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Der große Schicksalsroman Durch Zufall erfährt die in ärmlichen Verhältnissen lebende Tess Durbeyfield, dass ihre Familie einem alten normannischen Adelsgeschlecht entstammt. Ihr Entschluss, vermeintliche Verwandte zu besuchen, hat fatale Folgen für die junge Frau: Sie trifft auf die zwei Männer, die den Gang ihres Schicksals unheilvoll lenken. Mit Tess sorgte Thomas Hardy 1891 für Aufsehen. Der Roman zählt zu den großen Klassikern der englischen Literatur. Diese Neuausgabe in attraktiver Sonderausstattung bietet die zeitgemäße Übersetzung von Helga Schulz.
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Seitenzahl: 800
Thomas Hardy
Tess
Roman
Aus dem Englischenvon Helga Schulz
Mit einem Nachwortvon Dorothee Birke
Deutscher Taschenbuch Verlag
An einem Abend in den letzten Tagen des Monats Mai ging ein Mann mittleren Alters von Shaston heimwärts nach dem Dorf Marlott im angrenzenden Tal von Blackmore oder Blackmoor. Das Paar Beine, das ihn trug, war ziemlich wackelig, und in seinem Gang lag etwas Schiefes, das ihn immer wieder ein wenig von der geraden Linie nach links abweichen ließ. Von Zeit zu Zeit nickte er heftig, wie zur Bestätigung einer Meinung, obgleich er an gar nichts Besonderes dachte. An seinem Arm baumelte ein leerer Eierkorb, der Filz seines Hutes war zerknüllt und ein Stück davon an seiner Krempe, dort, wo er mit dem Daumen hingriff, wenn er ihn abnahm, war völlig abgenutzt. Ihm begegnete bald ein älterer Pfarrer zu Pferde auf einer grauen Stute, der beim Dahinreiten ein Wanderlied vor sich hin summte.
»Wünsche eine gute Nacht«, sagte der Mann mit dem Korb.
»Gute Nacht, Sir John«, sagte der Pfarrer.
Der Fußgänger blieb nach ein paar weiteren Schritten stehen und wandte sich um.
»Mit Verlaub, Sir; aber wir trafen uns am letzten Markttag auch etwa um diese Zeit und auf dieser Straße, und ich sagte ›gute Nacht‹, und sie sagten ›gute Nacht, Sir John‹, so wie jetzt.«
»Das tat ich«, sagte der Pfarrer.
»Und davor auch schon mal – vor fast einem Monat.«
»Das mag sein.«
»Aber was wollen Sie wohl damit sagen, wenn Sie mich jedesmal ›Sir John‹ nennen, wo ich doch nur der ganz gewöhnliche Jack Durbeyfield, der Hausierer bin.«
Der Pfarrer kam ein paar Schritte näher herangeritten.
»Das war nur so eine Laune von mir«, sagte er. Und nach einem Moment des Zögerns: »Es war wegen einer Entdeckung, die ich vor kurzem gemacht habe, während ich in alten Stammbäumen geforscht habe für die neue Grafschaftsgeschichte. Ich bin Pfarrer Tringham, der Altertumsforscher, von Stagfoot Lane. Wissen Sie wirklich nicht, Durbeyfield, daß Sie der direkte Vertreter der alten, ritterlichen Familie der d’Urbervilles sind, die ihre Abstammung von Sir Pagan d’Urberville herleiten, dem berühmten Ritter, der mit Wilhelm dem Eroberer von der Normandie hierher kam, wie es aus der Battle Abbey Roll, der Namensliste, hervorgeht.«
»Noch nie davon gehört, Sir!«
»Es ist aber wahr. Heben Sie mal Ihr Kinn einen Augenblick, damit ich Ihr Profil besser sehen kann. Ja, das ist die Nase und auch das Kinn der d’Urbervilles – nur ein wenig degeneriert. Ihr Vorfahr war einer der zwölf Ritter, die den Lord von Estremavilla in der Normandie bei seiner Eroberung Glamorganshires unterstützten. Zweige Ihrer Familie besaßen in diesem Teil Englands überall Rittergüter; ihre Namen tauchen in den Schatzkammerrollen zur Zeit König Stephens auf. Während der Regierungszeit König Johns war einer von ihnen reich genug, den Johannitern ein Rittergut zu schenken; und zu Edwards II. Zeit wurde Ihr Ahnherr nach Westminster berufen, um dort an dem großen Konzil teilzunehmen. Zu Oliver Cromwells Zeiten gab es bei Ihnen einen geringen Niedergang, aber in keinem ernstlichen Maße, und während der Regierung Charles’ II. wurden Sie wegen Ihrer Treue zu Rittern der Königseiche geschlagen. Ja, da gab es Generationen von Sir Johns unter Ihnen, und wenn Ritterschaft erblich wäre wie der Rang eines Baronets – wie es in alten Zeiten praktisch der Fall war, als die Ritterschaft noch vom Vater zum Sohn überging –, dann wären Sie jetzt Sir John.«
»Was Sie nicht sagen!«
»Kurz gesagt«, schloß der Pastor, während er mit seiner Peitsche entschieden an sein Bein klatschte, »es gibt kaum noch eine weitere solche Familie in England.«
»Da staune ich aber, ist das wirklich so?« sagte Durbeyfield. »Und da bin ich hier Jahr für Jahr rumgezogen von Pontius zu Pilatus, als wär ich nicht mehr als der gewöhnlichste Bursche in der Gemeinde . . . Und wie lange weiß man das über mich schon, Pfarrer Tringham?«
Der Geistliche erklärte, daß, soweit er wisse, inzwischen niemand mehr Kenntnis davon habe und man kaum sagen könne, daß es überhaupt jemals bekannt war. Er habe mit seinen eigenen Nachforschungen im vorigen Frühjahr an dem Tag begonnen, als er – während er damit beschäftigt gewesen war, die Wechselfälle im Leben der Familie der d’Urbervilles zu erforschen – Durbeyfields Namen an seinem Wagen entdeckt und Erkundigungen über seinen Vater und Großvater eingezogen habe, bis es für ihn keinen Zweifel mehr daran gab.
»Zuerst beschloß ich, Sie nicht mit solchen nutzlosen Informationen aufzustören«, sagte er. »Aber manchmal tun wir etwas wider besseres Wissen. Ich dachte auch, Sie wüßten vielleicht schon die ganze Zeit etwas davon.«
»Na ja, ich hab schon ein paarmal davon gehört, es stimmt, daß meine Familie bessere Tage gesehn hat, bevor sie nach Blackmoor kam. Aber ich hab’s nicht weiter beachtet, dachte mir, es hieß nur, daß wir früher zwei Pferde gehalten haben, wo wir jetzt nur eins haben. Ich hab auch einen alten Silberlöffel und ein altes Siegel mit einer Gravierung zu Hause, aber, du lieber Himmel, was sind schon ein Löffel und ein Siegel? . . . Und wenn ich daran denke, daß ich und diese noblen d’Urbervilles die ganze Zeit ein Fleisch und Blut waren . . . Es hieß ja immer, mein Urgroßvater hätte Geheimnisse und wollte nicht darüber reden, wo er herstammte . . . Und wo raucht unser Schlot jetzt, Herr Pfarrer, wenn ich mir die Bemerkung erlauben darf; ich meine, wo leben wir d’Urbervilles denn?«
»Ihr lebt nirgends. Ihr seid ausgestorben – als Adelsfamilie.«
»Das ist schlecht.«
»Ja – was die trügerischen Familienchroniken bei der männlichen Linie ausgestorben nennen – das heißt, niedergegangen – untergegangen.«
»Aber wo liegen wir begraben?«
»In Kingsbere-sub-Greenhill; Reihen über Reihen von euch in euren Gruften, mit euren Abbildern unter Baldachinen aus Purbeckmarmor.«
»Und wo sind unsere Herrenhäuser und Güter?«
»Ihr besitzt keine mehr.«
»Ach, und auch keine Ländereien?«
»Keine; obgleich ihr sie im Überfluß besaßt, wie ich schon sagte, denn eure Familie bestand aus zahlreichen Zweigen. In dieser Grafschaft hattet ihr einen Sitz in Kingsbere und einen weiteren in Sherton; und dann einen in Millpond und noch einen in Lullstead und einen in Wellbridge.«
»Und werden wir jemals wieder zu unserem Eigentum kommen?«
»Ah – das kann ich nicht sagen!«
»Und was tu ich da am besten, Sir?« fragte Durbeyfield nach eine Pause.
»Oh – nichts, gar nichts; außer Demut üben in dem Gedanken ›wie sind die Helden gefallen!‹. Es ist eine Tatsache von einigem Interesse für den hiesigen Historiker und Ahnenforscher, weiter nichts. Es gibt mehrere Häusler in dieser Grafschaft mit fast ebenso glanzvollem Namen. Gute Nacht.«
»Aber Sie kommen doch zurück und trinken darauf ein Bier mit mir, Pfarrer Tringham? Im Reinen Tropfen gibt es sehr gutes Bier vom Faß – wenn auch natürlich nicht so gut wie bei Rolliver’s.«
»Danke, nein, nicht heute abend, Durbeyfield. Sie haben schon genug gehabt.« Damit setzte der Pfarrer seinen Weg fort, zweifelnd, ob es klug gewesen war, dieses Stück überlieferte Kunde weiterzuverbreiten.
Als er fort war, ging Durbeyfield, tief in Träumereien versunken, ein paar Schritte, setzte sich dann auf die grasbewachsene Böschung am Straßenrand und stellte seinen Korb vor sich hin. Nach ein paar Minuten tauchte in der Ferne ein junger Mann auf, der in die gleiche Richtung ging, die Durbeyfield eingeschlagen hatte. Als dieser ihn erblickte, hob er seine Hand hoch, und der Bursche beschleunigte seine Schritte und kam heran.
