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Sie will ihm keine zweite Chance geben, doch ihr Herz lässt ihr keine Wahl
Maddie Goldbloom kann es nicht glauben, als ihr Ex-Freund Chase Black, der ihr Herz in tausend Stücke gebrochen hat, plötzlich wieder vor ihrer Tür steht. Nach sechs Monaten Funkstille bittet er sie nun, vor seinem todkranken Vater seine Verlobte zu spielen. Am liebsten würde Maddie ihm die Tür direkt vor der Nase zuschlagen, aber Chase ist nicht nur verflucht attraktiv und verboten reich, sondern auch indirekt ihr Boss. Ihr bleibt keine andere Wahl, als sich auf einen Deal mit dem Teufel einzulassen. Doch sie stellt klare Regeln für ihre Fake-Verlobung auf - auf keinen Fall will sie Chases Charme noch einmal erliegen. Allerdings scheint ihr Herz jede einzelne davon brechen zu wollen ...
"L. J. Shen sorgt nicht nur durch ihren fesselnden Schreibstil, sondern auch durch ihre einzigartigen Charaktere für absolutes Herzklopfen beim Lesen. Ich bin süchtig nach ihren Büchern!" @HEYBOOKBIRD
Der neue Einzelband von SPIEGEL-Bestseller-Autorin L. J. Shen
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Seitenzahl: 556
Titel
Zu diesem Buch
Leser:innenhinweis
Widmung
Motto
Playlist
1. Kapitel
2. Kapitel
3. Kapitel
4. Kapitel
5. Kapitel
6. Kapitel
7. Kapitel
8. Kapitel
9. Kapitel
10. Kapitel
11. Kapitel
12. Kapitel
13. Kapitel
14. Kapitel
15. Kapitel
16. Kapitel
17. Kapitel
18. Kapitel
19. Kapitel
20. Kapitel
21. Kapitel
22. Kapitel
23. Kapitel
24. Kapitel
25. Kapitel
26. Kapitel
Epilog
Danksagung
Die Autorin
Die Romane von L. J. Shen bei LYX
Impressum
L. J. Shen
The Devil Wears Black
Roman
Ins Deutsche übertragen von Anne Morgenrau
Brautmodedesignerin Madison Goldbloom sucht einen netten Mann, der sie gut behandelt und sich zum Heiraten eignet. Das trifft ganz sicher nicht auf ihren Ex-Freund Chase Black zu. Chase ist zwar verflucht attraktiv und verboten reich, aber auch ein Playboy, und er hat Maddies Herz in tausend Stücke gebrochen. Deshalb kann sie es nicht glauben, als er nach sechs Monaten Funkstille plötzlich wieder vor ihrer Tür steht. Er bittet sie, seine Verlobte zu spielen, um seinem todkranken Vater eine heile Beziehung vorzutäuschen. Am liebsten würde Maddie ihm die Tür direkt vor der Nase zuschlagen, allerdings ist Chase nicht nur ihr Ex, sondern seiner Familie gehört auch das Modeimperium Black & Co., für das sie arbeitet. Also bleibt Maddie keine Wahl, als sich auf einen Deal mit dem Teufel einzulassen, wenn sie ihren Job behalten will. Doch sie stellt klare Regeln für ihre Fake-Verlobung auf, um zu verhindern, dass sie Chases Charme noch einmal erliegt. Allerdings scheint ihr Herz jede einzelne davon brechen zu wollen …
Liebe Leser:innen,
dieses Buch enthält potenziell triggernde Inhalte. Deshalb findet ihr hier eine Triggerwarnung.
Achtung: Diese enthält Spoiler für das gesamte Buch!
Wir wünschen uns für euch alle das bestmögliche Leseerlebnis.
Euer LYX-Verlag
Für Lin und Lilian. Ihr beiden seid meine Lieblingsladys aus dem Buchclub.
Was haben der Teufel und die Farbe Schwarz gemeinsam?
Sie sind immer dunkel und kommen nie aus der Mode.
Chase Black, COO von Black & Co.
Trevor Daniel – Falling
Healy – Reckless
Kasabian – Fire
The Waterboys – Fisherman’s Blues
MAX feat. Quinn XCII – Love Me Less
The Cars – Drive
The Rolling Stones – Sympathy for the Devil
10. Oktober 1998
Liebe Maddie,
dubistjetztfünfJahrealtundmagstbesondersgerndieFarbeGelb.Gesternhastdumichtatsächlichgefragt,obdusieheiratenkannst.Ichhoffe,duträgstnochimmerständigdieseFarbe.
(Und ich hoffe, du hast einen passenderen Heiratskandidaten gefunden.)
Fun Fact des Tages: Als die spanischen Eroberer Amerika erreichten, dachten sie, die Sonnenblumen seien aus Gold.
Das menschliche Hirn ist äußerst fantasievoll!
Bleib immer kreativ.
In Liebe
Mom x
Es war eindeutig. Ich hatte einen Schlaganfall.
Alles deutete darauf hin, und ich war mir inzwischen sicher, oft genug Grey’s Anatomy gesehen zu haben, um mich selbst zu diagnostizieren:
Verwirrtheit? Check.
Allgemeine Benommenheit? Check.
Plötzliche Kopfschmerzen? Sehstörungen? Unsicherer Gang? Check, check, check.
Die gute Nachricht war, dass ich einen Doktor hatte. Buchstäblich. Als die Symptome auftraten, ging ich gerade mit ihm zurück zu meiner Wohnung. Immerhin kam ich in den Genuss sofortiger medizinischer Versorgung, als ich sie brauchte.
Ich schob die Hände in meine gelbe, paillettenbesetzte Jacke mit den lila Punkten (eins meiner Lieblingsstücke), straffte die Schultern, betrachtete blinzelnd die große Gestalt, die auf der Treppe vor dem Mietshaus aus braunem Sandstein saß, in dem ich wohnte, und versuchte, sie aus meinem Gesichtsfeld verschwinden zu lassen.
Aber der Mann blieb dort sitzen. Der bläuliche Schein seines Handys beleuchtete seine Gesichtszüge. Die mittsommerliche Luft tanzte knisternd wie ein Feuerwerkskörper um ihn herum. Das whiskeyfarbene Licht der Straßenlaternen hob sein Profil hervor, als stünde er auf einer Bühne und zöge die Aufmerksamkeit des Publikums auf sich. Nackte Panik überkam mich. Ich kannte nur eine Person, die das Universum dazu bringen konnte, um sie zu kreisen wie eine Hulatänzerin.
Widerstrebend schloss ich den Schlaganfall aus.
Nein. Es würde ihm nicht im Traum einfallen, hier aufzukreuzen. Nicht nach meinem Abgang.
»… also beugt sich mein kleiner Patient zu mir herab und fragt: ›Kann ich dir ein Geheimnis verraten?‹ Und ich so: ›Mmh‹, weil ich glaube, dass er mir gleich von den Scheidungsabsichten seiner Eltern erzählt. Stattdessen sagt er: ›Ich weiß endlich, welchen Beruf meine Mom hat.‹ ›Was macht sie denn?‹, frage ich … und jetzt pass auf, Maddie.« Ethan, mein Date, hob eine Hand, legte sich die andere aufs Knie und ging in die Hocke. Er überschätzte eindeutig das komische Potenzial der Geschichte. »›Als ich meinen ersten Zahn verloren habe, hat sie ein neues iPad unter mein Kopfkissen geschoben. Meine Mommy ist die Zahnfee. Ich bin der glücklichste Junge der Welt!‹«
Ethan warf den Kopf zurück und lachte, ohne meine innere Kernschmelze zu bemerken. Er war attraktiv, seine Haare, seine Augen und seine Slipper hatten fast denselben Farbton. Er besaß den schlanken Körper eines Läufers und trug eine Scooby-Doo-Krawatte. Okay, er war nicht Dr. McDreamy. Eher Dr. McReality. Und ja, er hatte mir bei dem äthiopischen Essen, das wir genossen hatten, zwölf Geschichten über seine kleinen Patienten erzählt und war jedes Mal vor Belustigung fast zusammengebrochen, wenn er ihre messerscharfen Beobachtungen wiederholte. Aber Ethan Goodman war genau der Typ Mann, den ich in meinem Leben brauchte.
Und der Mann auf meiner Treppe war derjenige, der mir diese schmerzhafte Lektion erteilt hatte.
»Kindermund.« Ich spielte an meinem baumelnden Sonnenblumen-Ohrring herum. »Ich vermisse meine Unschuld. Wenn ich etwas aus meiner Kindheit behalten dürfte, würde ich mich dafür entscheiden.«
Die Gestalt auf meiner Treppe stand auf und drehte sich in unsere Richtung. Sie löste den Blick von dem Handy und richtete ihn unverwandt auf mein Gesicht. Mein Herz schrumpfte zusammen wie ein Luftballon, drehte ein paar unkontrollierte Kreise und stürzte schließlich wie ein nasser Haufen Gummi in meine Magengrube.
Okay, ja, er war es.
Der komplette ein Meter neunzig mit gemeißelten Gesichtszügen und gnadenlosem Sexappeal. Bekleidet mit einem frischen schwarzen Hemd, die Ärmel hochgekrempelt, sodass sie muskulöse, mit Venen überzogene Unterarme von den Ausmaßen meiner Schenkel entblößten. Meine Kindheitsfreundin Layla, inzwischen meine Nachbarin, nannte ihn den personifizierten Gaston. »Gut aussehend, aber unter allen Umständen umgehend zu entsorgen.«
Er sah grimmig aus, so als wüsste er selbst nicht, was er hier eigentlich wollte.
Mit den zerzausten schwarzen Haaren.
Den schrägen graublauen Augen einer Manga-Figur.
Mit der Statur eines griechischen Gottes, so schön, dass man töten würde, um ein einziges Mal auf animalische Art die Zähne über sein Kinn streifen zu lassen.
