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Der neue Roman von der Autorin der TikTok-Sensation »Girl in Pieces« Die Eltern der 15-jährigen Bella kämpfen nach ihrer Trennung mit ihre eigenen Sorgen, und Bella tut was sie kann, um keine zusätzliche Last zu sein. Man wird mehr geliebt, wenn man unkompliziert ist, stimmt's? Doch dann stirbt Bellas Oma, der einzige Mensch, bei dem sie nichts musste, sondern einfach nur sie selbst sein konnte. Und ihre große Liebe Dylan sagt diesen einen Satz, nach dem es kein Weiter gibt … Aber Bella muss weitermachen, sie ist für so vieles verantwortlich. Zum Glück hat sie ein Geheimnis, das alles leichter macht. Etwas, das ihren Schmerz lindert. Die Autorin des Weltbestsellers »Girl in Pieces« erzählt in ihrem neuen herzzerreißenden Roman die Geschichte eines Mädchens, das trinkt, um weniger zu fühlen.
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Seitenzahl: 587
Veröffentlichungsjahr: 2025
Kathleen Glasgow
Kathleen Glasgow lebt und schreibt in Tucson, Arizona. »Girl in Pieces« ist ihr erstes Jugendbuch und wurde direkt ein »New York Times«-Bestseller. Inzwischen hat sie mehrere Jugendbücher veröffentlicht, die vielfach ausgezeichnet und in 24 Sprachen übersetzt worden sind.
[Widmung]
Die Äste gruben
Jeden Morgen
Eins
Freitag
Samstag
Sonntag
Montag
Dienstag
Mittwoch
Donnerstag
Zwei
Drei
Tag eins
Tag zwei
Tag drei
Tag vier
Tag fünf
Tag sechs
Tag sieben
Tag acht
Tag neun
Tag zehn
Tag elf
Tag zwölf
Tag dreizehn
Tag vierzehn
Tag fünfzehn
Tag sechzehn
Tag siebzehn
Tag achtzehn
Tag neunzehn
Tag zwanzig
Tag einundzwanzig
Tag zweiundzwanzig
Tag dreiundzwanzig
Tag vierundzwanzig
Tag fünfundzwanzig
Tag sechsundzwanzig
Tag siebenundzwanzig
Tag achtundzwanzig
Tag neunundzwanzig
Tag eins
Vier
Warst du schon bei deinem ersten Gruppentreffen?
Schule kann stressig seinEs kommt oft anders als man denkt
Die Familie kann eine Herausforderung sein
Gab es in Sonora etwas, das du regelmäßig gemacht hast und das dir gefallen hat? Versuch, es zu Hause auch zu machen
Nach und nach werden die Leute zu dir zurückkommen
Jeder versucht es auf seine eigene Art
Fühlst du dich heute sicher?
Eine Freundin ist alles, was du brauchst
Heute wirst du etwas wiederentdecken, was du einmal geliebt hast
Wenn es nicht funktioniert, dann ändere was
Du kannst so oft von vorne anfangen, wie es nötig ist
Anmerkung der Autorin
Wohin du dich wenden kannst, wenn du Hilfe brauchst
Danksagung
Wo immer du auch bist,
Wie dunkel der Weg dir auch erscheinen mag,
Komm zurück,
Jemand hat das Licht für dich angelassen.
Die Äste gruben sich in ihre Handflächen
Das Blut war ihr egal
Sie kletterte weiter
Höher und höher
Blätter im Haar
Risse in der Jeans
Das Blut war ihr egal
Irgendein Feuer in ihrem Herzen
Trieb sie weiter nach oben
Trug sie weit weg von dem Geschrei
Weit weg von den Blicken
Weit weg von der Welt
Starke, nackte Füße auf den Ästen
Das Blut war ihr egal
Ganz oben
Im Himmel
Konnte sie atmen
Ohne das Geschrei
Ohne die Blicke
Lehnte ihre Wange an den Baum
Schloss die Augen
Und nahm alles in sich auf
Spülte alles weg, weg, weg
So schön war die Welt
Nachdem sie alles
gedämpft
geglättet
eingeäschert hatte
zusah, wie die Asche zwischen ihren Fingern davontrieb
Und dann
Knackste, krachte es, und sie fiel
Und fiel
Und fiel
Und fiel
Das Blut dort unten am Boden ein Nest für ihre Fragmente
Jeden Morgen, wenn ich aufwache, glaube ich nicht, dass ich es schaffen werde. Oder vielleicht glaube ich, dass ich es nicht schaffen will. Das, was ich am Abend vorher getan habe, lastet schwer auf mir, alles, was ich mit mir rumtrage, lastet schwer auf mir und manchmal ist es einfach zu verdammt viel. Ich bin so müde, dass ich mich wie ein wandelndes, klappriges Gerippe fühle. Ich bin so müde, dass ich mich fühle, als hätte ich Zement in den Schuhen, eine Bleiweste auf der Brust, Backsteine an den Handgelenken. Aber ich stehe auf. Ich quäle mich aus dem Bett und wuchte meine Zement-Füße auf den Boden und spule das dämliche Pflichtprogramm ab, denn das ist, was es heißt, fünfzehn zu sein: Deine Mutter wird dich anbrüllen, wenn du zu spät zur Schule kommst, dein Vater wird dich anbrüllen, dass er zu spät zur Arbeit kommt, wenn du nicht voranmachst. Dein Lehrer wird dich vor der ganzen Klasse bloßstellen, weil du nicht aufgepasst hast. Du wirst von allen und jedem im Flur angerempelt, so dass du gegen die Wand stößt, und dabei ist es noch nicht einmal Absicht. Es ist schlimmer. Sie sehen dich einfach nicht. Du existierst nicht. Du tauchst nicht auf ihrem menschlichen Radar auf. Dann siehst du die Person, die dir dein Herz genommen und in zwei Teile gespalten, es sich in den Mund gestopft und verschlungen hat, und du willst es zurückhaben und du glaubst nicht, dass das je geschehen wird, und wie soll man das aushalten? Oder dir fällt ein, dass deine Großmutter tot ist, und das ist ein weiteres großes schwarzes Loch, das dich verschlingen will. Und wie soll man das aushalten? Vielleicht ist heute wieder eine Amoklauf-Übung und du musst dich in Kunst an die Wand unterhalb der Fenster ducken. Oder vielleicht läuft dieses Mal wirklich jemand Amok und es ist gar keine Übung. Die Pinguine in der Antarktis haben Plastik im Blut. Waldbrände. Überschwemmungen. Hier in der Wüste ist es heiß und es wird jedes Jahr heißer. Aber du musst aufstehen, weil du fünfzehn bist, und dann machst du das eben. Ziehst schlabbrige Jeans an. Ein schlabbriges T-Shirt. Einen schlabbrigen Hoodie. Alles Schlabber, denn du musst Platz lassen für den immer größer werdenden Schmerz. Musst dich schützen. Inzwischen beherrschst du es perfekt, dir eine Maske aus Puder und schwarzem Eyeliner aufzulegen, ein Gesicht, das sich die Leute von außen angucken können und vielleicht entspricht es nicht deinem Inneren, aber wer will das schon sehen? Dieser Teil von dir ist einfach zu viel und gleichzeitig nicht genug. Dieser Teil ist nur hohl und leer, samt einem grauen, verglühenden Herzen. Alle sagen immer, wenn das vorbei ist, wird alles besser. Wenn du älter bist. Als müsstest du eine Strafe absitzen. Als würde es dich härter machen, wenn du es denn durchhältst. Als würde es sich lohnen. Und vielleicht stimmt das ja auch, aber bis dahin ist es noch so lang und du musst noch so lang diese Last tragen und der einzige Grund, warum du den Tag durchstehst, ist, dass du weißt, was du am Abend tun kannst, damit es sich wenigstens ein bisschen gelohnt hat, bevor diese tröstliche Welle dich hinfortspült und alles andere ersäuft.
