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Zwei YouTube-Stars. Zwei unterschiedliche Welten. Eine große Liebe! Mit ihrer California-Dreams-Reihe rund um große Gefühle in Zeiten von Social Media lässt Kim Leopold die Herzen ihrer LeserInnen höherschlagen!
Die erfolgreiche Do-it-yourself-Youtuberin Holly liebt bunte Deko. Van-Life-Youtuber Pax zieht die Ruhe der Natur vor und zeigt online seinen minimalistischen Lebensstil. Im glitzernden Schein der sozialen Medien geben beide vor, glücklich zu sein. Doch in der Realität wartet die Einsamkeit. Als sie für eine Challenge ihren Alltag tauschen, haben sie mit einer Herausforderung nicht gerechnet: ihren Gefühlen füreinander. Während sie ihre Erfahrungen teilen, knistert es gewaltig zwischen ihnen. Doch Holly hat nicht umsonst Mauern um ihr Herz errichtet. Kann Pax sie Stein für Stein einreißen?
So überwältigend wie die kalifornische Landschaft, so prickelnd wie eine Nacht unter den Sternen, so romantisch wie ein Kuss zum Sonnenaufgang – das ist Romance aus der Feder von Kim Leopold!
Die California-Dreams-Reihe:
Band 1: The Colors of your Soul
Band 2: The Sunshine in your Eyes
Band 3: The Fire in your Heart
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Cover & Impressum
Widmung
Zitat
Holly
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Holly
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Holly
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Holly
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Holly
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Holly
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Pascal
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Danksagung
Inhaltsübersicht
Cover
Textanfang
Impressum
Für mich,
weil ich endlich den Mut gefasst habe,
einen Kindheitstraum wahr zu machen.
The trouble is, you think you have time.
– Buddha
Los Angeles, Kalifornien
Meine Wohnung ist zu klein!, schießt es mir durch den Kopf, als ich die riesige Sperrholzplatte in mein Wohnzimmer manövriere und dabei einem maunzenden Orlando ausweiche. Ich lehne sie gegen das Bücherregal und wische mir den Schweiß von der Stirn. Ein bisschen Hilfe wäre nett gewesen, aber jeder weiß, dass man den Leuten von Craigslist besser nicht zu viel Vertrauen schenkt. Kaufen ja, aber in die Wohnung lassen … besser nicht.
Orlando streicht mir um die Beine, also begrüße ich ihn mit einer kurzen Krauleinheit, bevor ich mir die Kamera schnappe und sie auf dem Stativ platziere. Die Lichter habe ich schon aufgestellt, als sich der Verkäufer von Craigslist angekündigt hat, um mein neu erworbenes Stück Wohnungsdekoration vorbeizubringen.
»Also dann«, murmle ich und checke noch einmal, ob ich alles habe, was ich für das Video brauche. Sperrholzplatte, zwölf quadratische Spiegel vom schwedischen Möbelgiganten, einige Holzleisten, die ich bereits gestern schwarz lackiert habe, eine große Flasche Holzkleber – fehlt nur noch die passende Musik. Als die ersten Takte von Shawn Mendes’ Wonder erklingen, verkrümelt sich Orlando im Schlafzimmer.
Schulterzuckend mache ich mich daran, die Möbel im Wohnzimmer zu verrücken, damit ich genug Platz auf dem Boden habe, um die Sperrholzplatte dort auf ein altes Malervlies zu legen.
Der Vormittag vergeht wie im Flug, während ich an meinem neuen Projekt arbeite. Mit dem Holzkleber befestige ich die Spiegel in gleichmäßigen Abständen auf der Platte und klebe dann die Holzleisten auf, um die Spiegel einzurahmen. Zwischendurch wechsle ich immer wieder die Position der Kamera, um meine Arbeit aus verschiedenen Winkeln aufzuzeichnen. Das wird mein Video später deutlich interessanter machen.
Als ich mit den Spiegeln fertig bin, schlüpfe ich aus meinen Schuhen und stelle mich auf die Couch, um einen Blick von oben auf mein neuestes Werk zu werfen.
Hach, was für ein cooles DIY. Der Industrial Look gefällt mir richtig gut. Ich glaube, die Spiegelwand wird eines meiner Lieblingsstücke. Nicht alle Projekte, die ich irgendwo entdecke und für mich umsetze, werden am Ende so perfekt wie dieses hier.
Zufrieden klettere ich von der Couch, schalte die Lichter und die Kamera aus und schnappe mir mein Notebook, um die Kommentare unter meinem letzten Video zu lesen. Bis der Holzkleber trocken ist, wird es schließlich noch eine ganze Weile dauern. Ich sitze keine zwei Minuten, da kommt Orlando aus dem Schlafzimmer, um es sich auf meinen Füßen gemütlich zu machen. Verrückter Kater.
Unter meinem Video finden sich viele begeisterte Kommentare, aber wie jedes Mal ist auch jede Menge Bullshit dabei, inklusive meines Lieblingsspruches: Holly Wood? Echt jetzt? Das ist hundertprozentig ein Fake-Name. So bescheuert.
Seufzend lösche ich den gefühlt tausendsten Kommentar dieser Art, bevor darunter wieder eine Diskussion über die Echtheit meines Namens entbrennen kann oder sich noch mehr von den Leuten ansammeln, die meinen, das wäre etwas, worüber man sich im Netz amüsieren muss. Ich kann schließlich nichts dafür, dass meine Mutter dachte, sie müsse aus meinem Namen eine Erinnerung an ihre Jugendsünden machen.
Gut, ich hätte meinen Youtube-Kanal vielleicht nicht unbedingt Holly Wood’s DIY nennen müssen, aber als wir The Creative Bugs vor zwei Jahren aufgelöst haben, war mein Name auf der Plattform längst bekannt. Es wäre dumm gewesen, diesen millionenfach genutzten Suchbegriff nicht als Namen für meinen neuen Kanal zu übernehmen.
Und so blöd es auch ist: Selbst die lästernden Zuschauer sind Zuschauer, mit denen ich meinen Lebensunterhalt verdiene – also räume ich einfach in den Kommentaren auf, bis ich keine Lust mehr habe, und verteile fleißig Herzchen unter den netten Antworten, die zu meinem neuen Video eingegangen sind. Die wenigsten davon sagen irgendetwas zum Inhalt – 5 einfache DIYs, mit denen dein 4. Juli unvergesslich wird –, meistens geht es eher um die Dinge, die ich gesagt oder getan habe, oder darum, wie meine Haare liegen oder mein Make-up aussieht. Wie immer sind auch einige Kommentare von Leslies Fans dabei, die nicht ganz so freundlich ausfallen – und wie immer versuche ich, die Worte nicht zu nah an mich heranzulassen, obwohl sich jedes einzelne davon wie ein Nadelstich anfühlt.
Nach einer Weile klappe ich mein Notebook mit einem Seufzen zu und lege es neben mich auf den Couchtisch. Orlando hebt müde den Kopf, streckt seine Vorderpfoten aus und rollt sich dann wieder auf meinen Füßen zusammen.
»Tut mir leid, Sportsfreund. Ich brauche dringend einen Kaffee«, entschuldige ich mich, bevor ich meine Füße so sanft wie möglich unter ihm hervorziehe. Er maunzt protestierend und verlässt seinen Schlafplatz, um es sich stattdessen auf seinem selbst gebauten Kratzbaum am Fenster gemütlich zu machen.
Ich bahne mir den Weg durch den Verpackungsmüll von Ikea,um in die Küche zu gelangen. Auf der Arbeitsplatte steht noch die Müslischüssel vom Frühstück, die ich schnell in die Spülmaschine räume, damit die Fläche frei und bereit für die nächste Mahlzeit ist. Egal, wie sehr ich das kreative Chaos in den anderen Räumen liebe, eine ordentliche Küche ist ein Muss. Ohne freie Arbeitsfläche kann ich einfach nicht kochen. Und fünf Mal die Woche Lieferservice ist auch keine Option, da hilft selbst die Arbeit am ersten Buch nicht mehr als Ausrede.