Aber ich wusste, dass er weder Mr McDreamy noch Mr McReality war.
Chase Black war der Teufel. Mein ganz persönlicher Teufel. Immer schwarz gekleidet, immer einen bösen Kommentar auf den Lippen, mit Absichten, die so verschlagen waren wie sein Grinsen. Und ich? Man nannte mich nicht ohne Grund Märtyrer-Maddie. Ich konnte nicht niederträchtig sein, selbst wenn mein Leben davon abhing. Was glücklicherweise nicht der Fall war.
»Wirklich? Wenn ich etwas aus meiner Kindheit behalten dürfte, wäre es der erste Milchzahn, der mir ausgefallen ist. Mein Hund hat ihn gefressen. Tja.« Ethans Stimme überschlug sich vor Begeisterung. Ich richtete den Blick wieder auf mein Date. »Klar, mit Hunden passiert immer irgendetwas. Wie damals, als einer meiner Patienten – Himmel, du ahnst es nicht! – mit einem merkwürdigen Ausschlag in meine Praxis kam und …«
»Ethan?« Ich blieb abrupt stehen, nicht in der Lage, mich auf eine weitere niedliche Geschichte zu konzentrieren. Nicht dass seine Geschichten langweilig waren, aber das Unheil stand buchstäblich bereits auf der Schwelle, bereit, sich in meinem Leben auszubreiten.
»Ja, Maddie?«
»Es tut mir echt leid, aber ich glaube, mir ist ein bisschen übel.« Was genau genommen nicht mal eine Lüge war. »Ich würde gern früh schlafen gehen.«
»Oje! Glaubst du, es war das Tere Siga?«, fragte Ethan mit gerunzelter Stirn und einem Welpenblick, der mir beinahe das Herz brach.
Zum Glück lag er mir derart mit seinen Patientengeschichten in den Ohren, dass er den riesigen Mann vor meiner Tür überhaupt nicht bemerkte.
»Nein, ich fühle mich schon seit ein paar Stunden nicht wohl, und jetzt hat es mich offenbar richtig erwischt.« Ich blickte flüchtig zu Chase, der hinter Ethans Rücken stand, und musste heftig schlucken.
»Bist du sicher, dass alles in Ordnung ist?«
»Ja, absolut.« Lächelnd strich ich ihm seine Scooby-Doo-Krawatte glatt.
»Eine positive Einstellung, sehr gut. Das macht die Welt zu einem besseren Ort.« Ethans Augen leuchteten. Er beugte sich vor und gab mir einen Kuss auf die Stirn. Er hatte Grübchen. Grübchen waren toll. Ethan war auch toll. Warum konnte ich es dann kaum erwarten, mich von ihm zu verabschieden, um in aller Öffentlichkeit den unerwarteten Gast auf der Treppe vor meiner Wohnung umzubringen?
Ach ja, genau. Weil Chase Black mein Leben zerstört hatte und ich es danach wieder zusammensetzen durfte, wobei mir jede Scherbe unserer zerbrochenen Beziehung einen tiefen Schnitt zufügte.
Näheres dazu gleich.
Jetzt musste ich mich nur noch von meinem perfekten Dr. McReality verabschieden, der mich beinahe vor einem Schlaganfall gerettet hätte.
Das Herz zappelte mir in der Brust wie ein Fisch auf dem Trockenen, als ich den Rest des Wegs zu meinem Haus zurücklegte und mir verschiedene Möglichkeiten überlegte, wie ich Chase begrüßen könnte. In jeder Variante wirkte ich gleichgültig, war zehn Zentimeter größer und trug anstelle meiner grünen Ballerinas männermordende Louboutins.
Komisch, ich kann mich gar nicht erinnern, den Müll draußen gelassen zu haben. Darf ich Sie zurück zu Ihrer Mülltonne begleiten. Mr Black?
Oh, du willst dich entschuldigen? Und wofür genau? Für deine Untreue? Für die Demütigung, weil ich mich danach auf Geschlechtskrankheiten untersuchen lassen musste? Oder einfach nur, weil du meine Zeit verschwendet hast?
Hast du dich verlaufen, Süßer? Soll ich dich zu dem Bordell bringen, das du offensichtlich suchst?
Überflüssig zu erwähnen, dass Chase Black nicht gerade die Märtyrer-Maddie in mir ansprach.
Drei Schritte vor ihm blieb ich stehen. Meine Nerven waren so ramponiert wie mein Kleid mit Pfirsichmuster, und ich hasste dieses aufgeregte Flattern in meiner Brust. Es erinnerte mich daran, wie dumm ich seinetwegen gewesen war. Wie angepasst. Wie unterwürfig.
»Madison.« Chase reckte das Kinn und blickte an seiner Nase entlang auf mich hinab. Es klang eher nach einem Befehl als nach einer Begrüßung. Die gönnerhaft zusammengezogenen Augenbrauen sahen auch nicht allzu einladend aus.
»Was willst du hier?«, fauchte ich.
»Lässt du mich rein?« Er schob sein Handy in die Hosentasche. Kam direkt zum Punkt. Nicht etwa: Darf ich mit reinkommen?, sondern: Lässt du mich rein? Kein: Wie geht’s dir? Kein: Tut mir leid, dass ich dir das Herz gebrochen habe oder wenigstens: Wie geht es Daisy, dem Aussiedoodle, den ich dir zu Weihnachten geschenkt habe, obwohl du mir nicht weniger als dreimal gesagt hast, dass du allergisch auf Hunde reagierst, und den deine Freunde jetzt Arschlochdoodle nennen, weil sie den Leuten gern in die Schuhe pinkelt? Ich griff nach den Revers meiner dünnen Sommerjacke, wütend auf mich selbst, weil mir so sehr die Finger zitterten. »Lieber nicht. Falls du gerade dabei bist, dich durch New York zu vögeln, bist du hier an der falschen Adresse. Meinen Namen kannst du abhaken.«
Die Sommerhitze stieg vom Asphalt auf und hüllte meine Füße ein wie Rauch. Die dunkle Nacht änderte nichts an der Hitze. Manhattan war immer noch klebrig und aufgebläht von Schweiß und Hormonen. Auf den Straßen wimmelte es von Pärchen, Touristenhorden, Grüppchen rüpelhafter Bürohengste und von Jugendlichen, die nichts Gutes im Sinn hatten. Ich wollte keine Szene in der Öffentlichkeit, aber in meine Wohnung wollte ich ihn noch weniger lassen. Kennt ihr den Ausdruck: Wenn jeder es haben kann, will ich es nicht? Genau das traf auf seinen Körper zu. Nachdem wir uns getrennt hatten, brauchte ich Wochen, um diesen einzigartigen Chase-Black-Geruch aus den Laken zu bekommen. Sein Duft folgte mir überallhin wie eine dunkle Wolke voller Regen. Wenn ich an ihn dachte, füllten sich meine Augen immer noch mit Tränen.
»Hör mal, ich weiß, dass du sauer bist«, setzte er an. Sein Ton war so beherrscht, als träte er mit einem ungezähmten Honigdachs in Verhandlung.
Ich unterbrach ihn mit zitternder Stimme, überrascht von meiner eigenen Durchsetzungskraft. »Sauer? Sauer bin ich, weil meine Waschmaschine kaputtgegangen ist. Ich bin sauer, weil mein Welpe sich durch den blauen Häkel-Poncho gefressen hat, den ich letzten Winter gekauft habe, und weil ich auf die nächste Staffel von The Masked Singer warten muss.«
Er öffnete den Mund, zweifellos um zu protestieren, aber ich hob eine Hand und wedelte abwehrend vor seinem Gesicht herum. »Was du mir angetan hast, hat mich nicht sauer gemacht, Chase. Es hat mich am Boden zerstört. Ich kann das jetzt zugeben, weil ich inzwischen dermaßen darüberstehe, dass ich ganz vergessen habe, wie es war, unter dir zu liegen.« Ich holte kurz Luft, dann spritzte ich weiter Gift in seine Richtung. »Und nein, ich lasse dich nicht rein. Was auch immer du mir zu sagen hast« – ich deutete auf den Boden unter mir – »das hier ist deine Bühne.«
Er fuhr sich mit einer Hand durchs Haar, so schwarz und weich, dass es mir die Brust zusammenzog, und sah mich dabei an, als wäre ich eine Zeitbombe, die er entschärfen musste. Ich konnte nicht erkennen, ob er verärgert, reumütig oder aufgebracht war. Es schien eine Mischung aus allem zu sein. Ich hatte noch nie gewusst, was er empfand, nicht einmal, wenn er tief in mir war. Ich lag da, blickte ihm in die Augen und sah nur mein Spiegelbild, das mich anstarrte.
Ich verschränkte die Arme und fragte mich, was wohl der Grund seines Besuchs war. Seit wir ein halbes Jahr zuvor Schluss gemacht hatten, hatte ich nichts mehr von ihm gehört. Aber Sven, mein Boss, hatte mir von den Frauen erzählt, die Chase nach unserer Trennung mit in sein Penthouse genommen hatte. Mein Boss wohnte in demselben glamourösen Gebäude an der Park Avenue wie Chase. Letzterer hatte sich offensichtlich nicht gerade in den Schlaf geweint.