»Nimm diesen Korb, Junge, ich möchte, daß du für mich etwas besorgst.«
Das spindeldürre Bürschchen runzelte die Stirn. »Wer sind Sie denn, John Durbeyfield, daß Sie mich herumkommandieren und mich ›Junge‹ nennen? Sie kennen meinen Namen genauso gut wie ich Ihren kenne!«
»Tust du das, wirklich? Das ist eben das Geheimnis – das ist eben das Geheimnis! Führe jetzt meinen Auftrag aus und bestelle, was ich sage . . . Also, Fred, meinetwegen will ich dir das Geheimnis verraten – daß ich nämlich von edlem Geschlecht bin – ich habe das grade an diesem Nachmittag rausgefunden.« Und während Durbeyfield dies verkündete, lehnte er sich aus seiner sitzenden Stellung zurück und streckte sich genüßlich zwischen den Gänseblümchen auf der Böschung aus.
Der Bursche stand vor Durbeyfield und betrachtete ihn sinnend von Kopf bis Fuß.
»Sir John d’Urberville – der bin ich«, fuhr der im Grase liegende Mann fort. »Das heißt, wenn Ritter Baronets wären – was sie ja auch sind. Das ist in der Vergangenheit über mich alles aufgeschrieben worden. Weißt du von einem Ort Kingsbere-sub-Greenhill?«
»Ja. Ich bin auf dem Jahrmarkt von Greenhill gewesen.«
»Na, und unter der Kirche dieser Stadt liegen . . .«
»Das ist keine Stadt – der Ort, den ich meine; zumindest war er’s nicht, als ich da war – ’s war nur so ein kleiner unscheinbarer trüber Ort.«
»Der Ort hat gar nichts zu sagen, Junge, darum geht’s jetzt nicht. Unter der Kirche der Gemeinde dort, da liegen meine Vorfahren begraben – Hunderte von ihnen – in juwelenbesetzten Panzerhemden, in großen Bleisärgen, die Tonnen über Tonnen wiegen. Da gibt’s keinen Menschen in der Grafschaft Südwessex, der bedeutendere und noblere Skelette in seiner Familie hat, als ich sie habe.«
»So?«
»Jetzt nimm diesen Korb und geh weiter nach Marlott, und wenn du zum Wirtshaus Zum Reinen Tropfen kommst, dann sag ihnen, daß sie mir sofort Pferd und Wagen schicken sollen, um mich nach Hause zu bringen. Und unten in den Wagen sollen sie ein Achtel Rum in einer kleinen Flasche legen und für mich anschreiben. Und wenn du das gemacht hast, dann geh mit dem Korb zu meinem Haus und sag meiner Frau, sie soll die Wäsche liegenlassen, sie braucht sie nicht fertigzumachen, und sie soll warten, bis ich nach Hause komme, ich hätte ihr Neuigkeiten zu berichten.«
Während der Bursche noch in zweifelnder Haltung dastand, faßte Durbeyfield in seine Tasche und holte einen Shilling hervor, einen der notorisch wenigen, die er besaß.
»Das ist für deine Mühe, Junge.«
Das ließ den jungen Mann die Lage anders einschätzen.
»Ja, Sir John. Danke schön. Gibt’s noch etwas, was ich für Sie tun kann?«
»Sag ihnen zu Hause, daß ich zum Abendessen – ja, Lammbraten möchte, wenn welcher zu haben ist; und wenn nicht, dann Blutwurst; und wenn die auch nicht zu haben ist, na, dann tun’s auch Kutteln.«
»Ja, Sir John.«
Der Junge nahm den Korb, und als er sich auf den Weg machte, waren die Töne einer Blaskapelle aus der Richtung des Dorfes zu hören.
»Was ist das?« sagte Durbeyfield. »Doch nicht meinetwegen?«
»Das ist der Wohltätigkeitsverein der Frauen. Na, Ihre Tochter gehört doch auch zu den Mitgliedern.«
»Ja, natürlich – das hatte ich bei meinen Gedanken an höhere Dinge ganz vergessen. Na, dann marschier mal los nach Marlott und bestell den Wagen, und vielleicht fahr ich dann mal rum und sehe mir den Verein an.«
Der Bursche ging, und Durbeyfield blieb in der Abendsonne auf dem Gras und den Gänseblümchen liegen und wartete. Lange Zeit kam keine Seele den Weg entlang, und die schwachen Töne der Kapelle waren die einzigen von Menschen stammenden Laute, die im Kranz der blauen Hügel zu vernehmen waren.
Das Dorf Marlott lag inmitten der welligen Hügel des schon erwähnten schönen Tales Blackmore oder Blackmoor, in einem von Hügeln umschlossenen, einsamen Gebiet – zum größten Teil noch nie betreten vom Fuße eines Reisenden oder Landschaftsmalers, obgleich nur vier Stunden von London entfernt.
Es ist ein Tal, das man am besten kennenlernt, wenn man es von den Gipfeln der umgebenden Hügel betrachtet – außer vielleicht während der sommerlichen Trockenheit. Ein führerloser Streifzug in sein Inneres bei schlechtem Wetter kann leicht Verdrossenheit über seine engen, gewundenen und schlammigen Wege hervorrufen.
Dieser fruchtbare und geschützte Landstrich, in dem die Felder niemals braun und die Quellen niemals trocken werden, wird im Süden von steilen Kreidefelsen begrenzt, zu denen die Höhen von Hambledon Hill, Bulbarrow, Nettlecombe-Tout, Dogbury, High Stoy und Bubb Down gehören. Der von der Küste kommende Reisende, der, nachdem er sich etwa zwanzig Meilen über kalkreiche Hügel und Ackerland dahingeschleppt hat, plötzlich den Rand eines dieser Steilhänge erreicht, ist überrascht und erfreut, eine Landschaft wie eine Landkarte unter sich ausgebreitet zu sehen, die so gänzlich anders ist als diejenige, durch die er gekommen ist. Die Hügel hinter ihm liegen offen da, die Sonne brennt auf Felder nieder, die der Landschaft durch ihre Größe den Charakter einer unbegrenzten Weite verleihen; die Wege sind weiß, die Hecken niedrig und verflochten, die Luft farblos. Hier im Tal scheint die Welt in einem kleineren, feiner gesponnenen Maßstab geschaffen; die Felder sind bloße Koppeln, so verkleinert, daß ihre Hecken von dieser Höhe wie ein Netz dunkelgrüner Fäden erscheinen, die das blassere Grün des Grases durchziehen. Die Luft unten im Tal ist dunstig still und so azurblau getönt, daß der Teil, den die Künstler den Mittelgrund nennen, ebenfalls an diesem Farbton teilhat, während der Horizont jenseits von tiefstem Ultramarinblau ist. Ackerflächen sind spärlich und begrenzt; mit nur geringen Ausnahmen blickt man auf saftige Grasflächen und Bäume, die kleinere Hügel und Täler innerhalb der größeren überziehen. Solcherart ist das Tal von Blackmoor.
Dieses Gebiet ist ebenso von historischem wie von topographischem Interesse. In früheren Zeiten war das Tal als der Wald des Weißen Hirschs bekannt – aufgrund einer sonderbaren Legende aus der Regierungszeit Heinrichs III., nach der ein gewisser Thomas de la Lynd, der einen schönen weißen Hirsch tötete, den der König verfolgt und dann verschont hatte, mit einer schweren Geldbuße bedacht wurde. In jenen Tagen, und noch bis vor ziemlich kurzer Zeit, war dieses Gebiet dicht bewaldet. Selbst heute noch sind in den alten Eichenwäldchen und unregelmäßigen Baumgürteln, die noch auf seinen Hängen überlebt haben, und in den hohlen Bäumen, die so viele seiner Weiden beschatten, Spuren dieses früheren Zustands zu finden.
Die Wälder sind verschwunden, doch einige alte Bräuche, die einst in ihren Schatten gepflegt wurden, sind noch erhalten. Viele leben nur in verwandelter oder verdeckter Form fort. Der Maitagstanz war an dem besagten Nachmittag in der Form eines Vereinsvergnügens oder Umzugs des Wohltätigkeitsvereins der Frauen, des club-walking, wie man es dort nannte, wahrzunehmen.
Es war ein bedeutsames Ereignis für die jüngeren Einwohner von Marlott, obgleich die Teilnehmer an der Zeremonie der eigentlichen Bedeutung gar keine Beachtung schenkten. Seine Einzigartigkeit lag weniger in der Beibehaltung des Brauches, an jedem Jahrestag einen Umzug und Tanz zu veranstalten, als in der Tatsache, daß seine Mitglieder nur Frauen waren. Bei Männervereinen waren solche Feiern, wenngleich auch sie zurückgingen, weniger ungewöhnlich; doch hatte entweder die natürliche Scheu des sanfteren Geschlechts oder die sarkastische Haltung auf seiten der männlichen Angehörigen solche noch verbliebenen Frauenvereine (sofern überhaupt noch welche bestanden) ihres Glanzes und ihrer Vollkommenheit beraubt. Die Bedeutung des Vereins von Marlott bestand allein darin, die Feiern zur Verherrlichung der Göttin Ceres aufrechtzuerhalten. Sein Umzug hatte seit Hunderten von Jahren stattgefunden, wenn auch nicht als der des Wohltätigkeitsvereins, so doch als der einer geweihten Schwesternschaft irgendwelcher Art – und er fand noch immer statt.