»Och nö«, seufze ich. Die Kaffeetüte ist gähnend leer. Wie konnte ich das übersehen? Ich rümpfe die Nase, werfe die Verpackung in den Müll und schiebe meine Verpeiltheit – und meinen übertrieben hohen Kaffeekonsum – auf den Schreibmarathon, den ich in den letzten Tagen hinter mich gebracht habe, um in meinem Manuskript ein gutes Stück weiterzukommen.
Eigentlich habe ich mit der Arbeit am Bastelbuch auch genug zu tun, aber heute wollte ich eine Pause einlegen, um ein Video zu filmen und mich um meine Abonnenten zu kümmern. Stattdessen darf ich jetzt einkaufen gehen – und das bei der Hitze!
Stöhnend stelle ich den leeren Kaffeebehälter zurück in den Schrank. Wer arbeiten will, braucht Kaffee … und wer Kaffee braucht, muss wohl auch bei der Hitzewelle des Jahrzehnts das schön gekühlte Apartment verlassen, um welchen zu kaufen.
*
»Hey, Holly«, begrüßt mich Asher an der Kasse meines Stammsupermarktes. »Du bist aber früh dran.«
»Kaffee war alle.« Ich lächle ihn entschuldigend an. »Das reicht doch als Ausrede, um das Apartment mal vor dem Abend zu verlassen, oder?«
Er lacht und scannt den Kaffee, bevor er eine Packung vegane Eiscreme hochhält. Die Ringe an seinen Fingern glänzen im künstlichen Licht. »Das ist aber kein Kaffee.«
Ich zucke grinsend mit den Schultern. »Die Hitze ist schuld – und diese Sorte gibt es nicht oft. Also nehme ich sie mit, wann immer ihr sie auf Lager habt.«
Er inspiziert die Packung und verzieht skeptisch das Gesicht. »Pistazieneis … Das soll schmecken?«
»Du verpasst was, wenn du es nicht probierst«, versichere ich ihm und bezahle meinen Einkauf.
Zurück im Apartment, hat mir die Hitze die Lust auf Kaffee verdorben. Stattdessen fülle ich eine Schale mit Pistazieneis und setze mich wieder auf die Couch, um mit den Kommentaren weiterzumachen. Es ist eine unausgesprochene Abmachung zwischen meinen Zuschauern und mir: In den ersten drei Stunden nach dem Upload eines neuen Videos beantworte ich ihre Kommentare und verteile Herzchen en masse.
Zuschauerbindung, sagt meine Managerin.
Ich nenne es: einen Teil von dem zurückgeben, was sie mir geben.
Denn sie geben mir irre viel. Ein Leben, in dem ich machen kann, was ich am liebsten mache. In dem ich frei von Schulden und Geldsorgen bin. Frei von irgendwelchen Verpflichtungen außer denen, die ich mir selbst auferlege.
Und so kann ich mich selbst über die Hass-Kommentare nicht wirklich aufregen. Immerhin gucken auch diese Leute meine Videos, oft sogar bis zum Schluss, um irgendetwas zu finden, worüber sie sich auslassen können – und ich verdiene mit jeder angesehenen Minute Geld.
Ich löffle mein Eis und scrolle mich weiter durch, bis mein Blick plötzlich an einem Kommentar hängen bleibt.
HunterAngel87: Holly, du solltest mal ein Video mit Pax Pacis machen! Das wäre ziemlich witzig!
Pax Pacis? Ich krame in meinem Gedächtnis nach der passenden Person zu diesem Namen, doch ich glaube, ich habe noch nie etwas von ihm gesehen oder gehört. Schnell gebe ich den Namen in die Youtube-Suche ein und stoße auf den Kanal eines Vloggers, der überraschend viele Fans hat, obwohl er erst seit anderthalb Jahren Videos dreht. Über eine Million Abonnenten – wie konnte mir das entgehen?
Pax Pacis hat einen Kanal, der meinem nicht unähnlicher sein könnte. Während mein Kanalbanner in pastelligen Farben und goldener Schrift leuchtet, ist seines in gedämpften Tönen gehalten, blau, grün, braun, ein Bild von ihm vor einem Wasserfall. Seine dunklen, lockigen Haare sind kurz geschnitten, und er hat ein leichtes Lächeln auf den Lippen. Aber es sind seine kastanienbraunen Augen, die mich sofort in den Bann ziehen: Sie scheinen aus dem Foto direkt auf den Grund meiner Seele zu blicken.
Er sieht gut aus.
Nicht die Marke Sonnyboy, die hier in L. A. so angesagt ist, sondern eher der Typ »Ich lese dir nachts Liebesgedichte vor, bevor ich dich nach Strich und Faden verführe«.
Sollte ich jemals mit ihm zusammenarbeiten, werde ich entweder kein Wort über die Lippen bringen – oder viel zu viele. Allein der Gedanke daran reicht, um mir ein nervöses Kribbeln zu bescheren.
Ich unterdrücke ein Kichern und klicke sein beliebtestes Video an: Wie das Van-Life mein Leben verändert hat.
Schon in den ersten Sekunden wird mir klar, dass er nicht nur ein verdammt guter Filmemacher ist, sondern noch dazu sehr bedacht, und sich nicht scheut, das online zu zeigen. Pax ist einer dieser Kerle, die ihr bisheriges Leben aufgegeben haben, um mit einem Van durchs Land zu reisen. Er ist durch und durch Minimalist, zumindest was sein Leben angeht. Was seine Wortwahl in dem Video und die Bildgewalt der Aufnahmen betrifft, könnten sich einige Youtuber ruhig eine Scheibe davon abschneiden – mich eingeschlossen.
Ich verweile bei seinen Videos und sehe mir auch noch ein paar von denen an, in denen er darüber spricht, wieso er sich für diesen Lebensweg entschieden hat, wie er seinen Van für die Reise hergerichtet hat, welche Abenteuer er erlebt und welche Erkenntnisse er dabei gewonnen hat.
Ehe ich michs versehe, taucht die Sonne den Himmel in ein Rosarot, und der Rest Eis in meiner Schale ist zu einer grünen Pfütze geschmolzen. Genauso wie mein Selbstbewusstsein, denn ich fühle mich plötzlich verdammt eingeschüchtert.
Der Typ hat so viel Tiefgang. Er ist nur zwei Jahre älter als ich, und doch redet er, als hätte er schon ein ganzes Leben gelebt. Kein Wunder, dass er innerhalb kürzester Zeit so viele Fans für sich gewinnen konnte. Meine Videos spiegeln dagegen immer noch die naive Sechzehnjährige wider, die dachte, Bastelvideos wären der Trend schlechthin. Vielleicht sollte ich meinen Fokus noch mehr aufs Upcycling legen, um zu zeigen, dass auch ich erwachsen geworden bin.
Ich klappe den Laptop zu und lasse meinen Blick durchs Zimmer gleiten. Nach Pax’ Videos mit den Naturaufnahmen und seinen Ausführungen über einen minimalistischen Lifestyle erschlägt mich der bunte Mix aus Farben und Materialien in meiner Wohnung beinahe.
Orlando kommt zu mir und springt mir auf den Schoß. Anscheinend hat er das Zuklappen des Laptops als Signal verstanden, dass nun Zeit für sein Abendessen ist. Ich streichle ihm über das weiche Fell.
»Findest du, wir haben zu viele Sachen?«, frage ich ihn leise und versuche, das nagende Gefühl in meiner Magengrube zu verdrängen. Bislang fand ich meine überfüllten Bücherregale eher gemütlich, und auch die Schränke voller DIY-Materialien im Büro haben mich nicht sonderlich gestört. Gut, vielleicht habe ich hier ein paar Leinwände zu viel stehen, und meine Kerzensammlung ist eventuell auch ein bisschen übertrieben, aber …
»Das gehört zu uns, oder, Orlando?«
Der Kater maunzt und springt von meinem Schoß, um stolz erhobenen Hauptes in die Küche zu marschieren. Ich folge ihm nachdenklich und öffne den Geschirrschrank, um eine Schale für sein Futter herauszuholen. Dabei versuche ich, mir nicht allzu viele Gedanken über das Lager für meinen Online-Shop zu machen. Was als kleiner Spaß angefangen hat, ist in den letzten Monaten zu einem ganzen Zimmer voller selbstgestalteter Sachen mutiert, die nur darauf warten, gekauft zu werden. Irgendwas musste ich mit all den Kunstwerken ja anfangen – und die Verkäufe über den Shop machen immerhin ein Viertel meines Einkommens aus.