»Bitte.« Bei dem Wort verzog er den Mund, als kaute er auf Schotter herum. Chase Black war es nicht gewöhnt, höflich um etwas zu bitten. »Es geht um eine ziemlich persönliche Sache. Mir wäre es lieber, wenn uns nicht die gesamte Nachbarschaft dabei zuhören müsste.«
Ich fischte in meiner kleinen Clutch nach den Schlüsseln und stapfte die Treppe hinauf. Chase stand noch immer auf der ersten Stufe und durchbohrte mir den Rücken mit seinem Blick. Da betrachtete der Mann mich ein einziges Mal mit etwas anderem als Kälte im Blick, und ich war völlig immun dagegen. Ich ignorierte seine Bitte und stieß die Haustür auf. Komisch, ich hatte geglaubt, es würde sich großartig anfühlen, ihn genauso zurückzuweisen, wie er mich zurückgewiesen hatte. Aber in diesem Augenblick schwankte ich zwischen Schmerz, Wut und Verwirrung. Triumph war nirgendwo zu sehen, und Schadenfreude war meilenweit entfernt. Ich war fast über die Schwelle, da sagte er etwas, das mich zögern ließ.
»Hast du so viel Angst, dass du mir nicht mal zehn Minuten deiner Zeit schenken kannst?«, fragte er herausfordernd. Der Hohn in seiner Stimme fühlte sich an wie ein Messer im Rücken. Ich erstarrte. Jetzt erkannte ich ihn wieder. Kalt, berechnend. Auf spielerische Art gnadenlos. »Wenn du tatsächlich über mich hinweg bist und keinerlei Bedürfnis hast, unter mir zu liegen, wenn wir erst einmal oben sind, dann kannst du doch problemlos zu deinem glücklichen Leben ohne mich zurückkehren, sobald ich gesagt habe, was ich zu sagen habe, oder?«
Angst? Er glaubte, ich hätte Angst? Wäre ich zu diesem Zeitpunkt seinem Charme gegenüber noch immuner gewesen, hätte ich mich bei seinem Anblick übergeben.
Ich drehte mich um, schob die Hüfte vor und lächelte freundlich. »Sind wir vielleicht ein bisschen eingebildet?«
»Gerade genug, um deine Aufmerksamkeit zu bekommen«, sagte er trocken und sah schrecklicherweise wie ein Mann aus, der im Grunde lieber woanders wäre.
Aber was will er dann hier?
»Fünf Minuten müssen reichen, und du benimmst dich, klar?« Ich deutete mit meiner Clutch auf ihn.
»Hand aufs Herz, eher sterbe ich.« Mit spöttischem Blick legte er sich eine Hand auf die Brust.
»Wenigstens hoffen wir dasselbe.«
Das brachte ihn zum Lachen. Ich stürmte zu meiner Wohnung in der ersten Etage hinauf, ohne mich umzudrehen und zu checken, ob er mir folgte. Ich ging die möglichen Gründe seines Besuchs durch. Vielleicht war er gerade aus einer stationären Therapie wegen seiner zerstörerischen Sexbesessenheit entlassen worden. Wir waren nur ein halbes Jahr zusammen gewesen, aber in dieser Zeit war überaus deutlich geworden, dass Chase keine Ruhe gab, ehe ich Verbrennungsmale vom Teppich auf dem Rücken hatte und am nächsten Tag wackelig auf den Beinen war. Nicht dass ich mich zu diesem Zeitpunkt beschwert hätte – Sex war ein Teil unserer Beziehung, der gut funktionierte –, aber er war tatsächlich unersättlich.
Ja, dachte ich. Dieser Besuch war vermutlich ein Teil seines Zwölf-Schritte-Genesungsprogramms. Sich bei denen zu entschuldigen, die er verletzt hatte. Er würde sich entschuldigen und wieder verschwinden, und damit war die Sache für uns beide abgeschlossen. Eine reinigende Erfahrung, in der Tat. Das würde den Neuanfang mit Ethan noch perfekter machen.
»Ich kann dich fast nachdenken hören«, knurrte Chase, als er hinter mir die Stufen erklomm. Komisch, das klang nicht gerade, als wollte er sich entschuldigen.
»Ich kann fast deine Augen auf meinem Hintern spüren«, gab ich mit ausdrucksloser Stimme zurück.
»Wenn du willst, kannst du gern noch andere Körperteile von mir darauf spüren.«
Erstich ihn bloß nicht mit dem Steakmesser, Maddie. Er ist die Zeit im Gefängnis nicht wert.
»Wer war eigentlich der Typ da?« Er gähnte provokativ. Seine Stimme hatte immer etwas Teuflisches an sich. Er sagte alles auf eine emotionslose Art, mit einem Hauch Ironie in der Stimme, um an die Tatsache seiner Überlegenheit zu erinnern.
»Tsk. Wow.« Ärgerlich schüttelte ich den Kopf. Ganz schön dreist von ihm, mich nach Ethan zu fragen.
»Tsk-Wow? Ist er etwa Rapper? Wenn ja, braucht er dringend ein Umstyling. Erzähl ihm vom Black & Co.-Club. Wir geben gerade fünfzehn Prozent Aktionsrabatt für eine Imageberatung.«
Ich ignorierte sein finsteres Glucksen und zeigte ihm den Finger, ohne mich auch nur umzudrehen.
Vor meiner Tür blieben wir stehen. Layla wohnte in dem Apartment mir gegenüber, das zu einer Einzimmerwohnung umgebaut worden war, als unser Vermieter sein Eigentum in der Mitte geteilt hatte. Layla war als Erste nach New York gezogen, nachdem wir unseren Abschluss gemacht hatten. Als sie mir dann erzählte, dass die Wohnung ihr gegenüber frei war, weil die Mieter nach Singapur gezogen waren und der Vermieter einen ordentlichen Mieter wollte, der pünktlich zahlte, ergriff ich die Gelegenheit beim Schopf. Layla arbeitete tagsüber als Erzieherin und abends als Babysitterin, um ihr Einkommen aufzustocken. Ich konnte mich kaum noch erinnern, sie je ohne ein Kleinkind auf dem Arm gesehen zu haben oder aber im Begriff, Buchstaben und Zahlen für die nächste Unterrichtsstunde auszuschneiden. Layla klebte jeden Morgen das Wort des Tages an ihre Tür. Was für mich eine großartige Möglichkeit war, mit ihr zu reden, auch wenn wir den ganzen Tag lang nicht miteinander sprachen. Im Lauf der Jahre hatte ich Laylas tägliche Worte liebgewonnen. Sie waren treue Begleiter, eine Art Hinweise oder Voraussagen, wie der jeweilige Tag werden würde. Weil ich es eilig hatte, zur Arbeit zu kommen, hatte ich es an diesem Morgen allerdings versäumt, nach dem aktuellen Wort zu sehen.
Geistesabwesend blickte ich zu ihrer Tür, während ich den Schlüssel ins Schloss steckte.
Gefahr: die Wahrscheinlichkeit, Verletzungen, Schmerz, Leid oder Verlust zu erfahren.
Ein mulmiges Gefühl überkam mich. Es ließ sich am Ende meines Rückgrats nieder und übte dort beständigen Druck aus. »Du bist nicht gekommen, um dich zu entschuldigen, oder?«, flüsterte ich, den Blick noch immer auf meine Tür gerichtet.
»Um mich zu entschuldigen?« Der Arm kam von hinten und stützte sich über meinem Kopf an der Tür ab. Sein warmer Atem strich mir über den Nacken, die feinen Härchen richteten sich auf. Der Chase-Effekt. »Wofür denn, verdammt?«
Ich stieß die Tür auf und ließ Chase in meine Wohnung. In mein Reich. Mein Leben.
Mir war schmerzhaft bewusst, dass er schon einmal in mein Königreich eingedrungen war und es bei der Gelegenheit gleich niedergebrannt hatte.
2. Juli 1999
Liebe Maddie,
heute haben wir Mrs Hunnams verwelkte Gänseblümchen in deinen alten Büchern gepresst. Du hast gesagt, dass du ihnen ein anständiges Begräbnis verschaffen wolltest, weil sie dir so leidtaten. Dein Mitgefühl hat mir die Kehle zusammengeschnürt. Deshalb habe ich mich umgedreht und den Raum verlassen, nicht wegen der Pollen. Natürlich nicht. Meine Güte, ich bin Floristin!
Fun Fact: Gänseblümchen sind ein Symbol für Reinheit und Neuanfänge.
Ich hoffe, du bist immer noch mitfühlend und barmherzig und vergisst nicht, dass jeder Tag ein neuer Anfang ist.
In Liebe.
Für immer.
Mom x
Ich knallte meine Schuhe an die Wand. Daisy sprang aus ihrem Körbchen auf dem Fensterbrett neben den Blumen auf und wedelte mit dem Schwanz, während sie mir zur Begrüßung die Zehen abschleckte. Zugegeben, nicht ihre damenhafteste Angewohnheit, aber immerhin eine der weniger destruktiven.
»Was verschafft mir das Missvergnügen, Mr Black?« Ich schälte mich aus meiner gelben Jacke.
»Wir haben ein Problem.« Chase gab Daisy einen Klaps, ehe er weiter in meine Einzimmerwohnung hineinschlenderte. Es erschien mir unfair, ja geradezu unredlich, dass ich viele Tränen vergeudet und schlaflose Nächte durchgestanden hatte, um mit der Tatsache klarzukommen, dass dieser Mann nie wieder zwanglos in meiner Küche herumstehen würde, nur um … nun ja … nur um ihn jetzt erneut ausgesprochen zwanglos dort herumstehen zu sehen. Als hätte sich nichts geändert. Aber das stimmte nicht. Ich hatte mich geändert.
Chase öffnete den Kühlschrank, holte eine Dose Cola light – meine Cola light – heraus und riss sie auf. Er lehnte sich an die Theke und nahm einen Schluck.
Ich starrte ihn an, bis er den Blick abwandte, und fragte mich, ob er vielleicht derjenige war, der einen Schlaganfall gehabt hatte. Er sah sich in meiner hübschen kleinen Wohnung um. Zweifelsohne inspizierte er die Veränderungen, die ich seit seinem letzten Besuch vorgenommen hatte. Neue Tapeten von Anthropologie, neue Bettlaken und – unsichtbar, aber nichtsdestotrotz existent – eine neue Delle in meinem Herzen in der Form seiner eisernen Faust. Er schaltete das Licht ein – es gab nur ein Lampenset für die ganze Wohnung – und stieß einen leisen Pfiff aus.