Die Mitglieder des Vereins waren alle weiß gekleidet – eine fröhliche Auferstehung aus den Tagen des Julianischen Kalenders, als Freude und Maienzeit eins waren – Tage, bevor die Gewohnheit, auf lange Sicht zu planen, die Emotionen auf ein monotones Mittelmaß herabgesetzt hatte. Als erstes zeigten sie sich in einem Umzug in Zweierreihen rund um die Gemeinde. Das Ideal und die Wirklichkeit standen ein wenig im Widerspruch, als die Sonne ihre Gestalten gegen die grünen Hecken und die mit Kletterpflanzen bedeckten Hausfronten aufleuchten ließ; denn obgleich der ganze Zug weiß gekleidet war, gab es keine zwei Weißtöne darunter, die gleich waren. Einige waren von fast reinem gebleichtem Weiß, andere hatten einen bläulichen Schimmer; einige, die von älteren Personen getragen wurden (und die vielleicht so manches Jahr zusammengefaltet dagelegen hatten), neigten hin zu einem leichenhaften Farbton und gemahnten an den Geschmack des georgianischen Zeitalters.
Außer dem Ehrenzeichen eines weißen Kleides trug jede Frau oder jedes Mädchen in ihrer rechten Hand eine entrindete Weidengerte und in ihrer linken einen Strauß weißer Blumen. Das Entrinden der ersteren und die Auswahl des letzteren war der persönlichen Sorgfalt anheimgestellt.
In dem Zug befanden sich auch einige Frauen mittleren Alters und sogar ältere Frauen, deren drahtiges Silberhaar und faltige Gesichter, von Zeit und Sorgen geplagt, einen beinahe grotesken, doch gewiß kläglichen Eindruck bei einer solchen munteren Angelegenheit machten. Genaugenommen war vielleicht von jeder dieser Sorgenvollen und Erfahrenen, für die die Jahre näherrückten, da sie sagen würde, »sie gefallen mir nicht«, mehr zu gewinnen und zu sagen als von ihren jugendlichen Gefährtinnen. Doch wir wollen hier die älteren übergehen zugunsten derer, unter deren Mieder das Leben rasch und warm pulsiert.
Die jungen Mädchen bildeten in der Tat die Mehrheit in dem Verein, und die Köpfe mit ihrer Haarfülle spiegelten in dem Sonnenschein alle Farbnuancen von Gold, Schwarz und Braun wider. Einige hatten schöne Augen, andere eine schöne Nase und wieder andere einen schönen Mund und eine schöne Figur; wenige, wenn überhaupt, hatten alles zusammen. Es machte ihnen ganz offenbar Schwierigkeiten, während sie so den taktlosen, forschenden Blicken ausgesetzt waren, ihren Mündern den richtigen Ausdruck zu verleihen, ihren Köpfen die richtige Haltung zu geben und ihren Zügen die Befangenheit zu nehmen, was bewies, daß sie echte Landmädchen waren und nicht gewohnt, so viele Augen auf sich gerichtet zu sehen.
Und wie sie alle miteinander äußerlich von der Sonne erwärmt wurden, so hatte auch jede für sich eine eigene kleine Sonne für die Seele, an der sie sich wärmen konnte – einen Traum, eine Liebe, eine Lieblingsbeschäftigung, zumindest eine ferne, vage Hoffnung, die, wenn sie auch keinerlei Nahrung bekam, noch immer fortlebte, wie es Hoffnungen tun. Somit waren alle heiterer, und viele von ihnen sogar fröhlicher Stimmung.
Ihr Rundgang führte sie am Wirtshaus Zum Reinen Tropfen vorbei; dann, als sie die Landstraße verließen, um durch ein kleines Tor auf die Wiesen hinauszukommen, sagte eine der Frauen: »Du lieber Himmel! Also, Tess Durbeyfield, wenn das nicht dein Vater ist, der da in einer Kutsche nach Hause fährt!«
Ein junges Mitglied des Vereins wandte sich bei diesem Ausruf um. Es war ein feines, hübsches Mädchen – vielleicht nicht hübscher als einige andere auch –, doch ihr beweglicher Rosenmund und ihre großen unschuldigen Augen verliehen deren Farbe und Form Beredtheit. Sie trug ein rotes Band im Haar und war die einzige in der weiß gekleideten Gesellschaft, die sich eines solchen auffallenden Schmuckes rühmen konnte. Als sie sich umsah, erblickte sie Durbeyfield in einem Einspänner, der zum Reinen Tropfen gehörte und von einem kraushaarigen, stämmigen Frauenzimmer mit aufgerollten Kleiderärmeln kutschiert wurde, die Straße entlangkommen. Es war ein fröhliches Dienstmädchen dieses Hauses, das als Mädchen für alles zuweilen auch die Rolle eines Stall- und Hausknechts übernahm. Durbeyfield, der sich mit geschlossenen Augen wohlig zurücklehnte, winkte mit hocherhobener Hand und sang in einem langsamen Rezitativ: »Ich-hab-ja-in-Kingsbere-ei-ne-gro-ße-Fami-lien-gruft – und-in-Blei-särgen-rit-ter-liche-Ahnen!«
Die Vereinsmädchen kicherten, nur das Mädchen namens Tess nicht, dem bei dem Gefühl, daß sich ihr Vater in aller Augen zum Narren machte, langsam eine heiße Röte ins Gesicht stieg.
»Er ist einfach nur müde«, sagte sie hastig, »und sie fahren ihn nach Hause, weil unser eigenes Pferd heute ausruhen muß.«
»Gesegnet sei deine Einfalt, Tess«, sagten ihre Gefährtinnen. »Er hat seinen Markttagsschwips, haha!«
»Paßt mal auf, ich gehe keinen Zoll weiter mit euch, wenn ihr euch über ihn lustig macht!« rief Tess, und die Röte ihrer Wangen ergoß sich über ihr ganzes Gesicht und ihren Hals. Ihre Augen wurden augenblicklich feucht, und sie blickte zu Boden. Da sie sahen, daß sie ihr wirklich weh getan hatten, sagten sie nichts mehr, und die Ruhe war wiederhergestellt. Tess’ Stolz erlaubte ihr nicht, sich noch einmal umzuwenden, um zu sehen, was das Verhalten ihres Vaters, wenn überhaupt etwas, zu bedeuten habe, und so ging sie weiter mit allen anderen zu dem Platz, auf dem ein Tanz auf der Dorfwiese stattfinden sollte. Bis sie den Ort erreichten, hatte Tess ihren Gleichmut wiedergefunden, tippte ihre Nachbarin mit ihrer Gerte an und redete mit ihr wie gewöhnlich.
Tess Durbeyfield war zu dieser Zeit ihres Lebens wie ein Gefäß, das nichts als Gefühle enthielt, frei von jeglicher Erfahrung. Trotz der Dorfschule war ihre Sprache in gewissem Maße vom Dialekt gefärbt: Der charakteristische Laut des Dialekts dieser Gegend kann etwa durch die Silbe »ur« wiedergegeben werden und ist wohl ein ebenso reicher Klang wie nur irgendein anderer in der menschlichen Sprache. Der Mund mit den aufgeworfenen tiefroten Lippen, für den dieser Laut ganz natürlich war, hatte bis dahin kaum seine endgültige Form gefunden, und die Unterlippe hatte die Gewohnheit, die Mitte der Oberlippe nach oben zu schieben, wenn sich beide nach einem Wort wieder schlossen.
In ihrer Erscheinung lagen noch immer Phasen ihrer Kindheit verborgen. Wie sie an diesem Tag dahinmarschierte, konnte man zuweilen trotz aller kräftigen, schönen Fraulichkeit in ihren Wangen ihr zwölftes Jahr finden oder ihr neuntes Jahr aus ihren Augen blitzen sehen; und selbst ihr fünftes pflegte von Zeit zu Zeit über die Rundungen ihres Mundes zu huschen.
Doch wenige Leute wußten das, und noch weniger bedachten es. Eine kleine Minderheit, hauptsächlich Fremde, sahen sie beim zufälligen Vorübergehen lange an und wurden augenblicklich gefangengenommen von ihrer Frische und fragten sich, ob sie sie wohl jemals wiedersehen würden; aber für fast jeden war sie ein feines, malerisches Landmädchen und nichts weiter.
Von Durbeyfield in seinem von der Stallmagd gelenkten Triumphwagen war nichts weiter zu sehen und zu hören, und nachdem der ganze Verein den ihm zugewiesenen Platz betreten hatte, begann der Tanz. Da es in der Gruppe keine Männer gab, tanzten die Mädchen zuerst nur miteinander; doch als die Feierabendstunde herankam, versammelten sich die männlichen Einwohner des Dorfes zusammen mit anderen Müßiggängern und Vorüberkommenden um den Platz und schienen geneigt, sich eine Partnerin zu suchen.
Unter diesen Zuschauern befanden sich drei junge Männer von höherem Stand, die kleine Rucksäcke auf dem Rücken trugen und mit kräftigen Stöcken ausgerüstet waren. Ihre allgemeine Ähnlichkeit miteinander und ihr aufeinanderfolgendes Alter ließen schon beinahe von selbst vermuten, daß sie, was auch tatsächlich der Fall war, Brüder sein mochten. Der älteste trug die weiße Krawatte, die hohe Weste und den schmalrandigen Hut des Hilfspfarrers; der zweite war ein gewöhnlicher Student; die Erscheinung des dritten würde kaum ausreichen, ihn zu charakterisieren; in seinen Augen und seiner Kleidung lag noch etwas Unbestimmtes, er schien noch nicht »umschränkt, gepfercht, umpfählt« und ließ so erkennen, daß er noch kaum Eingang in seine berufliche Bahn gefunden hatte. Daß er noch ein planloser, zögernder Student von allem und jedem sein mochte, war das einzige, was man vermuten konnte.
