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Eine teuflisch grinsende Clownsmaske auf dem Bett, ein toter Vogel im Rucksack und unheimliche Schatten, die sie verfolgen. Seit Ella eines Nachts auf dem Nachhauseweg von einem maskierten Mann angegriffen wurde, lebt sie in ständiger Angst vor einem weiteren Überfall. Doch nicht nur Ella steht auf der Liste des Unbekannten. Als zwei Mädchen verschwinden und eine Leiche geborgen wird, spitzt sich die Situation dramatisch zu. Mehr als jemals zuvor benötigt Ella den Beistand ihres Schwarms Jenson, denn nur in seinen starken Armen fühlt sie sich sicher. Aber der Killer spielt ein ausgeklügeltes Spiel ...Nach »Deadly Ever After« der neue sexy Thriller von SPIEGEL-Bestseller-Autorin Jennifer L. Armentrout! »Ich liebe die prickelnd-explosive Mischung von Romanen, die Romantik und Verbrechen verbinden!« Jennifer L. Armentrout über »Deadly Ever After« und »The Dead List«
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Mehr über unsere Autoren und Bücher:www.piper.deFür alle Leser, die dieses Buch in die Hand nehmen, obwohl darin ein Clown vorkommt.Übersetzung aus dem Amerikanischen von Vanessa LamatschISBN 978-3-492-99162-9© Jennifer L. Armentrout 2017Titel der amerikanischen Originalausgabe: »The Dead List«, Amazon Digital Services LLC / Jennifer L. Armentrout 2017© der deutschsprachigen Ausgabe: Piper Verlag GmbH, München 2018Covergestaltung: zero-media.net, MünchenCovermotiv: FinePic®, MünchenDatenkonvertierung: Fotosatz Amann, MemmingenSämtliche Inhalte dieses E-Books sind urheberrechtlich geschützt. Der Käufer erwirbt lediglich eine Lizenz für den persönlichen Gebrauch auf eigenen Endgeräten. Urheberrechtsverstöße schaden den Autoren und ihren Werken. Die Weiterverbreitung, Vervielfältigung oder öffentliche Wiedergabe ist ausdrücklich untersagt und kann zivil- und/oder strafrechtliche Folgen haben. In diesem E-Book befinden sich Verlinkungen zu Webseiten Dritter. Wir weisen darauf hin, dass sich der Piper Verlag nicht die Inhalte Dritter zu eigen macht.
Inhalt
Cover & Impressum
Damals
Kapitel 1 – Heute
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Damals
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Damals
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Damals
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Damals
Kapitel 24
Danksagung
Damals
Penn Deaton wirkte jünger, als er in Wahrheit war, keineswegs wie dreizehn. Mit seinen dünnen Armen und Beinen war er der Kleinste von uns und wurde im Sportunterricht immer als Letztes in die Mannschaft gewählt, wenn er denn überhaupt gewählt wurde. Er interessierte sich mehr dafür, mit dem Spektiv, das sein Großvater ihm vor zwei Jahren zu Weihnachten geschenkt hatte, Vögel zu beobachten, als dafür, einen Ball durch die Gegend zu kicken.
Ich verstand diese ganze Vogelsache nicht und hätte eine Spottdrossel nicht einmal dann erkannt, wenn mein Leben davon abgehangen hätte, aber ich saß mit ihm im Baumhaus tief im Wald hinter dem Haus seiner Eltern, meinen Rucksack vergessen in einer Ecke, während meine Beine über den Rand baumelten. Einer meiner Flip-Flops war bereits abgestürzt, der andere hing unsicher an meinen Zehen. Wir waren ziemlich weit oben. Ein Sturz in die Tiefe hätte wahrscheinlich schlimmere Folgen als nur einen Besuch in der Notaufnahme. Es überraschte mich immer wieder, dass Penn hierherkam, da er doch Höhenangst hatte, aber anscheinend war sein Interesse für Vögel stärker als seine Furcht.
Ich hätte andere Dinge tun können, als hier zu sitzen und darauf zu warten, dass Penn sah, was er sehen wollte, bevor wir zu Gavin gingen. Laufen, zum Beispiel. Ich liebte es zu laufen. Die brennende Lunge in meinem Brustkorb und das Gefühl, wenn meine Muskeln sich an- und entspannten, während die Sohlen meiner Turnschuhe auf den Boden klatschten, erzeugten in mir ein unglaubliches Hochgefühl. Wenn ich in die Highschool kam, würde ich mich den Teams vom Geländelauf und dem vom Bahnlauf anschließen.
Ich hätte schon zu Gavins Haus vorgehen können. Er hatte Hausarrest und durfte nach der Schule nicht mehr draußen spielen, weil er die Raketen gezündet hatte, die er letzte Woche in der Garage seiner Eltern gefunden hatte. Er hatte noch für ungefähr eine Billion Jahre Hausarrest. Aber er hatte eine neue Spielekonsole, die sie ihm nicht abgenommen hatten, und wir durften ihn immer noch besuchen. Jensen war wahrscheinlich schon dort und wartete auf Penn und mich. Ihm fehlte die Geduld, im Baumhaus zu sitzen und nach Vögeln Ausschau zu halten. Jensen wurde im Sportunterricht immer als Erster in die Mannschaft gewählt, und wenn er gerade keinen Joystick in der Hand hielt, spielte er für sein Leben gern Fußball.
Keiner unserer Eltern hatte je versucht, uns vier voneinander fernzuhalten oder unsere Clique zu trennen, selbst wenn wir Ärger gemacht hatten. Seit der Grundschule fanden wir immer einen Weg, zusammen zu sein. Wir waren wie Erbsen in einer Schote, wie meine Großmutter gesagt hätte. Ich fand diesen Ausdruck etwas seltsam, aber wir waren die besten Freunde, und keiner konnte sich zwischen uns stellen.
Doch nun begannen die Dinge sich zu verändern, auch wenn ich nicht wirklich verstand, warum. Gavin verbrachte seine Zeit nicht mehr gern im Baumhaus, und manchmal wurde er rot und benahm sich seltsam. In der Schule wollten alle ständig mit Jensen zusammen sein, besonders die Mädchen.
Ich biss mir auf die Unterlippe, als mein Magen ins Trudeln geriet, genau wie mein Flip-Flop, der vorhin zu Boden gefallen war.
Meine Mom sagte, Jensen wachse wie Unkraut, und sie hatte recht. Er war bereits ein gutes Stück größer als wir anderen. Ich dagegen wuchs gar nicht – nirgends. Seufzend betrachtete ich mein T-Shirt. Ich sah genauso aus wie letztes Jahr und das Jahr davor und das Jahr davor. Immer noch hatte ich keine Brüste, nicht mal ansatzweise. Wenn ich meine Haare unter einer Mütze versteckte, wurde ich nach wie vor mit einem Jungen verwechselt. Ich war davon überzeugt, dass mir nie Brüste wachsen würden wie den anderen Mädchen in meiner Klasse. Und das bedeutete wahrscheinlich, dass Jensen in mir nie etwas anderes sehen würde als das Mädchen, das oft für »einen der Jungs« gehalten wurde.
Bah!
Ich weiß nicht mal, wieso es mich interessiert, ob Jensen morgen aufwachte und bemerkte, dass ich ein Mädchen war. Dieser gesamte Gedankengang ist dämlich, sagte ich mir, als ich an meinem Nagel kratzte, statt daran zu kauen – eine Angewohnheit, die Mom missbilligte. Es spielte keine Rolle, ob ich mich veränderte, denn Penn hatte sich auch nicht verändert, und obwohl es mit jedem Monat in der Schule schwerer für ihn wurde, war er immer noch derselbe alte Penn. Und dafür liebte ich ihn irgendwie.
»Da!«, flüsterte Penn aufgeregt. »Direkt da vorn, Ella.«
Ich sah auf, kniff die Augen zusammen und blinzelte in Richtung des Baumes, auf den er zeigte. Ich brauchte ein paar Sekunden, um den Vogel mit den dunklen Flügeln und dem ansonsten leuchtend hellroten Gefieder zu entdecken.
Ich schüttelte den Kopf, als der Kardinal auf einen niedrigen Ast hüpfte, sodass die Blätter zitterten. »Diese Art mag ich nicht.«
Penn sah zu mir, wobei er das Spektiv kurz vor dem Okular umklammerte. Seine dunkelbraunen Augen leuchteten auf vor Aufregung. »Warum? Er ist doch wunderschön.«
»Ich weiß nicht.« Ich zog meinen Fuß nach oben, als der Vogel abhob und tiefer ins Geäst hüpfte, wo er ein Versteck zwischen den Blättern fand. Dann zog ich den verbliebenen Flip-Flop aus und legte ihn neben mir ab. »Die Farbe von seinem Gefieder ist so unnatürlich. Der Vogel sieht aus, als hätte er ein Bad in seinem eigenen Blut genommen.«
Penn starrte mich mit offenem Mund an. »Das … das ist abartig.«
Ich kicherte. »Aber du kannst es nicht abstreiten.«
»So habe ich das noch nie betrachtet. Hm.«
Penn senkte seinen Kopf wieder und presste sein Auge auf das Okular, und ich unterdrückte ein Seufzen. Wir würden nicht allzu bald zu Gavin aufbrechen.