Die gnadenlosen LED-Lichter zeigten deutlich, wie ungepflegt und unrasiert er aussah. Seine Augen waren gerötet, sein Hemd leicht knittrig. Seine Zweihundert-Dollar-Frisur musste dringend mal nachgeschnitten werden. Nicht gerade der gut aussehende, makellose Playboy, für den er sich hielt. Als hätte die Welt endlich beschlossen, ihr erdrückendes Gewicht auf seinen glorreichen Schultern ruhen zu lassen.
»Meine Familie hat offenbar Gefallen an dir gefunden«, verkündete er gleichgültig, als wäre das in etwa so unwahrscheinlich wie ein heterosexuelles Einhorn.
Ich ging auf ihn zu und nahm ihm die Cola light weg, trank demonstrativ einen Schluck und stellte die Dose zwischen uns auf die Theke. »Na und?«
»Meine Mutter redet ständig von dem selbst gebackenen Bananenbrot, das du ihr versprochen hast. Seit du ihr diese Mütze gehäkelt hast, ist es der Lebenstraum meiner Schwester, deine beste Freundin zu werden, und mein Vater findet, dass du die Traumfrau jedes Mannes bist.«
»Zufällig mag ich deine Familie auch«, sagte ich. Und das stimmte. Die Blacks ähnelten nicht im Geringsten der Brut, die sie versehentlich in diese Welt gesetzt hatten. Sie waren nett, mitfühlend und gastfreundlich. Sie lächelten ständig, und vor allen Dingen boten sie mir häufig ein Glas Wein an.
»Aber mich nicht«, ergänzte er mit einem genusssüchtigen Grinsen, das verriet, wie sehr es ihm gefiel, nicht gemocht zu werden. Als hätte er sein Ziel erreicht. Ein Level in einem Videospiel freigeschaltet.
»Stimmt, dich nicht«, sagte ich kurz angebunden. »Weshalb du mit deiner Schmeichelei auch nicht weiterkommen wirst.«
»Ich will bei dir auch gar nicht weiterkommen«, versicherte er mir, und seine Brust dehnte sich in seinem Hemd. Ein Hauch seines Dufts – ein holziges, maskulines Aftershave – stieg mir in die Nase und ließ mich erschauern. »Jedenfalls nicht so, wie du glaubst.«
»Komm zur Sache, Chase.« Seufzend blickte ich auf meine Füße und wackelte mit den Zehen. Er sollte so schnell wie möglich verschwinden, damit ich unter die Bettdecke schlüpfen und mir bis zum Abwinken Supernatural ansehen konnte. Das Einzige, das diesen Abend retten konnte, war eine fette Dosis Jensen Ackles, kombiniert mit einer unglaublichen Menge Schokolade und impulsivem Internetshopping. Und Wein. Ich würde töten für eine Flasche Wein. Als Opfer vorzugsweise den Mann, der vor mir stand.
»Es gibt da ein Problem«, sagte er.
Das gab es mit ihm immer. Ich starrte ihn ausdruckslos an, damit er weiterredete. Und dann geschah etwas Seltsames. Er … zuckte zusammen. Chase Black zuckte zusammen.
»Offenbar habe ich vergessen zu erwähnen, dass wir nicht mehr zusammen sind«, sagte er zögerlich und richtete den Blick auf Daisy, die gerade mit enthusiastischem Hundelächeln an einem Sofabein rammelte.
»Du hast was?« Ich hob derart abrupt den Kopf, dass meine Zähne aufeinanderstießen. »Das ist jetzt sechs Monate her.« Und drei Tage. Und einundzwanzig Stunden. Nicht dass ich gezählt hätte. »Was hast du dir nur dabei gedacht?«
Er rieb sich mit den Fingerknöcheln über die Bartstoppeln, den Blick noch immer auf meinem liederlichen Welpen. »Ehrlich gesagt dachte ich, du würdest irgendwann einsehen, dass du überreagiert hast und zu mir zurückkommen.«
Wäre ich eine Zeichentrickfigur, wäre mir der Kiefer auf den Boden gefallen. Meine Zunge hätte sich ausgerollt wie ein roter Teppich und wäre an die Tür gestoßen, durch die ich Chase später hinauswerfen würde, wobei ein Loch mit dem Umriss seines Körpers zurückbleiben würde.
Ich schlug die Hände vors Gesicht und rang nach Luft. »Du machst Witze! Sag mir, dass du Witze machst.«
»Dafür habe ich zu viel Sinn für Humor.«
»Na schön, dann hoffe ich, dass du auch einen ausgeprägten Orientierungssinn hast und zu deiner Familie gehen und ihr erzählen kannst, dass wir definitiv miteinander fertig sind.« Ich ging mit großen Schritten zur Tür, riss sie auf und signalisierte ihm mit einem Nicken, endlich zu verschwinden.
»Da ist noch etwas.« Chase lehnte immer noch an meiner Küchentheke, die Hände nonchalant in die Taschen geschoben. Es gab da ein paar typische Stellungen, die auf die Innenseite meiner Lider tätowiert waren und die ich mir für den Dildo-Einsatz an regnerischen Tagen aufsparte.
Chase lehnt entspannt mit der Hüfte an einem feststehenden Objekt.
Chase stützt sich oben am Türrahmen ab, wobei Bizeps und Trizeps aus seinem kurzärmeligen Hemd hervorquellen.
Chase mit einer Hand in der Hosentasche, wobei mich sein gieriger Blick langsam auszieht.
Im Grunde gab es einen kompletten Katalog von Posen, mit denen allein mich mein Ex zu selbst herbeigeführten Orgasmen inspirierte. Was zugegebenermaßen ein Level an Peinlichkeit erreichte, für das es noch keinen Namen gab.
»Ich wollte ihnen schon vor ein paar Wochen sagen, dass wir uns getrennt haben, aber was schlechte Nachrichten betrifft, hat mich mein Vater noch übertroffen.«
»Oh je! Ist etwa die Superyacht kaputt gegangen?« Ich legte eine Hand auf die Brust und heuchelte Besorgnis. Ronan Black, der Inhaber von Black & Co., Manhattans meistfrequentiertem Kaufhaus, führte ein zauberhaftes Leben voller Urlaube, Privatjets und grandioser Familientreffen. Dennoch hinterließ es einen bitteren Geschmack auf meiner Zunge, schlecht über Leute zu reden, die mich in ihrem Haus willkommen geheißen hatten.
»Er hat Krebs im Endstadium. Prostata. Der Tumor hat bis in die Knochen gestreut. Nieren. Blut. Er hat sich nie untersuchen lassen. Meine Mutter hat ihn jahrelang angefleht, zum Arzt zu gehen, aber er hat diese Unannehmlichkeit offenbar gescheut. Unheilbar natürlich. Er hat noch drei Monate.« Chase zögerte. »Höchstens.«
Er überbrachte die Nachricht mit tonloser Stimme und ausdruckslosem Gesicht. Sein Blick ruhte noch immer auf Daisy, die die Couch nun in Ruhe ließ und sich auf der Suche nach jemandem, der ihr den Bauch kraulen würde, vor seinen Füßen ausgestreckt hatte. Er beugte sich vor, streichelte ihr geistesabwesend den Bauch und wartete ab, wie ich die Neuigkeit aufnehmen würde. Seine Worte drangen in mich ein wie Gift, das sich langsam, aber tödlich in mir ausbreitete. Sie trafen mich in meinem tiefsten Inneren, in der festen Kugel aus Angst, die ich in meinem Bauch aufbewahrte. Meine Mom-Kugel. Ich wusste, dass Chase und sein Vater sich nahestanden. Ich wusste auch, dass Chase ein stolzer Mann war, der niemals zusammenbrechen würde, schon gar nicht vor jemandem, der ihn hasste. Meine Beine drohten unter mir nachzugeben, und ich schnappte nach Luft.
Ich widerstand dem Bedürfnis, zu ihm zu gehen und ihn in die Arme zu nehmen, denn er würde meine Wärme als Mitleid interpretieren, und ich hatte kein Mitleid mit ihm. Nein, ich war am Boden zerstört. Mit sechzehn hatte ich meine Mutter nach langem Kampf gegen die immer wieder aufflackernde Krankheit an den Brustkrebs verloren. Ich wusste nur zu gut, dass es immer zu früh war, um einem Elternteil Lebewohl zu sagen. Und zu sehen, wie jemand, den man liebte, den Kampf gegen seinen eigenen Körper verlor, war so schmerzhaft, als risse man sich das eigene Fleisch auf.
»Das tut mir sehr leid, Chase.« Endlich purzelten die Worte aus meinem Mund, plump und bedeutungslos. Ich erinnerte mich, wie sehr Dad diese Worte gehasst hatte. Ist mir egal, ob es ihnen leidtut. Davon geht es Iris nicht besser. Ich dachte an Moms Briefe. Normalerweise begann ich jeden Morgen mit einem ihrer Briefe und einer Tasse starkem Kaffee, aber an diesem Morgen hatte ich gleich zwei gelesen. Irgendwie hatte mir mein Bauchgefühl gesagt, dass dieser Tag eine Herausforderung werden würde. Und ich hatte mich nicht geirrt.
Ich hoffe, du bist immer noch mitfühlend und barmherzig.
Ich fragte mich, was sie von meinem Spitznamen halten würde. Märtyrer-Maddie. Immer da, um die Kuh vom Eis zu holen.
Chase löste den Blick unter seinen schweren Lidern von Daisy und richtete ihn auf mein Gesicht. Er wirkte beängstigend leer. »Danke.«
»Wenn es irgendetwas gibt, das ich tun kann …«
»Ja, es gibt da etwas.« Er richtete sich auf und klopfte sich Daisys Haare ab.