Diese drei Brüder erzählten zufälligen Bekannten, daß sie ihre Pfingstferien mit einer Wanderung durch das Tal von Blackmoor verbrachten und ihr Weg sie vom Nordosten, von der Stadt Shaston, in südwestliche Richtung führte.
Sie lehnten sich über das Tor an der Landstraße und fragten nach der Bedeutung des Tanzes der weiß gekleideten Mädchen. Die beiden älteren der Brüder hatten offensichtlich nicht die Absicht, länger als einen Augenblick zu verweilen, doch der Anblick einer Schar Mädchen, die ohne männliche Partner tanzten, schien den dritten zu amüsieren und ließ ihn keine Eile haben weiterzugehen. Er nahm seinen Rucksack ab, legte ihn zusammen mit seinem Stock auf die Heckenböschung und öffnete das Tor.
»Was willst du tun, Angel?« fragte ihn der Älteste.
»Ich habe Lust, einen kleinen Tanz mit ihnen zu machen. Laßt uns doch alle mitmachen – nur für ein paar Minuten – das hält uns doch nicht lange auf!«
»Nein, nein – Unsinn!« sagte der erste. »Tanzen in der Öffentlichkeit mit einer Schar Landrangen – wenn man uns sehen würde! Komm weiter, sonst wird es noch dunkel, bevor wir nach Stourcastle kommen, und es gibt keinen Ort zum Übernachten, der näher ist; außerdem müssen wir noch ein Kapitel von ›Zeugnis wider den Agnostizismus‹ durchlesen, ehe wir zu Bett gehen, wo wir uns schon die Mühe gemacht haben, das Buch mitzunehmen.«
»Na gut – ich werde dich und Cuthbert in fünf Minuten wieder einholen, also, wartet nicht, ich gebe dir mein Wort darauf, Felix.«
Die beiden Älteren verließen ihn widerstrebend und setzten ihren Weg fort; sie nahmen den Rucksack mit, um es ihm leichter zu machen, ihnen zu folgen, und der Jüngste betrat das Feld.
»Das ist ja jammerschade«, sagte er galant zu ein paar Mädchen, die ihm am nächsten standen, sobald eine Pause beim Tanz entstand. »Wo habt ihr denn eure Partner, Ihr Lieben?«
»Sie haben noch keinen Feierabend«, erwiderte eine der Kühnsten. »Sie werden nach und nach kommen. Wollen Sie bis dahin unser Partner sein, Sir?«
»Gewiß, aber was ist schon einer bei so vielen!«
»Besser als keiner. Es ist eine trübsinnige Sache, sich mit unsereinem im Tanz zu drehen, kein Umarmen und kein Händedrücken. Nun wählen Sie sich jemand.«
»Sch – sei nicht so dreist!« sagte ein schüchterneres Mädchen.
Der so aufgeforderte junge Mann ließ seinen Blick über sie hingleiten und versuchte, zwischen ihnen eine Wahl zu treffen, aber da die ganze Gruppe so völlig neu für ihn war, gelang ihm das nicht sehr gut. Er nahm sich fast die erste, die zur Hand war, und das war nicht die Sprecherin, wie sie es erwartet hatte; auch war es nicht zufällig Tess Durbeyfield. Eine lange Ahnenreihe, Skelette der Vorfahren, imposante Urkunden, die Gesichtszüge der d’Urbervilles, das alles half Tess noch nicht in ihrem Lebenskampf, nicht einmal so weit, ihr über die Köpfe der gewöhnlichsten Bauernmädchen hinweg einen Tanzpartner zu gewinnen. Soviel zu normannischem Blut ohne die Hilfe viktorianischen Mammons.
Der Name des sie in den Schatten stellenden Mädchens, welcher es auch immer war, ist nicht überliefert; aber sie wurde von allen beneidet als die erste, die an diesem Abend den Luxus eines männlichen Partners genoß. Doch solcherart war die Kraft des Beispiels, daß die jungen Männer des Dorfes, die keine Eile gehabt hatten, durch das Tor zu kommen, solange kein Eindringling im Wege war, nun rasch herbeikamen und die Paare bald in beachtlichem Maße von jungen Bauernburschen durchsetzt waren, bis schließlich die gewöhnlichste Frau in dem Verein nicht länger genötigt war, auf der männlichen Seite der Figur zu tanzen.
Die Kirchenuhr schlug gerade, als der Student plötzlich erklärte, er müsse gehen – er habe sich völlig vergessen –, er müsse sich seinen Gefährten anschließen. Als er aus den Reihen des Tanzes hinaustrat, fiel sein Blick auf Tess Durbeyfield, deren große Augen, um die Wahrheit zu sagen, einen ganz leichten Ausdruck des Vorwurfs zeigten, daß er nicht sie gewählt hatte. Da tat es auch ihm leid, daß er sie wegen ihrer Schüchternheit nicht bemerkt hatte; und mit diesem Gedanken verließ er die Weide.
Da er sich so lange aufgehalten hatte, begann er nun in Windeseile, die Straße in westlicher Richtung weiterzulaufen, und hatte bald die Talmulde durchquert und war auf die nächste Erhebung hinaufgestiegen. Er hatte seine Brüder noch nicht eingeholt, doch er hielt inne, um wieder zu Atem zu kommen, und blickte nun zurück. Er konnte die weißen Gestalten der Mädchen auf dem grünen Platz herumwirbeln sehen, wie sie es getan hatten, als er unter ihnen war. Sie schienen ihn schon völlig vergessen zu haben.
Sie alle, vielleicht mit Ausnahme eines Mädchens. Diese weiße Gestalt stand ganz allein, abseits von den anderen, an der Hecke. Da sie noch immer dort stand, erkannte er, daß es das hübsche Mädchen war, mit dem er nicht getanzt hatte. So unbedeutend die Sache auch war, er spürte doch instinktiv, daß sie verletzt war, weil er sie übersehen hatte. Er wünschte, er hätte sie aufgefordert und hätte sie auch nach ihrem Namen gefragt. Sie war so bescheiden, ausdrucksvoll gewesen, und sie hatte so sanft ausgesehen in ihrem dünnen weißen Kleid, daß er das Gefühl hatte, sich dumm benommen zu haben.
Doch es war nun nicht zu ändern, und während er sich wieder umwandte und raschen Schrittes weiterging, verbannte er dieses Thema aus seinen Gedanken.
Was Tess Durbeyfield betraf, so verjagte sie diesen Fall nicht so leicht aus ihren Gedanken. Sie verspürte lange Zeit keine Lust mehr zum Tanzen, obgleich sie eine Menge Partner hätte haben können; aber, ach, sie fanden nicht so schöne Worte wie der fremde junge Mann. Erst als die Sonnenstrahlen die sich entfernende Gestalt des jungen Fremden auf dem Hügel verschluckt hatten, schüttelte sie die momentane Regung der Traurigkeit ab und ließ sich wieder zum Tanz holen.
Sie blieb bis zum Einbruch der Dunkelheit bei ihren Gefährtinnen und nahm mit einer gewissen Freude am Tanz teil; doch da sie die Liebe noch nicht kannte, erfreute sie sich des Tanzens nun allein um des Tanzens willen, und sie konnte sich, während sie die »sanften Qualen, die bittersüßen Gefühle, die wohligen Schmerzen, die angenehmen Nöte« jener Mädchen, die begehrt und gewonnen wurden, sah, kaum vorstellen, welcher Gefühle sie selbst in solchen Dingen fähig sein mochte. Der Kampf und Streit der Burschen um ihre Hand in einer Gigue amüsierte sie – mehr nicht; und wenn sie zu stürmisch wurden, wurden sie von ihr zurückgewiesen.
Sie hätte vielleicht länger bleiben können, aber der Vorfall mit dem seltsamen Erscheinen und Verhalten ihres Vaters kam ihr wieder in den Sinn und machte sie besorgt; und da sie sich fragte, was wohl daraus geworden war, entfernte sie sich langsam von den Tänzern und machte sich auf den Weg zum Ende des Dorfes, wo das Haus ihrer Eltern lag.
Schon als sie noch viele Dutzende von Yards von ihrem Ziel entfernt war, vernahm sie andere rhythmische Laute als diejenigen, die sie verlassen hatte – Laute, die ihr sehr wohl bekannt waren – allzu bekannt. Es war ein regelmäßiges dumpfes Klopfen aus dem Inneren des Hauses, hervorgerufen durch das heftige Schaukeln einer Wiege auf einem Steinfußboden, zu deren Bewegungen eine weibliche Stimme den Takt angab, indem sie kraftvoll und in flottem Tempo das beliebte Lied von der »gefleckten Kuh« sang:
Ich sah sie nie-der-liegen dort im grünen Gra-ben,
Komm, Liebste, und ich sag dir, wo!
Das Schaukeln der Wiege und der Gesang hörten für einen Augenblick gleichzeitig auf, und anstelle der Melodie war ein lauter Sprechgesang in höchstem Ton zu hören.
»Gott segne deine Diamantenaugen! Und deine glatten Wangen! Und deinen Kirschenmund! Und deine Amorbeinchen! Und jede Partie deines gesegneten Körpers.«
Nach dieser Beschwörung begann das Wiegen und Singen wieder, und die »gefleckte Kuh« ging weiter wie zuvor. So sah es aus, als Tess die Tür öffnete und drinnen auf der Matte stehenblieb und die Szene betrachtete.
