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Sie wusste nie, wer sie war. Das war ihr Geheimnis. Avocadotoast zum Frühstück, Coworking im Lieblingscafé, abends zum Pilates in Hannovers Szenestadtteil Linden: Tess Raabe ist ein That Girl, schön, erfolgreich, glücklich, und all das hält sie in ihren Vlogs fest, die sie auf ihrem erfolgreichen Social-Media-Account teilt. In ihrem Buch DATE ME schreibt sie über Tinderdates, sie tritt für die richtigen Werte ein, predigt Selbstliebe – und alle kaufen es ihr ab, schließlich ist Tess authentisch und nahbar. Doch der Schein trügt, und das fällt Tess besonders dann auf, als sie Leo kennenlernt. Leo, der ihr den Kopf verdreht, Leo, mit dem sie so viel Spaß hat, Leo, der sich nicht entscheiden kann. Er wirft alles über den Haufen, was Tess zu sein vorgibt, und so muss sie sich am Ende die Frage stellen: Wer ist sie eigentlich wirklich, und welche Rolle spielt da die Liebe?
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Seitenzahl: 292
Originalausgabe
© 2024 by HarperCollins in der
Verlagsgruppe HarperCollins Deutschland GmbH, Hamburg
Covergestaltung von Lübbeke Naumann Thoben, Köln
Coverabbildung von Barbara Hoogeweegen / Bridgeman Images; Ellie Burgin/Pexels, Natanja Grün/Unsplash
E-Book-Produktion von GGP Media GmbH, Pößneck
ISBN E-Book 9783749906628
www.harpercollins.de
Für alle, die ihrer besten Freundin versichert haben, dieser Typ auf Tinder könne diesmal wirklich der Eine sein
Für alle beste Freundinnen, die zwei Wochen später ihrer besten Freundin versichern, dass er es sowieso nie wert war
Sie wusste nie, wer sie war. Das war ihr Geheimnis.
Die Tage, an denen ich traurig war, waren vorbei.
Die, an denen ich wütend war, hatten gerade erst begonnen.
An ihrem Geburtstag. Ausgerechnet an Dahlias verfluchtem Geburtstag trennte er sich von mir.
»Du bist toll«, sagte er. »Ernsthaft. Bei mir ist einfach zu viel los mit der Diss und allem.«
Meine Finger krampften sich um die Tasse Tee, die er mir angeboten hatte. Kurkuma, biozertifiziert, mit einer Prise Zimt von ihm verfeinert. Der Duft stieg mir in die Nase, während ich lächelte. Mit der Diss und allem. Was für eine beschissene Ausrede. Während wir in den letzten Monaten fast täglich gevögelt hatten, war ihm seine Dissertation nie in den Sinn gekommen. Vielleicht war sie ihm genauso plötzlich eingefallen, wie ihm die Erkenntnis gekommen war, dass er kein Interesse mehr an mir hatte.
Dabei waren wir natürlich nie wirklich in einer Beziehung gewesen. Wir hatten immer nur geschaut. Wir hatten uns getroffen und Sex gehabt, uns geschrieben und zwischen all den Smileys und Herzchen unendlich viel verschwiegen. Ich hatte ihn nie wirklich geliebt, er hatte mich nie wirklich gewollt. Im Grunde beherrschten wir beide die Regeln des allgegenwärtigen Spiels um die Liebe von Anfang an perfekt.
Ich nannte es: Mir ist das zwischen uns nicht egal, aber es ist mir immer egaler als dir.
Das Lustigste? Bekannte betitelten mein Singleleben als aufregend. Auf Dinnerpartys war ich ungewollt das Zentrum der Aufmerksamkeit, weil die flüchtigen Bekanntschaften mir an den Lippen hingen, wenn sie an ihren Rosés nippten. Als wäre ich Kino. Nur echter. Sie stellten sich mein Leben voller hitziger Begegnungen vor, mit verbotenen und vergebenen Männern, voller Affären mit heißen Dozenten und hypnotisierenden Fremden. Meine Freundinnen steckten in jahrelangen Beziehungen, begnügten sich mit nicht zusammenpassender Bettwäsche und Mundgeruch am Morgen. Sie malten sich meine Wochenenden glamourös aus, inklusive Glitzerröcken von Zara, die ich nachhaltig auf Vinted ergatterte, und schweineteurem Moscato, den ich nie selbst bezahlte. Sie hatten keinen Schimmer davon, dass das Leben eines fünfundzwanzigjährigen Singles daraus bestand, Tinder frustriert zu löschen und in schwachen Momenten wieder zu installieren. Dass die meisten Bekanntschaften so endeten wie meine mit Juli. Dass Letztere sich irgendwo zwischen Sex und ernsthaftem Kennenlernen verrannten, um sich dann in ein diffuses Etwas zu verwandeln.
»Ich kriege es gerade einfach nicht«, sagte Juli mir jetzt gespielt zerknirscht und zählte mir Pseudogründe für seinen Stresspegel auf: das Schreiben, der Nebenjob, das angespannte Verhältnis zu seinem Vater. Im Grunde erklärte er mir, dass er seine Wohnung zwar nach Marie Kondo ausgemistet hatte, der Platz in seinem Leben allerdings weiterhin fehlte. Natürlich beteuerte er gleich darauf, was für ein toller Mensch ich sei, dass wir in Kontakt bleiben müssten und ich ihm immer schreiben könne. Kurz: Er fuhr das volle Programm auf, damit sein Verhalten hinterher bloß nicht als toxisch deklariert werden konnte. Am meisten erschreckte mich, in welch einer Ruhe die nächsten Minuten verstrichen. Juli redete so entspannt, als läse er das Skript einer Rolle vor. Ich saß da und nickte, als gingen mich seine Worte rein gar nichts an.