Ich legte fragend den Kopf schief.
»Nachdem mein Vater es uns mitgeteilt hatte, war die Familie völlig durch den Wind. Katie ging nicht zur Arbeit. Meine Mutter verließ ihr Bett nicht mehr, und Dad lief auf und ab und versuchte, alle anderen zu trösten, anstatt sich um sich selbst zu kümmern. Es war, anders kann man es nicht ausdrücken, eine echt miese Show. Und sie ist noch nicht vorbei.«
Ich wusste, dass Lori Black auch früher schon mit Depressionen gekämpft hatte. Ich hatte es nicht von Chase erfahren, sondern aus einem ausführlichen Interview, das sie einige Jahre zuvor der Vogue gegeben hatte. Sie hatte offen über ihre düsteren Phasen gesprochen und dabei für die gemeinnützige Organisation geworben, bei der sie ehrenamtlich tätig war. Katie, Chases Schwester, war Marketing-Managerin bei Black & Co. – und kaufsüchtig. Das war weitaus weniger liebenswert oder schrullig, als es vielleicht klingt. Katie litt unter schweren Panikattacken. Ihre Anfälle beruhigte sie mit intensiven, unkontrollierten Kaufräuschen, bei denen sie alles verdrängte, was ihr Angst machte. Diese reflexhafte Geldverschwendung verschaffte ihr vorübergehend Erleichterung, aber hinterher hasste sie sich jedes Mal selbst. Das Ganze ähnelte emotional bedingten Fressattacken, nur eben mit Designer-Klamotten anstatt Lebensmitteln. Und tatsächlich war sie als kaufsüchtig diagnostiziert worden. Sechs Jahre zuvor war sie in einen Kaufrausch verfallen, nachdem ihr Freund mit ihr Schluss gemacht hatte. Dabei hatte sie in weniger als achtundvierzig Stunden zweihundertfünfzigtausend Dollar ausgegeben und drei Kreditkarten ausgereizt. Chase hatte sie in ihrem begehbaren Kleiderschrank vorgefunden, begraben unter einem Berg von Schuhkartons und Kleidung, während sie in eine Flasche Champagner weinte.
Offenbar hatte er meine Gedanken gelesen, denn er nutzte sie zu seinem Vorteil und starrte mich weiterhin durchdringend an. »Angesichts der Erfolgsgeschichte meiner Mutter ist die Annahme nicht besonders weit hergeholt, dass sie sich auf direktem Weg nach Depression-City befindet. Als ich nach Katie sehen wollte, war ihre Tür mit Paketen blockiert. Ich brauchte also ein Opferlamm.«
»Chase«, krächzte ich. Aus irgendeinem Grund hatte ich das Gefühl, dass ich das arme Tier war, das in den Ofen geschoben werden sollte. Seine Miene war ausdruckslos, sein Tonfall bedächtig.
»Ich musste mir etwas einfallen lassen, also habe ich eigenmächtig eine Ansage gemacht.«
Er griff nach der Dose zwischen uns und nahm noch einen Schluck, wobei sein Blick weiterhin auf mir ruhte. Ruhig. Mein Herz raste wie ein Hamster in seinem Rad. Meine Fingerkuppen kribbelten. Panik schnürte mir die Kehle zu.
»Ich habe ihnen erzählt, dass wir verlobt sind.«
Ich antwortete nicht.
Jedenfalls nicht sofort.
Ich nahm die Dose Cola light, warf sie an die Wand und sah zu, wie sich der Inhalt in ein sprudelndes braunes Avantgarde-Bild verwandelte. Wer machte denn so was? Wer erzählte seiner Familie, er habe sich mit genau der Ex-Freundin verlobt, die er betrogen hatte? Und jetzt war er hier, nicht im Geringsten schuldbewusst, derselbe Arsch wie immer, und überbrachte mir beiläufig eine derartige Nachricht.
»Du verdammter …«
»Es kommt noch schlimmer.« Chase hob eine Hand und blickte auf meine Fensterbank, auf der Topfpflanzen in verschiedenen Farben und Daisys Körbchen standen. »Wie sich herausstellte, war die Verlobungsnachricht genau das, was der Arzt verschrieben hatte. Familie ist für die Blacks ein gottgegebenes Prinzip. Plötzlich gibt es etwas, worüber Mom sich freuen kann, und Dad denkt nicht mehr ständig an das böse K-Wort. Und deshalb sieht es so aus, als feierten wir zwei an diesem Wochenende unsere Verlobung in den Hamptons.«
»Unsere Verlobung?«, wiederholte ich und blinzelte. Ich fühlte mich seekrank. Es war, als schwankte der Boden unter mir im Rhythmus meines Herzschlags. Chase nickte nur.
»Natürlich müssen wir beide anwesend sein.«
»Das einzig Natürliche hier«, sagte ich sehr langsam, weil in meinem Kopf das reinste Chaos herrschte, »ist die Tatsache, dass du immer noch völlig irre bist. Die Antwort auf deine unausgesprochene Frage lautet Nein.«
»Nein?«, wiederholte er. Noch ein Wort, an das er nicht gewöhnt war.
»Nein«, bestätigte ich. »Ich werde dich nicht zu unserer vorgetäuschten Verlobungsfeier begleiten.«
»Warum nicht?«, fragte er. Er sah ehrlich verblüfft aus. Ich begriff, dass Chase trotz seiner zweiunddreißig Lebensjahre kaum Erfahrung mit Zurückweisung hatte. Er war gut aussehend, clever und so unanständig reich, dass sein Leben nicht ausreichen würde, um all sein Geld auszugeben. Außerdem hatte er einen beneidenswerten Stammbaum aus Manhattan. Auf dem Papier war er zu gut, um wahr zu sein. In Wahrheit war er so mies, dass es schon wehtat, neben ihm zu atmen.
»Weil ich keine Scheinbeziehung feiern und Dutzende Menschen betrügen werde. Und weil es sehr weit unten auf meiner To-do-Liste steht, dir einen Gefallen zu tun. Lieber reiße ich mir jede Wimper einzeln aus oder prügele mich in der Subway mit einem betrunkenen Weihnachtsmann.« Ich hielt noch immer die Tür auf, aber ich zitterte. Die ganze Zeit musste ich an Ronan Black denken. Daran, wie sehr Katie und Lori diese Diagnose getroffen haben musste. An Moms Brief, in dem sie mir sagte, dass ich mitfühlend bleiben sollte. Aber das hier hatte sie damit garantiert nicht gemeint.
»Dann werde ich dich feuern«, sagte er, ohne zu zögern.
»Und ich verklage dich«, gab ich mit der gleichen Nonchalance zurück, obwohl mich seine Drohung geradezu in Hysterie versetzte. Ich liebte meinen Job. Außerdem wusste Chase verdammt gut, dass ich von Gehaltsscheck zu Gehaltsscheck lebte und nicht einmal eine sehr kurze Arbeitslosigkeit überstehen würde.
Kein Wunder, dass sein Nachname Black war. Die Farbe seines Herzens.
»Ist das Geld ein wenig knapp, Miss Goldbloom?« Er zog eine Augenbraue hoch. Seine Stimme war der Tod.
»Du kennst die Antwort.« Ich bleckte die Zähne. Eine Wohnung in Manhattan, egal wie klein, kostete ein Vermögen.
»Perfekt. Dann tu mir diesen Gefallen, und ich werde dich für deine Zeit und deine Mühe entschädigen.« Innerhalb einer Sekunde verwandelt er sich vom bösen Cop zum guten Cop.
»Blutgeld«, sagte ich.
Er zuckte mit den Schultern, meine Mätzchen schienen ihn zu langweilen. »Blut? Nein. Höchstens ein paar Kratzer.«
»Bietest du mir etwa an, mich für meine Dienste zu bezahlen?« Ich ignorierte das Zucken in meinem Augenlid. »Dafür gibt es nämlich ein Wort. Prostitution.«
»Ich bezahle dich nicht dafür, mit mir zu schlafen.«
»Das musst du ja nicht. Idiotischerweise habe ich das umsonst getan.«
»Damals habe ich aber keine Beschwerden gehört. Pass auf, Mad …«
»Chase.« Ich ahmte seinen drohenden Ton nach, denn ich hasste es, dass er seinen Spitznamen für mich benutzte – nicht Maddie, nicht Mads, sondern nur Mad. Und vor allem hasste ich es, dass ich davon immer noch Schmetterlinge im Bauch bekam.
»Wir wissen beide, dass du es tun wirst«, erklärte er mit der kaum verhohlenen Ungeduld eines Erwachsenen, der einem Kleinkind erklärt, warum es seine Medizin nehmen soll. »Erspar uns diese Mätzchen. Es ist schon spät, ich habe morgen eine Vorstandssitzung, und ich bin mir sicher, dass du es kaum erwarten kannst, deinen Freundinnen alles über dein kleines Date mit Scooby-Doof zu erzählen.«
»Ach, tatsächlich? Wissen wir das?«, wiederholte ich. Meine Augen waren kurz davor, ihn durch die reine Kraft meines Abscheus in Flammen aufgehen zu lassen. Auf seine letzte Stichelei reagierte ich nicht einmal. Das hier war Chase, wie er leibte und lebte, und dabei seinen eigenen Rekord als Arschloch im Guinness-Buch der Rekorde schlug.
»Ja. Weil du Märtyrer-Maddie bist und weil es das Richtige ist. Du bist selbstlos, fürsorglich und mitfühlend.« Er listete diese Eigenschaften so sachlich auf, als stünden sie nicht längst auf der Haben-Seite seiner Bilanz. Sein Blick wanderte von meinem Gesicht zu der Wand hinter mir, an die ich Dutzende filigrane Stoffmuster gepinnt hatte. Chiffon, Seide und Organza. Cremefarbene und weiße Stoffe aus der ganzen Welt neben Bleistiftzeichnungen von Hochzeitskleidern. Ich schüttelte den Kopf, weil ich wusste, was er dachte.