Der Anblick, der sich ihr im Innern bot, wirkte auf die Sinne des Mädchens trotz des Liedes unbeschreiblich trübselig. Von den Feiertagslustbarkeiten auf dem Feld, den weißen Kleidern, den Blumensträußen, den Weidengerten, den wirbelnden Bewegungen auf dem grünen Feld, dem kurzen Aufflammen einer zarten Regung gegenüber dem Fremden kommend – nun diese fahle Melancholie dieses von einer einzigen Kerze beleuchteten Schauspiels –, was für ein Schritt! Zu dem Schock über diesen Gegensatz trat auch noch das Gefühl des Selbstvorwurfs, daß sie nicht früher zurückgekommen war, um ihrer Mutter bei diesen Hausarbeiten zu helfen, statt sich selbst im Freien zu vergnügen.
Dort stand ihre Mutter inmitten einer Schar Kinder, so wie Tess sie verlassen hatte über die Wanne mit der Montagswäsche gebeugt, die nun, wie stets, bis zum Ende der Woche liegengeblieben war. Aus dieser Waschwanne war am Tag zuvor – Tess fühlte es mit einem schrecklichen Stachel der Reue – eben dieses weiße Kleid, das sie trug, gekommen, das in dem feuchten Gras an seinem Rocksaum durch ihre Sorglosigkeit ganz grün geworden war und das ihre Mutter mit ihren eigenen Händen ausgewrungen und gebügelt hatte.
Wie gewöhnlich balancierte Mrs. Durbeyfield auf einem Bein neben der Waschwanne, während sie mit dem anderen, wie schon erwähnt, das jüngste Kind wiegte. Die Kufen der Wiege hatten unter dem Gewicht so vieler Kinder auf diesem Steinplattenboden so viele Jahre lang harte Arbeit geleistet, daß sie beinahe flach geworden waren und jeder Schwung infolgedessen von einem mächtigen Ruck begleitet war, der das Baby gleich einem Weberschiffchen hin und her warf, da Mrs. Durbeyfield, angeregt durch ihr Lied, mit der ganzen Elastizität auf die Kufen trat, die ihr nach einem langen Tag in der schäumenden Seifenlauge geblieben war.
Nick-nock, nick-nock ging die Wiege; die Kerzenflamme reckte sich in die Höhe und begann auf und ab zu tanzen; das Wasser tropfte von den Armen der Hausfrau, und während Mrs. Durbeyfield ihre Tochter betrachtete, nahm das Lied seinen Fortgang bis zum Ende der Strophe. Selbst jetzt, beladen mit der Bürde einer jungen Familie, liebte Joan Durbeyfield leidenschaftlich den Gesang. Kein Liedchen fand seinen Weg von der Außenwelt in das Tal von Blackmoor, dessen Melodie Tess’ Mutter nicht innerhalb einer Woche singen konnte.
Noch immer lag in den Zügen der Frau ein schwacher Abglanz von der Frische und sogar der Schönheit ihrer Jugend; und so war zu vermuten, daß die persönlichen Reize, deren Tess sich rühmen konnte, in der Hauptsache ein Geschenk ihrer Mutter waren – und daher nichts mit ritterlichen Vorfahren zu tun hatten.
»Ich werde das Baby für dich wiegen, Mutter«, sagte die Tochter sanft. »Oder ich ziehe mein Sonntagskleid aus und helfe dir, die Wäsche auszuwringen. Ich dachte, du wärst schon lange fertig damit.«
Die Mutter war Tess nicht böse, daß sie ihr die Mühen der Hausarbeit so lange allein überlassen hatte, tatsächlich schalt Joan sie deshalb selten einmal, da sie mangelnde Hilfe von Tess nur wenig fühlte; sie erleichterte sich ihre Arbeit instinktiv dadurch, daß sie diese beständig vor sich herschob. Doch heute war sie sogar noch in einer vergnügteren Stimmung als gewöhnlich. In dem Blick der Mutter lag eine Verträumtheit, etwas, das sie beschäftigte, eine Erregung, die sich das Mädchen nicht erklären konnte.
»Na, ich bin froh, daß du gekommen bist«, sagte ihre Mutter, sobald der letzte Ton ihres Liedes heraus war. »Ich möchte deinen Vater holen gehen; aber was noch wichtiger ist – ich möchte dir erzählen, was passiert ist. Du wirst mächtig stolz sein, mein Püppchen, wenn du’s weißt!« (Mrs. Durbeyfield sprach gewöhnlich Dialekt; ihre Tochter, die unter einer in London ausgebildeten Lehrerin die Landesschule mit der üblichen sechsten Klasse abgeschlossen hatte, sprach zwei Sprachen – zu Hause mehr oder weniger Dialekt, außerhalb und gegenüber höhergestellten Personen normales Englisch.)
»Seit ich fort war?« fragte Tess.
»Ja.«
»Hat das irgend etwas damit zu tun, daß Vater sich in dieser Kutsche heute nachmittag so lächerlich gemacht hat? Warum hat er das gemacht! Ich bin fast im Boden versunken vor Scham!«
»Das war alles ein Teil dieser Aufregung! Man hat herausgefunden, daß wir die bedeutendste vornehme Familie in der ganzen Grafschaft sind – die bis weit vor Oliver Grumbles Zeiten zurückreicht – bis zu den Tagen der heidnischen Türken – mit Denkmälern und Grabgewölben und Helmbüschen und Wappen und Gott weiß was noch. In den Tagen vom Heiligen Charles wurden wir zu Rittern der Königlichen Eiche gemacht, und unser wirklicher Name ist d’Urberville! . . . Schwillt dir da nicht dein Herz vor Stolz? Deswegen ist dein Vater in dem Mietwagen nach Hause gefahren, nicht weil er getrunken hatte, wie die Leute glauben.«
»Darüber bin ich froh. Wird uns das irgend etwas Gutes bringen, Mutter?«
»O ja! Man nimmt an, daß große Dinge daraus entstehen können. Zweifellos wird eine Menge Leute von unserem eigenen Stand in ihren Kutschen hierherkommen, sobald es bekannt ist. Dein Vater hat es auf seinem Weg von Shaston nach Hause erfahren, und er hat mir die ganze Abstammungsgeschichte erzählt.«
»Und wo ist Vater jetzt?« fragte Tess plötzlich.
Als Antwort darauf berichtete ihr die Mutter etwas ganz anderes: »Er war heute beim Doktor in Shaston. Es scheint, daß es überhaupt keine Schwindsucht ist. Es ist das Herz, das ist umgeben von Fett, sagt er. Das ist so«, sagte Joan Durbeyfield und formte mit ihrem durchweichten Daumen und Zeigefinger den Buchstaben C und benutzte den anderen Zeigefinger als Zeigestock. »Im Augenblick, sagte er zu deinem Vater, ist Ihr Herz hier rundherum davon umschlossen – rundherum; dieses Stück ist noch frei, sagt er. Sobald das aber ganz zusammentrifft« – Mrs. Durbeyfield schloß die Finger zu einem vollständigen Kreis –, »werden Sie verlöschen wie ein Schatten, Mr. Durbeyfield, sagt er. Sie machen vielleicht noch zehn Jahre, sie könnten sich aber auch schon in zehn Monaten davonmachen oder in zehn Tagen.«
Tess machte ein erschrockenes Gesicht. Ihr Vater sollte so bald das Zeitliche segnen, trotz seines plötzlichen hohen Ranges!
»Aber wo ist denn Vater?« fragte sie noch einmal.
Ihre Mutter setzte eine abwehrende Miene auf. »Nun werde nicht gleich ärgerlich! Der arme Mann – er war so aufgerüttelt nach den erhebenden Neuigkeiten von dem Pastor, daß er vor einer halben Stunde zu Rolliver’s raufgegangen ist. Er will doch Kräfte sammeln für seinen Weg morgen mit der Ladung Bienenkörbe, die geliefert werden müssen, Familie hin oder her. Er muß schon kurz nach zwölf heute nacht aufbrechen, weil es so weit weg ist.«
»Kräfte sammeln!« sagte Tess heftig, und Tränen traten ihr in die Augen. »Oh, mein Gott, in ein Wirtshaus gehen, um seine Kräfte zu sammeln! Und du hast ihm auch noch zugestimmt, Mutter!«
Ihr Vorwurf und ihr Zorn schienen den ganzen Raum zu erfüllen und allem – den Möbeln, der Kerze, den herumspielenden Kindern und dem Gesicht ihrer Mutter – ein eingeschüchtertes Aussehen zu verleihen.
»Nein«, sagte die Mutter leicht gekränkt, »ich war gar nicht einverstanden. Ich hab auf dich gewartet, damit du hierbleibst und dich um alles kümmerst, während ich ihn holen gehe.«
»Ich werde gehen.«
»Ach nein, Tess, weißt du, es würde nichts nützen.«
Tess protestierte nicht. Sie wußte, was der Einwand ihrer Mutter bedeutete. Mrs. Durbeyfields Jacke und Haube hingen schon verstohlen auf einem Stuhl an ihrer Seite, bereit für dieses beabsichtigte kleine Vergnügen, dessen Anlaß die Frau mehr beklagte als seine Notwendigkeit.
»Und bring den ›Vollständigen Wahrsager‹ ins Nebengebäude«, fuhr Joan fort, während sie sich rasch die Hände abwischte, die Jacke anzog und die Haube aufsetzte.
Der ›Vollständige Wahrsager‹ war ein altes dickes Buch, das neben ihr auf dem Tisch lag und so abgenutzt war vom Wegstecken, daß die Ränder schon bis zur Schrift abgegriffen waren. Tess nahm es vom Tisch, und ihre Mutter machte sich auf den Weg.