»Es ist mein Lieblingsvogel.«
Das hatte ich nicht vergessen. Kardinäle waren Penns Ein und Alles.
Heute
1
Die Sterne glühten am Himmel wie kleine Strandfackeln und warfen winzige Lichtpunkte auf das dunkle Feld, das an die gepflegte Rasenfläche angrenzte. Ich kratzte an dem Etikett der Flasche in meiner Hand herum, legte den Kopf in den Nacken und schloss die Augen, als eine warme Sommerbrise über mein Gesicht glitt. Das trockene, raue Gras kitzelte an meinen nackten Beinen. Wahrscheinlich saß ich in der Nähe eines Feuerameisen-Hügels und war kurz davor, bei lebendigem Leib gefressen zu werden. Aber das war mir egal.
In weniger als achtundvierzig Stunden würde mein letztes Jahr an der Highschool beginnen. Nächstes Jahr um diese Zeit würde ich nicht mehr zu den Sternen starren, sondern zu den blinkenden Lichtern der Stadt an der Universität von Maryland.
Ich war so was von fertig mit diesem Ort.
»Ella, was, verdammt noch mal, tust du da?«
Ich zuckte beim Klang von Lindsey Roachs Stimme zusammen und verdrehte den Oberkörper. Sie stand hinter mir, zwei Bierflaschen in den Händen.
»Trinkst du heute Abend beidhändig?«, fragte ich mit hochgezogenen Augenbrauen. »Hardcore, Linds.«
Sie lachte, dann ließ sie sich neben mich sinken und zog die langen Beine unter den Körper. Sie gab mir eine der Flaschen und rümpfte die Nase. »Na ja, nein. Ich bin keines der Mädchen, das sich auf Brocks Party betrinkt, sich der Kleidung entledigt und anschließend in den Pool springt … unter anderem.«
Ich öffnete den Mund.
Linds hob eine Hand und brachte mich so zum Schweigen. »Ich will nicht unken, aber du weißt, was abgehen wird. Es passiert jedes Jahr. Eine der kichernden Tussen dahinten wird sich nackig machen und der Welt, Gott und wer weiß, wem noch, ihre Möpse präsentieren.«
Meine Mundwinkel zuckten. Linds und ich waren seit dem ersten Jahr der Highschool beste Freundinnen, genau genommen seitdem wir zusammen an einem Sozialkundeprojekt gearbeitet hatten. Sie vertrat ihre Meinung schon immer um einiges offener als ich. Man konnte Linds eigentlich nicht hübsch nennen. Nicht mit ihrem lockigen, schwarzen Haar, das einfach immer perfekt aussah, egal, ob sie es zu einem hohen Pferdeschwanz band oder offen über ihren Rücken fallen ließ. Hübsch war auch nicht das Wort, mit dem ich ihre makellose braune Haut, die Katzenaugen oder die vollen Lippen beschrieben hätte.
Nein. Linds besaß die Art von Schönheit, die einen dazu brachte, sie hassen zu wollen, vor allem dann, wenn sie einen Bikini trug.
Sie war atemberaubend.
»Erinnerst du dich an letztes Jahr?« Sie nahm einen Schluck und stellte die Flasche dann auf dem Saum ihrer Jeansshorts ab. »Wie Vee Barton sich ausgezogen und auf dem Sprungbrett ein Tänzchen hingelegt hat? Also, eigentlich auf dem Sprungbrett in sich zusammengesackt ist?«
Ich verzog das Gesicht, weil ich mich natürlich an diesen Vorfall erinnerte. Nicht, weil Vee das getan hatte, sondern wegen der ganzen Aufregung hinterher. Aber so was passierte seit dem zweiten Jahr der Highschool in regelmäßigen Abständen. Die Partys, die Brock Cochran am Wochenende vor Schulbeginn schmiss, waren für die Schülerschaft quasi zu einem zweiten Springbreak geworden. Sie waren berüchtigt. Seine Eltern waren samstagsabends nie zu Hause, und sein älterer Bruder besorgte den Alkohol in jedweder Form und Farbe. Und immer tat irgendwer etwas, was er oder sie das gesamte nächste Schuljahr bitterlich bereute.
Mein Lächeln verblasste wie das Licht der Sommersonne, als ich meine Beine ausstreckte. Ich warf einen Blick zu Linds. Im silbrigen Mondlicht konnte ich erkennen, dass auch sie nicht mehr lächelte.
Sie biss sich auf die Unterlippe. »Ich habe gehört, dass die Polizei immer noch denkt, sie wäre weggelaufen.«
Ich wackelte mit den Zehen und richtete den Blick erneut in den Himmel. Alle wollten glauben, dass Vee weggelaufen war. Die anderen Möglichkeiten waren zu beängstigend und scheußlich, aber als sie vor zwei Wochen verschwunden war, war ihre Familie ins Fernsehen gegangen und hatte sie angefleht zurückzukommen. Es war allgemein bekannt – wie es in kleinen Städten oft der Fall war –, dass ihre gesamten persönlichen Gegenstände noch da waren.
Wer lief denn ohne Geld, Ausweis oder Wechselkleidung weg?
Ohne sein Handy?
Das ergab keinen Sinn.
Linds nahm einen Schluck Bier, und ich zwang mich, an etwas anderes zu denken. Ich hatte Vee nie nahegestanden, aber was auch immer mit ihr passiert war, ließ mir keine Ruhe.
Unser Schweigen ließ das nervige Zirpen der Grillen in der Stille noch lauter wirken. Ich hasste Insekten. Jede Art von Insekten, außer den Marienkäfern. Die waren meiner Meinung nach in Ordnung. Außerdem krabbelte wahrscheinlich eine Stinkwanze auf mir herum, denn ich hatte vor wenigen Sekunden eine gehört. Nichts ließ mich schneller austicken als eines dieser archaisch aussehenden Monster. Und sie waren überall. Sie waren über West Virginia hereingebrochen wie eine biblische Plage und hatten auch die Stadt bevölkert. Insekten waren sinnlos. Bestäubung war mir egal. Diese Viecher konnten mich mal gernhaben und …
»Ist das zu fassen?«, sagte Linds und riss mich damit aus meinen dunklen Überlegungen. Damit verhinderte sie, dass ich aus dem Gras aufspringen und schreiend ins nächste Gebäude rennen konnte. »Unser letztes Jahr an der Highschool bricht an. Endlich.«
Mein Lächeln kehrte zurück, und ein albernes Flattern breitete sich in meiner Brust aus. Das letzte Jahr war eine große Sache. Mal abgesehen davon, dass ich mit den Kursen kaum Mühe haben würde, war ich bereit, Martinsburg endlich zu verlassen. Ich hätte mich noch weiter entfernen können als bis zur Universität von Maryland, aber für den Moment würde es reichen. Mein Magen verkrampfte sich. Ein Teil von mir war glücklich, ein anderer fühlte sich an wie ein Ballon, den man losgelassen hatte und der unkontrolliert gen Himmel trudelte.
Ich zog eine Grimasse, als ich auf die zwei Bierflaschen neben mir starrte. Gott, ich musste mehr trinken. Oder weniger. Wahrscheinlich weniger.
Linds ließ ihren Kopf auf meine Schulter sinken, und ich lehnte mich an sie. Ihre kühle Bierflasche drückte sich gegen mein Bein.
»Aber deine Pläne stinken zum Himmel. Du gehst nicht auf die WVU. Was soll ich ohne dich nur machen?«
»Noch mehr reden, als du es sowieso schon tust?« Ich lachte, als sie sich in gespieltem Entsetzen aufrichtete. »Du kommst schon klar. Und wir werden uns jedes zweite Wochenende besuchen, schon vergessen? Und dann gibt es noch die Ferien, in denen wir beide nach Hause kommen.«
»Ich weiß. Und weißt du, was ich noch weiß? Du wirst einen neuen Kerl finden und dich nicht mal mehr an Gavins Namen erinnern. Du wirst sagen: Gavin wer? Wer ist dieses lahme Stück Kacke auf einem Kacketeller?«
»Kacketeller?« Ein Lachen stieg in meiner Kehle auf und hallte durch die Nachtluft. »Bist du betrunken?«
»Nö.« Sie stieß mich mit der Schulter an. »Weißt du, irgendwie bin ich überrascht, dass er nicht hier ist.«
»Er ist immer noch mit seinen Eltern im Strandurlaub. Er kommt erst morgen zurück.«
Ihre Mundwinkel sanken nach unten. »Redest du noch mit ihm?«
Auch wenn Linds es nicht glauben wollte, Gavin und ich hatten uns Ende Mai in gegenseitigem Einverständnis getrennt … überwiegend zumindest. Er hatte sich Dinge von unserer Beziehung gewünscht, die ich nicht hatte geben wollen. Er hatte deswegen kein Theater gemacht. Ehrlich, er schien fast ein wenig erleichtert, dass ich nicht so sehr auf ihn stand. Zumindest hatte ich mir das eingeredet. Gavin und ich kannten uns seit dem Kindergarten und waren schon seit Ewigkeiten beste Freunde. Wir waren fast zwei Jahre lang miteinander ausgegangen, und es hatte Spaß gemacht … und es war so einfach gewesen. Alles hatte sich gut angefühlt – und sogar ein wenig aufregend, wenn wir allein waren. Doch irgendwann hatten wir den Punkt erreicht, an dem ich das Gefühl gehabt hatte, unanständige Dinge mit meinem Bruder zu treiben.