»Krieg dich bloß wieder ein, du Sandkasten-Casanova. Ich werde dich niemals heiraten.«
»Das sind doch mal gute Nachrichten.«
»Ist das so? Ich glaube, du hast mich gerade gebeten, deine Verlobte zu werden.«
»Meine vorgetäuschte Verlobte. Ich bitte dich nicht, mich zu heiraten.«
»Worum bittest du mich dann?«
»Um den Gefallen, meinem Vater nicht das Herz zu brechen.«
»Chase …«
»Denn wenn du nicht kommst, Mad, wird es ihm das Herz brechen«, sagte er und fuhr sich mit zitternder Hand durch seine Locken.
»Die Sache wird außer Kontrolle geraten.« Ich schüttelte den Kopf. Meine Finger zitterten so sehr, dass es aussah, als ob sie tanzten.
»Das werde ich zu verhindern wissen.« Er hielt meinem Blick stand, in seinem Gesicht zuckte kein Muskel. »Ich will dich nicht zurück, Madison«, sagte er, und aus irgendeinem Grund wirkten diese Worte wie ein tiefer Schnitt, der mich bluten ließ. Ich hatte immer schon vermutet, dass Chase mich im Grunde nicht wollte, auch als wir noch zusammen waren. Für ihn war ich eine Art Stressball, etwas, womit er geistesabwesend spielte, während er in Gedanken woanders war. Ich erinnerte mich, dass ich mich nie wirklich von ihm gesehen fühlte. Die Art, wie er sich über meinen schrägen Kleidungsstil ärgerte. Die Seitenblicke, die er mir zuwarf und die mir das Gefühl gaben, kaum attraktiver als ein Zirkusäffchen zu sein. »Ich will nicht, dass mein Vater diese Welt verlässt, während das reinste Chaos herrscht. Mom. Katie. Es ist einfach zu viel. Das kannst du doch nachvollziehen, oder?«
Mom.
Krankenhausbetten.
Überall verstreute Briefe.
Mein leeres, schmerzendes Herz, das sich nie ganz von diesem Verlust erholt hatte.
Ich spürte, wie meine Entschlossenheit einen Riss nach dem anderen bekam, bis die Eisschicht, mit der ich mich umgeben hatte, sobald Chase meine Wohnung betreten hatte, mit einem geräuschlosen Klirren zu Boden fiel wie bei einer Kriegerin, die ihre Rüstung ablegt. Er erinnerte sich an das Gespräch viele Monate zuvor, bei dem ich ihm erzählt hatte, dass meine Mutter in demselben Monat gestorben war, in dem mein Vater für ihr Geschäft, Iris’ Golden Blooms, Konkurs angemeldet hatte und ich bei den Semesterprüfungen durchgefallen war. Sie verließ diese Welt voller Ängste und Sorgen um diejenigen, die sie liebte.
Die Tatsache, dass sie nicht in Frieden gegangen war, nagte noch immer in jeder Nacht an mir.
Es spielte keine Rolle, dass ich später die Highschool mit Auszeichnung abgeschlossen und sogar ein Teilstipendium fürs College bekommen hatte oder dass Dad sich später wieder aufgerappelt hatte und unser Blumenladen wuchs und gedieh. Ich hatte nach wie vor das Gefühl, dass Iris Goldbloom in der Vorhölle dieser schrecklichen Phase unseres Lebens gefangen war und bis in alle Ewigkeit warten würde, um zu sehen, ob wir es schafften.
So sehr ich Chase Black für das hasste, was er mir angetan hatte – ich würde seiner Familie keine weitere Katastrophe in Form einer abgesagten Verlobungsfeier aufzwingen. Aber ebenso wenig würde ich nach seinen Regeln spielen.
»Was hat deine Familie denn geglaubt, wo ich die letzten sechs Monate war? Kam es ihnen nicht seltsam vor, dass ich nicht mehr bei ihnen aufgetaucht bin?«
Chase zuckte unbeeindruckt mit den Schultern. »Ich leite eine Firma, die reicher ist als mancher Staat. Ich habe ihnen gesagt, dass wir uns immer abends sehen.«
»Und das haben sie dir abgenommen?«
Erneut dieses diabolische Grinsen. Natürlich hatten sie ihm geglaubt. Chase besaß die erstaunliche Fähigkeit, einem Eskimo einen Kühlschrank zu verkaufen.
»Na prima«, knurrte ich. »Und was passiert, wenn wir uns schließlich trennen?«
»Das kannst du mir überlassen.«
»Bist du sicher, dass du die ganze Sache gründlich durchdacht hast?« Es klang nach einem schrecklichen Plan. Nach einer romantischen Komödie fürs Kabelfernsehen. Aber ich wusste, dass Chase jemand war, den man ernst nehmen musste. Er nickte.
»Meine Mutter und meine Schwester werden enttäuscht sein, aber nicht am Boden zerstört. Dad will, dass ich glücklich bin. Aber vor allem will ich, dass er glücklich ist. Und zwar um jeden Preis.«
Gegen diese Logik konnte ich nichts einwenden, und ehrlich gesagt war dies genau der Punkt, an dem Chase mich packen konnte. Mein Mitgefühl angesichts seiner Lage.
»Na schön, ich komme dieses Wochenende, aber das war’s dann auch.« Warnend hob ich den Zeigefinger. »Ein Wochenende, Chase. Danach kannst du ihnen erzählen, dass ich beschäftigt bin. Und was auch immer passiert, diese Verlobungsgeschichte bleibt streng geheim. Ich will mir nicht in den Hintern beißen müssen, weil die Sache mich bei der Arbeit wieder einholt. Apropos Arbeit … nachdem wir unsere sogenannte Verlobung gelöst haben, werde ich meinen Job behalten.«
»Pfadfinderehrenwort.« Aber er hob nur einen Finger. Den mittleren.
»Du warst nie bei den Pfadfindern«, versetzte ich und musterte ihn aus schmalen Augen.
»Und dir hat noch nie jemand in den Hintern gebissen. Ist doch nur eine Redensart. Ach nee, Moment mal.« Ganz langsam breitete sich ein Grinsen in seinem Gesicht aus. »Und ob dir schon mal jemand in den Hintern gebissen hat …«
Ich zeigte auf die Tür und spürte, wie mir beim Gedanken an seine Zähne in meinen Pobacken brennende Röte über den Hals und ins Gesicht kroch. »Raus!«
Chase schob eine Hand in seine Gesäßtasche. Angst schnürte mir die Kehle zu wie ein zu eng gebundener Schal, als er eine kleine samtene Schmuckbox von Black & Co. herausholte und sie mir zuwarf. »Ich hole dich Freitag um sechs ab. Wanderkleidung ist obligatorisch. Vernünftige Kleidung ist optional, aber verdammt erwünscht.«
»Ich hasse dich«, sagte ich ruhig. Die Worte brannten sich ihren Weg durch meine Kehle, während ich das Plüschkästchen mit der goldenen Beschriftung in meinen zitternden Fingern hielt. Ja, ich hasste ihn. Wirklich und wahrhaftig. Aber ich tat das hier für Ronan, Lori und Katie, nicht für ihn. Das machte mir meine Entscheidung ein bisschen erträglicher.
Chase lächelte mich mitleidig an. »Du bist ein braves Kind, Mad.«
Kind. Herablassend wie eh und je. Arschloch.
Er spazierte zur Tür und blieb wenige Zentimeter von mir entfernt stehen. Grimmig blickte er auf die Coladose zu meinen Füßen.
»Vielleicht machst du das mal sauber.« Er deutete auf die Colaspuren an der Wand. Dann hob er eine Hand, rieb mir mit dem Daumen über die Stirn, genau an der Stelle, an der Ethan mich geküsst hatte, und löschte seine Berührung damit aus.
»Schmutz sieht nie gut aus, vor allem nicht an der Verlobten von Chase Black.«
10. August 2002
Liebe Maddie,
Fun Fact: Das Maiglöckchen hat eine biblische Bedeutung. Es entsprang Evas Augen, als sie aus dem Garten Eden verbannt wurde. Es gilt als eine der prächtigsten und seltensten Blumen, ein echter Favorit königlicher Bräute!
Und sein Gift ist tödlich.
Nicht alle schönen Dinge tun dir gut. Es tut mir leid, dass ihr euch getrennt habt, du und Ryan. Wenn es dir hilft: Er war sowieso nie der Richtige für dich. Du verdienst nur das Allerbeste. Gib dich nie mit weniger zufrieden.
In Liebe (und ein wenig erleichtert)
Mom x
Seit ich fünf war, plante ich meine Hochzeit.
Mein Dad erzählte gern, wie ich am Tag vor der Einschulung mit einem Strauß Wiesenblumen einschließlich Wurzeln und Erde in unserer Stichstraße Jacob Kelly hinterher rannte und ihm zurief, er solle gefälligst zurückkommen und mich heiraten. Nachdem ich ihn gründlich bestochen hatte, bekam ich endlich meinen Willen. Jacob wirkte entsetzt, als meine Freundinnen Layla und Tara eine formvollendete Trauung durchführten. Er weigerte sich, die Braut zu küssen – was mir sehr recht war – und beschloss, die Flitterwochen damit zu verbringen, Tannenzapfen nach den Eichhörnchen auf unserem Gartenzaun zu werfen und sich darüber zu beschweren, dass es nichts mehr von Moms berühmtem Kirschkuchen gab.
Nach Jacob Kelly hörte ich keineswegs mit dem Heiraten auf. Noch vor meinem elften Geburtstag hatte ich Taylor Kirschner, Milo Lopez, Aston Giudice, Josh Payne und Luis Hough geheiratet. Sie alle lebten immer noch in der Stadt in Pennsylvania, in der ich aufgewachsen war, und schickten mir Weihnachtskarten, in denen sie mich damit neckten, dass ich ein glücklicher Single geblieben war.