Vielleicht war es uns beiden doch immer gleich egal gewesen.
»Die Zeit mit dir war wirklich schön«, vollendete er. »Danke dafür. Und auch für deine offene Kommunikation. Das hat mich echt beeindruckt. Behalte das auf jeden Fall bei.«
Ich unterdrückte ein Schnauben. Fast hätte ich ihn gefragt, ob ich ihn damit auf meinem Datingprofil zitieren dürfe. Für Fragen und Erfahrungsberichte wenden Sie sich bitte an Julian C. Reuter. Doch auch das verkniff ich mir. Ich wollte einen klaren Schnitt. Keine Narben, nichts, das blieb.
Ich wollte einfach nur gehen.
Wie schön, dass Julian mich ausgerechnet dann endlich zu seiner Tür begleitete. Natürlich nonchalant, bevor er sie für mich aufzog. Juli, der moderne Gentleman mit dem Dreitagebart und den aufgepumpten Muskeln.
»Lass uns bald noch mal schreiben, ja?«
Ich stimmte freundlich zu, ehe ich die Treppen nach unten flog. Dabei drehte ich mich nicht um. Kein einziges Mal, obwohl ich mich draußen fragte, ob Juli mir vielleicht doch hinterhersah. In seinem Adidas-Trainingsanzug könnte er sich gerade aus dem Fenster lehnen, die selbst gedrehte Kippe zwischen die Finger geklemmt. Er würde an ihr ziehen, seine ausgeprägten Wangenknochen dabei betonen und zwei Wochen später einer anderen Frau weismachen, er wisse gar nicht, dass er derart schön sei. »Was juckt mich mein Aussehen, ich bin nicht oberflächlich«, hatte er ständig beharrt. Vielleicht würde er diese Aussage in seinem Datingprofil in der Kategorie Über mich ergänzen. Allerdings wäre ihm das bestimmt zu simpel, mindestens drei Metaebenen unter seinem Niveau. Juli war Kulturwissenschaftler, rezitierte Gedichte von Plath und hatte eine Schwäche für Diskussionen jeglicher Art. Hauptsache anecken, Hauptsache für etwas stehen. Auf unserem ersten Date hatte er mir verraten, dass er die Männerpille nehmen würde, wenn er könnte. Kurz bevor er sich in Rage geredet und aufgezählt hatte, was ihn am allgegenwärtigen Sexismus aufrege. Ohne mich eine einzige Sekunde zu Wort kommen zu lassen.
Jetzt wartete ich an einer roten Ampel, steckte mir Kopfhörer in die Ohren und durchschaute plötzlich alles.
Ich würde sie nehmen, wenn ich könnte.
Das war der klassische Konjunktiv. Nicht mehr als eine trügerische Tagträumerei. Juli sahnte männliche Pluspunkte mit Behauptungen ab, die er nie beweisen müsste. Vielleicht reflektierte er das ja, wenn er das nächste Mal neunzig Kilo Brustdrücken packte und hinterher achtunddreißig identische Selfies mit angespanntem Bizeps knipste.
Die Ampel sprang auf Grün, während mir der Wind die heiße Augustluft ins Gesicht blies. Cora schickte mir ein Bild von ihrem Kleid, das sie sich für unseren Clubbesuch heute Abend ausgesucht hatte. Im Café gegenüber nippten Gäste an hippen hausgemachten Eiskaffees in Einmachgläsern. Weiter vorn leuchtete der VW-Turm, blau und weiß.
Alles schien grenzenlos.
Wenn das stimmte, könnte es dann möglich sein, einen Mann auf dem Nachhauseweg zu vergessen?
Instinktiv beschwor ich die Bilder unseres ersten Dates in meinem Kopf herauf. Wir vor zwei Schüsseln Penne Pomodoro, wie wir uns noch am Tisch zum ersten Mal geküsst hatten und meine Haarsträhnen dabei in der Soße ertranken. Löschen, wies ich mein Hirn an. »Ich glaube, das könnte dieses Mal echt was werden« fünf Stunden später vor meiner Haustür. Löschen. Zum ersten Mal leidenschaftlich von ihm gegen seine Wohnungstür gedrückt werden, weil »Gott, was machst du nur mit mir«. Löschen. Das Gedicht, das er mir schrieb, als wir uns genau vier Wochen kannten: »Ich tu mich so schwer mit diesem Gedicht / für dich / wenn ich doch eigentlich nur / weiß, wie ich dich / richtig gut ficke.« Löschen. Diese Nacht in seinem Bett, wir beide bekleidet, ich auf den Knien, er über mir, sein Griff in die Jeanstasche, während …
Florence Welch sang, dass ihr eigentlich noch nie etwas Schlechtes passiert sei, als meine Beine mitten auf der Straße zu zittern begannen.
Löschen, dachte ich, weil das Bild gestochen scharf vor meinem inneren Auge aufleuchtete.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.LÖSCHEN.
Aber mein Gehirn löschte es nicht.
Drei Fragezeichen hatte er geschickt und »Ich weiß nicht, was du meinst« als Sprachnachricht hinterlassen.