Orlando schubbert sich an meinen Beinen.
»Ist ja gut.« Ich reiße mich aus meinen Gedanken und serviere ihm seinen Truthahn in Gelee, bevor ich mir selbst die Nudeln von gestern warm mache. Während ich in der Pfanne rühre, denke ich wieder an Pax. Das wäre ziemlich witzig, stand in dem Kommentar, und ich ahne allmählich auch, wieso – Pax und ich könnten nicht unterschiedlicher sein. Auf ihn zu treffen wäre, als würden Feuer und Eis kollidieren. Eine Begegnung, die eine gute Herausforderung sein könnte. Aber bin ich dafür wirklich bereit?
*
Die Gedanken an Pax Pacis lassen mich auch nach ein paar Stunden nicht wieder los. Seine Videos haben etwas mit mir gemacht, ohne dass ich genau sagen kann, warum sie mich so berührt haben. Und sie haben mich auf den Menschen neugierig gemacht, der hinter all dem steht. Selbst wenn ich mir niemals vorstellen könnte, zur Minimalistin zu werden – dafür liebe ich all die schönen Dinge um mich herum viel zu sehr –, ich würde dennoch gerne mehr über Pax erfahren. Also beschließe ich, bei meiner guten Fee anzurufen, um mich mit ihr zu beraten.
»Holly?« Maevis begrüßt mich mit einem herzhaften Gähnen. »Sorry, ich habe gerade die Twins ins Bett gebracht und bin weggenickt.«
Sofort regt sich mein schlechtes Gewissen. »Tut mir leid, ich habe gar nicht auf die Uhr geguckt. Wir können auch morgen reden.«
Sie spricht in gedämpftem Tonfall weiter. »Ich habe Zeit. Karson guckt irgendeinen Film, der mich eh nicht interessiert. Ich gehe nur kurz in die Küche. Was ist los?«
»Kennst du Pax Pacis?«
»Du meinst den sexy Kerl, der über Minimalismus, Frieden und all die anderen guten Dinge spricht?« Sie lacht leise auf. »Wer kennt den bitte nicht?«
Natürlich ist sie bestens informiert. Als meine Managerin ist es schließlich ihr Job, ein Auge auf die neuen Stars der Plattform zu haben.
»Ich kannte ihn nicht!« Ich stehe auf und gehe ins Schlafzimmer, um meine Kopfhörer zu suchen, damit ich während des Telefonats die Wäsche zusammenlegen kann. »Sein Kanal ist irgendwie total an mir vorbeigegangen.«
»Kein Wunder. Seit wann interessierst du dich für Minimalismus?«
»Ich interessiere mich für … Au! Verdammt!« Es klirrt. Ich hopse auf einem Bein und reibe mir die Zehen, bevor ich das Licht im Schlafzimmer einschalte und den Übeltäter identifiziere. Ich bin gegen einen Stapel alter Teller gestoßen, die ich vor einiger Zeit auf einem Flohmarkt in der Nähe erstanden habe, um damit die freie Wand in meinem Flur zu dekorieren … wo ab morgen aber nun mein neuer Spiegel seinen Platz findet. »Okay, vielleicht bin ich nicht unbedingt eine Minimalistin, aber es ist nicht so, dass mich das Thema nicht interessieren würde. Jedenfalls ist mir ein Kommentar unter meinem letzten Video ins Auge gefallen. Da hat jemand eine Zusammenarbeit mit Pax vorgeschlagen.«
Maevis prustet los. »Pax und du? Sorry, das ist …« Sie kriegt sich gar nicht mehr ein vor Lachen, und auch ich kann nicht mehr an mich halten. Sie hat recht, eine Zusammenarbeit zwischen uns wäre verrückt … Aber gleichzeitig doch auch irgendwie cool. Das könnte wirklich ein witziges Video ergeben.
»Gott, diese Zuschauer haben manchmal echt die besten Ideen.« Maevis kichert immer noch. »Und hast du Lust drauf? Soll ich dir seine Mailadresse raussuchen?«
Ich unterdrücke ein Lächeln und stecke mir die Kopfhörer in die Ohren, die ich endlich in meinem zerwühlten Bettzeug gefunden habe. »Glaubst du denn, das könnte funktionieren?«
»Sicher. Ich kann es mir schon richtig gut vorstellen.« Sie klingt vielsagend. »Holly trifft endlich einen Kerl. Deine Fans werden ausrasten.«
Ich schnaube entnervt. »Wir reden hier über die Arbeit, nicht über mein Privatleben!«
»Komm schon. Hast du ihn dir mal angeguckt? So richtig, meine ich. Wer könnte bei diesen Augen nicht an ein Date denken?«
»Das wäre kein Date!«, widerspreche ich vehement und beginne, die Wäsche zusammenzulegen. Wenn ich meine Hände nicht beschäftige, weiß ich nicht, wohin mit all der Aufregung. Dabei verstehe ich nicht einmal, wieso ich überhaupt so nervös bin. Dass mich der Gedanke an eine Zusammenarbeit so sehr durcheinanderbringt, ist ein deutliches Zeichen dafür, dass ich zu wenig mit anderen Menschen zu tun habe. Dafür bin ich einfach noch nicht bereit. »Du hast gerade noch gelacht. Du weißt also ganz genau, dass er nie und nimmer mit mir zurechtkäme. Abgesehen davon geht’s mir gut. Ich brauche keinen Mann, um glücklich zu sein.«
»Schätzchen, hast du noch nie davon gehört, dass Gegensätze sich anziehen?«
»Ich … Das wäre kein Date, okay? Das wäre ein Meeting. Zumindest dann, wenn du die Idee gut findest – und er überhaupt Interesse daran hat, mit mir zusammenzuarbeiten.«
»Ich muss zugeben, ich bin erstaunt. Du rufst mich an, um über eine Zusammenarbeit mit einem anderen Youtuber zu reden. Damit hätte ich im Leben nicht gerechnet.«
»Na ja … Ja.« Ich zucke mit den Schultern, auch wenn Maevis das nicht sehen kann. Und sie hat recht, ich weiß ja selbst nicht, was in mich gefahren ist. Doch der ernste Ton ihrer Stimme bringt sofort all die Bedenken zurück, derentwegen ich nicht mehr mit anderen Influencern zusammenarbeite. »Weißt du, was? Ich glaube, das war eine Schnapsidee. Wenn ich es mir recht überlege, habe ich für so was auch gar keine Zeit.«
»Holly …«
»Wir sehen uns morgen, ja?«, spreche ich weiter, damit sie gar nicht erst die Gelegenheit bekommt, mich doch noch zu einer Zusammenarbeit zu überreden.
»Pax ist bestimmt anders«, wirft sie ein, bevor ich auflegen kann. Ich verharre mit dem Daumen über dem Handydisplay und setze mich auf die Bettkante. Es fällt mir schwer, nicht an das zu denken, was in Maybrook geschehen ist. »Du hast dir doch sicher seine Videos angesehen. Er scheint nett zu sein.«
»Das sind sie in ihren Videos alle«, entgegne ich mürrisch. In den Kommentaren, in Chats, hinter verschlossenen Türen, da geschehen die Dinge, die einen tief ins Herz treffen. Die Menschen dazu bringen, aus ihrem Leben zu fliehen und irgendwo anders einen Neustart zu wagen.
Maevis seufzt. »Pax ist nicht Leslie, okay?«
»Bis morgen, Maevis«, verabschiede ich mich, ohne auf ihre Worte einzugehen. Sie hat das geschafft, wofür ich sie insgeheim angerufen habe: mich daran erinnern, wieso ich mich nicht an den Laptop setzen und Pax eine Mail schicken sollte.