Ten, ten, ten, ten for everything,
everything, everything, everything
Violent Femmes, »Kiss Off«
Als würden wir Flaschendrehen spielen, aber ohne eine Flasche. Ich weiß genau, wie es laufen wird. Die imaginäre Flasche wird sich schwindelerregend drehen, dann allmählich langsamer werden, um schließlich am Ende auf mich zu zeigen.
Cherie möchte nicht. Sie sagt, sie kann das nicht, obwohl sie es erst zweimal versucht hat. Sie sagt, sie mag es nicht, wie die Leute sie angucken.
Amber sagt, vergiss es. Sie ist die Einzige, die ein Auto hat und einen Führerschein, sie fährt und meint, das ist genug. Wenn sie sowieso nüchtern bleiben muss, sollte sie es nicht machen müssen. Ich bin die Fährfrau, sagt sie. Ich steuere dieses betrunkene Schiff, also kann ich das nicht machen. Sie trinkt eh nicht gern. Sie hat es einmal versucht und es schien okay zu sein, sie kicherte zusammen mit uns in Kristens Zimmer, während wir Pappbecher mit Crème de Menthe rumgehen ließen, aber dann hat sie in ihren Schoß gekotzt. Wir mussten sie ausziehen und unter die Dusche stellen, ich habe mich bereit erklärt, sie zu halten, damit sie nicht umfällt. Ich habe ihr die Kotzebrocken aus den langen Haaren gewaschen, während sie geweint hat. Zum Glück hat Kristens Mom an diesem Abend bei ihrem Freund übernachtet. Wir haben den Crème de Menthe ganz oben auf dem Küchenschrank entdeckt, die Flasche eingestaubt und in Vergessenheit geraten. Er roch und sah aus wie flüssige Bonbons, also haben wir ihn probiert. Wir waren dreizehn, welches Kind mag keine Bonbons? Jedenfalls war das das erste und einzige Mal für Amber.
Kristen lehnt an der Autotür, ihre Zöpfe mit den roten Schleifen flattern in der Brise, die durch das halb offene Fenster weht.
»Bella, mach du es. Du kannst das am besten. Dir ist es egal«, sagt sie und fuchtelt mit ihrem Vape Pen herum.
»Das ist so was von widerlich«, sagt Amber zu ihr. »Echt eklig.«
»Alles ist eklig, wenn man darüber nachdenkt«, antwortet Kristen. »Na und?«
Auf der Rückbank neben Cherie seufze ich.
Die Flasche hat auf mich gezeigt. Was Kristen zu mir gesagt hat, sagen alle immer zu mir, egal um was es geht, in verschiedenen Varianten:
Bella, mach du das mal.
Bella, sag deiner Schwester, dass jetzt Schluss mit dem Tablet ist und wir zu Abend essen.
Bella, sag deinem Vater, dass er mit dem Scheck wieder spät dran ist.
Bella, finde mal raus, ob der Typ auf mich steht.
Bella, ich habe das Buch nicht gelesen, erzähl mir, was passiert, damit ich diesen Scheißaufsatz schreiben kann.
Bella, Bella, Bella.
Ich schließe die Augen. Ich wäre so gerne allein, aber ich darf nicht allein sein, nicht nach der Sache mit Dylan, und ich weiß, ich sollte dankbar sein, dass meine Freundinnen sich um mich kümmern, aber manchmal will ich einfach nur meine Ruhe, keine Geräusche, nichts. Einfach … nichts.
Manchmal fühlt es sich so an, als würde ich in einem Flipperautomaten leben und ich bin die zerkratzte Metallkugel, die von einer Ecke in die andere geschleudert wird, während es blinkt und knallt. Ich kann nie aufhören zu spielen, weil ich das Spiel bin.
Amber hält um die Ecke vom Laden. Ein paar von den roten Buchstaben auf dem Schild darüber leuchten nicht mehr, also steht da: L_C_Y L_ Q_ _R.
Lucky Liquor. Ein paar von den älteren Jungs in der Schule nennen ihn Lucy Licker. Gestern hab ich mit Lucy Licker rumgehangen. Tun so ihre geschwollenen Augen ab, ihren Mundgeruch, als würde es irgendjemanden interessieren, dass sie verkatert sind. Im Ernst, was Jungs machen, interessiert wirklich niemanden. Nur das, was Mädchen machen.
Alle im Auto schweigen, warten auf mich.
Ich lasse sie noch ein paar Minuten länger warten, so wie immer. So läuft das jedes Mal. Es ändert sich nie.
Wenn Kristen fährt, sagt sie, dass sie es nicht machen kann. Wenn Amber nicht fährt, sagt sie, sie fühlt sich unwohl dabei und trinkt sowieso nicht gerne, also verzeihen ihr alle. Cherie macht es gar nicht mehr, weil einmal ein widerlicher Typ nach der Kapuze ihres Hoodies gegriffen und sie abgerissen hat. Die Flasche dreht sich im Kreis, die ganze Zeit. Es ist egal, was wir spielen: Der Wurfstein unseres Himmel-und-Hölle-Besäufnisses landet immer auf meinem Feld.
Auf meinem Feld, weil sie wissen, dass ich es mache.
Bella ist immer bereit für ein Abenteuer. Bella wird es machen. Bella kann das. Bella wird es schaffen. Na, komm schon, Bella.