Bebend verharrte mein Finger über der Memo, während ich die Lippen aufeinanderpresste. Draußen wummerte der Bass irgendeines Remix von 2015, bei dem alle abgingen. Der Boden vibrierte, doch es berührte mich nicht. Ich ließ die Nachricht erneut abspielen.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Zwei Sekunden, fünf Wörter. Heiße Wut schoss mir in den Brustkorb, sie infiltrierte mich und mein Herz. Ich hatte mich in einer Clubtoilette verbarrikadiert, um mir Julis Nachricht anzuhören. Über sieben Stunden hatte er mich auf eine Antwort warten lassen. Und dann war es ein jämmerliches Ich weiß nicht, was du meinst. Kopfschüttelnd betätigte ich den Playbutton erneut.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Noch mal.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Noch mal. Nochmalnochmalnochmal.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Er log. Kackdreist tischte Juli mir eine Ausrede auf. Ich schluckte sie nicht. Nein, das konnte er vergessen, das machte ich nicht mehr, denn als er mir an diesem Abend seinen Schwanz zwischen die Lippen gerammt und ungefragt ein Foto davon geschossen hatte, hatte ich genau das getan: geschluckt und dann geschwiegen. Weil ich nett sein wollte. Cool. Unkompliziert. Nicht dramatisch. Ihn auf gar keinen Fall darauf hinweisen, dass ich das eigentlich gar nicht gewollt hatte, um nicht prüde zu wirken. Aber so verarschten sie uns wohl am besten. Nicht sie hielten uns klein, wir taten es selbst, um zu gefallen.
Dabei hatte ich Juli mit ruhiger und gefasster Stimme darum gebeten, die Aufnahmen zu löschen. Gleich nachdem ich heute Nachmittag nach Hause gekommen war. Gott, ich ärgerte mich so. Wie hatte ich die Fotos vergessen können? Juli, ich. Sein Schwanz, mein Pullover. Sein Daumen an meiner Kehle, meine Lippen um seine Eichel.
Ein letztes Mal ließ ich seine Nachricht laufen.
»Ich weiß nicht, was du meinst.«
Was, wenn er sich einfach nur einen darauf wichste, ganz ohne böse Absichten? Wenn er das Foto lediglich verleugnete, weil er sich schämte? Er als Möchtegernfeminist, der mir Sexismus erklärte und dieses Bild ohne meine Zustimmung geschossen hatte? Allerdings … Was, wenn die Fotos trotzdem im Internet landeten?
Juli wusste, womit ich mein Geld verdiente. Wenn er die Aufnahmen veröffentlichte, zerstörte er damit meine Karriere. Sie würde nicht mit einem PENG! zerbersten, sondern mit einem lautlosen Klick. Wirklich wunderschön, dieses Leben in unserer Noise-Cancelling-Kopfhörerwelt.
Von draußen ertönten klackernde Absätze, während ich den Kopf frustriert in den Nacken warf. Am schlimmsten war, wie ich die Kommentare jetzt schon wie eine Leuchtreklame vor mir sehen konnte. Denn auf Social Media war alles berechenbar. Reaktionen, Likes und Hass.
Wieso hat sie auch nichts gesagt?
Damit muss man als Frau rechnen.
Selbst schuld ist sie.
Wie dumm.
Schlampe.
Sie würden über mich urteilen, meine Lippen, meine Dummheit und Fickbarkeit innerlich benoten. Julis Schwanz würde niemanden interessieren. Ein Penis halt, die malten Fünftklässler in Biobücher, weil es lustig war.
Nur ich wäre am Arsch.
»Wie?«, rief plötzlich eine Frauenstimme hinter der Tür. »Bitte sag mir, wie ich über Manu hinwegkommen soll, wenn OkCupid mir versichert hat, dass wir zu siebenundneunzig Prozent zusammenpassen?«
Die Stimme erhielt eine Antwort, doch ich hörte nicht mehr hin. Entschlossen rappelte ich mich auf und tippte. Kein Komma, kein Smiley, kein Punkt am Ende. So nonchalant wie möglich wollte ich wirken. Ich hatte die trendige Gleichgültigkeitstaktik nämlich immer noch voll drauf. »Ja, ja, ja, ja«, pflichtete ich mir innerlich bei, während ich die Nachricht mit knirschenden Zähnen abschickte.
Das Problem: Ich presste meine Zähne so fest zusammen, dass ich mir bloß selbst wehtat. Mein Kiefer krampfte nämlich, als ich um kurz vor Mitternacht aus der Damentoilette des Clubs stolperte und dabei diese Stimme von weiter weg hörte:
»Hey, Mädchen!«
Ich ignorierte sie, wollte nur zurück zu meiner Freundin Cora, die sich garantiert weiterhin mit ihrer schmierigen Auswahl des Abends auf der Tanzfläche tummelte. Sie ließ sich nämlich ständig von den Typen blenden, auch im Dunkeln. Manchmal diskutierten wir darüber, dass sie mehr aufpassen müsse, auf ihr Herz und Handy, das sie betrunken immer fallen ließ. Aber freundschaftliche Gutmütigkeit kam nicht gegen männliche Bestätigung an.
Das wusste ich.
Doch der Kerl, der mir hinterherrief, war hartnäckig.
»Hallo, wieso hast du es denn so eilig? Warte doch mal!«
Instinktiv spannte ich meine Schultern an. Ein Teil von mir hoffte darauf, dass er gar nicht mich meinte. Allerdings spürte ich genau da eine Hand an meinem Ellbogen.
»Na endlich.«
Der Fremde lachte, während ich mich umdrehte. Ich schätzte ihn jünger als mich. Er hatte blondes Haar und breite Schultern. Vom nahe gelegenen Dancefloor schallte ein weltbekannter Remix, als ich ungeduldig darauf wartete, dass er weiterredete. Die Typen, die mich aus dem Nichts heraus ansprachen und dann innehielten, wollten nämlich immer weiterreden. Dieses Pausieren diente meistens bloß einer Beurteilung meiner Äußerlichkeiten. Ob ich heiß, dünn, begehrenswert genug für sie wäre.
»Sorry, wenn ich dir zu nahe trete«, sagte er, wobei sein Lächeln schiefer wurde. »Aber ist alles okay? Du siehst irgendwie so traurig aus.«
Traurig.