Lake Tahoe, Kalifornien
»Komm zu Papa«, flüstere ich und löse eine Hand vom Controller, um meine Drohne sicher aufzufangen, bevor ihr der Akku ausgeht und sie in den Lake Tahoe stürzt. So etwas passiert einem nur einmal im Leben. Nie wieder werde ich mein teures Spielzeug in einem See versenken.
Ich stelle die Drohne aus, nehme die Speicherkarte und den Akku heraus und verstaue sie sicher in ihrer Tasche, wo sie sich bis zu ihrem nächsten Einsatz ausruhen darf. Es ist schon spät, von der Sonne ist fast nichts mehr zu sehen, und ich sollte mir dringend etwas zu essen besorgen, bevor die Supermärkte schließen, aber ich bin zu neugierig auf das Material, das ich heute Nachmittag gefilmt habe.
Mittlerweile ist der Emerald Bay State Park beinahe leer. Die Tagesausflügler sind längst wieder fort, und die Camper sitzen beim Abendessen. Von irgendwo zieht der Geruch eines BBQ zu mir herüber und lässt meinen Magen knurren.
Ein saftiges Steak. Das wäre es jetzt.
Ich klettere vom Dach meines Vans hinunter, um einen Blick in den eingebauten Kühlschrank zu werfen. Ernüchternd. Eine angebrochene Flasche Club Mate, eine Tüte Milch, drei Eier und ein Apfel.
»Dann soll es wohl Rührei sein«, murmle ich und hole eine Pfanne vom Haken, um sie auf eine der beiden Herdplatten zu stellen. Während ich darauf warte, dass sie heiß wird, schalte ich den Mac ein, um die Speicherkarte einzulesen und das Videomaterial der vergangenen Tage zu sichten.
In einer halben Stunde geht mein neues Video online. Die Zeit sollte reichen, um zumindest die Drohnen-Shots anzuschauen. Obwohl dies schon meine zweite Drohne ist, faszinieren mich die Aufnahmen aus der Vogelperspektive noch immer.
Die Bilder verleihen den Videos das gewisse Etwas und helfen, die Botschaft noch eindrücklicher zu vermitteln. Nicht, dass irgendeines meiner Videos perfekt wäre. Im Gegenteil, manchmal will ich sie mir fast nicht noch mal ansehen, weil mir dann zig Sachen auffallen, die ich hätte besser machen können.
Aber das ist eben der Deal mit diesen wöchentlichen Uploads. Man muss so viel wie nur möglich aus der wenigen Zeit machen, die man für ein Video hat.
Und leben will ich ja schließlich auch noch.
Mit meinem Rührei und der noch halb vollen Flasche Club Mate setze ich mich an den schmalen Schreibtisch, den ich damals hier eingebaut habe, und widme mich der Speicherkarte. Die Aufnahmen vom Lake Tahoe sind atemberaubend. Das Wasser ist so unglaublich türkis, dass es aussieht, als hätte man den Regler für den Türkiston im Bildbearbeitungsprogramm bis zum Anschlag geschoben. Das erklärt jedenfalls, wieso die Bucht Emerald Bay heißt. Am liebsten würde ich sofort ins Wasser springen, aber das verschiebe ich lieber auf einen anderen Tag. Im Dunkeln ist es mir zu unsicher.
Der Schwenk vom Wasser des Sees über die dichten Fichtenwälder und die Berge der Sierra Nevada im Hintergrund verleiht den Aufnahmen den Kontrast, den sie brauchen. Die Bilder erinnern mich an meine Kindheit. An die unzähligen Campingausflüge ins Umland von L. A., an die Auszeiten mit meiner Familie, die zu meinen schönsten Erinnerungen gehören – und ich denke, einen Teil davon habe ich mit den Aufnahmen eingefangen.
Die rohen Clips sind so wunderschön geworden, dass mir der Atem stockt. Mit der richtigen Musik, gut gesetzten Schnitten und einer leichten Farbbearbeitung werden die Videos ein wahrer Augenschmaus sein.
Perfekt, um über das zu reden, was mich in den letzten Tagen beschäftigt hat: der Mut, still zu sein. Nicht tagein, tagaus die Lautstärke anderer in unsere Gedanken zu lassen – ob als Videos oder über die sozialen Medien. Seinen eigenen Gedanken endlich wieder den Raum zu geben, den sie verdienen.
Doch dafür muss man mutig sein.
Das ist zumindest meine Erfahrung, denn lange genug war ich es nicht. Mich einfach mal eine Stunde hinsetzen und gar nichts tun, einfach nur in die Weite gucken und in Gedanken schwelgen, das musste ich erst wieder lernen.
Und ich bin der festen Überzeugung, dass es vielen meiner Zuschauer genauso geht. Viel zu schnell dreht sich unsere Welt, viel zu viele Informationen prasseln Tag für Tag auf uns ein und übertönen das, was uns eigentlich zu etwas Besonderem macht.
Unsere Fähigkeit, etwas zu erschaffen.
Unserer inneren Stimme zu folgen.
Zuzuhören, wenn wir den Mut dazu haben.
»Verdammt«, murmle ich mit einem leisen Lächeln und zücke mein Notizbuch, um meine Gedanken niederzuschreiben, damit ich sie in mein nächstes Skript einarbeiten kann.
Das wird ein gutes Video.
Ich freue mich schon darauf, es zusammenzuschneiden. Aber zunächst einmal steht das auf dem Plan, was gerade online gegangen ist.
Ich öffne meinen Kanal und sehe, dass es in den ersten fünfzehn Minuten bereits von mehreren Hundert Zuschauern angeklickt wurde. Die Zahlen jagen mir auch heute wieder einen Schauder über den Rücken.
Vor anderthalb Jahren hätte ich niemals geglaubt, dass mein Kanal so schnell wachsen würde. Andere brauchen fünf, sechs Jahre, bis sie so viele Zuschauer haben – wenn sie solche Zahlen überhaupt erreichen. Bei mir brauchte es bloß ein paar wenige Videos, und die Zuschauerzahlen gingen durch die Decke – das schiebe ich nach wie vor auf mein Filmstudium und meinen Anspruch an die Qualität meiner Videos.
Dankbarkeit für das, was mir meine Zuschauer geben, durchströmt jede einzelne meiner Poren. Ich scrolle mich durch die Kommentare, lese, was sie schreiben, und freue mich darüber, dass so wenig Bullshit kommt.
Diese Leute sind echt genial. Sie lieben meine Videos, ziehen sich Inspiration daraus, geben mir Rat und wollen welchen von mir. Wenn ich manchmal sehe, was Menschen unter anderen Videos kommentieren, kann ich mich wirklich glücklich schätzen, dass meine Community so herzlich und offen ist.
LittleMuffin: Pax, ich liebe deine Videos! Sie treffen mich immer mitten ins Herz. Danke für so viel Gutes im Leben!
Micah Moretti: Alter, muss ich erst unter deinen Videos kommentieren, damit du dich mal meldest? Ruf endlich deine Schwester an, die braucht dich.
Das Herz sackt mir in die Hose, als ich den Kommentar meines Bruders entdecke. Sofort ist mein Höhenflug angesichts des positiven Feedbacks vorbei. Ich fühle mich, wie sich meine Drohne gefühlt haben muss, als sie in den Salt Lake gefallen ist. Mit dem Unterschied, dass es mir in solchen Augenblicken nicht vergönnt ist, fröhlich gluckernd unterzugehen.
Ohne lange nachzudenken, entferne ich den Kommentar, damit meine Zuschauer nichts davon mitbekommen, dass auch ich als tiefenentspannter Minimalist meine Probleme habe.
Probleme, die die Namen Micah, Allegra und Papa tragen.
Ich schreibe Micah eine Nachricht, dass ich mich bei Allegra melden werde und er aufhören soll, solche Dinge unter meine Videos zu posten. Die Antwort meines Bruders kommt prompt.
Würde ich ja, wenn du auf Nachrichten oder Anrufe reagieren würdest, du Arsch.