Kristen und Cherie halten mir ihr Geld entgegen und ich lausche ihrem Atem. Ambers Blick ist nach links gerichtet, auf die Dunkelheit vor dem Fenster der Fahrerseite, also kann ich sie nicht im Rückspiegel sehen. Ich glaube, sie ist sauer, spricht es aber nicht aus.
Okay, sage ich. Okay, ihr Feiglinge. Ich grapsche ihnen das Geld aus den Händen, die Scheine warm und zerknittert.
Bella, sagen sie. Bella, du bist die Beste.
Ich bin nicht die Beste. Ich bin die Schlimmste. Aber das spielt keine Rolle. Alles, was ich im Moment will, ist, dass das Scharfe in meinem Innern stumpf wird. Das Zeug, das niemand sehen kann. Das Zeug, das in mir rumstochert und mich bluten lässt.
Ich öffne die Autotür und steige aus.
Es gibt Regeln, an die man sich halten sollte, Dinge, an die man denken muss.
Wie, dass man ein bisschen warten muss, aber nicht zu lange und nicht zu nah am Laden, sonst könnte jemand Verdacht schöpfen. Dann sind da die älteren Damen im Lexus, die vor dem Laden halten und so tun, als wollten sie nur Eistee besorgen und Pfefferminz-Pastillen. Diese Damen urteilen selbstgerecht und man muss ihnen aus dem Weg gehen, obwohl sie dann mit Plastiktüten voller Wein wieder rauskommen, den sie wahrscheinlich innerhalb von ein paar Stunden intus haben. Ich meine, echt jetzt. Der einzige Grund, warum sie zu diesem beschissenen Laden in dieser beschissenen Gegend fahren, ist, dass niemand, den sie kennen, sehen soll, wie viel Wein sie kaufen. Denn sie trinken eine Menge und niemand soll wissen, wie viel. Und es gibt immer irgendeinen alten Anzugträger auf dem Weg in den Laden, der das Mädchen auf dem Gehweg (mich) schräg anschaut, das so tut, als würde es auf sein Handy gucken. Brauchst du was?, wird er vielleicht sagen, mit glänzender Glatze. Hast du dich verlaufen? Obwohl er eigentlich was ganz anderes fragt. Das kann man daran erkennen, wie er dich von Kopf bis Fuß mustert. Die darf man nicht nehmen. Die wollen dich dann zum Auto zurückbringen, »damit dir nichts passiert«, deine Freundinnen abchecken, pervers sein. Die haben bestimmt Töchter und würden bei dem Gedanken, ihre Töchter würden so was machen, sterben. Wir sind alle die Tochter von irgendjemandem.
Du musst klug auswählen. Es sollte nie eine Frau sein, außer sie ist etwas ungepflegt und irgendwie pummelig (Flanellhemd, Zigaretten in der Tasche, Flipflops), was bedeutet, es ist ihr scheißegal. Sie macht es vielleicht, sagt, Seid vorsichtig bei eurer Party, während sie dir die Tüte reicht. Pass gut auf.
Ein Typ in den Zwanzigern vielleicht, aber er darf nicht zu cool sein, zu glatt, einer, der vielleicht einsam aussieht (geklebte Brille, T-Shirt mit einem unverständlichen Spruch, dreckige Turnschuhe), aber er darf bloß nicht denken, er kann dich zurück zum Auto begleiten, oder deine Telefonnummer bekommen und du darfst nicht zu lange mit ihm reden, sonst wird eine große Sache draus, was tatsächlich mal passiert ist und damit ausgegangen ist, dass Kristen dem Typen buchstäblich die Finger im Autofenster eingequetscht hat, als sie es wie wild hochgekurbelt hat, während er uns beschimpft und Amber Gas gegeben hat. Wir haben im Auto hysterisch geschrien, unsere Stimmen verschmolzen zu einem einzigen hohen Ton, aber bald waren wir angeheitert (Amber nicht) und haben hysterisch gelacht. Das ist das Gute am Trinken: Sobald du betrunken bist, erscheinen dir die Dinge in einem völlig anderen Licht.
Das kann auch schlimm sein, aber ich versuche alle schlimmen Sachen und Gedanken zu vermeiden. So wie Dylan. Was eindeutig eine Situation war, in der eins zum anderen geführt hat und nicht auf eine gute Art. Das war der Abend, den Kristen den überaus bedauerlichen Untergang Bellas vor aller Welt nennt.
Jedenfalls, du brauchst einen Menschen, dem das egal ist. Einen Menschen, der seine eigenen Gründe hat, den Laden zu besuchen. Du willst einen Menschen, der nicht mit der Wimper zuckt, dich anhört, dein Geld nimmt, mit seiner Plastiktüte zurückkehrt und dir deine gibt, das Wechselgeld einstreicht und zu seinem Auto geht oder den Gehweg entlang und in der Nacht verschwindet, ohne Tschüss zu sagen oder Wo feiert ihr denn oder Pass auf dich auf, weil auch er endlich mit seinem Abend loslegen will. Du musst herausfinden, wer unbedingt Alkohol braucht, und zwar sofort, genau wie du, und nichts dagegen hat, sich für seine Mühe noch einen Zehner dazuzuverdienen.
Du musst es schnell und sauber durchziehen. Unverblümt. Die paar Mal, die wir das so gemacht haben, habe ich eine Menge gelernt.
Hey, kaufst du mir eine Flasche Wodka? Das Wechselgeld kannst du behalten.
Du willst einen Mann. Schon älter, unordentliche Frisur, Basecap, Band-T-Shirt unter seinem Sportsakko, der in seinen klassischen Converse-Turnschuhen zum Laden latscht und nach Zigaretten riecht. Eigentlich jemanden wie die Freunde von meinem Dad: der mal »irgendwie« in einer Band war und inzwischen jenseits von cool ist. Dachte vielleicht, er wird mal ein Rockstar, aber ist jetzt tagsüber in einer Bürozelle eingesperrt, seine Träume unter Excel-Tabellen begraben. Alles, was er noch hat, kommt aus diesem Laden.
Auf dem Gehweg wackele ich in meinen Turnschuhen mit den Zehen, tue so, als würde ich durch mein Handy scrollen, aber blicke mich alle paar Sekunden verstohlen um, damit ich die Situation in Augenschein nehmen kann. Wenn ich ehrlich bin, stört es mich eigentlich gar nicht, das zu machen, weil ich weiß, dass ich mich am Ende besser fühlen werde. Und ein winziger Teil von mir findet es auch ein bisschen aufregend.
Dann sehe ich ihn.