Keine Ahnung, ob ich schnauben oder schallend lachen wollte. Alles in mir brannte, seit ich mich bei Cora entschuldigt hatte, um mir auf der Toilette Julis Sprachnachricht anzuhören. Aber auf Außenstehende wirkte es bloß so, als sähe ich nicht in Ordnung aus.
Nur zu traurig.
Erzählen die Gurus im Internet jetzt, dass man mit einem Nichtkompliment beginnen muss, um das Interesse einer Frau zu wecken?
Ich hätte das wirklich gesagt. Selbst wenn diese direkte Unverschämtheit eigentlich nicht meine Art war, was die Sache mit Juli bloß bewies. Ich war nicht gut darin, meine Stimme zu benutzen, weil ich zwar eine Frau war, aber mich immer noch wie das Mädchen von früher fühlte. Das, das lieber sterben wollte, als für sich einzustehen. Ich wollte ja nett sein, um jeden Preis. Es jedem recht machen (bloß nicht mir), damit sich auch ja alle wohl in meiner Nähe fühlten (bloß nicht ich). Das Patriachart ließ grüßen, während Männer unsere Selbstlosigkeit ausnutzten.
Diesmal allerdings wollte ich tatsächlich sagen, was ich dachte. Ich war so wütend, mein Kiefer tat immer noch weh. Ich musste einfach etwas sagen.
Trotzdem brachte ich kein Wort hervor, weil ich dieses Kopfschütteln links vernahm. Es wirkte belustigt und doch bestimmt, wobei die Person lässig eine Braue zucken ließ. Meine Augen folgten diesem hochgewachsenen Mann, während er umgeben von anderen in Richtung Ausgang an uns vorbeiging. Seine Freunde waren sogar schon so weit, dass sie durch die Tür Richtung Garderobe schlüpften. Er jedoch ließ sich zurückfallen, drehte sich zu mir und meinem Gesprächspartner um.
»Ich wollte eigentlich nichts sagen, aber, Alter. Weißt du nicht, dass man Frauen nicht sagt, sie würden traurig aussehen, bloß weil sie nicht jede Minute ihres Lebens lächelnd durch die Gegend hopsen? Männern unterstellen wir das ja auch nicht, oder?«
Die Worte richtete er an meinen Gesprächspartner, doch sein Blick ruhte nur auf mir. Und ich weiß, es klingt kitschig, aber seine Augen funkelten herausfordernd, dabei waren seine Worte so ernst. Einen Moment rechnete ich damit, dass er nähertreten, meinen Gesprächspartner mit nur einem Blick einschüchtern und in die Flucht jagen würde.
Doch dieser Mann bewegte sich kein Stück in unsere Richtung. Sein Grinsen wurde bloß schief, bevor er uns zum Abschied zunickte und dann verschwand. Seine Worte waren keine tatsächliche Herausforderung gewesen. Kein Mittel zum Zweck und auch kein zwielichtiger Versuch, einer fremden Frau näherzukommen. Seine Aussage war lediglich eine Feststellung, die er nicht hatte für sich behalten können. Als wäre es ihm egal, fremde Leute mit diesem lässigen Lächeln zu belehren.
Ich sah ihm nach, während Julis Stimme weiterhin in mir nachhallte.
Ich weiß nicht, was du meinst.
Cora war nicht mehr zu finden. Das erklärte mir ihre Ausbeute keine vier Minuten später, nachdem ich den Hey-Mädchen-Typen stehen gelassen und die Tanzfläche endlich wieder erreicht hatte.
»Sie ist nicht mehr da«, meinte Coras Kerl. »Sie hat eine Nachricht bekommen, und dann war sie plötzlich weg. Hat sie einen Freund oder so? Ich hatte nämlich das Gefühl, dass …«
Ich hörte nicht mehr hin.
Cora hatte keinen Freund.
Cora war noch nie in einer Beziehung gewesen.
Sie hatte bloß Carsten. Und das war schlimmer.
Denn sie dateten sich schon bahnbrechende drei Monate lang, was ihn in ihren Augen zu dem Einen machte.
»Ich schau mich noch mal um, bestimmt finde ich sie an der Bar«, sagte ich dem Typen. »Trotzdem danke.«
Es war gelogen. Ich würde Cora nicht finden. Bis zum nächsten Morgen hatte ich sie verloren, bis sie mir unter Schluchzen eine Sprachnachricht schicken würde.
»Carsten hat mir unterschwellig mitgeteilt, dass er unseren Altersunterschied nicht attraktiv findet. Glaubst du, es liegt vielleicht an dem roten Herzemoji, das ich ihm aus Versehen gestern geschickt habe, weil mein Daumen so tollpatschig ist? Das habe ich doch gleich wieder zurückgezogen!«
So wie immer würde sie sich mit gedämpfter Stimme in Rage reden, bis das Geräusch der Toilettenspülung sie abbrechen ließ.
»Er ist auf dem Klo fertig«, würde sie dann flüstern. »Ich meld mich, wenn ich zu Hause bin.«
Aber es war immer so schwierig, sie zu erwischen. Denn nach den Besuchen bei Carsten ging sie lieber mit ihrer Apple Watch und motivierenden Podcasts spazieren, um sich selbst einreden zu können, sie habe ihr Leben auf verkorkste Weise doch im Griff.
Das war schon bei unserer ersten Begegnung so gewesen.
Ich war damals frisch eingezogen. Cora hingegen hatte gerade einen Laufpass per WhatsApp erhalten. »Es liegt an diesem fünften Date, ich komme nie über dieses verflixte fünfte Date«, hatte sie geschluchzt. Kurze Zeit später waren wir in ihrer Küche gelandet, wo sie sich rosafarbene Quarze aus dem BH gefummelt und mir nebenbei erklärt hatte, dass das grundlegende Problem darin bestehe, dass die Zahl Fünf sie nicht ausstehen könne.