Seine Worte versetzen mir einen Stich.
Ich habe viel zu tun. Der Podcast und mein Kanal laufen nicht von allein.
Deine Familie läuft auch nicht von allein.
Ich wünschte, er würde es mir nicht so schwer machen. Wenn einer von ihnen mich versteht, dann er – und doch tut er es nicht. Und egal, wie oft ich es ihm erklären will, er nimmt mir meine Entscheidung immer noch übel.
Wieso also weitermachen und immer wieder auf die Fresse fliegen?
Ich rufe sie morgen an. Ehrenwort.
Ich schicke die Nachricht ab, dann schleudere ich mein Handy in hohem Bogen aufs Bett, als würde das dabei helfen, nicht an meine Geschwister zu denken. Aber Micah sei Dank werde ich vermutlich die halbe Nacht wach liegen und grübeln.
Eine Weile versuche ich, mich damit abzulenken, Kommentare zu beantworten oder zumindest Herzen zu setzen. Aber irgendwie reicht das nicht, um meinen Kopf von dem bevorstehenden Gespräch mit Allegra abzulenken, also widme ich mich lieber den Mails, die teilweise schon ein paar Tage auf mich warten. Es ist wie immer viel Spam dabei, aber es gibt auch einige nette Nachrichten von Zuschauern, die mir dringend etwas mitteilen wollen oder auf ein paar gute Tipps zum Videomachen hoffen. Vieles beantworte ich nur knapp oder gar nicht, denn wenn ich allen eine lange Nachricht zurückschreiben würde, wäre ich an meinem achtzigsten Geburtstag noch mit meinen Mails beschäftigt. Die Zeit könnte ich besser in einen Online-Kurs zum Filmemachen investieren, damit könnte ich vielleicht reich werden – zumindest wenn all die Leute, die mich um Rat bitten, auch tatsächlich dafür bezahlen würden.
Es sind aber auch einige Nachrichten dabei, die interessant klingen. Anfragen von Marken für Kooperationen, die dafür sorgen, dass ich mir dieses Leben weiterhin leisten kann, oder Mails von Kollegen und Bekannten, die ich in meinen Podcast eingeladen habe oder mit denen ich auf irgendeine andere Weise zusammenarbeiten möchte.
Das sind die Mails, die mich tatsächlich von meinen familiären Problemen ablenken. Ich bin schon eine gute Stunde damit beschäftigt, Termine einzutragen oder Themenvorschläge für meinen Podcast zu formulieren, als mir eine der neueren Mails ins Auge fällt. Allein der Betreff sorgt dafür, dass mein Herz schneller schlägt. Hollywood? Ich träume schon seit meiner Kindheit davon, meine Fähigkeiten irgendwann bei einer großen Produktion beweisen zu können. Ist das vielleicht meine Chance?
Neugierig öffne ich die Mail.
Von: [email protected]
Betreff: Kooperation mit Holly Wood
Lieber Pax,
als Managerin beim Los Angeles Artist Management vertrete ich unter anderem Holly Wood vom Youtube-Kanal Holly Wood’s DIY. Sie hat mir von einem Kommentar unter ihrem Video erzählt, der eine Zusammenarbeit mit dir vorschlägt. Ich habe mir deinen Kanal angesehen und finde deine Arbeit großartig! Ein gemeinsames Video mit Holly stelle ich mir sehr spannend für eure Zuschauer vor – du als Minimalist und sie als Dekoqueen.
Falls du Lust auf ein gemeinsames Projekt hast, melde dich gerne bei ihr: [email protected].
Maevis King
Los Angeles Artist Management
Enttäuschung macht sich in mir breit. Irgendwie hatte ich auf eine andere Art von Mail gehofft. Eine Möglichkeit, eine Tür, die sich für mich öffnet, um mich dorthin zu führen, wo ich mich schon lange hinträume.
Erst jetzt fällt mir auf, dass »Holly Wood« in der Betreffzeile nicht zusammengeschrieben ist. Da habe ich mich wohl ein bisschen zu sehr von meiner Hoffnung leiten lassen.
Kooperationen sind generell super – sie helfen mir dabei, mehr Zuschauer auf meinen Kanal aufmerksam zu machen. Zumindest dann, wenn man sie mit den richtigen Leuten realisiert. Dass Holly mich nicht selbst angeschrieben hat, sondern die Mail von ihrem Management kam, lässt vermuten, dass sie bekannt ist.
Ich suche auf Youtube nach ihrem Kanal, um mehr über sie herauszufinden. Die Belustigung über ihren Namen bleibt mir allerdings im Halse stecken, als ich sehe, wie viele Abonnenten sie hat.
»Acht Millionen?«, keuche ich überrascht auf. Das sind achtmal so viel, wie ich habe.
Holly ist einer der Stars dieser Plattform, und mir wird schnell klar, wieso. Sie ist bunt und laut, sie lacht gerne und zeigt der Welt, wer sie ist. Eine hübsche Frau mit dunklem Haar und einer besonderen Vorliebe für ausgefallene Kleidung. Noch dazu hilft sie mit ihren Videos den Menschen, die eher zwei linke Hände haben. Ich sortiere die Liste nach den beliebtesten Videos und suche nach etwas, was für mich interessant ist. Die Tutorials für den Back-to-School-Kram überspringe ich lieber, ein paar ihrer Vlogs speichere ich mir für später, genauso wie ein paar der Videos, in denen sie zeigt, wie sie auf ihrem Tablet ihre digitalen Kunstwerke entstehen lässt.
Hi, mein Name ist Holly Wood (ja, wirklich!), heißt eines ihrer beliebtesten Videos. Ich klicke auf Play, weil ich hoffe, darin mehr über sie zu erfahren, und höre gespannt zu.
»Hi, mein Name ist Holly Wood«, beginnt sie und lächelt charmant in die Kamera. Unwillkürlich erwidere ich ihr Lächeln. »Das ist kein Scherz und auch kein Clickbait und, nein, auch kein peinlicher Künstlername, aber danke für den netten Kommentar, der das behauptet hat. Mein Name ist Holly Wood, und ich bin stolz darauf.«
Es folgt ein professionell gemachter, kurzer Trailer, in dem Holly, eine weiße Perserkatze und ein paar kurze Aufnahmen von ihr in Aktion zu sehen sind. Dann geht es mit dem Video weiter.
»Es gibt wohl kaum ein spannenderes Thema in den Kommentaren zu meinen Videos als meinen Namen«, erklärt sie schmunzelnd. Sie hat süße Grübchen, die sie sehr sympathisch machen, und in ihren rehbraunen Augen reflektiert sich das Ringlicht, mit dem sie die Aufnahme ausleuchtet. Egal, wie sehr sie das Video nachbearbeitet hat, das Strahlen in ihrem Gesicht ist echt. Es ist das, was ich in jedem Youtuber sehe, der mit Leidenschaft bei der Sache ist. »Also dachte ich mir, ich räume ein für alle Mal mit dem Thema auf, damit ihr euch nicht mehr den Kopf darüber zerbrechen müsst, ob ich wirklich Holly Wood heiße. Denn ja, das tue ich. Und heute erzähle ich euch, wieso.«
In den folgenden fünf Minuten berichtet sie von einer Affäre, die in Hollywood begann und mit der Geburt einer Tochter endete. Hollys Vater scheint irgendeine Berühmtheit zu sein, ihre Mutter eine Kleinstädterin von der Ostküste, die eine Zeit lang in Kalifornien gelebt hat. Als Hollys Mom schwanger wurde, begrub sie ihren Wunsch nach einer Schauspielkarriere und kehrte stattdessen in ihre Heimat zurück, wo sie Holly nach dem Ort ihrer verlorenen Träume benannte.