Es ging mir nicht um Romantik. Mein Interesse an Jungs beschränkte sich auf eine morbide Neugier. Warum waren sie immer dreckig und ungezogen, und warum mochten sie Witze übers Furzen? Was ich wirklich liebte, war der Hochzeitsteil. Die Schmetterlinge im Bauch, das Festliche, die Gäste, der Kuchen, die Blumen. Und vor allem – das Kleid.
Die gespielten Hochzeiten gaben mir einen Grund, das bauschige weiße Kleid anzuziehen, das mir meine Cousine Coraline geschenkt hatte. Ich war das Blumenmädchen bei ihrer Hochzeit. Fünf Jahre hintereinander quetschte ich mich in das Ding, bis sich nicht mehr leugnen ließ, dass das Kleid für ein Mädchen in der Vorpubertät einfach zu klein war, selbst für eins, das so komisch winzig war wie ich.
Seitdem war ich von Hochzeitskleidern besessen. Nein, ich war fanatisch. Ich bettelte meine Eltern an, mich zu Hochzeiten mitzunehmen. Ich ging so weit, mich bei Trauungen von Fremden in die örtliche Kirche zu schleichen, damit ich die Kleider bewundern konnte. Was meine Besessenheit noch schlimmer machte, war die Tatsache, dass meine Mutter Floristin war und ich sie häufig begleiten durfte, wenn sie Blumenschmuck zu luxuriösen, wunderschönen Hochzeitslocations brachte.
Brautkleid-Designerin zu werden war keine Berufswahl, sondern Berufung. Am Tag der Hochzeit war eine Frau ihr schönstes, makellosestes Selbst. Tatsächlich war dies der einzige Tag im Leben, an dem sie das Kleid auswählen durfte, das sie wirklich wollte, egal wie kostspielig, extravagant oder aufwendig es war. Manchmal wurde ich gefragt, ob es nicht eintönig sei, mich auf das Entwerfen eines einzigen Kleidungsstücks zu beschränken. Ehrlich gesagt sah ich keinen Grund, warum ein Designer beschließen sollte, ganz normale Kleidung zu entwerfen. Hochzeitskleider waren das professionelle Äquivalent zu einem Leben, in dem man jeden Tag zu allen drei Mahlzeiten ausschließlich Dessert zu sich nahm. Es war, als bekäme man alle Weihnachtsgeschenke auf einmal.
Vielleicht war ich deshalb bei der Arbeit immer die Letzte, die ging. Ich war es, die das Licht ausmachte und sich von ihrem letzten Entwurf verabschiedete. Aber nicht an diesem Freitag.
An diesem Tag hatte ich tatsächlich etwas vor.
»Ich bin dann mal weg. Schönes Wochenende euch allen!« Ich schlüpfte in meine pinkfarbenen Pumps und schaltete das Licht aus, das meinen Zeichentisch bei Croquis beleuchtete.
Meine Ecke des Ateliers war meine kleine Oase. Wie geschaffen für meine Bedürfnisse. Mein Zeichentisch hatte fest installierte silberne Ablagekästen, die ich mit Filzstiften, lustig geformten Radiergummis, Pinseln und Zeichenkohle gefüllt hatte. Ich hatte es mir zur Gewohnheit gemacht, jede Woche eine Vase mit frischen Blumen auf den Tisch zu stellen. Es war, als wäre meine Mom bei mir, um auf mich aufzupassen.
Ich gab den Blumen in der Vase – einem Medley aus Lavendel und weißen Blüten – einen leichten Klaps und versorgte sie für das Wochenende mit Wasser. »Benehmt euch«, sagte ich und wedelte drohend mit dem Finger. »Solange ich weg bin, kümmert sich Miss Magda um euch. Und seht mich nicht so an. Am Montag bin ich ja wieder da.«
Wer behauptete, Blumen hätten kein Gesicht, hatte offensichtlich noch nie eine welken sehen. Normalerweise nahm ich meine Blumen mit nach Hause und stellte sie neben Daisy auf das Fensterbrett, damit sie hinausgucken und etwas Sonne tanken konnten, aber an diesem Wochenende würde ich mit Satan in die Hamptons fahren, und Daisy übernachtete bei Layla.
»Du sprichst ja schon wieder mit deinen Pflanzen. Cool. Und kein bisschen verrückt«, murmelte jemand auf der anderen Seite des Ateliers. Es war meine Kollegin Nina. Nina war so alt wie ich, aber noch Praktikantin. Sie war so perfekt wie ein Supermodel. Gertenschlank, Stupsnase und das Hautbild einer Bratz-Puppe. Das einzig Negative an ihr war, dass sie eine starke Abneigung gegen mich hegte, offenbar allein aufgrund der Tatsache, dass ich atmete. Tatsächlich hatte sie mich einmal als »Sauerstoff-Fresserin« bezeichnet.
»Nun hau schon ab.« Den Blick auf ihren Bildschirm gerichtet, winkte sie mir zu. »Wenn deine Pflanzen pinkeln, wechsele ich ihnen die Windeln. Hauptsache, ich muss dich nicht mehr sehen.«
Überzeugt von meiner moralischen Überlegenheit wandte ich mich ab und ging zu den Aufzügen. Unterwegs lief ich Sven in die Arme. Er stemmte eine Hand in die Hüfte, beugte sich vor und tippte mir auf die Nase. Mein Boss Schrägstrich Quasi-Freund war Anfang vierzig und steckte von Kopf bis Fuß in schwarzen Klamotten. Sein Haar war so unglaublich blond, dass es fast weiß war, und seine Augen so hell, dass man beinahe hindurchsehen konnte. Er trug immer ein bisschen Gloss auf den Lippen und wackelte beim Gehen mit den Hüften wie Sam Smith. Als Abteilungsleiter bei Croquis, einer Firma, die Hochzeitskleider herstellte und exklusiv über die Läden von Black & Co. vertrieb, hatte er im Atelier das Sagen und nahm an Meetings der Geschäftsführung teil. Sven hatte mich unter seine Fittiche genommen, als ich frisch von der Kunstakademie kam. Irgendwann war mein Praktikumsplatz in eine Vollzeitstelle übergegangen. Vier Jahre später konnte ich mir nicht mehr vorstellen, irgendwo anders als bei dieser Firma zu arbeiten.
»Wohin so eilig?« Er legte den Kopf schief.
Ich warf mir meine Kuriertasche über die Schulter und steuerte weiter auf die Fahrstühle zu. »Nach Hause, wohin denn sonst?«
»Oh, Lorde, zum Glück kannst du besser designen als lügen.« Er meinte die Sängerin, nicht den Allmächtigen. Sven bekreuzigte sich und folgte mir auf dem Fuß. Sein leichter schwedischer Akzent legte die Betonung immer auf die letzte Silbe, kam aber nur zum Vorschein, wenn er aufgeregt oder betrunken war. »Du gehst doch nie pünktlich. Was ist los?«
Meine Augen sprühten Funken. Hatte Chase etwa den Mund aufgemacht? Sven kannte ihn, sie begegneten sich regelmäßig in den Meetings. Zuzutrauen war es ihm. Ich traute Chase alles zu, nur nicht, den Dritten Weltkrieg vom Zaun zu brechen. Ein Krieg konnte Monate dauern … sogar Jahre. Dafür fehlte ihm das Durchhaltevermögen.
Vor den Fahrstühlen blieb ich stehen, drückte auf den Knopf und steckte mir zwei Kaugummis in den Mund. »Gar nichts ist los. Warum fragst du?«
Sven legte den Kopf schief, als würde das Geheimnis von selbst aus meinem Mund kommen, wenn er mich nur lange genug anstarrte. »Geht es dir gut?«
Ich stieß ein schrilles Lachen aus. Sven und ich standen uns nah, aber nur auf beruflicher Ebene. Vermutlich wären wir besten Freunde, wäre er nicht mein Boss. Aber wir wussten beide, dass es im Augenblick Grenzen gab und gewisse Dinge, über die wir nicht reden konnten. »Klar, ging mir nie besser.«
Himmel, hol mich bitte jemand hier raus!
Der Aufzug pingte. Sven stellte sich davor und mir in den Weg. »Ist … er der Grund?«
Beinahe wäre mir das Kinn auf den Boden gefallen.
»Er kann von mir aus in der Hölle schmoren, und ich würde ihn nicht mal anspucken, um die Glut zu löschen«, fauchte ich. »Nicht zu fassen, dass du ihn überhaupt erwähnst.«
Hätte ich jedes Mal, wenn Sven mich wegen Chase weinend in der Küche, an meinem Arbeitsplatz oder sonst wo erwischt hatte, einen Penny bekommen, müsste ich nicht mehr hier arbeiten. Oder überhaupt arbeiten. Ich wusste nicht mal, warum ich weinte. In dem halben Jahr unserer Beziehung war ich Chases Familie nur ein paarmal begegnet, und seinen Brusin (Bruder-Cousin) und dessen Frau, die ihnen sehr nahestanden, kannte ich überhaupt nicht persönlich. Er wiederum hatte meine Familie gar nicht kennengelernt. Nur Layla und natürlich Sven. Die Sache zwischen uns ließ sich also beim besten Willen nicht als ernst bezeichnen.
»Harsche Worte! Was hat der arme Kerl dir getan? Ihr datet doch erst seit drei Wochen.« Sven tippte sich auf die Lippen und zog die Augenbrauen zusammen. »Wie hieß er noch gleich? Henry? Eric? Ich erinnere mich, dass es etwas sehr Amerikanisches und Gesundes war.«
Ethan. Natürlich, er meinte Ethan. Mein Herzschlag verlangsamte sich, schien fast zum Stillstand zu kommen. Die Türen des Aufzugs schlossen sich bereits wieder. Ich musterte Sven mit gerunzelter Stirn und versuchte den Fahrstuhl mittels Knopfdruck zurückzuholen, aber er war bereits auf dem Weg nach unten. Verdammt.