»Meine Pechzahl«, beharrte sie, deshalb gebe es auch nie ein sechstes Date. Schon bot sie mir einen Lavendeltee an (»zur Selbstberuhigung, wirkt Wunder, du musst mir glauben«), und wir stießen mit den Teetassen an (auf ihre Selbstberuhigung). Danach lernte ich schnell, dass Cora wie ein Bilderbuch mit fett gedruckten Worten war, offen und lesbar, nichts stand zwischen den Zeilen. Sie trug ihre Haare schulterlang und blond, war anders als ich und sicher in ihrer Unsicherheit. Cora hasste ihren fülligen Körper, aber quetschte ihn täglich in die eng anliegenden Kleider von SKIMS. Andere bezeichneten sie als zu anstrengend, als zu verzweifelt, tragisch und dramatisch. Die festen Freunde ihrer Freundinnen mochten sie nicht. Sie wollten sie samstagabends nicht auf den Grillpartys willkommen heißen, zu denen sie stets ihren ekelhaften Buchweizensalat mitbrachte, weil er angeblich Wunder für unseren Darm vollbringen werde. Und sie wollten sich auch ganz sicher nicht Coras Sprachnachrichten im Hintergrund anhören, bei denen sie ihr Herz auf gewohnte unverfrorene Weise ausschüttete. Sie nannten Cora »die Dicke« und machten sich mit ihren schwabbeligen Bierbäuchen über ihre neuste Datinggeschichte lustig. Aber das hielt Cora nicht auf. Klar, sie weinte. Klar, sie klopfte bei mir an, umklammerte ihre Heilsteinkette und sagte, dass sie nicht verstehe, womit sie das alles verdient habe. Doch am Ende atmete sie stets durch.
»Es ist okay«, sagte sie dann, weil es ihr ältestes Mantra war, das, womit sie ihr inneres Kind nach eigener Aussage geheilt habe.
Im Grunde war das eine Lüge. Alles war nur so lange okay, bis es eben nicht mehr okay war. Selbst wenn man in seiner trendy Sportleggins und mit einer reichhaltigen Gesichtsmaske drei Stunden lang meditierte in der Hoffnung, seine Chakren vom Gegenteil zu überzeugen.
Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst.
Hinter meinen Augen brannte es. Genau deshalb hätte ich Cora finden müssen. Diesmal hätte ich das Foto auch erwähnt und es nicht wie vorhin verschwiegen, als ich ihr von der trennungsartigen Verabschiedung zwischen Juli und mir erzählt hatte. Eigentlich hatte ich ihr von allem berichtet, von seiner Gleichgültigkeit, den angeblich guten Absichten und sogar von der Art, wie er an seiner Zigarette gezogen hatte. Doch jetzt hätte ich ihr von den Fotos erzählt, und natürlich hätte sie keine Lösung gefunden. Trotzdem hätte sie mir versichert, dass alles gut werde, und ich hätte ihr geglaubt, weil sie sich seit Jahren am Manifestieren versuchte.
Aber sie war nicht da.
Alles, was mir übrig blieb, war, mich mit pochendem Schädel an die Bar zu stellen und einen Longdrink zu ordern, wohlwissend, dass ich es aus verschiedenen Gründen nicht tun sollte. Immerhin war Alkohol gefährlich. Die richtige Menge machte mich ausgelassen und glücklich, wenn ich auf der Tanzfläche umherwirbelte und alle mich mochten. Ein Schluck zu viel – und mein Herz ließ mit Panik grüßen. Doch es war nun mal ein schlechter Tag. Es war wie in meinen früheren Diätphasen, damals, als ich morgens schon aufgab, Aufbackcroissants in mich hineinschaufelte und mittags auf Lieferando landete, weil es jetzt ja eh schon gelaufen war. Bei mir gab es keine halben Sachen. Wenn ich etwas fühlte, fühlte ich es, bis ich mich selbst nicht mehr spürte. Und wenn ich scheiterte, tat ich es eben ganz dekadent auf Königsklassenniveau.
»Hey, hallo, hörst du mir zu?«
Ich zuckte zusammen, als die Barkeeperin mir mit meiner Kreditkarte vor der Nase herumwedelte.
»Die funktioniert nicht.«
Natürlich nicht.
»Ist schon okay.« Der Typ mit dem Schnauzer seufzte genervt. »Nimm die Flasche einfach mit.«
»Nein, nein, nein.« Ich schüttelte den Kopf, während ich in meiner Handtasche nach dem Kleingeld suchte. Es klirrte und klimperte, meine Finger streiften meinen Schlüssel und den kalten Deckel meines Luxuslipglosses, bis ich die Münze endlich ergriff.
»Hier!« Feierlich hielt ich ihm die zehn Cent entgegen, doch der Spätikassierer lächelte nicht mal zurück.
»Nächster!«, rief er bloß, bevor zwei Studenten mit Jutebeutel sich an meine Stelle drängelten und ihr Astra bezahlten.
Beim Rausgehen zitterten meine Beine lediglich ein bisschen. Keine Ahnung, ob es an den Shots lag und die gekaufte Wasserflasche somit mehr als gerechtfertigt war.
Nachdem meine Karte nicht funktioniert hatte, hatte ich den Club verlassen und mit meinem letzten Kleingeld in der Hand einen Kiosk angesteuert. Schließlich wollte ich gute Entscheidungen treffen, weniger denken, mehr reflektieren. Und es klappte. Ich kaufte Wasser. Ich lief im Fußgängerinnentempo nach Hause und nicht weg. Ich passte sozusagen auf mich auf. Das war gut. Ein Fortschritt. Der nächtliche Beweis dafür, dass ich wirklich etwas geändert hatte.
Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst.
Mit einem Kloß im Hals entsperrte ich das Handy, während ich die Einkaufspassage hinter mir ließ. Ich passierte Shishabars mit leuchtenden Neonschildern, dann erkannte ich das Five Guys gegenüber der Buchhandlung und tippte einige Nachrichten an Cora.
Ich: Geh nach Hause pls
Ich: Ich schwöre, er hat dich nicht verdient
Ich: Zeit mit ihm zu verbringen ist selbstverletzendes Verhalten und damit wollten wir doch aufhören
Ich steckte mein Handy wieder weg, würde die zehn Minuten zu meiner Wohnung laufen und dann weitersehen. Doch wider Erwarten vibrierte mein Smartphone gleich darauf mit einer Antwort.
Cora: Oh Gott
Cora: Ich dachte ich hätte dir schon geschrieben
Cora: Tut mir so leid dass ich plötzlich weg war aber Carsten stand plötzlich vorm Club um mich abzuholen als Entschuldigung für gestern ist das nicht süß??
Cora: Ich schreib dir nachher
Cora:
Ich stoppte instinktiv, wobei ich das Gerät so fest umklammerte, dass meine Fingerknöchel weiß hervorstachen. Zuckerwattepinke Herzen. Die schickte Cora immer, wenn ich versuchte, sie aus ihrer Traumwelt zu holen.
Großartig.
Es war Samstagnacht. Zwei Uhr morgens. Und meine beste Freundin hatte mich eiskalt in einem Club stehen gelassen.
Wegen eines Mannes. Schon wieder.
»Sometimes all I think about is youuuuu«, grölten zwei junge Frauen in hohen Hacken, die an mir vorbeitorkelten.
Ich stand bloß da. Ich spürte die Panik in mir. Das Pochen. Den Puls. Das Herz. Mein Herz. Ganz plötzlich.
Das hier durfte nicht ausarten, deshalb ließ ich den Blick langsam über meine Umgebung schweifen. Das sollte mich angeblich erden. Für zwei Sekunden funktionierte diese Technik sogar. Mein Blick blieb an den versifften Pflastersteinen mit festgetretenen Kaugummis hängen, und ich erinnerte mich daran, dass, rein objektiv betrachtet, alles okay war. Ich war am Leben. Ich war gesund. Ich konnte mich zusammenreißen, nach Hause gehen, zu einer Sitcom einschlafen und morgen mit von Wimperntusche zusammenklebenden Lidern feststellen, dass es für alles eine Lösung gäbe.
Selbst für die Sache mit Juli.
Genau in diesem Moment erspähte ich dieses Buch im Schaufenster neben mir. Es stand in der linken Ecke, das Cover strahlte einem neonpink mit knallgelber Schrift entgegen. Das Buch schrie mich förmlich an, wollte bemerkt, gekauft und dann gelesen werden. DATEME, besagten die Lettern, und ich kannte den Titel bestens. Jeder in meiner Bubble hatte ihn gekauft und in die Kamera gehalten. Es war das Erstlingswerk einer erfolgreichen Influencerin, die über Tinder-Dates und Selbstfindung schrieb. Eine Art literarische Jahresabrechnung, die sie mit der gesamten Welt teilte. Es sei klug, scharf beobachtet, authentisch, inspirierend und so unendlich tröstlich, hieß es in diversen Rezensionen und Kommentaren. Wie die warme Umarmung einer Freundin, die man gar nicht kennt, wenn man dem Blurb eines renommierten Frauenmagazins glauben durfte. Auf dem Cover war sogar ein kleiner Sticker mit dem Gesicht der Autorin abgebildet, um ihre Fans so noch mehr anzusprechen. Dunkle Augen, schwarzes Haar. Sie trug Curtain Bangs, wie sie gerade jeder auf TikTok trug. Objektiv betrachtet, war sie hübsch. Nicht atemberaubend schön, doch gerade so gut aussehend, dass Fremde ihr zweite Blicke zuwarfen und Marken sie dafür bezahlten, täglich in den Sonnengruß zu gehen. Ihre Publikumsbindung war garantiert hervorragend, eben weil sie nicht wie das typische Model aussah. Dafür wirkte sie mit ihrem vollen Gesicht und dem wenig hervortretenden Schlüsselbein nämlich zu durchschnittlich. Allerdings war gerade das ihre Stärke: Durchschnittlichkeit.
Keine Ahnung, wie lange ich dieses Cover anstarrte. Doch ich spürte, dass meine Augen plötzlich feucht wurden. In meinen Ohren knackte es, meine Beine wurden weich. Als mein Blick abermals den Autorinnennamen abscannte, konnte ich sie nicht mehr zurückhalten. Heißkalt lief mir eine Träne die Wange hinab.
TESSRAABEVON @TESSTEILT.
Wieder nur Großbuchstaben, aber ich nahm den tiefsten Atemzug meines Lebens und fühlte mich klein. Klein, mickrig, schmächtig, so gut unterzukriegen mit Kommentaren wie »@tessteilt? Die ist einfach nur weiblich, weiß und weinerlich.«
Es stimmte.
Weiblich, weiß und weinerlich – Tess Raabe.
Ich.
Das war ich.
Zitternd tastete ich nach meinem Handy, als könnte es mich retten. Als bräuchte ich mir nur genügend Katzenvideos und vermeintlich selbstlose Mitbürger, die Obdachlosen Sandwiches schenkten, auf TikTok anzuschauen, um mich wieder besser zu fühlen. Obwohl allen klar war, dass sie das nur für Klicks machten. Der Gedanke gab mir den Rest. Hastig steckte ich mein Handy wieder in meine Jackentasche. Dann drehte ich den Deckel meiner Wasserflasche auf, führte sie an meine Lippen und bereute all meine guten Entscheidungen, weil ich mir wünschte, das hier wäre Wein.