»Tja, Freunde, das ist die traurige Geschichte, wie ich zu diesem Namen gekommen bin«, beendet sie ihre Erzählung, und obwohl die Geschichte wirklich irgendwie traurig ist, lächelt sie. »Aber wisst ihr, andere Leute heißen Paris oder North West, ich finde also, mit Holly habe ich es gar nicht so schlecht getroffen. Und abgesehen davon kommt es doch wirklich nicht auf den Namen an, den eine Person trägt. Es gibt so viele Dinge, die wichtiger sind, und ich würde mir wünschen, dass wir als Community den Fokus auch auf diese Dinge legen, statt immer wieder sinnlose Unterhaltungen über meinen Namen zu führen. Ich bin mir sicher, wir schaffen das.«
Sie verabschiedet sich von ihren Zuschauern. Ich drücke auf Pause und scrolle zu den Kommentaren, in denen sich viele positiv äußern und sie dafür loben, das Thema so offen angegangen zu sein. Es findet sich aber auch viel Bullshit darunter, was echt deprimierend ist. Leider ist das wohl normal in einer Zeit, in der die Anonymität des Internets einem das Gefühl gibt, es wäre okay, ein Arsch zu sein.
Los Angeles, Kalifornien
»Eliza fragt, wann du uns mal wieder besuchen kommst«, begrüßt mich Mom in anklagendem Tonfall, und ich ahne, dass es nicht nur meine Schwester ist, die mich dringend wiedersehen will, sondern in erster Linie sie selbst. »Sie denkt schon, du vermisst uns gar nicht.«
»Und wie ich euch vermisse!«, erwidere ich und kraule im Vorbeigehen Orlandos Köpfchen. Der Kater hat sich auf meinem Bett zusammengerollt und bewacht die Bügelwäsche, auf die ich um diese Uhrzeit keine Lust mehr habe. »Ich kann hier nur gerade nicht weg. Es laufen so viele coole Sachen, und i…«
»Holly! Du warst schon so lange nicht mehr hier. Komm doch wenigstens zu deinem Geburtstag her. George und ich haben uns extra freigenommen.«
Ich verziehe das Gesicht. Mir war klar, dass eine derartige Predigt nicht mehr lange auf sich warten lassen würde. Immerhin sind meiner Mom Geburtstage heilig, und ich habe in den letzten beiden Jahren nicht nur ihren, sondern auch die von Eliza und meinem Stiefvater verpasst, weil ich mich nicht getraut habe, in meine Heimat zurückzukehren.
»Ich weiß, Mom. Ich hab’s einfach nicht geschafft. Ich würde echt gerne kommen, aber im September stehen schon so viele Termine in meinem Kalender.«
Noch eine Lüge.
Mom seufzt. »Leslie zieht nächsten Monat weg.«
Mein Magen verkrampft sich, so wie jedes Mal, wenn Leslie zum Gesprächsthema wird – und obwohl ich sie am liebsten vergessen würde, frage ich: »Wohin geht sie denn?«
»Nach New York.« Ich höre, wie Mom in der Küche hantiert. »Katherine war letztens zum Kaffee hier und hat mir davon erzählt. Sie hat wohl einen tollen Vertrag abgeschlossen und zieht jetzt für ein halbes Jahr in eine WG mit zwei anderen Youtuberinnen.«
Nach New York also. Das hört sich wirklich nach einer tollen Gelegenheit an. Von Leslies Arbeit zu hören, versetzt mir wie jedes Mal einen Stich. Ich wünschte, es wäre mir egal oder ich könnte mich vielleicht sogar für sie freuen, aber nach allem, was geschehen ist, werde ich das wohl niemals schaffen.
»Hat Katherine noch mehr darüber erzählt?«, hake ich vorsichtig nach, auch wenn ich nicht weiß, ob ich überhaupt weitere Erfolgsgeschichten von Leslie hören will. Aber wenn sie einen Vertrag mit Youtube gemacht hat, vielleicht sogar in einer der neuen Serien auftreten wird … dann will ich das wissen, bevor mich die Startseite demnächst damit überrumpelt.
»Du kennst Katherine doch. Sie hat eigentlich keine Ahnung davon, was ihre Tochter macht.« Mom lacht leise auf. »Genau wie ich. Aber das könntest du ändern, indem du uns mal wieder besuchst. Jackson zieht übrigens auch in ein paar Wochen weg. Er hat einen Job in Philly angenommen, habe ich gehört.«
Der Klumpen in meinem Magen wird noch fester. Ich bezweifle, dass Mom wirklich versteht, was passiert ist, sonst würde sie nicht glauben, dass ich durch Leslies und Jacksons Weggang die Ereignisse der Vergangenheit vergessen könnte.
»Ich kann wirklich nicht, selbst wenn die beiden nicht mehr da sind. Aber was hältst du davon, wenn ich euch Flugtickets buche? Dir, Eliza und George? Wir könnten meinen Geburtstag hier in L. A. feiern«, schlage ich vor und höre mich jämmerlich dabei an. Aber ich kann nichts dafür – ich vermisse meine Familie wirklich, auch wenn Mom mir das nicht immer zu glauben scheint. »Ich kann bestimmt zwei oder drei Termine verschieben, sodass wir einen Ausflug in die Berge machen können.«
»Du weißt doch, dass ich nie wieder nach L. A. zurückkehren wollte. Und lange Strecken wandern kann ich auch nicht mehr.« Sie klingt hart, unnachgiebig irgendwie, und ich kann immer noch den Schmerz heraushören, den ich ihr vorletztes Jahr zugefügt habe, als ich mir nichts, dir nichts meine Sachen gepackt habe, um ausgerechnet hierher zu ziehen.
Ratlos suche ich nach den richtigen Worten, um sie zu überzeugen. »Wir müssen ja nicht ewig lange laufen. Wir können auch einfach in L. A. bleiben. An den Strand fahren oder eine Ausstellung besuchen. Mach eine Ausnahme, Mom, bitte.« Ich flehe sie beinahe an. »Für mich.«
»Du könntest dich auch einfach in ein Flugzeug setzen und nach Hause kommen. Für uns.«
Und schon sind wir wieder da, wo wir seit zwei Jahren stecken. Sie will nicht nach L. A., ich will nicht zurück nach Maybrook, und uns alle in der Mitte zu treffen, haben wir bisher erst ein einziges Mal geschafft.
»Überleg es dir einfach«, bitte ich sie schließlich. »Ich bezahle die Flüge und die Unterkunft. Ich muss jetzt los, Mom.«
Sie seufzt und atmet schwer aus. »Ich habe dich lieb, Schatz.«
»Ich dich auch.« Ich drücke einen Kuss in den Hörer, bevor ich das Gespräch beende und niedergeschlagen auf dem Bett zusammensacke. Orlando nutzt die Gelegenheit und springt mir auf den Brustkorb, um sich schnurrend darauf zusammenzurollen. Er weiß, wann ich ihn brauche. Wusste er schon immer.
»Vielleicht sollte ich mit George sprechen und ihnen einfach Tickets schicken«, überlege ich laut, um mich von dem Gedankenchaos, das in meinem Kopf tobt, abzulenken. George würde sich mit Eliza verbünden, und die beiden würden Mom so lange bearbeiten, bis sie einfach nachgeben muss – und wenn sie erst hier sind, wird Mom sehen, dass ihre Geschichte schon so lange zurückliegt, dass sie gar nicht mehr daran denken muss.
Die Idee finde ich so gut, dass ich Orlando von mir schiebe und aufspringe, um zu meinem Telefon zu hechten und bei meinem Stiefvater anzurufen. Erst ist er skeptisch, aber als ich ihm von all den Dingen vorschwärme, die wir hier unternehmen könnten, ist er Feuer und Flamme und verspricht, sein Glück bei Mom zu versuchen.
Eine gute Stunde später habe ich ein paar Termine verschoben und nicht nur Flüge für die drei gebucht, sondern auch eine erstklassige Unterkunft ganz in der Nähe meines Apartments. Ich hätte sie gerne bei mir wohnen lassen, aber dafür ist die Wohnung zu klein … oder die Masse an Kram, die ich besitze, einfach zu groß.
Nachdem das geschafft ist, widme ich mich wieder meiner Arbeit. In meinem Postfach warten ein paar Mails auf mich, aber da Maevis sich in der Regel darum kümmert, überfliege ich bloß die Absender, um zu sehen, ob etwas davon wichtig ist. Doch bei einer Nachricht macht mein Herz plötzlich einen Satz. Maevis hat doch nicht etwa …?