Ich kann sofort erkennen: Der wird es machen. Dem Typen ist alles egal. Blick auf den Gehweg gerichtet, es interessiert ihn nicht, ob ich süß oder heiß oder nichts davon bin. Ich bin ihm scheißegal. Er ist aus dem gleichen Grund hier wie ich: um sich zu betrinken.
Als er an mir vorbeigeht, lege ich los.
»Hey, könntest du Wodka für mich kaufen? Das Wechselgeld kannst du behalten.« Ich sorge dafür, dass meine Stimme und mein Gesicht ausdruckslos bleiben. »Eine große Flasche. Nicht die kleine.«
Er bleibt nicht stehen, um mich anzustarren. Mich von Kopf bis Fuß zu mustern wie die Anzugträger. Er hat was vor.
Er hält kaum inne. Nickt. Seine Hände sind mit Tinte beschmiert und seine Haut ist trocken, als er das Geld entgegennimmt und sagt: »Ja, klar.«
Es gibt immer diesen Moment, wo mein Herz zu schnell schlägt und ich Schweiß auf der Stirn spüre. Wird er rauskommen und in die andere Richtung davongehen? Ich kann ihm nicht hinterherjagen. Wird er zurückkommen und einfach an mir vorbeigehen, mit einem bösen Grinsen, und sagen Wie kann man nur so blöd sein, während er beide Plastiktüten festhält und einfach weitergeht? Ein paarmal ist das schon passiert.
Ich beobachte ihn durch das vergitterte Fenster, während er durch den Laden geht. Erst durch den Gang mit den Chips, dann am Gatorade vorbei, am Bier und den Spirituosen, dann steht er an der Kasse, seine Lippen bewegen sich, er nickt dem Kassierer zu, die Flaschen werden eingepackt, mein Herz schlägt noch immer zu schnell, meine Hände sind feucht.
Ich schreibe Kristen. Alles gut.
Sie schreibt zurück. Heldin.
Das sanfte Klingeln der Ladenglocke, als er die Tür aufschiebt, quer über den Parkplatz in die hintere Ecke geht, wo ich auf dem Gehweg stehe, halb hinter einem Busch versteckt.
Er hat die Plastiktüte in der einen Hand, einen Bierkasten in der anderen, eine Flasche Gatorade in der Jackentasche, ihr Gewicht beult den Stoff aus.
»Na, dann prost«, sagt er, und das war’s, er ist weg, latscht den Gehweg runter.
Als ich wieder im Auto bin, jubeln Kristen und Cherie, aber Amber schweigt.
»Bella!«, rufen sie. »Bella, unsere Königin!«
»Ich fang an«, sage ich, öffne die Flasche und kippe so viel, wie sie mir durchgehen lassen, in meine halb leere Sprite-Flasche.
Sie sagen nie was.
Amber sieht mich im Rückspiegel an, ihr Blick etwas finster.
»Mein Gott, übertreib es nicht«, murmelt sie.
»Heute ist Freitag«, sage ich ihr. »Komm mal runter.«
Kristens Finger zittern, als sie durch ihr Handy scrollt. Die Abende werden allmählich kühler und sie trägt nicht einmal einen Hoodie oder so, nur ein dünnes Tanktop und Jeans mit Löchern an den Knien. Das Ende ihrer Zöpfe streift ihre knochigen Schultern. »Bei Cole ist echt was los«, sagt sie.
Exakt im selben Augenblick sagen Amber und Cherie »Nein« und zeigen auf mich.
Kristen seufzt, schiebt das Handy zurück in die hintere Hosentasche ihrer Jeans und springt auf und ab, um sich aufzuwärmen.
Wir sitzen auf einer Bank im Park, nur vier Mädchen mit Sprite-Flaschen und einer Tüte Käse-Popcorn an einem Freitagabend. Unschuldig und nett. Lange können wir hier nicht bleiben. Der Park schließt um zehn Uhr und es treiben sich jetzt schon zwielichtige Gestalten rum.
Aber für den Moment ist alles in Ordnung. Ich nehme einen großen Schluck aus meiner Flasche und der Wodka strömt wie eine Woge warmes Wasser durch meinen Körper. Das Gefühl, auf das ich den ganzen Tag gewartet habe.
»Ihr seid richtige Penner, wisst ihr das, wie ihr euch hier im Park besauft«, sagt Amber.
Eine nach der anderen kichern wir.
»Was sollen wir denn sonst machen, Amber?«, fragt Cherie. »Hier ist doch nichts los.«
Es scheint schon so lang her zu sein, dass wir einfach zu Hause geblieben sind, Filme geguckt, uns mithilfe von YouTube-Videos Katzenaugen geschminkt haben und in unseren Schlafanzügen, mit unordentlichen Pferdeschwänzen in einem Berg von Decken eingeschlafen sind. Und jetzt sind wir hier. Das ist, was wir machen. Im Park oder auf Partys oder in der Garage von irgendjemandem. Alle machen das so.
Wieso hat sich das verändert und wo und wann? Irgendwie ist das Leben jetzt so. Es gab auch davor schon ein Leben und manchmal kommt es mir so vor, als wäre ich eines Morgens aufgewacht, und alles war mit einem Mal anders.
Eigentlich will ich nicht darüber nachdenken, wie sich alles so plötzlich verändert hat, weil ich dann an Laurel denken muss und an sie zu denken, fühlt sich an, wie von einer sehr großen, fiesen Person zerquetscht zu werden. So sehr, dass ich nicht entkommen, nicht atmen kann.
»Wie lang ist sie denn noch auf sozialer Bewährung? So langsam nervt’s.« Kristen wendet sich an mich. »Komm doch mal endlich über ihn hinweg, echt jetzt.«
Ich hebe den Kopf und trinke von meinem Sprodka, wie Cherie das nennt. Die Mischung aus süß und stark fühlt sich gut an. Ich fange an mich zu entspannen. Locker zu sein. Normal.
Manchmal bin ich so angespannt, dass ich das Gefühl habe, jeden Moment in eine Million Stücke zu zersplittern.
Okay, nicht manchmal. Die ganze Zeit.
»Ich bin total über ihn hinweg«, sage ich mit glatter und leichter Stimme. »Ich habe geliebt und verloren und meine Lektion gelernt.«
»Du lügst«, sagt Amber, während sie durch ihr Handy scrollt.
»Sehe ich auch so«, sagt Cherie. »Ich habe gesehen, wie du ihn gestern auf dem Schulhof angestarrt hast. Du sahst aus, als würdest du gleich losheulen.« Ihre Hand legt sich sanft auf meinen Rücken.
Ein winziger Schmerz zuckt durch mich hindurch, als sie das macht, also trinke ich noch einen Schluck und rücke ein wenig von ihr ab, damit sie ihre Hand wegnimmt.