Zum Wirtshaus zu gehen, um ihren hilflosen, trägen Mann dort aufzustöbern, war eines der Vergnügen, die Mrs. Durbeyfield bei all dem Schmutz und Durcheinander des Kinderaufziehens noch geblieben waren. Ihn bei Rolliver’s aufzuspüren, dort für ein, zwei Stunden bei ihm zu sitzen und währenddessen jeden Gedanken an die Kinder und alle Mühen zu vergessen, machte sie glücklich. Eine Art Glorienschein, ein abendliches Leuchten war dann über das Leben gebreitet. Sorgen und andere Realitäten nahmen eine metaphysische Ungreifbarkeit an, wurden zu einem bloßen gedanklichen Phänomen für heitere Betrachtungen und wurden nicht mehr als drückende Last empfunden, die Körper und Seele aufrieb. Die Kinder, nun nicht unmittelbar vor Augen, erschienen eher als strahlendes, wünschenswertes Zubehör denn als etwas anderes. Von dort gesehen entbehrten die Begebenheiten des täglichen Lebens nicht der Komik und der Fröhlichkeit. Sie fühlte sich ein wenig wie zu der Zeit, als sie, während ihr jetziger Ehemann um sie warb, am selben Ort neben ihm saß, ihre Augen vor seinen Charakterfehlern verschloß und ihn allein in seiner idealen Eigenschaft als Liebhaber betrachtete.
Tess, nun allein mit den jüngeren Kindern, ging zuerst mit dem Wahrsagebuch zum Nebengebäude und schob es in das Strohdach. Eine seltsame fetischistische Furcht vor diesem schmierigen Buch hielt ihre Mutter davon ab, es jemals die ganze Nacht im Hause zu behalten, und so wurde es immer wieder zurückgebracht, nachdem sie es zu Rate gezogen hatte. Zwischen der Mutter mit ihrem dem Untergang geweihten Ballast an Aberglauben, Volkstum, Dialekt und mündlich überlieferten Balladen und der Tochter mit ihren in der Volksschule (gemäß einem ständig neu bearbeiteten Gesetz) erworbenen Standardkenntnissen bestand eine Kluft von zweihundert – gewöhnlichen – Jahren. Wenn sie zusammen waren, fand man das jakobäische und das viktorianische Zeitalter Seite an Seite.
Während Tess den Gartenweg zurückging, überlegte sie, was die Mutter wohl gerade an diesem Tag aus dem Buch erfahren wollte. Sie vermutete, daß die kürzliche Entdeckung über ihre Vorfahren damit zu tun haben könnte, aber sie ahnte nicht, daß es allein sie selbst betraf. Sie dachte jedoch nicht weiter darüber nach und besprengte nun zusammen mit ihrem neunjährigen Bruder Abraham und ihrer zwölfeinhalbjährigen Schwester Eliza-Louisa, genannt Liza-Lu, die Wäsche, die während des Tages getrocknet war, während die Jüngsten schon zu Bett gebracht waren. Zwischen Tess und dem nächsten Familienmitglied war ein Abstand von mehr als vier Jahren, denn die beiden Kinder, die diese Lücke ausgefüllt hatten, waren im frühen Kindesalter gestorben – und dies machte sie zur mütterlichen Stellvertreterin, wenn sie mit ihren jüngeren Geschwistern allein war. Nach Abraham kamen dann zwei weitere Mädchen, Hope und Modesty, dann ein Junge von drei Jahren und schließlich das Kleinste, das gerade erst ein Jahr alt geworden war.
Alle diese jungen Seelen waren Passagiere auf dem Schiff der Durbeyfields – in ihren Freuden, den notwendigen Dingen des Lebens, in ihrer Gesundheit, ja selbst in ihrer Existenz ganz und gar angewiesen auf das Urteilsvermögen der beiden erwachsenen Durbeyfields. Wenn es den Oberhäuptern des Durbeyfieldschen Haushalts beliebte, in Schwierigkeiten, Verderben, Hunger, Krankheit, Erniedrigung oder Tod zu segeln, war ein halbes Dutzend kleine Gefangene unter ihrem Dach gezwungen mitzusegeln – sechs hilflose Geschöpfe, die niemals gefragt worden waren, ob sie überhaupt ins Leben treten wollten, viel weniger, ob sie das auch unter so harten Bedingungen tun wollten, wie ihre Zugehörigkeit zu dem unzulänglichen Durbeyfieldschen Haus sie mit sich brachte. Einige Leute würden gern wissen, woher der Dichter, dessen Philosophie in diesen Tagen als so tiefgründig und vertrauenswürdig betrachtet wird, wie sein Lied frisch und rein ist, die Befugnis hernimmt, von dem »heiligen Plan der Natur« zu sprechen.
Es wurde immer später, und weder Vater noch Mutter erschienen. Tess sah zur Tür hinaus und ging in Gedanken durch Marlott. Das Dorf schloß die Augen. Überall wurden die Kerzen und Lampen ausgelöscht; sie konnte im Geiste die Löschhütchen und die ausgestreckten Hände erblicken.
Das Abholen durch ihre Mutter hatte nur zur Folge, daß noch einer mehr zu holen war. Tess meinte schließlich, daß ein nicht besonders gesunder Mann, der beabsichtigte, sich noch vor ein Uhr am Morgen auf den Weg zu machen, zu dieser späten Stunde nicht in einem Wirtshaus sein und seine altehrwürdige Herkunft feiern sollte.
»Abraham«, sagte sie zu ihrem kleinen Bruder, »setz dir doch deinen Hut auf – du hast doch keine Angst? – und geh rauf zu Rolliver’s und sieh nach, was mit Vater und Mutter ist.«
Der Junge sprang sofort auf, ging hinaus, und bald hatte ihn die Dunkelheit verschluckt. Und wieder verging eine halbe Stunde, und weder Mann noch Frau noch das Kind kamen zurück. Abraham schien, wie seine Eltern, von dem verführerischen Wirtshaus umgarnt und gefangen.
»Ich muß selbst gehen«, sagte sie.
Liza-Lu ging dann zu Bett, Tess schloß alle ein und machte sich auf den Weg – die gewundene, dunkle Gasse oder Straße entlang, die nicht für einen eiligen Schritt gemacht war, eine Straße, die angelegt wurde, bevor jeder Zoll Land von Wert war und als Uhren mit nur einem Zeiger den Tag genügend unterteilten.
Rollivers Wirtshaus, die einzige Schenke an diesem Ende des langen, unzusammenhängenden Dorfes, konnte sich lediglich des Rechts rühmen, geistige Getränke außer Haus zu verkaufen; daher war die Zahl für die offenkundige Aufnahme von Kunden streng begrenzt auf ein kleines, sechs Zoll breites und zwei Yard langes Brett, das mit Draht an den Gartenpfählen befestigt war, so daß es einen Sims bildete. Auf dieses Brett stellten durstige Fremde ihre Becher, während sie auf der Straße standen und tranken, nach polynesischem Vorbild ihren Abfall auf den staubigen Boden warfen und wünschten, sie könnten drinnen einen bequemen Platz bekommen.
So die Fremden. Doch es gab auch ansässige Kunden, die den gleichen Wunsch hatten; und wo ein Wille ist, ist auch ein Weg.
In einem geräumigen Schlafzimmer im oberen Stockwerk, dessen Fenster mit einem großen, von der Wirtin, Mrs. Rolliver, abgelegten Wolltuch dick verhängt war, hatten sich an diesem Abend fast ein Dutzend Personen versammelt, die alle ein wenig Glückseligkeit suchten – alles alte Einwohner des näheren Teiles von Marlott und häufige Besucher dieses Schlupfwinkels. Die Annehmlichkeiten des Reinen Tropfens, der voll konzessionierten Schenke am entfernteren Ende des weitläufigen Dorfes, war den Bewohnern dieses Teiles nicht nur praktisch unerreichbar, sondern die weit ernstere Frage, die der Qualität der geistigen Getränke, wurde durch die vorherrschende Meinung entschieden, daß es besser sei, bei Rolliver in einer Ecke unter dem Giebeldach zu trinken als bei dem anderen Wirt in einem großen Haus.
Eine ärmliche zweischläfrige Bettstatt, die in dem Zimmer stand, bot Sitzplätze für mehrere Personen, die an drei seiner Seiten zusammensaßen; ein paar weitere Männer hatten sich auf eine Kommode gehievt; andere ruhten auf einer aus Eichenholz geschnitzten Truhe, zwei auf dem Waschtisch und ein weiterer auf dem Hocker; und so hatten sie es sich alle irgendwie bequem gemacht. Ihr inneres Wohlbefinden war zu dieser Stunde so weit gediehen, daß ihre Seelen über die Grenzen des Körpers hinauswuchsen und sich warm im Raum verströmten. Bei diesem Vorgang bekamen die Kammer und ihr Mobiliar einen immer würdigeren und luxuriöseren Anschein; das Tuch, das am Fenster hing, wurde zu einem prachtvollen Gobelin, die Messinggriffe der Kommode wirkten wie goldene Türklopfer, und die geschnitzten Bettpfosten schienen einige Verwandtschaft mit den Säulen von Salomons Tempel zu haben.
Nachdem sich Mrs. Durbeyfield von Tess getrennt hatte und raschen Schrittes hierhergekommen war, öffnete sie die Eingangstür, durchquerte den Raum im Erdgeschoß, der in tiefer Dunkelheit lag; dann öffnete sie die Tür zur Treppe wie jemand, der sehr gut mit dem Schnappschloß Bescheid wußte. Die gewundene Treppe stieg sie dann langsamer hinauf, und als ihr Gesicht nach der letzten Stufe ins Licht emportauchte, begegnete ihr der Blick der ganzen in dem Schlafzimmer versammelten Gesellschaft.