Von: [email protected]
Betreff: Lust auf eine Kooperation?
Hey, Holly,
dein Management hat mich kontaktiert und nach einer Zusammenarbeit gefragt. Ich bin gerade in Kalifornien. Wenn du Lust hast, können wir uns gerne auf einen Kaffee treffen und ein paar Ideen durchsprechen. Meld dich doch!
Bis demnächst vielleicht,
Pax
Himmel! Mir wird abwechselnd heiß und wieder kalt. Was hat sich Maevis nur dabei gedacht? Wenn es nicht bereits so spät wäre, würde ich sie direkt anrufen und zusammenstauchen, weil sie sich über meine Einwände hinweggesetzt hat. Aber das muss bis morgen warten.
Da sie es wahrscheinlich so formuliert hat, als wäre die Idee von mir gekommen, bleibt mir kaum etwas anderes übrig, als mich wenigstens mit ihm zu treffen. Andernfalls merkt er ja sofort, dass ich nicht mal halb so cool bin, wie ich online vorgebe zu sein.
*
Am nächsten Morgen weckt mich die Türklingel. Stöhnend streife ich die Bettdecke zurück und werfe einen kurzen Blick in den Spiegel.
Guten Morgen, Medusa, begrüße ich mich in Gedanken und versuche, zumindest die dunklen Mascaraschatten unter meinen Augen fortzuwischen, bevor ich die Haustür öffne.
»Sag bloß, du hast unser Meeting vergessen?« Maevis schiebt sich an mir vorbei in die Wohnung. Sie riecht verführerisch nach gutem Kaffee und dem Parfüm, das ich für ein Video hergestellt und ihr zum letzten Geburtstag geschenkt habe. »Oder haben dich die Gedanken an Pax etwa wachgehalten?«, fügt sie schmunzelnd hinzu.
»Wundert dich das etwa? Nach deiner Mail gestern hat er mir sofort geschrieben«, erwidere ich anklagend und schließe die Tür, um ihr ins Wohnzimmer zu folgen. Gähnend schiebe ich einen Stapel Stoffe beiseite und lasse mich auf die Couch fallen.
»So schnell?« Überrascht verzieht sie den Mund. »Und? Habt ihr euch verabredet?«
»Morgen früh zum Frühstück.« Ich stiere sie finster an. »Das ist deine Schuld.«
Breit grinsend drückt sie mir einen Becher von Starbucks in die Hand. »Hier, ein Versöhnungsangebot, weil ich ihn kontaktiert habe. Ein Vanilla Latte mit Hafermilch und einem extra Schuss Karamellsirup. Vielleicht hilft dir das, wach zu werden und dich über die neue Möglichkeit zu freuen. Wieso trägst du überhaupt noch deinen Schlafanzug? Ich bin schließlich ein ganzes Stück zu spät. Der Verkehr war die Hölle.«
»Was?« Aber tatsächlich: Es ist schon halb zwölf, und damit hätte unser Meeting schon vor einer halben Stunde anfangen sollen. »Verdammt! Ich habe total verschlafen, tut mir leid.«
»Kein Wunder. Ich kann ja verstehen, dass dich das alles nervös macht, aber«, sie hebt mahnend einen Zeigefinger, »unser Programm ist straff. Ich habe jede Menge Anfragen von Firmen mitgebracht, die gerne mit dir zusammenarbeiten wollen. Und die Social Media Week steht auch bald vor der Tür. Du weißt, wie wichtig diese Convention für uns ist. Außerdem müssen wir das Programm für die kommenden Monate durchsprechen. Also los, geh dich fertig machen. Ich will vor den Kindern zu Hause sein, damit ich noch heimlich den Kuchen essen kann, den ich mir von Starbucks mitgenommen habe.«
»Ist ja gut.« Ich genehmige mir noch einen großen Schluck von meinem Kaffee, bevor ich ins Badezimmer verdufte, um mich anzuziehen, mir die Zähne zu putzen und meine Haare zu einem lockeren Pferdeschwanz zusammenzubinden. Für mehr habe ich keine Zeit und auch keine Geduld – ich bin viel zu neugierig, was mir Maevis dieses Mal auf den Tisch legen wird.
Und das ist wie versprochen ganz schön viel. Maevis und ich planen erst das Programm für die Convention in sechs Wochen und verbringen dann fast anderthalb Stunden damit, die nächsten Kooperationen mit Firmen durchzusprechen und über die Inhalte nachzudenken, die wir auf meinem Kanal und meinem Instagram-Feed in den kommenden Monaten bringen möchten.
»Hier, die wollen noch mal eine Kooperation mit dir«, sagt Maevis und deutet auf ihr E-Mail-Postfach, in dem sich eine Anfrage einer Online-Lernplattform befindet.
»Erneut?« Überrascht überfliege ich die Zeilen. »Oh, sie wollen einen Kurs mit mir auf ihrer Seite featuren? Wie cool! Das machen wir auf jeden Fall! Ich habe schon eine Idee.«
Ich springe auf und laufe in mein Büro, um die Lesezeichen und Schmuckanhänger zu holen, die ich vor ein paar Tagen aus Epoxidharz gegossen habe. Nacheinander breite ich sie vor Maevis auf dem Tisch aus. Sie betrachtet sie begeistert.
»Was hältst du davon?«, frage ich sie. »Mit Epoxidharz kann man so unglaublich tolle Dinge basteln. Da fällt uns bestimmt was Spannendes ein.«
»Holly, die sind wunderschön.« Sie hält eines der klaren Lesezeichen ins Licht. Das dünne Blattgold darin funkelt und betont die verschiedenfarbigen getrockneten Blüten, die ich in das Harz eingearbeitet habe.
»Darf ich mir eines mitnehmen?«, fragt Maevis.
»Klar! Such dir gerne welche aus. Ich überlege, die Sachen auch in meinen Shop aufzunehmen. Ohne Witz, du musst dir echt mal ein paar Videos dazu anschauen. Daraus kann man sogar Tischplatten gießen!« Ich grinse sie an und nehme ein Lesezeichen, in das ich blaue Farbe eingearbeitet habe, sodass es aussieht, als würde es sich dabei um Wellen handeln. »Ich bin total angefixt und habe auch schon tausend Ideen, was man noch mit Epoxidharz machen könnte: Untersetzer, Schmucktabletts, ganze Schmuckkollektionen …«
Jetzt bin ich richtig in Fahrt und komme aus dem Schwärmen gar nicht mehr heraus.
Maevis lacht und steckt ein Lesezeichen in ihre Tasche. »Deine Kreativität hätte ich gerne. Learning Skills wird begeistert sein.«
Lake Tahoe, Kalifornien
Langsam lasse ich den Atem durch meine Nase ausströmen, doch es hilft alles nichts. Die Gedanken, die seit der Mail von Holly in meinem Kopf kreisen, wollen einfach nicht zur Ruhe kommen.
Ich hätte ihr nicht anbieten sollen, nach L. A. zu kommen. In die Stadt mit ihrem erstickenden Verkehr und den tückischen Erinnerungen, die dort hinter jeder Ecke lauern.
Es ist nur für einen Tag, rede ich mir ein, aber das Gefühl, einen Fehler gemacht zu haben, bleibt.
Seufzend beende ich meine Meditation, stehe auf, klopfe mir den Staub von der Badehose und gehe ans Ufer. Es ist schon Mittag, doch heute ist der Himmel nicht so sattblau wie gestern, was womöglich der Grund dafür ist, dass nicht so viele Besucher am See sind. Heiß ist es dennoch. Die Sommer in Kalifornien können einem schon mal das Genick brechen, wenn man diese Hitze nicht gewohnt ist.
Über mir fliegen zwei Vögel, und irgendwo in der Ferne höre ich das gedämpfte Brummen eines Motorbootes, das ich jedoch nirgends entdecken kann. Es muss auf dem großen Teil des Sees unterwegs sein, den man von dieser Bucht aus nicht einsehen kann.