»Geduld ist eine Tugend«, erklärte ich.
»Oder ein Zeichen dafür, dass er im anderen Team spielt.« Sven richtete den Kragen meiner blaugemusterten Bluse. »Persönliche Erfahrung, Schwester. Ich hatte auf der Highschool eine Freundin, Vera. Ihre Unschuld blieb intakt, bis sie auf ein College in den Staaten ging, wo sie sie vermutlich von ein paar Verbindungstypen schrotten ließ, um die verlorene Zeit aufzuholen.«
»Arme Vera.« Ich leckte über meinen Daumen und wischte ihm einen Kaffeefleck aus dem Mundwinkel.
»Armer Sven.« Er stieß meine Hand beiseite. »Ich war so sehr damit beschäftigt, der Mann zu sein, von dem ich glaubte, dass meine Eltern ihn sich wünschten, dass ich meine Sturm- und Drangzeit komplett verpasst habe. Lass nicht zu, dass dir dasselbe passiert, Maddie. Geh hin und sei das Luder, das wir alle gern wären.«
Ich zuckte zusammen. »Du projizierst.«
»Und du verpasst alles«, konterte er und stupste sanft mein Brustbein an. »Es ist Monate her, dass du mit Chase Schluss gemacht hast. Es wird Zeit, über ihn hinwegzukommen. Wirklich hinwegzukommen.«
»War ich. Ich meine, bin ich. Werde ich.« Ich drückte dreimal hintereinander auf den Fahrstuhlknopf. Klick, klick, klick.
»Oh, sieh mal, eine Nachricht von Layla.« Sven hielt mir sein Handy vors Gesicht. Ups, ich vergaß zu erwähnen, dass Sven, da er und ich nicht beste Freunde sein konnten, tatsächlich der beste Freund meiner besten Freundin geworden war. Das brachte meine Work-Life-Balance ganz schön durcheinander, und ich müsste lügen, wenn ich behaupten wollte, dass es mich nicht manchmal störte. So wie in diesem Moment. »Ich lese es dir vor: ›Sag deiner Mitarbeiterin, dass sie sich an diesem Wochenende amüsieren soll. Zwing sie dazu. Sie soll Spaß haben. Fehler machen. Mit dem Mann ihrer Träume schlafen.‹«
»Nein, ich …«, setzte ich an, aber Sven schüttelte den Kopf, drehte sich um und winkte ab, während er bereits zurück ins Atelier schlenderte. Dort beugte er sich über Ninas Schulter und betrachtete den Entwurf, an dem sie arbeitete. Die Fahrstuhltür öffnete sich. Kopfschüttelnd trat ich ein.
»Nur über meine Leiche.«
Eine halbe Stunde, bevor Chase mich abholen sollte, klopfte ich an Laylas Tür. Sie öffnete und schob sich eine smaragdgrüne Haarsträhne hinters Ohr. Im Arm hielt sie einen strampelnden, schreienden Vierjährigen mit einem Trotzanfall. Layla war ein kurviges Meine-einzigen-Grübchen-sind-an-meinem-Hintern-und-das-ist-gut-so-Mädchen mit einer beneidenswerten Garderobe, die aus Hippiekleidern, fließenden Röcken und schulterfreien Strickpullovern bestand. Die Anstrengungen des Kindes, ihr Trommelfell platzen zu lassen, schienen sie nicht weiter zu stören. Das Taschengeld war es offenbar wert.
»Wenn das nicht Märtyrer-Maddie ist«, trällerte sie liebevoll und drückte mich mit einem Arm. Ich hatte die Kleidung, die ich auf der Arbeit getragen hatte, noch nicht gewechselt. Eine blaue Bluse mit aufgedruckten Kirschen, dazu einen grauen Bleistiftrock und pinkfarbene Pumps. »Solltest du dich nicht genau jetzt irgendwo mit deinem Ex-Freund rumtreiben?«
»Ich bin nur vorbeigekommen, um meine Schlüssel abzugeben.«
Okay. Das war eine himmelschreiende Lüge. Layla hatte ohnehin einen Ersatzschlüssel für Notfälle. Aber ich musste einfach mit ihr reden, bevor ich ging. »Danke, dass du auf Daisy aufpasst. Normalerweise gehe ich dreimal täglich für mindestens zwanzig Minuten mit ihr raus. Sie mag den Abingdon Square Park. Besonders gern jagt sie hinter einem Eichhörnchen namens Frank her und belästigt andere Hunde. Und pass auf, dass sie nicht auf die Straße rennt. In ihrer Futtertüte ist ein Messbecher … eine Portion morgens, eine am Abend. Ihre Vitamine sind in der Kramschublade, gelbe Packung. Spar dir die Mühe, ihr Wasser zu geben. Sie trinkt sowieso aus der Kloschüssel. Ach ja, und lass nichts auf der Theke liegen. Sie findet immer einen Weg, es zu öffnen und aufzufressen.«
»Klingt wie ich nach einer durchgemachten Nacht.« Layla grinste. »Frank also? Ist es was Ernstes zwischen den beiden?«
»Für ihn unglücklicherweise ja.« Ich zuckte zusammen. Ich erkannte Frank an der kahlen Stelle zwischen seinen Augen. Daisy liebte dieses Eichhörnchen, also fütterte ich es natürlich jedes Mal, wenn wir in den Park gingen.
»Außerdem pinkelt sie womöglich aus Protest in deine Schuhe, weil ich nicht da bin«, fügte ich hinzu.
»Himmel, dieser Hund ist ja schlimmer als ein Kleinkind. Mit diesem Abschiedsgeschenk hat dein Man-sieht-sich-Ex-Freund wirklich dafür gesorgt, dass du ihn nie vergessen wirst.«
»Besser als C-H-L-A-M-Y-D-I-E-N«, versetzte ich achselzuckend.
»Ich kann durchaus buchstabieren.« Das Kind streckte die Zunge raus, woraufhin wir es beide ungläubig anstarrten.
»Danke, ich bin dir was schuldig«, sagte ich.
»Keine Ursache.«
Das Kind an ihrer Hand zog sie jetzt an den Haaren und rief nach seiner Mutter.
»Ground Control an Märtyrer-Maddie, bist du da? Ich habe dich gefragt, ob Sven dir meine Nachricht vorgelesen hat«, sagte Layla und ignorierte den Unruhestifter auf ihrem Arm. Ich hasste diesen Spitznamen. Ich hasste es auch, dass ich ihn mir immer wieder verdiente, weil ich niemandem, der mich um einen Gefallen bat, etwas abschlagen konnte. Beweisstück A: Ich nahm an diesem Wochenende an meiner eigenen, vorgetäuschten Verlobungsfeier in den Hamptons teil.
»Jep.« Ich setzte ein fröhliches Lächeln auf. »Tut mir leid, ich war gerade abwesend. Hat er. Du bist verrückt.«
»Und du siehst aus, als säßest du in der Todeszelle.«
»So fühle ich mich auch.«
»Das tut mir leid, Schätzchen. Ich weiß, wie niederschmetternd es sein kann, wenn ein umwerfender, kultivierter Multimilliardär dich für ein Wochenende in die Hamptons entführt, nachdem er dir einen Verlobungsring für vierhundertfünfzig Riesen an den Finger gesteckt hat. Aber du wirst es überleben.«
Fürs Protokoll: Ich war nicht diejenige, die nachgeforscht hat, wie teuer dieser Ring war. Das hat Layla bei einer Flasche Wein (okay, bei gestreckter Capri-Sonne) getan, sobald Chase das Haus verlassen hatte. Ich hatte sie zu einem dringenden Treffen gebeten, in dessen Verlauf sie die Black & Co.-Website für Schmuck durchforstete und zu dem Schluss kam, dass der Verlobungsring eine limitierte Auflage und nicht mehr erhältlich war.
»Du weißt, was das bedeutet.« Sie hatte mit den Augenbrauen gewackelt, einen Schuss Wodka in eine Tasse gegeben und Capri-Sonne hinzugefügt. Ich hatte sie sofort zum Schweigen gebracht.
»Ja. Er will sichergehen, dass seine Familie die Verlobung für echt hält. Das ist alles.«
Nun versuchte ich erneut, ihren Optimismus mit einer großen Portion Realismus zu dämpfen.
»Ehrlich gesagt betrachte ich es eher als eine Entführung durch ein betrügerisches, verlogenes, arrogantes Stück Sch…« Ich blickte auf das Kind, das verstummt war und mit großen Augen darauf wartete, dass ich den Satz beendete. Ich räusperte mich. »Schaf.«
»Sie hat ein böses Wort gesagt.« Der Junge deutete mit einem pummeligen Finger auf mich.
»Nein, habe ich nicht. Ich habe ›Schaf‹ gesagt«, protestierte ich. Ich stritt mich mit einem Vierjährigen. Ethan würde auf der Stelle eine Herzattacke bekommen, sollte er das jemals herausfinden.
»Oh.« Das Kind schob die Unterlippe vor und dachte nach. »Ich mag Schafe.«
»Aber wir mögen dieses eine Schaf offensichtlich nicht, Timothy.« Layla tätschelte ihm den Kopf und schloss die Tür ein Stückchen weiter. »Kannst du mir etwas versprechen?«
»Wenn’s unbedingt sein muss.« Ich schmollte. Ich wusste, Layla wünschte sich, dass ich positiv und optimistisch war.
»Versuch, das Beste daraus zu machen. Anstatt daran zu denken, mitwem du die Zeit verbringst, denk lieber daran, wie