenn euch ein paar Aliens zerfetzen, dann hole ich euch zurück.« Sie schnalzte mit der Zunge und hob einen Finger. »Mit der Macht des Zwischenspeichers.«

James und Mila sahen die Konstrukt-Persönlichkeiten fragend an.

»Ist ganz einfach«, meinte Ripley. »Ihr seid jetzt gerade nicht mehr als das duplizierte Gehirn-Bewusstsein-Geflecht, das beim Teleport gesendet wurde. Ihr selbst, weil ihr einen Körper habt.«

»Sind wir das nicht auch ohne ihn?«, wollte er wissen.

»Nein. Aus Gründen, die wir selbst nie entschlüsseln konnten, benötigt das Bewusstsein jedweder Form die Verbindung zu einem erlebenden Körper. Keine künstliche Intelligenz hat jemals auf magische Weise Bewusstsein erlangt, unabhängig davon, wie hoch ihr IQ war, weil die wichtigste Komponente gefehlt hat: Ein natürlicher Körper, der das Universum, aus dem er entstanden ist, erfahren und erleben kann. Viele unserer Wissenschaftler haben versucht, diese Kluft zu überbrücken, sind aber immer gescheitert, bis ihre Forschung verboten wurde.«

»Deswegen haben wir hier drinnen unsere eigenen Körper und die einzigen Wünsche, die du uns nicht erfüllen wolltest, waren Änderungen an ihnen oder ihr Austausch«, sagte James.

»So ist es. Wenn ihr wünscht, einen anderen Teleporter aufzusuchen, dann kann ich es euch ermöglichen, weil ihr dort geklont werdet, wie ihr es kennt. Die Bewusstsein-Körper-Konstante wird dadurch nicht umgangen, nur ausgetrickst. In ihnen befindet sich dann eine Kopie eurer Persönlichkeit.«

»Eine Kopie?«

»Klar.« Ripley nickte.

»Verstößt das nicht gegen irgendeine Konstante?«

»Nein. Da immer nur eine Persönlichkeit aktiv ist. Solange ihr einen Körper anderswo habt, wird hier vor Ort keiner für euch simuliert. Erst dann, wenn ihr zurückkommt.«

»Und wenn wir zurückkommen, dann wird die hiesige Kopie überschrieben?«, wollte Mila wissen.

»Genau. Wenn ihr also Lust auf ein Abenteuer habt, lasst es mich wissen. Oh, und wenn ihr auf fiese Aliens oder Kannibalen trefft, die euch ans Leder wollen, kann ich euch nur einen Tipp geben!«

»Werft eine Atombombe aus dem Orbit?«, fragte James und Ripley zeigt in einer Bingo-Geste auf ihn, ehe sie verschwand. Er wandte sich an Mila. »Wir werden es tun, habe ich recht?«

»Das werden wir, Liebster. Es gibt mehrere Teleporter, die wir noch nicht gesehen haben. Findest du es nicht selbst spannend, hinter die Türen zu blicken?«

»Beim letzten Mal wurden wir erst von einem Monster verfolgt …«

»… das sich als harmlos herausgestellt hat.«

»… das Norton verkrüppelt hat …«

»… der aber nur ein Klon war und letztes Mal immer noch gelebt und Nordamerika angeführt hat.«

»Wir wurden auch von einem irre gewordenen Roboter beinahe zerfleischt …«

»… den wir überwinden konnten.«

»Und auf der Erde von deinen Landsleuten beinahe erschossen …«

»… ehe uns ein paar nette Europäer gerettet haben.«

»Wonach ich schwer genug verletzt wurde, um ins Koma zu fallen …«

»… und selbst aus dieser misslichen Lage putzmunter in einem Paradies zu landen, das dir sämtliche Wünsche erfüllt.«

»Ich geb’s auf«, seufzte er schließlich und bekam einen Kuss auf den Mund gedrückt.

»Ich wusste, dass du noch irgendwo da drinnen bist.«

»Was soll das denn heißen?«, empörte er sich.

»Gehen wir auf ein Abenteuer?« James sah nach links, wo sich Adrian neben ihm ins Gras setzte und tatsächlich lächelte.

»Hör auf damit, das sieht komisch aus!«

»Wir benutzten den Teleporter, oder?«, ignorierte der Kosmonaut seine Bemerkung und ballte die Hände zu Fäusten. »Na endlich! Welchen nehmen wir?«

»Ho, langsam, Brauner!«

»Das Konstrukt soll uns überraschen«, schlug Mila vor.

»Was ist mit Mette und Justus? Ich glaube nicht, dass die beiden schon wieder bereit sind, ihre Leben zu riskieren«, sagte James.

»Sie bleiben einfach hier. Wenn ihnen langweilig wird, dann sagen sie dem Konstrukt, dass sie dreißig Jahre überspringen wollen. Es ist ja nicht so, als würden sie hier drinnen altern.«

»Ich denke, dass sie das doch tun, bloß langsamer«, meinte Adrian und fing sich einen finsteren Blick von seiner Landsfrau ein, den er allerdings nicht zu bemerken schien. »Aber vorspulen ist natürlich eine Möglichkeit. Sie können ja auch nachkommen. Ich jedenfalls werde hier drinnen noch verrückt. Außerdem bin ich neugierig.«

»Hey, Ripley«, sagte James und im nächsten Moment stand die Siebzigerjahre-Version von Sigourney Weavers ikonischer Rolle wieder vor ihnen.

»Ja?«

»Vorausgesetzt wir möchten zu einem der drei Teleporter geschickt werden, die wir noch nicht kennen – neben denen unserer Erde, Al’Antis und Kazerun – gibt es irgendeine Möglichkeit, nicht nackt dort anzukommen?«

»Ja«, antwortete Ripley zu seiner Überraschung. »Der Master-Teleporter hier war der modernste und kann die anderen updaten, damit sie aus der verfügbaren Biomasse Kleidung synthetisieren. Der Prozess ist nicht viel anders als beim Aufbau von Zellstrukturen für die Klone, schließlich handelt es sich bloß um organische Moleküle, die so oder so angeordnet werden.«

»Und warum konnten das nicht direkt alle Teleporter?«, hakte Mila nach.

»Weil natürlich der Verbrauch an Biomasse und den zu übermittelnden Daten steigt, auch wenn Letztere vermutlich vernachlässigbar sind«, mutmaßte Adrian und Ripley nickte.

»Es besteht die Gefahr, dass der Massespeicher am anderen Ende nicht genügend angefüllt ist.«

»Was wäre das Schlimmste, das passieren könnte?«, wollte James wissen.

»Dass der Transfer nicht durchgeführt werden kann, und einer oder mehrere von euch zurückbleiben und wieder hier landen.

---ENDE DER LESEPROBE---