Das Wasser kühlt meine erhitzte Haut und vertreibt die Müdigkeit, die nach dem Videoschnittmarathon der letzten Nacht in meinen Gliedern sitzt. Immerhin ist mein nächstes Video fast fertig, nur das Voiceover muss ich noch mal neu aufnehmen, denn so spät in der Nacht war meine Stimme viel zu rau.
Aber wenn ich mit dem Video fertig bin, habe ich bereits Content für die nächsten drei Wochen und kann ein bisschen Pause machen. Kreative Energie tanken und mich auf die Suche nach neuer Inspiration begeben.
Ich tauche unter und blende die Welt für einen Moment aus. Das Wasser ist so klar, dass ich kleine silberfarbene Fische umherschwimmen sehen kann. Sie bewegen sich in einem Schwarm, von links nach rechts, von hierhin nach dorthin, und ihr schuppiges Gewand glitzert dabei immer wieder im einfallenden Licht. Keiner von ihnen schwimmt gegen den Strom, was ich ein bisschen schade finde, denn die Schönheit liegt oft in der Unordnung der Dinge. Aber für einen Fisch wäre es vermutlich gefährlich, sich aus der Gruppe zu lösen und eine andere Richtung einzuschlagen.
Ich tauche wieder auf, plötzlich befallen von der Inspiration für ein neues Projekt. Gegen den Strom schwimmen. Dinge tun, die niemand sonst tun würde. Das erfordert Überwindung, aber die Belohnung ist dafür umso größer.
Schnell schwimme ich zurück ans Ufer und laufe zu meinem Van, um meine Gedanken nicht im Wasser zu verlieren. Ich trockne mich notdürftig ab und krame mein Notizbuch hervor, um aufzuschreiben, was mir gerade durch den Kopf geht.
Es gibt nur noch wenige leere Seiten, so viel Inspiration konnte ich auf meiner anderthalbjährigen Reise schon sammeln. Viele dieser Gedanken habe ich umgesetzt, einige warten immer noch auf den richtigen Zeitpunkt. Aber bei dieser Idee bin ich mir sicher, dass sie nicht lange Theorie bleiben wird.
Zu diesem Thema will ich schon eine ganze Weile ein Video machen, um meinen Zuschauern Mut zuzusprechen. Den braucht man oft, um Grenzen zu durchbrechen und das zu tun, was einen wirklich glücklich macht. Ich weiß zumindest, dass ich eine Weile gebraucht habe, bis ich mich getraut habe, meinen Podcast und den Youtube-Kanal zu starten.
Aber das Leben ist zu kurz, um seine Träume nicht zu erfüllen. Auch das musste ich auf schmerzhafte Weise lernen.
Die Gedanken an meine Familie bringen die Erinnerung an die Nachrichten von Micah zurück.
»Verdammt«, murmle ich und nehme mein Handy, um bei Allegra anzurufen. Nicht dass Micah sich noch in sein Auto setzt, weil er meint, er müsse mich an den Ohren zu ihr schleifen.
Es dauert nicht lange, bis sie sich meldet. »Pascal?«
»Ja, hi, äh … wie geht’s dir?«
»Was willst du?«, brummelt sie in bester Allegra-Manier. »Hat Micah dir gesagt, dass du anrufen sollst?«
»Nein, ich … ja, hat er«, gebe ich zu und fühle mich schlecht, weil ich mich ohne die Ansage meines jüngeren Bruders vermutlich noch eine ganze Zeit lang nicht gemeldet hätte. »Aber ich wollte sowieso mal wieder anrufen, um zu hören, wie es bei dir läuft«, flunkere ich.
Sie seufzt und bittet jemanden, kurz zu warten. »Es ist echt nett, dass du an mich denkst, aber ich sitze gerade an einer Hausarbeit, die ich in ein paar Tagen abgeben muss.«
»Oh, klar. Das ist gut.« Ich nicke zufrieden. »Das heißt, du bist wieder voll drin?«
»Kann man so sagen.« Es tut weh, den unterkühlten Ton in ihrer Stimme zu hören. Ich vermisse die alte Allegra. Die, mit der man den ganzen Tag herumalbern konnte. »Hör zu, ich muss wirklich Schluss machen. Eine meiner Freundinnen hilft mir hier mit dem Stoff, ich will sie nicht so lange warten lassen.«
»Okay …« Obwohl ich sie eigentlich gar nicht anrufen wollte, bin ich nun traurig, dass sie sich nicht mal ein paar Minuten Zeit für mich nehmen möchte. Schon verrückt. »Ich wünsche dir viel Erfolg für die Hausarbeit. Melde dich doch, wenn du wieder mehr Zeit hast.«
»Mach ich«, erwidert sie, doch ich ahne, dass es nur ein leeres Versprechen ist. Sie wird mich nicht anrufen, genauso wenig wie ich sie in den letzten Monaten angerufen habe. »Bis bald, Pascal.«
»Bis bald, Lela.« Ich lege seufzend auf und fahre mir mit beiden Händen durch die Haare. Ist es meine Schuld, dass wir an diesem Punkt stehen?
*
Einige Zeit später bin ich bereit, mich meiner Vergangenheit zu stellen. Nun ja, nicht wirklich, aber nachdem ich mich für den nächsten Tag mit Holly zum Frühstück verabredet habe, muss ich mich wohl oder übel auf den Weg nach L. A. machen. Nach der Mail ihrer Managerin ist mir schnell klar geworden, dass ich mir diese Kooperation nicht entgehen lassen sollte – spätestens als ich das Foto von Holly und Perry James in ihrem Instagram-Feed gesehen habe. Wer mit einem so großartigen Regisseur befreundet ist, ist mindestens ein Frühstück wert – wenn nicht sogar mehrere. Ich meine, der Typ hat einen Oscar bekommen. Ihn zu treffen, ihm vielleicht sogar ein paar meiner besten Aufnahmen zu zeigen … das wäre eine unglaubliche Chance.
Die Fahrt nach L. A. dauert fast acht Stunden, und einen großen Teil davon möchte ich tagsüber hinter mich bringen, damit ich die Nacht nutzen kann, um mich zu erholen.
Unterwegs höre ich zwei Podcasts – ein Interview mit einer Autorin über White Saviorism und ein Gespräch über Essentialismus mit Greg McKeown, den ich sehr bewundere –, bevor ich schließlich auf eine Playlist wechsle und mir mit Musik die Zeit vertreibe.
Auf den Straßen ist die Hölle los, und ich bereue es ein weiteres Mal, mich mit Holly verabredet zu haben. Als ich wenig später im Stau stehe, weil durch die Hitze ein Feuer am Straßenrand entstanden ist und gelöscht werden muss, ist meine Laune am Tiefpunkt. Ich denke kurz darüber nach, den Van einfach zu wenden, zur nächsten Ausfahrt zu fahren und mich auf den Weg nach New York zu machen. So weit weg von L. A. wie nur möglich.
Aber da rauscht die Polizei an mir vorbei und erinnert mich daran, dass es mich ziemlich viel Geld kosten könnte, wenn ich den Highway falsch herum verlasse. Außerdem wäre Micah vermutlich noch enttäuschter von mir, als er es sowieso schon ist. Also ergebe ich mich meinem Schicksal, schalte den Motor aus und klettere durch die Vordersitze nach hinten, um ein paar der Dinge zu erledigen, die ich sowieso schon die ganze Zeit machen wollte: meine Steuerunterlagen sortieren, das kleine eingebaute Badezimmer putzen … Dinge eben, die man praktischerweise direkt erledigen kann, wenn man im Stau steht und sein Zuhause immer dabeihat.
Die Löscharbeiten dauern geschlagene zwei Stunden, sodass ich L. A. erst in der Abenddämmerung erreiche und mich trotzdem noch eine Weile durch dichten Verkehr fädeln muss. Mit jeder Meile durch die Straßen, die mir einst so vertraut waren, zieht sich mein Herz stärker zusammen. Der Verkehr lichtet sich erst, als ich vom Highway abfahre und der Straße folge, die sich über den Franklin Canyon schlängelt.
Ende der Leseprobe