Und das war einfach widerlich.
Dabei hatte ich gar keinen Bruder.
»Gavin und ich sind immer noch befreundet, Linds. Das weißt du.« Ich nahm einen Schluck aus der falschen Flasche und würgte, als warmes Bier durch meine Kehle rann. Eklig. »Und ich will gerade eigentlich mit gar niemandem ausgehen. Was hätte das für einen Sinn? Ich werde an die UM gehen.«
Linds sah zu den Sternen auf und verzog das Gesicht. »Weißt du, wer angeblich noch auf die UM gehen will?«
Ich zog eine Augenbraue hoch und wartete. Alle gingen auf die WVU, die West Virginia University, oder aufs Shepherd. Niemand ging auf die UM. Als Linds nicht antwortete, stieß ich sie mit dem Ellbogen an. »Wer?«
»Jensen Carver. Anscheinend will er auch auf die UM. Du könntest also mit ihm zusammenkommen.«
Ich starrte sie an, dann blinzelte ich ein paarmal. »Jensen? Ich glaube nicht, dass ich mit Jensen mehr als einen ganzen Satz gesprochen haben in … na ja, fast vier Jahren. Also weiß ich nicht, wieso es eine Rolle spielen sollte, dass er auf dasselbe College gehen will wie ich.«
»Gibt es einen besseren Zeitpunkt als jetzt, diesen einen Satz in zwei Sätze zu verwandeln? Und dann in ein wenig bow-chicka-wow-wow?« Sie kicherte, als ich sie entgeistert ansah. »Was?«
»Was? Er ist ein eingebildetes Arschloch!«
»Schhh«, sagte sie lachend und sah über die Schulter zurück. Schlecht über heiße Jungs reden – und Jensen war heiß mit großem H und noch ein wenig von Linds Wow-wow-Soße – war so ungefähr das Einzige, bei dem Linds sich zügelte. Aber wir befanden uns nun wirklich weit genug vom Pool entfernt. »Ich verstehe immer noch nicht, was für ein Problem du mit ihm hast.«
Ich legte den Kopf schräg und warf ihr einen argwöhnischen Blick zu. »Ähm, doch, tust du.«
»Das ist … na ja, lange her, Ella.« Sie verdrehte die Augen. »Ich finde ihn jedenfalls nicht eingebildet.«
»Er redet kaum mit Leuten außerhalb seiner Jungsclique oder dem Mädchen, mit dem er diesen Monat ausgeht. Ich verstehe nicht mal, wieso er so beliebt ist.«
Das war eine Lüge. Ich wusste es ganz genau.
Obwohl Jensen nicht aus einer superreichen Familie kam wie Brock und die ersten Jahre der Highschool in einem anderen Staat gelebt hatte, war er attraktiv und athletisch – und ein erstklassiger Quarterback. Wenn man noch das »Arschloch« hinzunahm, erhielt man die Dreifaltigkeit der beliebten Kerle: attraktiv, athletisch, Arschloch.
Highschool-Realität vom Feinsten.
Ich nahm einen großen Schluck von meinem frischen Bier.
»Vielleicht ist er einfach ein stiller Typ?«, schlug Linds vor.
Die Wahrheit war, dass Jensen immer schon ein eher ruhiger Mensch gewesen war. War, das war das Schlüsselwort. Keine Ahnung, wie Jensen sich jetzt präsentierte. Ich schüttelte den Kopf und schob mir eine Strähne hinters Ohr. »Wieso reden wir überhaupt über ihn?«
»Stimmt. Wir werden in unserem letzten Jahr beide solo bleiben. Das ist wahrscheinlich auch besser.« Linds grinste auf eine Art, bei der ihre Augen geleuchtet hätten, hätte ich sie denn sehen können, und hob die Flasche. »Auf unser letztes Jahr. Prost, Süße!«
Unsicher, mit welchem Bier ich anstoßen sollte, da ich jetzt diejenige war, die beidhändig trank, hob ich die halb volle Flasche an. »Das wird ein tolles Jahr.«
»Ja, wird es. Und es wird noch toller, wenn wir aufhören, wie totale Freaks allein hier draußen herumzusitzen.«
Ich lachte. »Okay. Lass mich, ähm …« Da ich die Flasche nicht einfach auf dem Rasen stehen lassen wollte, zuckte ich mit den Achseln. »Ist egal.« Ich stand auf und wackelte mit den Hüften, bis mein Kleid wieder richtig saß. »Habe ich Dreck am Hintern? Oder Insekten? Krabbeln irgendwelche Insekten auf mir herum?«
Linds schnaubte. »Du hast keine Käfer auf dem Körper. Aber …« Sie schlug mir fest genug auf den Hintern, dass ich ein paar Zentimeter nach vorn geschoben wurde. »Falls doch, jetzt nicht mehr.«
»Danke.« Ich drehte mich um und beäugte sie. »Ich fühle mich irgendwie unangenehm berührt.«
»Quatsch.« Sie hängte sich grinsend bei mir ein. »Es hat dir gefallen. Jeder mag es, wenn ich ihm an den Hintern fasse.«
»Das habe ich auch schon gehört.«
Sie schnappte nach Luft. »Miststück.«
»Hey!«
Ihr Lachen hallte durch die Nachtluft, als sie mich näher an sich zog. »Ich liebe dich.«
»Ich liebe dich schon lange«, antwortete ich und grinste, bevor wir den Hügel nach oben stiegen und die Party wieder in Sicht kam. Anscheinend hatte ich mich länger versteckt als vermutet. »Wow.«
Helles Licht ergoss sich über die Terrasse und das rappelvolle Schwimmbad. Kleine Punkte flackerten darin, fast wie Glitter … nur dass Glitter gewöhnlich nicht in Form von Insekten daherkam, die einem wahrscheinlich das Blut aussaugen wollten.
Ich musste wirklich aufhören, an Insekten zu denken.
Die dröhnende Musik wurde von Rufen und Gelächter unterbrochen. Wasser spritzte in die Luft, als ein Kerl aus dem Footballteam eine Arschbombe machte und damit eine Gruppe Mädchen nass spritzte, die zu nahe am Rand des Pools standen. Außerdem erwischte er mit seiner Fontäne ungefähr den halben Jahrgang.
Mein Blick wanderte auf der Suche nach freundlichen Gesichtern durch die Menge und blieb an nacktem Fleisch hängen. Die Gruppe Jungs, die mit bloßem Oberkörper um den Gasgrill stand, war mehr oder weniger das Who’s who der heißen Kerle unserer Schule. Alle spielten in irgendeiner Mannschaft – Football, Baseball, Fußball oder Basketball. Und alle nahmen die Aufgabe, sich fit zu halten, sehr, sehr ernst. Dafür dankte ich Gott oder wer auch immer da oben auf einer Wolke saß. Die Liebe zu den verschiedenen Lieblingssportarten Amerikas formte Bizeps- und Bauchmuskeln auf eine Art, die dafür sorgte, dass Mädchen auf dumme Gedanken kamen. Jede Menge dumme Gedanken.
Wer auch immer behauptete, nur Männer wären visuell veranlagt, hatte nicht die richtigen Frauen getroffen. Oder war niemals Brock begegnet.
Dieser optische Leckerbissen stand direkt neben dem Grill, nur mit einer schwarzen Badehose bekleidet. Das kurz rasierte, dunkle Haar war charakteristisch für ihn, genau wie die Art, wie er den Kopf in den Nacken warf, als er laut lachte. Er war immer freundlich und witzig … wenn er denn wollte.
Während meines zweiten Jahres hatte ich vielleicht für eine Zehntelsekunde auf ihn gestanden, aber er war hin und wieder mit Monica Graham ausgegangen – einem der hochhackigen und jetzt durchnässten Mädchen neben dem Pool. Er war nie richtig Single gewesen, sodass es sinnlos gewesen war, auf ihn zu stehen. Aber wenn sein Facebook-Beziehungsstatus, den er vor zwei Wochen aktualisiert hatte, noch stimmte, war er im Moment angeblich solo. Und wann immer Brock solo war, tat er sich keinen Zwang an. Das wussten alle an der Schule.
Neben ihm stand Mason Broome, ein Fußballspieler und übler Kiffer. Sein blondes Haar fiel ihm offen auf die Schultern. Im Moment stieß er mit den Hüften … in die Luft. Interessant. Linds hatte im Verlauf des Sommers etwas mit Mason gehabt. Es hatte sich nichts daraus entwickelt, aber so, wie sie diese Hüftbewegung beobachtete, stand sie immer noch auf ihn.