»Du kannst auf keine Partys gehen, bevor wir nicht sicher sein können, dass du nicht wieder ausflippst«, sagt Amber und guckt von ihrem Handy hoch. »Das letzte Mal war echt schlimm.«
»Im Nachhinein war es aber auch irgendwie lustig«, sagt Kristen. »Bellas überaus bedauerlicher Untergang vor aller Welt.« Sie holt ihren Vape Pen raus.
»Können wir bitte über was anderes reden?«, sage ich und habe einen Knoten im Magen. Was auf Luis’ Party passiert ist, ist für mich nach wie vor etwas unklar. Ich kann mich nur verschwommen erinnern. Wie heiß es war, weil zu viele Menschen in einem zu kleinen Haus versammelt waren. Musik aus winzigen Lautsprechern. Das Bierfass in der offenen Küche. Dann Dylan, in diesem Pulli, den ich immer so mochte, der alte grüne, den wir im Secondhandladen in Tucson gefunden haben, der so weich war, wenn ich meinen Kopf dagegen gelehnt habe. Die Hände in den Taschen, hat er sich über dieses Mädchen gebeugt, Willow, und die Art, wie das Haar ihr ins Gesicht gefallen ist, als sie sich ihm zugeneigt hat, um ihn besser hören zu können.
Ich habe dagestanden, mitten im Stimmengewirr, wurde angerempelt, Drinks schwappten über mich und habe an das gedacht, was Dylan zu mir gesagt hat, als er auf dem Parkplatz unserer Highschool mit mir Schluss gemacht hat, während sein Blick hin und her huschte, nur nicht zu mir, wie er gesagt hat: »Du bist mir … du bist mir einfach zu viel.«
Auf Luis’ Party habe ich zugesehen, wie Dylans Finger ganz sanft an Willows Haaren gezogen haben. Irgendetwas ist da in mir zersplittert.
Dann wurde alles echt schräg.
Amber berührt meine Hand. »Hey«, sagt sie. »Wir wollen dir doch nur helfen.«
Ich nicke, atme tief ein. Dann trinke ich weiter.
»Halt das Ding nicht in meine Richtung«, sagt Cherie zu Kristen und wedelt mit den Händen vor ihrem Gesicht rum. »Meine Mutter bringt mich um, wenn ich komisch rieche. Ich werde diese Jacke sowieso schon wie irre textilerfrischen müssen.«
Kristen verzieht das Gesicht. »Fahr mich einfach zu Cole, biiiiiiitte«, fleht sie Amber an. »Ich finde schon jemanden, der mich nach Hause bringt. Hab dich lieb, Bella, aber wir sollten nicht leiden müssen, nur weil du ein gebrochenes Herz hast.«
»Danke für die Unterstützung«, sage ich sarkastisch und zeige mit dem Daumen nach oben.
»In Ordnung«, sagt Amber. »Aber Bella bleibt bei mir.«
Wir sehen zu, wie Kristen die Einfahrt zu Coles Haus hochtorkelt. Er wohnt außerhalb in den Hügeln, in einem weitläufigen, noblen Haus mit riesigen Fenstern und einem glänzenden geheizten Pool im Garten. Das lässt ihn vielleicht wie das typische beliebte Kind reicher Eltern klingen, aber nur reich stimmt. Er ist einfach ein Junge, dessen Eltern es egal ist, wenn er Partys feiert. Sie kaufen den Alkohol und verlassen dann das Haus für den Abend und ab dann ist es völlig egal, wer du bist. Wenn du Drinks und ein leeres Haus hast, dann kommen die Leute. Die meisten auf diesen Partys kenne ich nicht mal, obwohl ich doch eigentlich mit ihnen zur Schule gehe.
Ich kann nicht anders, aber mein Blick sucht die Menge vor dem Haus nach Dylan ab.
Cherie sagt, »Tut mir echt leid, aber ich habe auch keine Lust diesen Abend zu verschwenden«, springt aus dem Auto und rennt Kristen hinterher. Mein Herz rutscht mir in die Hose, als ich sehe, dass sie unsere Wodka-Flasche in der Hand hält. Ich werfe einen Blick auf meinen Sprodka. Nicht genug.
Ich klettere auf den Beifahrersitz.
Amber sieht mich an.
»Alles gut«, sage ich. »Falls du bleiben willst. Ich werde ganz brav sein.«
Ein Teil von mir hofft, dass sie Ja sagt, damit ich Dylan suchen kann.
Sie schüttelt den Kopf. »Nö, du bist noch nicht so weit. Und ich muss sowieso nach Hause. Meine Mom hat heute Nacht Dienst und ich muss auf Lily aufpassen. Du kannst bei mir übernachten, wenn du willst. Dann machen wir Sofa-Abend.«
Sofa-Abend bedeutet, dass wir in ihrem Wohnzimmer rumhängen, Filme und YouTube gucken, Junkfood essen, aber nicht trinken. Bei Amber ist das nicht erlaubt.
»Nicht heute Abend«, sage ich. »Ich sollte auch nach Hause, zu meiner Mom. Ich muss morgen arbeiten.«
»Okay.«
Wir brauchen etwa zwanzig Minuten zurück ins Stadtzentrum. Amber nimmt die River Road, die sehr kurvenreich ist, wie eine fantastische Achterbahn. Amber fährt vorsichtig und die Kakteen am Straßenrand leuchten im Licht der Scheinwerfer auf, ein grüner Geist nach dem anderen, unheimlich und stachelig. Es fühlt sich so an, als würden wir in einer Traumwelt schweben, ein schwereloses, halb leuchtendes Ding.
Ich trinke meinen Sprodka langsam, genieße ihn, bin vorsichtig. Vor Amber darf ich nicht zu viel trinken, sonst findet sie das komisch. Gerade redet sie nicht und es ist friedlich.
Wenn ich nur für immer mit Amber in ihrem Auto bleiben könnte, leicht angetrunken, warm und sicher, nicht verloren – das wäre perfekt.
Aber das kann ich nicht.
Amber biegt in meine Straße ein.
Mein Kopf sagt: Lüg sie an.
Mein Herz sagt: Oh, Bella.
Ganz beiläufig sage ich: »Kannst du mich bei Laurel absetzen? Ich habe vergessen, dass meine Mom mich gebeten hat, nach dem Haus zu sehen.«
»Soll ich auf dich warten und dich dann nach Hause fahren? Ich kann mit reinkommen. Ich liebe Laurels Haus. Es fehlt mir. Sie fehlt mir.«
Den letzten Teil flüstert sie.