Es war derselbe Moment, in dem ich seinen Schatten neben mir bemerkte.
Im Grunde begann die ganze Scheiße in genau diesem Augenblick. Denn dieser Schatten war natürlich nicht nur ein Schatten, sondern ein Mann. Und später, dann, wenn alles längst vorbei sein würde, irgendwann in einem ereignislosen Mai, wenn ich tippen wollen würde: DUGOTTVERDAMMTERWICHSER, würde ich mich genau an diesen Moment erinnern. Wie einfach es gewesen wäre, so zu tun, als hätte ich ihn nicht bemerkt. Immerhin ignorierten wir uns alle ständig. Wir stellten einander auf stumm, archivierten Chats, drückten Anrufe weg und uns die In-Ear-Kopfhörer rein. Musik an, Welt aus, tippten wir dann in unsere pathetischen Storys, während wir gerade rechtzeitig bemerkten, dass die Ampel auf Grün gesprungen war.
Menschen verpassten einander jeden Tag. Aber wir beide? Wir nicht. Wir krachten ineinander wie zwei Sterne. Wir hoben ab und flogen, schwerelos unter schwerer Atmung, wenn wir uns splitterfasernackt aneinander rieben, sodass am Ende niemand außer uns hörte, wie einer der zwei Sterne ins Nichts explodierte.
Dieser Stern war ich.
Der Typ fragte, ob es mir gut gehe.
Blinzelnd zuckte ich zusammen, wandte mich nach links und war mir sicher, dass diese Begegnung ein Scherz sei.
Er kann es nicht sein.
Helle Haare, tiefbraune Augen. Er trug ein Shirt und einen ehrlich verwunderten Ausdruck im Gesicht. Über dem Jersey war seine Jacke geöffnet. Für Mitte August wirkte Letztere viel zu dick. Dabei strahlte seine Haut golden und gebräunt, als verbrächte er seine freien Nachmittage am liebsten mit Stand-up-Paddling am Maschsee. Er wirkte so selbstbewusst. So geerdet. Stark und standhaft mit beiden Beinen auf dem Boden. So ganz allgemein, ohne aufgepumpte Fitnessstudiomuskeln. Er war wunderschön auf diese männliche Weise, die in romantischen Komödien so gut funktionierte. Der Heldentyp, jemand, der traf, wenn er zielte, versehrt mit tausend Macken, die alle so unendlich liebenswert waren.
Je näher er trat, desto stärker wurde seine Verwunderung. Er runzelte die Stirn, als sein Blick an meiner schwarzen Wimperntuscheträne hängen blieb.
»Warte mal«, begann er. »Kennen wir uns nicht?«
»Na ja, ich würde nicht behaupten, dass ich jemanden kenne, nur weil ich im Club mitbekommen habe, wie die Person von jemand anderem angemacht wurde.«
»Gott.« Er lachte fast. »Erinnere mich bitte nicht daran. Der Anmachspruch war grottig. Ich musste einfach was sagen. Tut mir leid, falls ich dir versaut habe, deine große Liebe kennenzulernen.«
»Ich denke, die Wahrscheinlichkeit dafür war sowieso eher gering.«
»Gut, dass du mir das sagst. Einen Moment lang habe ich mich nämlich schon gefragt, ob du mit einer Wasserflasche in der Hand vor dem Schaufenster weinst, weil ich dir die Chance deines Lebens versaut habe.«
»Ich habe nicht geweint.«
»Da ist schwarze Schminke auf deinen Wangen.«
»Mir ist was ins Auge geflogen.«
Der Typ hob herausfordernd eine Braue, im perfekten Winkel. »Du lügst atemberaubend gut.«
Ich verschränkte die Arme vor der Brust. »Lass mich raten, auf Tinder prahlst du in deiner Bio damit, dass du fließend Sarkastisch sprichst?«
»Ich hab kein Tinder.«
Mit einem Mal klang seine Stimme unendlich rau, dann wechselte er schnell das Thema, indem er auf das Schaufenster deutete. »Ich hab’s gelesen.«
»W-was?«
»Das Buch da.« Er nickte nach vorn. »Wird ja gerade in den Medien bis zum Himmel gelobt. Ich war erst skeptisch, aber fand es im Nachhinein überraschend gut. Es war so klug beobachtet. Ist echt krass, wie wir alle denken, wir seien einzigartig, aber trotzdem dieselbe human expierience machen, oder?«
Überraschend gut. Ich biss mir auf die Zunge. Immerhin war ich ja jung und weiblich, hatte dem Klischee einer emotionalen Frau alle Ehre gemacht, indem ich mein Datingleben ausgeschlachtet und mit der Welt geteilt hatte. Leider war ich kein männlicher Autor, der mit einem melancholisch nachklingenden Titel glänzte und von der Presse als lebensklug bezeichnet wurde, wenn er seine Liebesbeziehungen sezierte.
»Was ist mit dir? Hast du es auch gelesen?«
Die Stimme des Typen riss mich aus meinen Gedanken. Krampfhaft umklammerte ich die Flasche stärker.
»DATEME?«
Verwirrt sah er mich an. »Was ist DATEME? Ich meinte Schlaflos von Anton Krüger.«
Mit einem Mal fühlte ich mich unglaublich naiv. Natürlich hatte er von Schlaflos geredet, dem Roman eines Berliner Autors, den die Medien zum neuen Star der deutschen Buchwelt auserkoren hatten, weil er garantiert an irgendeinem Literaturinstitut studiert hatte, alternativ, doch gleichzeitig so kommerziell war, um die große, breite Masse zu erreichen.