Ein Stück von ihnen entfernt stand der einzig wahre Jensen Carver und starrte in den Pool, als wollte er im Moment überall sein, nur nicht hier.
Ich war absolut Frau genug, um zuzugeben, dass er so heiß war, dass die Höschen quasi von allein zu brennen anfingen. Sein Auftreten und unsere gemeinsame Geschichte mal beiseitegelassen, war er der hübscheste Kerl, den ich je gesehen hatte.
Jensen hatte hellbraunes Haar, das im Sonnenlicht fast dunkelblond wirkte. Es war lockig und rutschte ihm immer wieder in die Stirn. Als er noch jünger war, hatte er es lang genug getragen, dass es ihm ständig vor die Augen gefallen war. Er hatte breite, hohe Wangenknochen, ein ausdrucksstarkes Kinn und Lippen, die … na ja, es waren die Art von vollen Lippen, die dafür sorgten, dass einem die Knie weich wurden, wenn man darüber nachdachte, wie es sich wohl anfühlte, sie zu küssen. Der leichte Knick in seiner Nase – das Ergebnis einer Verletzung, die er sich vor Jahren bei einem Footballspiel zugezogen hatte, als er noch in einem anderen Bundesstaat lebte – verstärkte seine Attraktivität. Seine Augen waren hellblau, manchmal aber auch grau. Nicht, dass ich seinen Augen allzu viel Aufmerksamkeit geschenkt hätte. Und sein Körper … Nun gut. Der Junge trainierte. Hart.
Von allen Kerlen, die dort herumstanden, war er wahrscheinlich der schlankeste und der größte. Während Brock und die anderen eher breit gebaut waren, mit den Schultern von Linebackern, war Jensen ein gutes Stück größer als der Rest und hatte die Art von Bauchmuskeln, die ich immer anfassen wollte, um herauszufinden, ob sie tatsächlich echt waren.
»Ich frage mich, ob diese Tussi weiß, dass ich ihren pinken BH durch das Shirt sehen kann?«, meinte Linds. »Wirklich nett.«
Ich hatte keine Ahnung, von wem sie sprach, aber ich war dankbar für die Ablenkung. Es war sinnlos, Jensen anzustarren. Linds rief etwas, und die Jungs drehten sich um. Einer von ihnen hob ein Handy, um uns zu fotografieren.
»Huhu!« Ich hob die Flaschen und stellte ein Bein vor, um zusammen mit Linds für das Foto zu posieren. Der Blitz war wie eine kleine Supernova. »Wie blöd habe ich ausgesehen? Seid ehrlich!«
Brock legte den Kopf schräg und musterte mich von Kopf bis Fuß. Dieser Blick … Nun, meine Wangen wurde warm. »Du siehst heiß aus. Wie immer.«
Mit dieser Antwort hatte ich mal nicht gerechnet. Meine Wangen brannten, als ich die Flaschen sinken ließ, damit ich nicht dastand wie ein betrunkener Penner. Ich starrte Linds an, deren Blick zwischen Brock und mir hin- und herschoss.
Schließlich stammelte ich: »Ähm, danke.«
Er grinste. »Kein Problem. Trinkst du heute Abend für zwei?«
Statt Nein zu sagen und zu erklären, dass ich nicht wusste, wie es dazu gekommen war, dass ich zwei Bierflaschen herumschleppte, zuckte ich nur mit den Achseln. »Klar. Warum nicht?«
»Cool.« Brock sah über die Schulter nach hinten, weil Charlie Lopez etwas sagte. Charlie war ein großer Kerl mit breitem Lächeln. Ich hatte keine Ahnung, was er gesagt hatte, aber Brock nickte.
»Habt ihr Mädels Spaß?«, fragte Mason und suchte Linds’ Blick. Er glotzte sie derart schamlos und gierig an, dass ich hicksen musste.
Sie nickte. »Ja, wir sind bereit für den interessanten Teil der Party.«
Ich warf ihr einen Blick zu, der ausdrücken sollte: Sind wir das? Doch die Jungs ließen uns in ihren Halbkreis kommen, und irgendwie schaffte ich es, die warme Bierflasche loszuwerden. Ich war klug genug, die Wackelpudding-Wodka-Shots abzulehnen. Ich wog nicht besonders viel, und da ich mit dem Auto zur Party gefahren war, wollte ich nicht in einer der tragischen Interstate-Statistiken enden, über die sie ständig im Fernsehen sprachen.
Das Gespräch plätscherte vor sich hin. Nur Jensen schwieg. Inzwischen starrte er über das Feld hinweg, auf dem ich gerade noch gesessen hatte. Seine Kinnpartie wirkte irgendwie angespannt.
»Du gehst nicht auf die West Virginia University, richtig?«, fragte Brock, als er sich überraschend mir zuwandte.
Woher, in aller Welt, wusste er das? Er grinste, und erst in diesem Moment wurde mir klar, dass ich die Frage laut ausgesprochen hatte. Suuuper.
»Linds hat es Mason gesagt, und er hat es mir vor ein paar Tagen erzählt.«
Das ergab Sinn. »Ja, ich will aus dem Staat raus und mal andere Gesichter sehen, weißt du?«
»Klar. Das verstehe ich. Wäre der Football nicht, würde ich dasselbe tun.« Er schenkte mir ein Lächeln voller perfekter weißer Zähne. Dann trat er näher, sodass sein Arm jedes Mal, wenn er seine Bierflasche hob, über meinen strich. »Wir werden dich vermissen. Ich jedenfalls.«
Bei dieser unerwarteten Erklärung verzogen sich meine Lippen zu einem Lächeln – auch wenn ich bezweifelte, dass er es ernst meinte. »Danke.« Ich runzelte die Stirn, nicht ganz sicher, wofür ich ihm eigentlich dankte. Sein Lächeln wurde noch breiter, also sagte ich: »Ich meine, ich werde euch vermissen, wenn die Schule vorbei ist. Vielleicht sogar dich.«
»Wir haben das ganze Jahr noch vor uns. Und wir werden dafür sorgen, dass es unvergesslich wird.« Er fing eine Strähne meines schwarzen Haars ein und strich sie mir hinters Ohr. Ich schwöre, alle Gespräche um uns herum verstummten für einen Moment. »Richtig?«, hakte Brock nach.
Ich ertappte mich dabei, wie ich nickte, während ich gleichzeitig den Blick von Brock abwandte, nur um Jensens aufzufangen. Er starrte mich an. Es war zu dunkel, um seine aktuelle Augenfarbe zu erkennen, aber ich konnte den Blick nicht abwenden. An seinem Kiefer zuckte ein Muskel, als er die Flasche an die Lippen hob und mich weiterhin beäugte.
Eilig wandte ich den Blick ab und blinzelte. Monica stand inzwischen am Rand unserer kleinen Gruppe. Sie war atemberaubend, genauso wie Shawna und Wendy, ihre engsten Freundinnen seit dem Sandkasten.
Jensen und Wendy waren letztes Jahr ganze zwei Wochen lang miteinander ausgegangen, nachdem er wieder nach Martinsburg gezogen war. Die forsche, winzige Blondine hatte in der kurzen Zeit ständig an ihm drangehangen und so die Cafeteria und die Schulflure in den Schauplatz eines Softpornos verwandelt. Jetzt stand sie neben ihm, so nahe, dass ihr Busen sich an seine Brust presste.
Und es war eine wirklich schöne Brust.
Monica lächelte mich an, als sie ihre superglänzende schwarze Mähne über die Schulter nach hinten warf. Ich nickte ihr freundlich zu, während ich darüber nachdachte, dass sie eigentlich in einer Shampoowerbung auftreten sollte.
Ein plötzliches lautes Kichern von Linds ließ mich den Kopf herumreißen. Masons Gesicht war an ihrem Hals vergraben. Entweder flüsterte er ihr etwas zu, oder er leckte sie ab. Plötzlich fiel mir auf, dass sich rund um uns Pärchen gebildet hatten, und aus irgendeinem Grund stand ich neben Brock. Was, um Himmels willen, passierte gerade?
Brock schob sich näher an mich heran, bis seine Schulter meine berührte. »Willst du ein bisschen reden? Ein wenig weiter weg von diesen Idioten?«
Mein Mund wurde trocken. Ich war gut vorbereitet auf derlei Einladungen. Reden hieß in diesem Fall alles andere als reden. Und so gut aussehend ich Brock auch fand, ich würde nicht zu seiner Freundin mit gewissen Vorzügen werden, bis er beschloss, dass er nicht ohne Monica leben konnte, und wieder mit ihr zusammenkam, was mich in Staatsfeindin Nr. 1 verwandeln würde.
Ich wollte gerade einen Schritt nach hinten machen, als Jensen sich umdrehte und seine Flasche in einen nahe stehenden Mülleimer schmiss. Mein Blick blieb an seinem Gesicht hängen, und mein Herzschlag setzte für einen Moment aus. Sein Gesicht wirkte dunkler als gerade eben, als wäre er rot angelaufen, und seine Lippen waren nur noch eine dünne Linie.