». . . sind ein paar persönliche Freunde, die ich hereingebeten habe, um auf meine Kosten den Tag des Vereinsumzugs noch ein bißchen zu feiern«, rief die Wirtin, als sie die Schritte hörte – so zungenfertig wie ein Kind, das den Katechismus aufsagt –, während sie auf die Treppe hinaussah. »Ach, Sie sind’s, Mrs. Durbeyfield – Gott, wie Sie mich erschreckt haben! – Ich dachte schon, es wäre einer von den Oberen, den die Behörden geschickt haben.«
Mrs. Durbeyfield wurde von den übrigen Mitgliedern des Konklaves mit kurzen Blicken und Kopfnicken begrüßt, und sie ging zu ihrem Mann. Der summte mit leiser Stimme geistesabwesend vor sich hin: »Ich bin allemal so gut wie gewisse Leute hier und anderswo! Ich hab eine große Familiengruft in Kingsbere-sub-Greenhill und vornehmere Skelette als irgendeiner hier in Wessex!«
»Ich hab dir was zu erzählen, was mir deswegen eingefallen ist – ein großartiger Plan!« flüsterte seine gutgelaunte Frau. »Hier, John, siehst du mich nicht?« Sie stieß ihn an, während er durch sie hindurchsah wie durch ein Fenster und in seinem Rezitativ fortfuhr.
»Still! Singen Sie nicht so laut, mein Guter«, sagte die Wirtin, »nicht daß einer von der Behörde vorbeigeht und mir dann meine Lizenz wegnimmt.«
»Er hat Ihnen wohl erzählt, was sich bei uns ereignet hat, nehme ich an?« fragte Mrs. Durbeyfield.
»Ja, so ungefähr. Glauben Sie, daß da Geld bei rauskommt?«
»Ah, das ist das Geheimnis«, sagte Joan Durbeyfield feierlich. »Aber es ist gut, verwandt mit einer Kutsche zu sein, auch wenn man nicht darin fährt.« Sie senkte ihre Stimme, nun nur an ihren Mann gewandt, und fuhr leise fort: »Ich hab die ganze Zeit, seit du die Neuigkeiten mitgebracht hast, daran gedacht, daß es da eine reiche Dame von Stand gibt, hinten bei Trantridge, kurz vor dem Waldland The Chase, deren Name d’Urberville ist.«
»He – was sagst du da?« sagte Sir John.
Sie wiederholte diese Kunde. »Diese Dame muß unsere Verwandte sein«, sagte sie. »Und mein Plan ist, Tess hinzuschicken, um unsere Verwandtschaft mit ihr geltend zu machen.«
»Ja – wo du das sagst –, da gibt’s eine Dame mit diesem Namen«, sagte Durbeyfield. »Daran hat Pastor Tringham nicht gedacht. Aber sie ist nichts gegen uns – ein jüngerer Zweig von uns, ohne Zweifel – wo wir schon aus König Normanns Tagen herstammen.«
Da sie beide von der Erörterung dieser Frage völlig beansprucht waren, bemerkte keiner der beiden, daß der kleine Abraham in das Zimmer geschlichen war und auf eine Gelegenheit wartete, ihnen zu sagen, daß sie nach Hause kommen sollten.
»Sie ist reich, und sie wird dem Mädchen bestimmt Aufmerksamkeit schenken«, fuhr Mrs. Durbeyfield fort; »das wird eine sehr gute Sache sein. Ich seh nicht ein, warum zwei Zweige einer Familie einander nicht besuchen sollten.«
»Ja, und wir sagen ihr, daß wir alle ihre Verwandten sind!« sagte Abraham strahlend unter dem Bett her. »Und wir gehen sie dann alle besuchen, wenn Tess hingegangen ist und bei ihr lebt; und dann fahren wir in ihrer Kutsche und tragen schwarze Sachen!«
»Wie kommst du denn hierher, Kind? Was redest du für einen Unsinn! Geh weg und spiel auf der Treppe, bis Vater und Mutter fertig sind! . . . Also, Tess sollte zu diesem anderen Mitglied unserer Familie gehen. Bestimmt gewinnt sie die Dame für sich – Tess kann das; und sehr wahrscheinlich wird es dazu führen, daß ein adliger Herr sie heiratet. Kurzum, ich weiß es.«
»Wie?«
»Ich habe ihr Schicksal im Wahrsager nachgesehen, und genau das kam heraus!! . . . Du hättest sehen sollen, wie hübsch sie heute aussah; ihre Haut ist geschmeidig wie die einer Herzogin.«
»Und was sagt das Mädel selbst dazu?«
»Ich hab sie nicht gefragt. Sie weiß ja noch gar nicht, daß es eine solche verwandte Dame gibt. Aber bestimmt würde ihr das die Möglichkeit geben, eine großartige Partie zu machen, und da wird sie schon hingehen und nicht nein sagen.«
»Tess ist eigen.«
»Aber im Grunde ist sie fügsam. Überlaß sie nur mir.«
Obgleich sie dieses Gespräch unter sich geführt hatten, war doch genügend von seiner Bedeutung zu den Umsitzenden gedrungen, um ihnen zu sagen, daß die Durbeyfields nun gewichtigere Dinge zu besprechen hatten als das gewöhnliche Volk, und daß auf Tess, ihre hübsche älteste Tochter, wunderbare Dinge warteten.
»Tess ist ein Bild von einem Mädchen, wie ich heute zu mir selbst sagte, als ich sie mit den anderen um die Gemeinde marschieren sah«, bemerkte einer der älteren Trinker mit gedämpfter Stimme. »Aber Joan Durbeyfield muß aufpassen, daß sie nachher kein Grünmalz auf der Tenne hat.« Das war eine lokale Redensart, die eine besondere Bedeutung hatte, und es wurde nichts darauf erwidert.
Die Unterhaltung wurde allgemein, und bald hörte man erneut Schritte, die den unteren Raum durchquerten.
». . . sind ein paar persönliche Freunde, die ich heute abend eingeladen habe, um auf meine Kosten noch ein wenig den Tag des Vereinsumzugs zu feiern.« Die Wirtin hatte rasch wieder ihre übliche Formel hergesagt, die sie für Eindringlinge bereithielt, bevor sie erkannte, daß Tess der Neuankömmling war.
Selbst den Blicken der Mutter entging nicht, daß das junge Gesicht der Tochter sehr fehl am Platze war inmitten der alkoholischen Dünste, die hier, den Runzeln mittleren Alters durchaus angemessen, durch den Raum zogen; und es war kaum ein kurzer vorwurfsvoller Blick aus Tess’ dunklen Augen vonnöten, um ihren Vater und ihre Mutter zu bewegen, sich von ihren Plätzen zu erheben, eilig ihr Ale auszutrinken und hinter ihr die Treppe hinunterzugehen, während Mrs. Rolliver ängstlich auf ihre Schritte lauschte.
»Keinen Lärm machen, wenn Sie so gut sein wollen, meine Lieben, sonst könnte ich meine Lizenz verlieren und vorgeladen werden, und ich weiß nicht, was noch alles! Gute Nacht.«
Indem Tess den Vater auf der einen, Mrs. Durbeyfield ihn auf der anderen Seite unterfaßte, gingen sie zusammen nach Hause. Er hatte, um die Wahrheit zu sagen, sehr wenig getrunken – nicht den vierten Teil der Menge, die ein regelmäßiger Trinker an einem Sonntagnachmittag mit zur Kirche bringen kann, ohne daß seine Verneigungen vor dem Altar oder seine Kniefälle gelitten hätten; aber die schwache Konstitution Sir Johns machte gleich Berge aus seinen kleinen Sünden dieser Art. Als sie an die frische Luft kamen, schwankte er so sehr, daß er der Dreierreihe in einem Augenblick eine Neigung gab, als marschierten sie nach London, und in einem anderen, als marschierten sie nach Bath – was eine komische Wirkung hervorrief, wie es ziemlich häufig vorkommt, wenn Familien zu nächtlicher Stunde heimgehen; und wie die meisten komischen Wirkungen, sind sie schließlich gar nicht so sehr komisch. Die beiden Frauen verbargen tapfer und so gut sie es vermochten diese gezwungenen Abschweifungen und Kehrtwendungen vor Durbeyfield, ihrem Verursacher, und vor Abraham und vor sich selbst; auf diese Weise näherten sie sich nach und nach ihrer eigenen Tür, während das Haupt der Familie plötzlich wieder in seinen vorherigen Refrain verfiel, als wollte er seine Seele stärken beim Anblick der Kleinheit seines derzeitigen Wohnsitzes:
»Ich hab eine Fami-liengruft in Kingsbere!«
»Still – sei nicht so albern, Jacky«, sagte seine Frau. »Deine ist nicht die einzige Familie, die in alten Tagen von Bedeutung war. Sieh dir die Anktells und die Horseys und die Tringhams selber an – die fast ebenso wie deine niedergegangen sind –, wenn ihr auch bedeutender wart als sie, das ist richtig. Gott sei Dank, ich komme aus keiner solchen Familie und hab in der Hinsicht nichts, weshalb ich mich schämen müßte!«
»Da sei mal nicht so sicher. Deinem Charakter nach habt ihr euch, wie ich glaube, mehr als einer von uns in Ungnade gebracht und wart mal wirkliche Könige und Königinnen.«
Tess wechselte das Thema, indem sie etwas sagte, was sie im Augenblick weit mehr beschäftigte als der Gedanke an ihre Vorfahren.
»Ich fürchte, Vater wird nicht imstande sein, sich morgen so früh mit den Bienenkörben auf den Weg zu machen.«
»Ich? Ich werde in ein paar Stunden ganz in Ordnung sein«, sagte Durbeyfield.