Wahrscheinlich hatte er mein Buch nicht mal bemerkt, den Sticker erst recht nicht. Immerhin lagen etwa ein Dutzend Bücher in diesem Schaufenster.
Weil ich nicht wusste, was ich sagen sollte, schwieg ich, und die Stirnfurchen des Typen vertieften sich.
Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst.
Meine Schläfen pochten im Takt zu Julis Stimme, während mein Magen sich zusammenzog. Lautstark. Schreiend. Leer. Und so, so hungrig.
»Woah.« Er trat einen Schritt zurück. »War das etwa dein Bauch?«
Mein Bauch hasste mich.
Ich hasste meinen Bauch.
Es war eine Art Zusammenspiel. Eine Art kosmische Vereinbarung, die wir niemals mehr durchbrechen würden. Ganz egal wie oft ich dazu mit Heilsteinen auf dem Nabel meditierte oder ich mich vor meinen Spiegel stellte, die Hände auf den Unterleib gepresst, um mein neustes Selbstliebemantra zu verinnerlichen. So lang ich zurückdenken konnte, zog ich ihn ein, versteckte ihn in Bauchweghosen und hinter Sofakissen, wenn ich in einem fremden Wohnzimmer hockte. Ich dachte ständig an ihn, an schmeichelhaftere Sitzpositionen und effektiviere Fitnessübungen. Im Grunde wollte ich ihn nie ansehen, aber wenn ich an einem Spiegel vorbeilief, konnte ich nicht anders. Dafür machte er mir schon immer das Leben schwer. Denn am liebsten gab er sein Hungerschreikonzert in Gegenwart von Männern. Laut und knurrend, damit mein Gegenüber mich fragen konnte, ob ich denn nicht Hunger habe.
So wie jetzt. Na ja, oder so ähnlich.
»Hast du Lust auf Pommes?«
»Bitte?«
»Dein Magen hat geknurrt. Klang ehrlich gesagt ziemlich schmerzhaft. Ich kenne da einen guten Laden für Pommes, ist gar nicht weit.«
»Dir ist bewusst, dass wir uns eigentlich gar nicht kennen, oder?«
»Na und?«
»Fremde sind eigentlich nicht so nett.«
»Ich schon.« Er zuckte die Achseln. »Außerdem …«
»Außerdem was?«
Er zögerte, während ich am liebsten mit meinen Haarsträhnen gespielt oder die Finger ineinander verhakt hätte, weil ich Stille nicht aushielt. Er war nicht so. Er einen Moment betrachtete er mich einfach nur mit offener Miene. Als hätte er rein gar nichts auf dieser Welt zu verstecken.
»Du siehst so aus, als solltest du gerade nicht alleine sein.«
»Ich bin gerne alleine.«
»Aber du hast doch Hunger. Eine Pommes«, sagte er. »Komm schon.«
»Und was hast du davon?«
»Pommes.«
»Die könntest du auch ohne mich haben. Oder mit deinen Freunden. Wo sind die eigentlich?«
»Die sind bestimmt schon zu Hause. Dort wollte ich auch hin, bevor …«
»Bevor du diese Frau mit verschmierter Wimperntusche vor einem Buchladen gefunden hast?«, unterbrach ich.
»Exakt.« Er räusperte sich. »Außerdem ja, du hast recht. Ich könnte auch alleine Pommes essen, aber wenn ich dich mitnehme, sammle ich dabei ein paar Karmapunkte.«
»Karmapunkte also, hm?«
Ich versuchte lässig zu klingen, doch dachte eigentlich nur daran, dass ich mich mit der Leere in meiner Wohnung und dem Chaos in meinem Kopf auseinandersetzen müsste, wenn ich sein Angebot ablehnte. Zu Hause würde ich schwach werden und mich an der Grenze zwischen Alleinsein und Einsamkeit zu einer Hochrisikoaktion verleiten lassen. Dahlia auf Instagram suchen zum Beispiel, weil heute immer noch ihr Geburtstag war, obwohl ich das mit dem Social-Media-Stalking seit Monaten nicht mehr tat. Oder Juli noch einmal schreiben.
Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst. Ich weiß nicht, was du meinst.
»Okay«, sagte ich schnell.
Aber es war nicht okay. Es war seltsam, wie wir zu zweit in Richtung der Köpke-Station gingen, vorbei an grölenden Feierenden und Bierdosen neben Mülleimern. Ich begutachtete Schaufenster geschlossener Restaurants und fremde Gesichter im Kerzenschein schummriger Bars, bis wir plötzlich an einem der wenigen noch geöffneten Lokale stehen blieben. Das Leuchtschriftschild über der Tür sagte Hannah loves Fries in knalligem Neongrün. Bereits beim Blick durch die Fenster erkannte ich, wie riesig und modern das Restaurant war. Die Tische und Stühle strahlten Industrial-Charakter aus, die unverputzten Ziegelsteinwände harmonierten perfekt damit. Etliche Bilderrahmen und Leuchtschriftschilder hingen an Letzteren, wobei der Gastraum mit unzähligen Pflanzen gefüllt war. Ich war noch nie hier gewesen, hatte aber das Gefühl, ich wäre es doch. Es sah aus wie alle extravaganten Lokale in Berlin mit jungen Geschäftsführenden und selbst aufgebrühtem Eistee in verrückten Geschmacksrichtungen. Neu, aufregend und unbedingt einen Besuch wert, weil selbst die Soßenbehälter fotogen waren. Ganz egal, ob man für seinen durchschnittlich leckeren Burger dreiundvierzig Minuten anstehen musste.
Die Gäste an den Tischen schienen das Essen bereits vertilgt zu haben und nippten nun an bunten Cocktails, während das Personal hinter der Theke Gläser polierte.