»Ich haue ab«, verkündete er und zog einen Schlüsselbund aus der Tasche seiner weiten Badehose.
»Was?«, schrie Charlie und folgte Jensen, wobei er Shawna einfach mit sich zerrte. »Du haust nicht ab, Alter!«
Jensen ging einfach weiter.
»Lass ihn!«, rief Brock. Gleichzeitig legte er einen Arm um meine Taille. »Ihm ist irgendwas über die Leber gelaufen. Das muss er mit sich ausmachen.«
Als Jensen um das Schwimmbad stiefelte, riss er den Arm hoch und zeigte uns den Stinkefinger. Brock warf den Kopf in den Nacken und lachte laut. Da Charlie immer noch Jensen folgte und Linds sich mit Mason zurückgezogen hatte, blieb ich allein mit Brock zurück.
Dessen Hand langsam über meinen Rücken nach unten glitt. Dann kniff er mich in die Hüfte, sodass ich aufkreischte.
»Nervös?«, fragte er und senkte seinen Kopf in Richtung meines Halses. Ich sprang zur Seite, bevor er tun konnte, was auch immer er geplant hatte. Stirnrunzelnd sah er auf. »Was? Willst du nicht reden?«
»Ähm …«
Sein Schlafzimmerblick glitt erneut an meinem Körper auf und ab. »Ich mag dein Kleid. Ist es neu?«
Tatsächlich war es das. Ich hatte mir das gelbe, ärmellose Sommerkleid extra für die Party gekauft. Meine Mom sagte immer, dass Gelb besonders gut zu meinem Teint und den dunklen Haaren passe, und zur Abwechslung hatte sie damit einmal recht.
Ich lächelte gezwungen und machte einen Schritt zurück. »Ist es.«
»Hübsch. Du siehst darin ziemlich heiß aus.«
»Danke«, murmelte ich und wich weiter nach hinten, bis ich gegen die Wand des Poolhauses stieß.
Brock trat vor, die Bierflasche locker in den Fingern. »Du bist so heiß.«
Meine Augen wurden groß, als er eine Hand neben meinem Kopf gegen die Wand stemmte. Ich tauchte unter seinem Arm hindurch, und er wirbelte herum, die Stirn verwirrt gerunzelt.
»Wo willst du hin?«
»Ich muss nach Hause. Zapfenstreich und so«, log ich. Es war lange her, dass Mom mir vorgeschrieben hatte, wann ich zu Hause sein solle. Aber wenn Brock noch einmal sagte, dass ich heiß aussehe, würde ich mich wahrscheinlich übergeben. »Es war schön. Ich muss weg. Ciao!«
Brock machte einen Schritt in meine Richtung, dann schoss sein Blick nach rechts, und seine Miene verfinsterte sich. »Hey!«, schrie er. »Wer zum Teufel hat euch reingelassen?«
Ich sah hinüber und entdeckte drei dürre Unterstufler, die aussahen, als hätten sie selbst keine Ahnung, was sie hier trieben. Die Jungs standen eng aneinandergedrängt und wechselten panische Blicke. Bei ihrem Anblick spürte ich einen Stich in der Brust, weil sie mich an … Ich schüttelte den Kopf, um den Gedanken zu vertreiben.
Brock warf seine Bierflasche zur Seite. Sie prallte von einem Busch ab und zerbrach auf dem Weg. »Charlie!«, brüllte er und grinste auf eine Weise, die mir den Magen verknotete. Er sah aus wie ein Löwe, der sich bereit machte, eine dreibeinige Gazelle anzugreifen. »Schau mal, wen wir hier haben.«
Ich hatte keine Ahnung, wo Charlie sich herumtrieb, aber ich nutzte die Ablenkung, um herumzuwirbeln, mich durch ein paar Tanzende zu drängen und meine fast volle Bierflasche in einen Mülleimer fallen zu lassen. Ich hielt nach Linds Ausschau, aber sie und Mason waren nirgendwo zu entdecken.
Ich beschloss, dass es höchste Zeit war, von hier zu verschwinden, damit ich nicht doch noch blieb und etwas Dummes tat. Also eilte ich ins Haus und schnappte mir meinen Schlüssel, den ich neben einer leeren Brotkiste abgelegt hatte. Wenn ich zu Hause war, würde ich mich dem neuesten Vampirroman widmen, der geduldig neben meinem Kopfkissen auf mich wartete. Ich hatte wirklich keine Ahnung, warum mich Vampire so glücklich machten, aber so war es nun mal. Die einzigen anderen Bücher, denen das gelang, waren die Romane von Kristen Ashley, die ich Mom stahl, wann immer sie nicht aufpasste.
Und die dafür sorgten, dass ich nach Colorado ziehen wollte.
Linds machte mir regelmäßig die Hölle heiß, weil ich ständig mit der Nase in einem Buch steckte, aber manchmal brauchte ich einfach eine Auszeit vom wahren Leben. Und Lesen war der schnellste und beste Weg, das zu erreichen.
Sobald ich das Haus verlassen hatte, ging ich zu dem Tor am Ende des Grundstücks. Als ich die Rasenfläche überquerte, verklangen die Geräusche langsam hinter mir.
Ich musste Linds eine Nachricht schreiben, um sie wissen zu lassen, dass ich gegangen war, aber mein Handy lag im Auto. Ich nahm mir vor, es nicht zu vergessen, als ich an der hohen Hecke vorbeiging, die den Garten von der dunklen Straße vor Brocks Haus trennte.
Das Grundstück lag an einem ungefähr eineinhalb Kilometer langen, unbebauten Straßenstück, doch heute Nacht standen überall Autos herum, und ich hatte bei meiner Ankunft gefühlt eine Million Kilometer entfernt parken müssen.
Ich schlang die Arme um den Körper und lief schneller. Meine Sandalen klatschten auf den aufgeplatzten Asphalt, und das Geräusch hallte um mich herum wider. Da es unglaublich dunkel war, weil mir ohne Straßenlaternen nur das schwache Mondlicht den Weg erleuchtete, war es eine unheimliche und lange Wanderung bis zu meinem Auto.
Ich rechnete ständig damit, dass Bigfoot aus den dichten Gebüschen neben der Straße stürzte. Oder vielleicht der Mothman, schließlich lebte ich in West Virginia.
Beim Gedanken an eine riesige Kreatur, die aus den Bäumen flog, fröstelte ich und verfluchte meine Fantasie. Ich sollte nicht an so was denken, wenn ich allein unterwegs war.
Ein Lächeln breitete sich auf meinem Gesicht aus, als ich mein Auto erreichte. Fast geschafft. Meine Finger schlossen sich fester um den Schlüssel, als ich neben die Fahrertür trat und auf den Knopf der Fernsteuerung drückte. Das Auto piepte, und die Verriegelung öffnete sich. Immer noch hörte ich das Klatschen meiner Sandalen auf dem Asphalt …
Nein. Moment. Mir lief ein kalter Schauder über den Rücken. Ich ging nicht, also waren die Schritte … nicht meine.
Die winzigen Härchen in meinem Nacken stellten sich auf, und ich wirbelte herum, um den Blick über die dunkle Straße gleiten zu lassen. Mir stockte der Atem, als ich in die dunklen Schatten zwischen den Autos starrte.
Ich sah gar nichts.
Sekunden vergingen, in denen ich es weder wagte, mich zu bewegen, noch zu atmen. Ich lauschte angestrengt auf das Geräusch der Schritte, doch da war nichts außer dem leisen Brummen der Insekten, die nachts unterwegs waren. Was, wenn es Bigfoot wirklich gab? Oder Chupacabra, das Fabelwesen aus Lateinamerika, das einem angeblich wie ein Vampir die Kehle aufschlitzte? Oder wenn es eine riesige, fleischfressende Stinkwanze war?
Jetzt benahm ich mich wirklich albern.
Dort draußen war niemand. Das war einfach ein weiterer Fall von Ellas hyperaktiver Fantasie. Statt mich am College für Jura einzuschreiben, sollte ich mich vielleicht lieber auf Kreatives Schreiben konzentrieren. Da ich offensichtlich in der Lage war, mir selbst wegen vollkommen harmlosen Dingen Angst einzujagen, könnte ich eine weibliche Version von Stephen King oder so werden.
Mit einem leisen Lachen wandte ich mich wieder meinem Auto zu und streckte die Hand nach dem Türgriff aus. Meine Fingerspitzen glitten genau in dem Moment über das Plastik, als ein warmer Windhauch die Haare an meiner Schläfe in Bewegung versetzte.
Das war die einzige Vorwarnung, die ich bekommen sollte.
All meine Instinkte erwachten zum Leben und schrien wie Sirenen, doch es war zu spät. Eine Hand legte sich über meinen Mund. Ich wurde so plötzlich nach hinten gerissen, dass mir der Schlüssel aus den Fingern rutschte und klappernd auf den Asphalt fiel.
Mein Hirn stellte die Arbeit augenblicklich ein, unfähig zu verarbeiten, was gerade geschah. In der nächsten Sekunde verloren meine Füße den Kontakt zum Boden, und der Abstand zwischen mir und meinem Auto wurde größer. Ich wurde weggezerrt – rückwärts weggetragen.