Alle meine Freundinnen haben Laurel geliebt. Natürlich haben sie das. Sie war irgendwie berühmt, auf eine Art, die sie nicht richtig verstanden haben, die ihnen aber cool vorkam. Sie hat uns zur Mall gefahren und uns Ohrringe bei Claire’s gekauft und Make-up bei Sephora, mit uns über das versaute Zeug bei Spencer’s gelacht. Sie wollte unsere Playlists hören und hat das dann auch tatsächlich gemacht.
Sie waren alle echt nett zu mir, nachdem es passiert ist. Natürlich waren sie das, schließlich sind das meine Freundinnen, aber nach einer Weile hatte ich das Gefühl, sie haben es hinter sich gelassen, während ich irgendwie immer noch in der Scheune bei Agnes stehe und das Schwarz-Weiß-Foto meiner schönen, coolen Großmutter anstarre, das auf einem Tisch steht, umringt von Kerzen und Weihrauch und Salbei und Kameras und Postkarten und Polaroids und Blüten, die Hand meiner kleinen Schwester fest in meiner, während meine Eltern in der Ecke streiten.
Diese Polaroid-Fotos. Ich habe sie aus der Scheune mitgenommen. Leute aus der ganzen Welt haben sie uns geschickt, als sie von Laurel gehört haben. Die Probeaufnahmen, die sie vor einem Foto-Shooting gemacht hat, wegen der Beleuchtung, der Perspektive, damit die Leute locker werden.
Ich habe einen ganzen Stapel Fotos von wildfremden Menschen in der Schublade meiner Kommode. Manche Leute haben etwas auf den weißen Rand geschrieben. Laurel hat meine Seele eingefangen. Laurel hat Schönheit in mir entdeckt, wo ich keine sehen konnte. Einige dieser Leute sind unglaublich berühmt, oder waren es, und andere Leute sind einfach Leute, aber Laurel hat immer mehr aus ihnen gemacht.
Ich spüre wieder den Druck und halte den Atem an, schiebe die Sprodka-Flasche in meinen Rucksack, damit ich den besorgten Ausdruck in Ambers Augen nicht sehen muss.
»Nein, alles gut. Schreib mir nachher, ja? Ich will wissen, was du guckst.« Lalle ich? Ich glaube nicht. Ich beiße mir ein wenig zu fest auf die Unterlippe. Der Schmerz hilft mir, mich zu konzentrieren.
»Okay«, sagt sie. »Hey, weißt du, was?«
»Was?«
»Wir sollten uns die Karte bald noch mal ansehen, überprüfen, was wir inzwischen gespart haben. Ich habe jetzt tausendfünfhundert. Und du?«
Die Reise. Die Karte an Ambers Wand in ihrem winzigen Zimmer: rote Stecknadeln für seltsame Sehenswürdigkeiten, wie die weltweit größte Blechfamilie, die komplett aus leeren Ölfässern gebaut ist, blaue Stecknadeln für Naturdenkmäler, wie den Grand Canyon, den wir beide noch nie gesehen haben, obwohl wir nur sechs Stunden davon entfernt wohnen. Wir planen diese Reise schon seit unserem elften Lebensjahr, als alle im Lockdown waren, denn wenn wir eines Tages wieder in die Welt hinausdurften, sollte es sich dann auch wirklich lohnen. Zusammen ein Auto kaufen, wenn wir alt genug sind, den Sommer nach dem Schulabschluss damit verbringen durch die Gegend zu fahren, in Hostels übernachten oder zelten, seltsame Sachen besichtigen und schöne Sachen, seltsame Menschen treffen und schöne Menschen, vielleicht sogar Menschen, die schön sind, weil sie seltsam sind, nur zwei Mädchen unterwegs in einem Auto dort draußen in der Welt, bevor das beginnt, was nach der Schulzeit passiert. Amber führt Hunde in der Nachbarschaft aus, um Geld zu verdienen, hebt Kackhaufen auf, während sie bellende Terrier und glänzende Retriever an der Leine hält. Ich arbeite als Kellnerin in einem Imbiss, dessen Spezialität ein Hamburger mit drei Pattys, sechs verschiedenen Käsesorten, zehn sauren Gurkenscheiben, drei Habanero-Schoten und einer Lage knusprig frittierter Zwiebeln obendrauf ist und wenn man ihn aufisst, bekommt man einen Aufkleber fürs Auto, auf dem steht: Ich habe den Feuer-Burger bei Patty’s gegessen und es überlebt.
Ich zögere. »Ich hatte einen Rückschlag. Mein Laptop hat verrücktgespielt. Jetzt habe ich nur noch achthundert, aber ich spare auch mein Trinkgeld, also habe ich bald wieder mehr, ganz bestimmt.«
Der Laptop liegt versteckt unter einem Stapel alter Kleider in meinem Schrank in Moms Haus, der Bildschirm kaputt, die Hälfte der Tastatur fehlt. Meine Mom hat sich geweigert, mir einen neuen zu kaufen, also habe ich einen Teil meines gesparten Trinkgelds genommen und mir einen gebrauchten geholt, weil das billiger war.
Das war ein schlimmer Abend, der Abend von Luis’ Party. Wie schon gesagt, habe ich nur eine vage Erinnerung. Wenn ich versuche mir die Details ins Gedächtnis zu rufen, dann treiben sie davon, wie Samen von Pusteblumen, wenn du sie in den Wind bläst. Normalerweise erinnere ich mich an alles. Na ja, fast an alles, manchmal sind Erinnerungen wie ein Buch, bei dem eine Seite fehlt. Aber der Abend bei Luis war anders. Es hat sich irgendwie so angefühlt, als wäre ich in einen bodenlosen Brunnen gekippt und einfach nur gefallen und gefallen, ohne je irgendwo zu landen. Und dann ist alles irgendwie … irgendwann einfach verschwunden.
Der Laptop ist diesem Abend zum Opfer gefallen. Ganz offensichtlich habe ich ihn runtergeworfen oder so oder draufgehauen und das hat dafür gesorgt, dass meine Mutter aufgewacht und in mein Zimmer gekommen ist. Das Geräusch. Und dann hat sie mich entdeckt, und das war’s. Ich stand so was von neben mir, dass ich nicht so tun konnte, als würde ich nicht neben mir stehen. Deswegen halten mich nicht nur Amber und meine anderen Freundinnen an der kurzen Leine, sondern auch meine Mom.
Amber lächelt. »Kein Problem. Wir haben ja noch genug Zeit. Hey, ich habe noch einen coolen Ort entdeckt. Die Bubblegum Alley, seit Jahrzehnten kleben die Leute da ihre Kaugummis an die Mauern, stell dir das mal vor. Die Gasse ist in Kalifornien und über zwanzig Meter lang!«
»Das ist ja total ekelhaft und irgendwie auch total geil«, sage ich. »Passt hervorragend zu unserer Liste. Toll, dass du das entdeckt hast.«
Vorsichtig steige ich aus dem Auto.