Es war elf Uhr, bis die ganze Familie im Bett war, und zwei Uhr am nächsten Morgen war die späteste Stunde, um mit den Bienenkörben aufzubrechen, wenn sie in Casterbridge noch vor dem Markt am Sonnabend an die Kleinhändler geliefert werden sollten, denn der Weg dorthin mit seinen schlechten Straßen war zwanzig bis dreißig Meilen weit, und Pferd und Wagen waren äußerst langsam.
»Der arme Mann kann nicht fahren«, sagte Mrs. Durbeyfield zu ihrer ältesten Tochter, die ihre großen Augen in dem Moment aufschlug, als die Hand ihrer Mutter die Tür berührte.
Tess setzte sich im Bett auf, noch verloren in einem unbestimmten Zustand zwischen einem Traum und dieser Mitteilung.
»Aber jemand muß fahren«, erwiderte sie. »Es ist schon jetzt spät für die Körbe. Mit dem Ausschwärmen wird es für dieses Jahr bald vorbei sein; und wenn wir es aufschieben und sie erst in der nächsten Woche zum Markt bringen, wird die Nachfrage nach den Körben vorbei sein, und sie werden uns liegenbleiben.«
Mrs. Durbeyfield war diesem Notfall offensichtlich nicht gewachsen. »Vielleicht könnte irgendein junger Bursche fahren? Einer von denen, die gestern so scharf darauf waren, mit dir zu tanzen«, schlug sie gleich darauf vor.
»O nein – das möchte ich um alles in der Welt nicht!« erklärte Tess stolz. »Damit alle den Grund erfahren – einer solchen Sache, deren man sich schämen muß! Ich denke, ich könnte selbst fahren, wenn Abraham mit mir kommt und mir Gesellschaft leistet.«
Ihre Mutter war mit dieser Lösung schließlich einverstanden. Der kleine Abraham wurde aus seinem tiefen Schlaf, in einer Ecke des gleichen Zimmers, geweckt und dazu gebracht, sich anzuziehen, während er noch in einer anderen Welt befangen war. Inzwischen hatte sich Tess eilig angekleidet; die beiden zündeten eine Laterne an und gingen hinaus zum Stall. Der klapprige kleine Wagen war bereits beladen, und das Mädchen führte das Prinz genannte Pferd hinaus, das nur ein wenig klappriger war als das Fahrzeug.
Die arme Kreatur blickte verwundert hinaus in die Dunkelheit, auf die Laterne, auf die beiden Gestalten, als könne sie nicht glauben, daß sie zu dieser Stunde, da doch alle Lebewesen in ihrer Herberge sein und ruhen sollten, aufgefordert wurde, hinauszugehen und zu arbeiten. Sie steckten einen Vorrat von Kerzenstücken in die Laterne, hängten sie an die Außenseite der Ladung und ließen das Pferd anziehen, während sie selbst zuerst, als es den Hügel hinaufging, neben ihm herliefen, um das Tier, das so wenig Lebenskraft besaß, nicht zu überlasten. Um sich so gut wie möglich aufzuheitern, schufen sie sich mit der Laterne und einigen Butterbroten und ihrer eigenen Unterhaltung einen künstlichen Morgen, denn der wirkliche Morgen würde noch lange nicht kommen. Abraham, der nun erst richtig wach war (denn er hatte sich bis dahin in einer Art Trance bewegt), begann über die seltsamen Formen zu sprechen, die die verschiedenen dunklen Gegenstände gegen den Himmel angenommen hatten – über diesen Baum, der wie ein wütender Tiger aussehe, der aus seiner Höhle springt, und jenen, der dem Kopf eines Riesen gleiche.
Als sie die kleine Stadt Stourcastle passiert hatten, die in stummer Schlaftrunkenheit unter ihren dicken braunen Strohdächern ruhte, kamen sie zu einem höheren Gelände. Und noch höher stieg zu ihrer Linken der Bulbarrow oder Bealbarrow genannte Hügel, fast der höchste in Südwessex, in den Himmel, umgürtet von seinen Erdwällen und -gräben. Von hier aus führte die lange Straße ganz allmählich und über eine große Strecke bergab. Sie stiegen vorn auf den Wagen, und Abraham wurde nachdenklich.
»Tess!« sagte er nach längerem Schweigen in fragendem Ton.
»Ja, Abraham.«
»Bist du nicht froh, daß wir vornehme Leute geworden sind?«
»Nicht besonders.«
»Aber du freust dich, daß du einen Gentleman heiraten wirst?«
»Was?« sagte Tess und sah ihn an.
»Daß unsere vornehmen Verwandten dir helfen werden, einen Gentleman zu heiraten?«
»Mir? Unsere vornehmen Verwandten? Wir haben keine solchen Verwandten. Wie bist du denn darauf gekommen?«
»Ich hab sie bei Rolliver darüber reden hören, als ich Vater suchen gegangen bin. Es gibt eine reiche Dame aus unserer Familie in Trantridge, und Mutter hat gesagt, wenn du bei der Dame unsere Verwandtschaft mit ihr geltend machst, würde sie dir helfen, einen Gentleman zu heiraten.«
Seine Schwester wurde plötzlich still und verfiel in nachdenkliches Schweigen. Abraham redete weiter, mehr aus Vergnügen, sich zu äußern, als um Gehör zu bekommen, so daß die Geistesabwesenheit seiner Schwester keine Rolle spielte. Er lehnte sich an die Bienenkörbe, und mit dem Blick zum Himmel machte er Bemerkungen über die Sterne, deren kalte Pulse inmitten der schwarzen Hohlräume dort droben schlugen, heiter und unbeteiligt über diesen beiden schmächtigen Bündeln menschlichen Lebens. Er fragte, wie weit diese funkelnden Sterne weg seien und ob Gott auf der anderen Seite von ihnen sei. Aber hin und wieder kam sein kindliches Geplapper darauf zurück, was seine Phantasie noch stärker beschäftigte als alle Wunder der Schöpfung. Wenn Tess reich würde, wenn sie einen Gentleman heiratete, ob sie dann wohl genug Geld haben würde, um ein Fernglas zu kaufen, das groß genug wäre, ihr die Sterne so nahe zu bringen wie Nettlecombe-Tout?
Dieses neuerlich hervorgeholte Thema, von dem die ganze Familie durchdrungen schien, ließ Tess ärgerlich werden.
»Laß das doch jetzt!« rief sie aus.
»Hast du gesagt, die Sterne wären auch Welten, Tess?«
»Ja.«
»Alle so wie unsere?«
»Ich weiß es nicht, aber ich glaube schon. Manchmal erscheinen sie wie Äpfel von unserem Kochapfelbaum. Die meisten davon prächtig und gesund – ein paar verdorben.«
»Auf welchem leben wir – auf einem prächtigen oder einem verdorbenen?«
»Auf einem verdorbenen.«
»Das ist aber großes Pech, daß wir uns keinen gesunden ausgesucht haben, wo es doch davon so viel mehr gibt!«
»Ja.«
»Ist es denn wirklich so, Tess?« sagte Abraham, während er sich, ganz durchdrungen von dieser außergewöhnlichen Kunde, an sie wandte. »Wie wäre es denn gewesen, wenn wir uns einen gesunden ausgesucht hätten?«
»Na ja, Vater hätte nicht so viel gehustet und wäre nicht so umhergeschlichen, wie es der Fall ist, und er wäre nicht zu wackelig auf den Beinen gewesen, um diese Fahrt machen zu können, und Mutter müßte nicht immerzu waschen, ohne jemals fertig zu werden.«
»Und du wärst eine schon fertige reiche Dame und müßtest nicht erst einen Gentleman heiraten, um reich gemacht zu werden?«
»O Aby, hör auf – sprich bitte nicht mehr davon.«
Mit seinen Gedanken allein gelassen, wurde Abraham bald schläfrig. Tess war nicht geübt im Umgang mit einem Pferd, aber sie meinte, sie könne für den Augenblick die ganze Führung der Ladung allein übernehmen und Abraham ruhig schlafen lassen, wenn er es wollte. Sie machte ihm vor den Bienenkörben eine Art Nest, so daß er nicht herunterfallen konnte, nahm dann die Zügel in ihre Hände, und sie trotteten weiter wie zuvor.
Prinz benötigte nur wenig Aufmerksamkeit, da es ihm ohnehin an Energie für überflüssige Bewegungen jeder Art mangelte. Da sie nun kein Gefährte mehr ablenkte, verfiel Tess, während sie mit dem Rücken an die Bienenkörbe gelehnt dasaß, tiefer ins Träumen als je zuvor. Die stumme Prozession von Bäumen und Hecken, die an ihr vorbeizog, verband sich mit phantastischen Szenen außerhalb jeder Realität, und das gelegentliche Anschwellen des Windes wurde zum Seufzer einer unermeßlichen traurigen Seele, die eins war mit dem Universum in Raum und Zeit.
Und als sie dann das Netz von Ereignissen in ihrem eigenen Leben prüfte, schien sie zu erkennen, wie nichtig der Stolz ihres Vaters war, sie schien den vornehmen Freier zu sehen, der sie in der Vorstellung ihrer Mutter erwartete, sah ihn als eine Grimassen schneidende Person, die über ihre Armut und ihre Familiengruft ritterlicher Ahnen lachte. Alles nahm immer ausschweifendere Formen an, und sie wußte nicht mehr, wie die Zeit verging. Ein plötzlicher Ruck rüttelte sie auf ihrem Sitz auf, und Tess erwachte aus dem Schlaf, in den auch sie gesunken war.