Entsetzen gefror meine Eingeweide und katapultierte mich aus der Schockstarre. Erneut übernahmen meine Instinkte die Kontrolle. Mit rasendem Herzen stemmte ich mich gegen die Umklammerung, warf mich erst nach vorn und dann nach hinten in dem Versuch, mich aus dem Arm zu winden, der wie ein Stahlband um meine Brust lag.
Der Angreifer grunzte, hielt mich aber fest. Panik überschwemmte mich wie eine riesige Welle den Strand. Ich riss an der Hand über meinem Mund, doch meine Fingernägel fanden nur den rauen Stoff von Handschuhen. Ich atmete angestrengt und keuchend durch die Nase.
Das darf nicht wahr sein. O Gott, das passiert nicht wirklich.
Ich riss den Arm nach hinten, versuchte mich an irgendwas festzuhalten, doch ich fand nur Luft. Mein Auto war inzwischen mehrere Meter entfernt, und wir näherten uns dem Wäldchen hinter uns. Tief in mir drin, in dem Teil meines Hirns, der noch arbeitete, wusste ich, dass es übel enden würde, wenn er mich in den Wald schleppte – richtig übel sogar.
Da ich nicht wusste, wie ich kämpfen oder mich wehren sollte, übernahm die nackte Panik das Ruder. Ich trat um mich, sodass ich meine Sandalen verlor, aber immerhin brachte die plötzliche Bewegung meinen Angreifer zum Stolpern. Wieder trat ich nach hinten aus, und er verlor den Halt.
In einem Gewirr aus Armen und Beinen fielen wir in den Straßengraben. Ich knallte hart auf den Boden, sodass mir die Luft wegblieb. Doch mein Überlebensinstinkt lenkte meine Handlungen. Ich ignorierte die Schmerzen in meinen Rippen, kam auf die Knie und kämpfte mich die kleine Böschung nach oben. Ich grub meine Füße und die Finger fest in die feuchte Erde und das Gras, während ich auf allen vieren vorwärtskroch.
Ein Schrei drang aus meiner Kehle und zerriss die Stille. Vögel erhoben sich aus den Bäumen und brachten mit ihren Flügelschlägen die Äste über mir raschelnd in Bewegung. Unter meinen Füßen spürte ich warmen Asphalt, als ich ein weiteres Mal schrie. »Hilfe!«, kreischte ich die leere Straße entlang. »Ich brauche Hi…«
Etwas traf meinen Rücken und warf mich zu Boden. Meine Knie und die Handflächen knallten auf den Asphalt und platzten auf. Der Schmerz wurde von meiner allumfassenden Panik verdrängt.
Meine Schreie wurden zu einem Grunzen, als etwas mein Gesäß traf. Mit der Wange knallte ich auf die Straße. Ich wurde grob auf den Rücken gedreht und starrte zu einem Gesicht hinauf, das von einer dunklen Kapuze beschattet wurde. Für einen Moment blitzte irgendwo ein Reißverschluss auf, doch unter der Kapuze erkannte ich nichts als Schwärze.
Eine behandschuhte Hand glitt über meine Wange, die Berührung sanft, fast liebevoll … was meine Panik nur noch verstärkte.
Sofort begann ich mich zu winden. Ich drückte den Rücken durch und versuchte den Angreifer abzuwerfen, doch seine starken Beine drückten meine zusammen, sodass ich mich kaum bewegen konnte. Seine Hände schlossen sich um meine Kehle und unterdrückten so jeden Laut. Ich atmete aus, bevor mir klar wurde, dass ich meinen letzten Atemzug bereits genommen hatte.
Ich öffnete den Mund, um nach Sauerstoff zu schnappen, doch nichts geschah. Nichts. Ich konnte nicht atmen. Der Druck verstärkte sich, bis mein Hals schmerzte. Ich konnte fühlen, wie Muskeln und Knorpel in meiner Kehle zusammengedrückt wurden und meine Lunge sich verkrampfte.
Eisige Gewissheit breitete sich in mir aus. Das, was er wollte, war schlimmer als alles, was in der Dunkelheit des Waldes geschehen wäre. Er wollte mich töten.
O Gott. O Gott, nicht so.
Ich wollte nicht so sterben, am Straßenrand. Ich wollte überhaupt nicht sterben.
Eine ganz andere Art von Panik ergriff Besitz von mir. Ich riss die Arme nach oben, prügelte auf seine Arme und seine Brust ein, doch das schien ihn nicht zu interessieren. Er lehnte sich zurück, um einen direkten Schlag ins Gesicht zu vermeiden, aber immerhin schaffte ich es, seine Kapuze zu ergreifen. Ich riss sie nach hinten.
Entsetzen vertrieb das letzte bisschen Luft, das ich so dringend brauchte, aus meiner Lunge.
Was mich anstarrte, schien direkt einem Horrorfilm entsprungen. Das Gesicht des Angreifers war hinter einer Clownsmaske verborgen – einer aus hartem, unbiegsamem Plastik. Geisterhaft bleiche Haut mit kleinen roten Flecken auf den Wangen leuchtete vor mir auf. Die Augen waren groß, mit je drei schwarzen aufgemalten Wimpern. Über den Löchern zogen sich zwei schwarze Halbkreise entlang. Die Spitze der kleinen Nase war rot angemalt, und die Lippen zu einem widerlich breiten Lächeln mit Hasenzähnen verzogen.
Voller Entsetzen griff ich nach der Maske, doch der Mann, der mich festhielt, wich meinem Angriff aus. Die Kapuze rutschte weiter nach hinten und enthüllte eine blaue, kraushaarige Perücke.
Ein Krampf erschütterte meinen gesamten Körper, sodass ich zu zucken begann. Dieser Anblick … diese Clownsfratze würde das Letzte sein, was ich jemals sah. Das wurde mir bewusst, als ich erneut versuchte, nach ihm zu schlagen. Doch meine Arme verweigerten den Dienst. Meine Muskeln waren schlaff, und meine Gliedmaßen lagen nur zuckend neben mir, in unnatürlichen Winkeln.
Die Clownsmaske kam näher, als der Kerl sich vorlehnte, bis sein Gesicht nur wenige Zentimeter über meinem schwebte. Mein rasendes Herz schlug langsamer, als er gemächlich den Kopf drehte, um mich durch diese dunklen Löcher anzustarren.
Meine Lippen formten ein Wort, das ich nicht aussprechen konnte: Bitte. Ich wiederholte es wieder und wieder, ohne Sinn und Verstand. Bitte.
Ein leises, missbilligendes Schnalzen erklang hinter der Maske, und der Mann schüttelte langsam den Kopf. Tränen stiegen mir in die Augen und rannen über meine Wangen. Das Gesicht des Clowns verschwamm, als Dunkelheit in die Ränder meines Sichtfeldes schlich.
Dann, ohne Vorwarnung, verschwanden seine Hände plötzlich. Meine Lunge dehnte sich verzweifelt aus, als ich gierig Luft einsaugte. Ich verstand nicht, wieso, aber ich konnte atmen!
Ich fühlte, wie er unter meine Achseln griff, mich wie einen Mehlsack hochhob und …
Grelles Licht flutete die Straße, und der Angreifer erstarrte mitten in der Bewegung. Für eine Sekunde bewegte er sich nicht, dann ließ er mich fallen. Mein Hinterkopf knallte auf die Straße, und die Dunkelheit hüllte mich ein.
Erneut spürte ich Arme, die mich hochhoben. Ich hörte Stimmen – Stimmen, die ich erkannte und die auf irgendeine Weise Sicherheit versprachen. Jemand schrie. Eilige Schritte erklangen. Ich konnte den Kopf nicht heben, aber ich konnte wieder sehen, doch ich erkannte nur die Sterne am Nachthimmel.
Sie wirkten verschwommen, aber sie sahen immer noch aus wie kleine Fackeln. Die Arme hielten mich fest, als mir eine Stimme ins Ohr flüsterte: »Ich bin da.«
2
Versuchter Mord war etwas, das die Polizei in diesem Landstrich in Panik versetzte.
Ich versuchte mich im Krankenhausbett aufzurichten, wobei ich das leichte Ziehen in meinem Rücken und den dumpfen Schmerz an meinem Hinterkopf ignorierte. Mom stand direkt neben mir und überredete mich sanft, mich wieder hinzulegen. Ihr normalerweise perfekt frisiertes, dunkelbraunes Haar stand in einem Wirrwarr aus Locken um ihren Kopf ab, und ihre haselnussbraunen Augen, eigentlich mehr grün als braun, waren voller Sorge.
»Liebes, entspann dich einfach«, murmelte sie und strich die dünne blaue Decke über meinen Beinen glatt. »Beweg dich nicht zu viel.«
»Hör auf deine Mutter«, sagte eine Stimme vom Rand des Bettes.
Mein Blick wanderte zu meinem Vater. Allein die Tatsache, dass die beiden sich zusammen in einem Raum aufhielten, bewies, was für eine große Sache das hier war.