»Bella!«, ruft Amber.
Ich drehe mich um, beuge mich durch das offene Autofenster.
»Es wird alles gut. Wegen Dylan. Du brauchst einfach ein bisschen Zeit. Weißt du noch, wie lange ich gebraucht habe, um über Caleb hinwegzukommen?«
Das weiß ich noch. Es gab viele Tränen und Sofa-Abende und irgendwann war Amber wieder Amber: optimistisch, besonnen, zielbewusst.
Doch der große Unterschied zwischen Amber und Caleb und mir und Dylan ist, dass Amber mit Caleb Schluss gemacht hat. Er hat sie nicht verlassen. Sie hat ihn verlassen. Sie musste nicht vor der halben Schule auf dem Parkplatz stehen und sich von ihm sagen lassen, dass sie zu viel ist, flankiert von seinen Freunden, wie ein riesiger kollektiver kampflustiger Tintenfisch.
Oh, scheiße, sie heult.
Bloß weg hier, Alter.
Dylan, Mann, lass es, du hast es ihr gesagt, los, komm, bevor sie durchdreht.
Dylans Tintenfisch-Trupp hatte aber für alle Fälle schon mal die Handys gezückt, denn schließlich gibt es nichts Besseres, als den Zusammenbruch nach einer Trennung zu posten. So musste ich dastehen und es durchstehen, sonst wäre mein Ausraster innerhalb von Sekunden überall zu sehen gewesen. Ich musste so tun, als wäre ich nichts, ein Geist, keine Gefühle zeigen, keine Miene verziehen, einfach nur … egal okay alles cool Dylan weißt du dann ein schönes Leben noch.
Als ich weggegangen bin, hat er gesagt: »Pass auf dich auf, Bella«, ohne zu wissen, dass ich innerlich zusammengebrochen bin, zersplittert durch den sorglosen Ton in seiner Stimme.
»Ja«, sage ich zu Amber, versuche zu lächeln, beiße mir wieder auf die Unterlippe, damit ich nicht lalle oder so. »Ich weiß. Alles gut. Cool.«
Sie zögert. »Übertreib es heute Abend vielleicht mal nicht, okay?«
Sie meint den Sprodka. Habe ich doch gelallt?
»Aber klar«, sage ich schnell, denn das Klügste ist jetzt, möglichst schnell in Laurels Haus zu verschwinden. »Ich schmeiß das gleich weg und geh dann nach Hause.«
»Hab dich lieb, B«, sagt sie.
»Hab dich auch lieb, A.«
Es gibt ein Stück des gepflasterten Weges zum Haus meiner Großmutter, das ich immer vermeide. Ich habe die Pflastersteine, die zu ihrer Haustür führen, gezählt. Ab dem fünfzehnten weiche ich ab und betrete den Weg erst wieder beim achtzehnten.
Ein kleiner Teil von mir schaltet sich beim fünfzehnten immer aus und kehrt beim achtzehnten Stein zurück. Ich weiß, dass nichts passieren wird, wenn mein Turnschuh auf diesen bestimmten Steinen landet, aber es kommt mir trotzdem falsch vor.
Zu wissen, was hier passiert ist, schmerzt.
Ich atme tief aus, als ich ihre Haustür aufschließe und öffne und mir warme Luft entgegenschlägt. Es ist November in Tucson, also fällt die Temperatur nachts unter zehn Grad und die Sterne sind klar am dunkelblauen Nachthimmel zu sehen. Meine Mom hat das Gas noch immer nicht abstellen lassen oder den Strom oder irgendetwas verändert. Laurels Haus ist immer noch Laurels Haus, fünf Häuser von unserem entfernt, genau wie sie es zurückgelassen hat. Als würde sie jeden Augenblick von einer Reise zurückkommen, von der sie vergessen hat, uns zu erzählen.
Sie kommt nicht wieder.
Jedes Mal, wenn mein Dad meiner Mom sagt, dass es Zeit wird, das Haus zu verkaufen, verzieht sich ihr Gesicht zu einer hässlichen Mischung aus Trauer und Wut. Du kapierst es einfach nicht, sagt sie dann. Du willst nur das Geld. Hast du nicht genug von mir genommen?
Und dann macht mein Dad dicht. Und dann macht meine Mom dicht. Und dann dreht Ricci auf und fängt an zu schlagen oder zu brüllen oder tritt gegen die Spülmaschine und dann
Bella, beruhig deine Schwester.
Bella, sag deinem Vater, dass es Zeit wird zu gehen.
Bella, sag deiner Mutter, dass ich verschwinde.
Ich gehe durch Laurels Wohnzimmer, an ihrer hübschen altmodischen blaugrünen Samtcouch vorbei, an den vielen genau gerahmten Schwarz-Weiß-Fotos meiner Mutter als Kind, mit denen Laurel zuerst berühmt geworden ist, den Fotos, bei denen ich normalerweise stehen bleibe und sie lange betrachte, meine Mutter eingefroren mit vier, sieben, zehn Jahren, ihre Haut zart und ätherisch in den Wäldern von Upstate New York, ihr Körper wie der eines Geistermädchens aus Marmor.
Manchmal sehe ich meine Mom an und versuche das Mädchen aus den Fotos in ihr zu finden, das Mädchen mit dem wilden Blick, wie ein Wesen aus einer anderen Welt, mutig und stark, obwohl es noch so klein war.
Ich glaube nicht, dass ich sie in Moms strähnigem, unordentlich zurückgebundenem Haar sehen kann, in ihren Augen, die schon seit Jahren traurig blicken und erst recht nicht, seit Laurel, ihre Mutter, nicht mehr da ist.
Ich würde sie so gerne finden. Ich glaube, wir wären Freundinnen geworden, dieses Mädchen und ich.
Ich gehe direkt in die Küche, zur Speisekammer, die auch noch immer genauso aussieht: Teedosen und Dosensuppen, Tüten mit Reis und Pinto-Bohnen, Behälter mit Weihrauch und Mehl.
Und eine endlose Reihe von Flaschen mit Gin und Wodka und Wermut und Likör und Schnaps.
Wir müssten eigentlich gar nicht losziehen und Leute vor Lucy Licker ansprechen. Wir könnten hierherkommen. Meine Mutter kommt sowieso nie vorbei. Aber ich will sie nicht hier haben. Ich liebe Cherie und Kristen, aber irgendwann werden sie laut. Chaotisch. Irgendetwas an ihrer Anwesenheit würde es vielleicht kaputt machen. Die Stille.