Mein Kopf tat weh.
»Mom«, seufzte ich und warf einen Blick zu den zwei Troopern von der State Police, die hinter ihr standen. Weitere Beamte warteten im Flur – von der Stadtpolizei und dem County. Von dem Moment an, als ich im Krankenwagen aufgewacht war, hatten Polizisten, Sheriffs und andere Leute mich in einem fort mit Fragen beschossen. »Es geht mir gut. Wirklich.«
Mom schüttelte den Kopf, als sie sich neben mir auf die Matratze sinken ließ. »Du wärst fast …« Sie holte zitternd Luft. »Du hättest …«
Mein Magen verkrampfte sich. Obwohl sie den Satz nicht zu Ende sprechen konnte, wusste ich, was sie sagen wollte. Dad legte die Hand auf meinen Fuß.
Ich hätte sterben können, aber der Angreifer war aufgehalten worden – er hatte mich hochgehoben, als hätte er vorgehabt, mich von der Straße zu tragen. Er hatte mich außer Gefecht setzen, aber nicht sofort umbringen wollen.
Und das war beängstigender als alles andere.
Galle stieg mir die schmerzende Kehle hoch, und ich ließ mich in die Kissen zurücksinken. Ein Zittern lief über meinen Körper, als ich langsam ausatmete.
Trooper Ritter, der hinter Mom stand, verlagerte sein Gewicht von einem Fuß auf den anderen. »Es tut mir leid, dass ich weiter Fragen stellen muss, obwohl ich weiß, wie erschöpft du sicher bist …«
»Ist okay.« Ich hob die Hände und wollte mir das Gesicht reiben, nur um gleich darauf innezuhalten. Die Haut an meinen Handinnenflächen war verkratzt und wund, weil ich sie mir auf dem Asphalt aufgerissen hatte. Unfähig, den Blick von den Verletzungen abzuwenden, ließ ich die Hände langsam sinken. »Es ist wichtig. Ich weiß.«
»Du sagst, der Angreifer war ein Mann, aber wie kannst du dir in diesem Punkt sicher sein?«, fragte Ritter. Er hatte sich seinen Hut unter den Arm geklemmt. »Du hast gesagt, er hätte eine Maske und eine Perücke getragen.«
»Eine Clownsmaske«, murmelte Dad und fuhr sich mit der Hand durch die ordentlich geschnittenen Haare. »Was ist nur mit dieser Stadt los?«
Stadt? Was war nur mit der Welt los? Ich schluckte schwer und verzog wegen der Schmerzen sofort das Gesicht. Bisher hatten mir Clowns keine Angst eingejagt, aber nie wieder würde ich diese angeblich fröhlichen Gesellen auf dieselbe naive Weise betrachten können. »Ich wurde hochgehoben, als würde ich gar nichts wiegen, dabei bin ich auf keinen Fall …«
»Süße.« Dad warf mir einen Blick zu. »Ich denke, er versteht schon.«
Der Trooper nickte. »Es gibt aber auch starke Frauen, Ella. Ich weise nur darauf hin, weil wir uns sicher sein wollen, dass wir alle Informationen haben, die wir brauchen, um die Person zu finden, die dir das angetan hat.«
Erneut betrachtete ich meine geschundenen Hände. Ich erinnerte mich daran, wie ich sie nach dem Türgriff ausgestreckt hatte. Ich war so kurz davor gewesen, in meinen Wagen zu steigen und in Sicherheit zu sein. Die Erinnerung, wie ich nach hinten gerissen und hochgehoben worden war, war einfach noch zu frisch. Zitternd atmete ich ein.
»Ella«, flüsterte Mom und legte sanft eine Hand auf meinen Arm, während Dad noch einmal meinen Fuß drückte. »Geht es dir gut?«
Ich nickte und sah den Trooper an. »Als er mich das erste Mal gepackt hat, hat er mich rückwärts an seine Brust gezogen.« Ich biss mir auf die Unterlippe, als Dad meinen Fuß losließ und ein Stück nach hinten rutschte. Er wirkte angespannt. »Ich habe keine … Sie wissen schon … gespürt.«
Busen. Brüste. Titten. Melonen. Möpse. Ich konnte mich nicht dazu bringen, irgendeines dieser Worte vor Dad auszusprechen, vor allem, da er aussah, als hätte er sich am liebsten unter dem Bett verkrochen.
Glücklicherweise nickte der Trooper verständnisvoll, und ich musste nicht mehr sagen. Er stellte mir noch ein paar Fragen und dann eine, die mich vollkommen unvorbereitet traf. »Du hast Dr. Oliver besucht. Ist das richtig?«
»Ja.« Ich warf einen Blick zu meinen Eltern, aber die Frage schien sie nicht zu beunruhigen.
»Dürfte ich fragen, warum du in Therapie bist?«
Hitze schoss in meine Wangen. Es erschien mir dumm, mich wegen so etwas zu schämen, obwohl ich gerade fast auf einer verlassenen Landstraße gestorben war. Doch mir gefiel der Ausdruck im Gesicht des Troopers nicht. Als fragte er sich, was mit mir nicht stimmte, weil ich einen Psychologen aufsuchen musste.
»Wir haben nach der Scheidung darauf bestanden«, antwortete Mom und, na ja … das war keine Lüge. Irgendwie. »Es war nicht leicht für Ella.«
»Okay.« Trooper Ritter warf seinen Kollegen einen Blick zu. Seine grüne Uniform spannte über den breiten Schultern. »Ich hätte nur noch eine Frage, in Ordnung?« Als ich vorsichtig nickte, schenkte er mir etwas, was er wahrscheinlich für ein beruhigendes Lächeln hielt, mich aber dazu brachte, unangenehm berührt im Bett herumzurutschen. »Kennst du Vee Barton?«
Dad erstarrte am Ende des Bettes. Dann drehte er sich mit bleicher Miene zu dem Trooper um. »Ist das nicht das Mädchen, das verschwunden ist?«
»Vor zwei Wochen«, flüsterte ich, dann hob ich die Hand und berührte mit den Fingerspitzen vorsichtig meinen Hals. »Ich kenne sie nicht besonders gut. Ich meine, wir sind ungefähr gleich alt, aber wir sind nicht befreundet. Wir grüßen uns, mehr nicht.«
Mom runzelte die Stirn, als sie sich zurücklehnte, wobei sie mir geistesabwesend den Kopf streichelte. »Ich habe in den Nachrichten gehört, dass die Polizei davon ausgeht, dass sie weggelaufen ist. Was also hat sie mit dem zu tun, was Ella zugestoßen ist?«
»Wir glauben tatsächlich, dass sie weggelaufen ist«, antwortete Trooper Ritter ruhig. »Aber in solchen Situationen müssen wir alle Möglichkeiten ausloten. Ihr Verschwinden und dieser Angriff haben wahrscheinlich nichts miteinander zu tun, aber wir müssen trotzdem mögliche Verbindungen prüfen.«
»Verständlich«, sagte Dad mit einem Kopfschütteln. »Meine Tochter ist in Sicherheit. Richtig?«
Mein Körper schien plötzlich einzufrieren, während der Trooper Dads Frage beantwortete. Meine Gedanken kreisten um Vee Barton. Vermutete die Polizei, dass ihr etwas zugestoßen war, gab aber nicht alle Informationen an die Öffentlichkeit? Ich wusste es nicht und verstand auch nicht, wie Vee etwas mit dem zu tun haben konnte, was mir geschehen war. Ich hatte nicht gelogen. Vee und ich waren nicht befreundet.
»Es gibt noch ein paar Leute, mit denen wir sprechen müssen – mit denjenigen, die auf der Party waren und ungefähr zur selben Zeit gegangen sind wie du«, fuhr Trooper Ritter fort.
Eine andere Art von Starre ergriff Besitz von mir, als ich mich an die Stimme erinnerte – seine Stimme. Ich bin da. Ich ging davon aus, dass sie bereits mit ihm gesprochen hatten. Ich sah zur Tür, weil ich aus irgendeinem Grund damit rechnete, dass auch er im Flur stand, aber er war nicht da.
»Wenn dir noch irgendetwas einfällt, bitte zögere nicht, uns anzurufen.« Trooper Ritter reichte meiner Mom eine kleine weiße Karte. Er drehte sich um, dann hielt er noch einmal in der Tür an und sah zu mir zurück. »Du kannst dich wirklich sehr glücklich schätzen, junge Dame.«
Mein Atem stockte, und ich schloss die Augen. Es war unnötig, mir das zu sagen. Das wusste ich bereits. Ich gehörte jetzt offiziell zu dem kleinen Prozentsatz derjenigen, die glücklicherweise ihrem Angreifer entkommen waren.
»Hast du die Nachrichten gesehen?« Linds’ Stimme erklang aus meinem Schlafzimmer. »Du bist überall. Sie haben sogar ein Schulfoto aus dem letzten Jahr ausgegraben. Das, bei dem du der Meinung warst, es wäre eine gute Idee, dein Haar zu zwei seitlichen Zöpfen zu binden. Du siehst auf dem Bild aus wie zwölf.«
Ich verzog das Gesicht im Spiegel, dann stöhnte ich. Die Haut auf meiner rechten Wange sah aus, als hätte ich den gesamten Inhalt meiner Rougedose darauf verteilt. Noch schlimmer war, dass die Oberfläche meiner Wange bei näherer Betrachtung an eine Erdbeere erinnerte.
Ich trat zurück und griff nach der Wimperntusche. Selbst ohne den riesigen roten Fleck konnte mein Gesicht nicht viel Make-up vertragen. Wenn ich mehr benutzte als Lipgloss und Wimperntusche, sah ich aus wie ein Clo…
Ich konnte den Gedanken nicht zu Ende denken, also konzentrierte ich mich wieder auf mein Spiegelbild.
Selbst im Normalzustand war alles in meinem Gesicht zu groß. Meine Augen. Meine Wangenknochen. Mein Mund. Durch Gottes Gnade oder die Gene meines Vaters hatte ich eine kleine Nase bekommen. Da ich mich heute Morgen nicht danach fühlte, etwas Besonderes mit meinen Haaren anzustellen, fielen sie in dunklen Locken um mein Gesicht.
Ich legte die Wimperntusche wieder zur Seite und runzelte die Stirn, als meine Hand plötzlich zu zittern begann. Ich sagte mir selbst, dass ich bereit sei, in die Schule zu gehen; dass ich keinen freien Tag brauche. Und als ich mein bleiches Gesicht anstarrte, beschloss ich, dass es mir gut ging. Ich war okay.
Ich war am Leben.
Ich fröstelte, als die leeren, dunklen Löcher in der Maske vor meinem Geist auftauchten, dort, wo die Augen hätten sein sollen. Meine Kehle schmerzte, als ich schwer schluckte. Ich warf einen Blick zur offenen Badezimmertür, durch die Linds’ Stimme zu mir drang. Sie redete immer noch über die Nachrichten. Letzte Nacht hatte ich kaum geschlafen. Mein Körper schmerzte und pulsierte an Stellen, von deren Existenz ich nicht mal gewusst hatte. Und dann gab es da diesen winzigen Teil in mir, der nicht in die Schule gehen wollte.
Der nicht mal das Haus verlassen wollte.
Kalte Angst umklammerte wie eine Faust meinen Magen. Am meisten beschäftigte mich, dass ich es nicht geschafft hatte, mich zu verteidigen. Ich hatte gegen den Angreifer gekämpft wie ein in die Ecke getriebenes Tier. Hätte Fortuna Samstagabend nicht auf meiner Seite gestanden …
Ich musste aufhören, darüber nachzudenken.
Mit einem tiefen Atemzug stieß ich mich vom Waschbecken ab und eilte aus dem Bad. Unser Haus an der Rosemont Avenue war alt. So alt, dass es wahrscheinlich schon während des Bürgerkrieges gestanden hatte; vielleicht auch so alt, dass es hier Gespenster gab. Vor der Scheidung meiner Eltern, bevor die Immobilienblase geplatzt war und bevor … na ja, bevor sich alles verändert hatte, hatten Mom und Dad das Haus entkernt und dabei den winzigen, nutzlosen Raum neben meinem Schlafzimmer in ein Bad verwandelt.
Linds saß auf meinem Bett, die Beine angezogen, während sie das alte blaue Glücksbärchi umarmte, das ich irgendwie nie hatte wegwerfen können. Sie lächelte, als sie mich erblickte. »Oh, Ella …«
»Was? Ich sehe schlimm aus, richtig? Mein Gesicht?« Ich seufzte und zog den Saum meines Shirts nach unten. Linds trug ein süßes Kleid, aber ich hatte mich für Jeans und T-Shirt entschieden. Sie vermittelte mir damit das Gefühl, ich hätte mehr Mühe in das Outfit für den ersten Schultag nach dem Angriff stecken müssen.
»Es geht nicht um dein Gesicht.« Sie biss sich auf die Unterlippe und senkte den Blick leicht.
Auf meinen Hals.
Ich hatte mein Möglichstes getan, nicht darüber nachzudenken, weil mir die Knie weich geworden waren, als ich im Krankenhaus das erste Mal meine Kehle betrachtet hatte. Mein gesamter Hals war in dunklem Purpurrot verfärbt, eine schmerzhafte Erinnerung an die Hände, die fest zugedrückt und mir so die Luft zum Atmen genommen hatten.
Mit einem Kopfschütteln warf ich die Haare nach vorn. Die Enden fielen mir bis auf die Brust. »Wie sieht das aus? Es ist zu warm, um einen Schal zu tragen.«
»Besser.« Linds legte das Glücksbärchi beiseite, streckte ihre Beine aus und sprang auf die Füße. »Und eigentlich spielt es auch keine Rolle. Du siehst toll aus.«
»Und dann wäre da noch die Tatsache, dass sowieso jeder im gesamten County weiß, dass jemand mich gewürgt hat, richtig?« Ich zwang mich zu einem lockeren Achselzucken. »Es gibt keinen Grund, irgendwas zu verbergen.«
Linds’ krause Locken wippten, als sie zu mir hüpfte und ihre Arme um meine Taille schlang. Sie achtete darauf, meine Rippen nicht zu berühren, auch wenn die eigentlich gar nicht mehr wehtaten. »Gott, Ella, ich bin so froh, dass es dir gut geht.« Sie drückte mich. »Ich hätte nicht gewusst, was ich tun soll, wenn du …« Sie verstummte. »Diese ganze Geschichte ist so verdammt verrückt und beängstigend«, sagte sie mit belegter Stimme.
Ich schlang ebenfalls die Arme um sie. »Das ist sie wirklich.«
Trooper Ritter hatte Sonntagabend vorbeigeschaut, um zu sehen, wie es mir ging. Der junge Beamte glaubte, dass der Verantwortliche für den Angriff Martinsburg wahrscheinlich verlassen hatte, und meinte, dass ich mir keine Sorgen machen müsse. Aber in den Nachrichten gestern Abend hatte ein anderer Beamter betont, dass die Leute – besonders junge Frauen – wachsam bleiben und immer auf ihre Umgebung achten sollten.
Statistisch gesehen war ich sicher. Wer wurde schon zweimal von demselben Irren angegriffen? Trotzdem hatte sich dieser kalte Ball aus Angst tief in meinen Eingeweiden eingenistet.
»Kommst du klar?«, flüsterte Linds, die immer noch an mir hing wie ein Klammeraffe.
»Ja.« Ich kam klar, indem ich nicht darüber nachdachte, was hätte passieren können, wenn diese Scheinwerfer nicht aufgeleuchtet hätten. Aber die letzte Nacht war hart gewesen. Während ich wach im Bett gelegen und an die Decke gestarrt hatte, hatte ich immer nur an diese viel zu langen Momente denken können, in denen ich nicht hatte atmen können und nicht fähig gewesen war, mich zu verteidigen.
Erneut fing mein Körper zu zittern an. Ich löste mich von Linds, bevor sie es spüren konnte, und atmete tief durch. »Ich habe über etwas nachgedacht.«
»Was?« Sie griff nach ihrem Rucksack.
Ich schnappte mir meine Tasche vom Boden. »Das erzähle ich dir auf dem Weg zur Schule. Wenn wir jetzt nicht losgehen, kommen wir zu spät.«
Mom stand in der Küche und goss sich einen Kaffee ein. Gekleidet in eine schwarze Stoffhose und eine weiße Bluse, war nichts mehr von der aufgeregten Frau von gestern Abend zu erkennen, als sie sich zu mir umdrehte. Als Filialleiterin einer Bank konnte sich Mom ihre Arbeitszeit selbst einteilen und war immer zu Hause, bis ich zur Schule aufbrach. Der Mittwoch allerdings war hart. Sie musste am Donnerstagmorgen in Huntington sein, um an Meetings teilzunehmen, also fuhr sie immer am Mittwoch nach der Arbeit los und kehrte spät am Donnerstagabend zurück.
Abgesehen davon war diese morgendliche Begegnung in der Küche eine Tradition, die ihren Anfang genommen hatte, nachdem Dad abgehauen war.
Mom griff hinter sich und zauberte zwei Sandwiches hervor, um sie anschließend in je eine Serviette zu wickeln. Eines für mich und eines für Linds. »Bist du bereit?«, fragte sie.
»Ich bin bereit«, antwortete ich und nahm ihr ein Sandwich ab. »Dank dir.«
Linds beugte sich vor und drückte meiner Mutter einen Kuss auf die Wange. »Sie sind der Renner. Sandwiches! Meine Mom gibt mir nur eine Tasse Kaffee.«
Mom lachte. »Oh, genieß den Kaffee, solange du darfst.« Sie lehnte sich gegen die Küchenanrichte und wandte sich wieder an mich. »Bist du dir sicher, dass es dir gut geht? Ich weiß, dass die Schule es verstehen würde, wenn du nicht kommst. Und ich kann bei der Bank anrufen. Sie hätten sicher Verständnis.«