Dieser Ort gehört mir.
Ich sitze nie im Wohnzimmer, weil ich mich einsam fühle, wenn ich ihren leeren Sessel sehe und ihren Serviertisch, an dem sie beim Fernsehen immer zu Abend gegessen hat. Außerdem hat Mrs Rabinowitz einmal gesehen, dass das Licht an war, ist rübergekommen und hat an die Tür geklopft, um zu sehen, ob alles in Ordnung ist, und ich musste mir zehn Stunden lang ihr Gejammer über ihre Katze und ihre Rückenprobleme anhören und habe die ganze Zeit gebetet, dass sie nicht merkt, wie betrunken ich bin.
»Was bist du nur für ein nettes Mädchen, dass du auf ihr Haus aufpasst. Sie hat dich so geliebt.« Mrs Rabinowitz’ Augen hinter ihrer riesigen Brille waren klein und gütig. Mit einer Hand hat sie sich über ihren dicken weißen Zopf auf ihrer Schulter gestrichen und als ich gesehen habe, wie ihr die Tränen kamen, bin ich fast durchgedreht, also habe ich behauptet, dass mein Handy klingelt und ihr die Tür praktisch vor der Nase zugeschlagen.
Man würde ja meinen, dass eine alte Dame lauschige Liebesgeschichten mag oder Historisches, aber Laurel mochte Mord, besonders wahre Verbrechen. Eigentlich hätte sie, nachdem sie aufgehört hat Fotografin zu sein, eine zweite Laufbahn als Detektivin einschlagen sollen, wirklich, weil sie die Hälfte der Fälle in Medical Detectives innerhalb der ersten fünfzehn Minuten lösen konnte. »Alle Menschen«, pflegte sie zu sagen, während sie Käse und Cracker knabberte und ihre zierlichen Hände wie immer zitterten, »tragen etwas Dunkles in sich. Man muss nur ein wenig graben.«
Ich gehe an dem Flur vorbei, der zum Badezimmer und den Schlafzimmern führt. Eins davon gehörte Laurel, eins war für mich und Ricci, wenn wir übernachtet haben, und in dem anderen hat sie ihr Fotoarchiv aufbewahrt. Ich glaube, allein ist sie da nicht mehr so gerne reingegangen, aber manchmal hat sie mir erlaubt, durch ihre Sammlung zu stöbern, was ich stundenlang machen konnte. Sie hat eine Zeit lang eine Menge Geld damit verdient, Schauspieler und Rockstars zu fotografieren. Manchmal hat sie mir kurze Geschichten von den berühmten Leuten erzählt, die sie kennengelernt hat.
Ich gehe in die Küche, um mich an den langen, altmodischen Labortisch aus Holz zu setzen, den sie in der 22. Straße auf dem Antikmarkt entdeckt hat, wo sie gern stundenlang herumgebummelt ist, bevor Autofahren für sie zu anstrengend wurde und sie nicht mehr hinkam. An diesem Tisch haben sie und ich Scrabble gespielt oder Backgammon oder Quartett.
»Nur ein ganz bisschen«, hat sie dann gesagt und mir ein wenig Schnaps eingegossen. »Etwas Süßes für meinen Liebling.«
Sie hat mir nie zu viel gegeben. Gerade genug, um mir einen angenehmen Schauer über den Rücken zu jagen. Genug, sodass ich mich irgendwie besser gefühlt habe.
Unser letztes Scrabble-Spiel liegt immer noch auf dem Tisch.
Ich hole mir ein Glas, ein paar Eiswürfel, gieße mir Wodka ein und ein bisschen Sprite aus einer Dose, setze mich an den Tisch und sehe mir unsere übrig gebliebenen Worte an.
Apotheker. Versteckt. Du. Ruhe.
Ich ziehe mein Handy aus meiner Jackentasche.
Drei Nachrichten von meiner Mutter. Ich ignoriere sie.
Kristen und Cherie posten von der Party. Hinter ihnen schummriges Licht, glänzende Gesichter. Ich zoome rein. Ist Dylan da irgendwo? Ich sehe ihn nicht.
Ich überprüfe seine Storys, mit klopfendem Herzen.
Nichts.
Einmal hat er mir gesagt, ich sei das coolste Mädchen, dem er je begegnet ist. Hat mich gegen die Schließfächer in der Schule gedrückt und mich geküsst. Hat meine Hand nicht losgelassen, wenn seine Freunde vorbeikamen.
Ich habe Laurel von Dylan erzählt, bevor Mom überhaupt von ihm wusste. Sie hat die Buchstaben auf ihrem Plastikbänkchen umgestellt und mich angesehen.
»Die romantische Liebe ist schwindelerregend und wundervoll und beängstigend und herrlich, aber verliere dich nicht in ihr.« Ihre meerblauen Augen waren ernst, ihr dunkler Eyeliner war an den Rändern schief. Mit ihren zitternden Händen war es schwer, ihn aufzutragen, aber entschlossen trug sie ihn dennoch auf, jeden Tag.
Meine Großmutter war eine Künstlerin, alles, was sie gesagt hat, klang für mich faszinierend und seltsam. Ich habe nicht immer verstanden, was sie gemeint hat, und bin nicht sicher, ob ich es heute tue. Vielleicht verstehe ich es, wenn ich älter bin.
Mein Magen zieht sich zusammen. Ich wünschte, sie würde jetzt mit mir an diesem Tisch sitzen. Ich wünschte, ich hätte nie …
Ich schließe die Augen und trinke.
Stelle die Buchstaben auf meinem Plastikbänkchen um. Ich könnte begießen buchstabieren.
Einmal habe ich Laurel nach dem Vater meiner Mutter gefragt, wer er war und wo er war, und sie hat einfach gesagt: »Manchmal kann man Menschen nicht dorthin mitnehmen, wo man hinmuss.«
Ich frage mich, ob Laurel je zu viel war.
Sie mochte mich immer genau so, wie ich bin.
Ich trinke und trinke und trinke.
Es ist so still hier. Der einzige stille Ort in meiner Welt voller Lärm.
Ich putze mir die Zähne, bevor ich mich auf den Weg mache, denke daran, die Zahnbürste abzuspülen. Ich wasche das Glas, trockne es ab und stelle es zurück in den Küchenschrank. Für alle Fälle lutsche ich noch drei Pfefferminzbonbons. Kneife mir in die Wangen, um wacher zu werden, weniger benommen. Fülle meine Sprodka-Flasche wieder auf und schiebe sie in meinen Rucksack. Stelle sicher, dass ich die Lichter ausgemacht habe und die Tür abgeschlossen ist und alles so ist, wie es sein soll. Draußen fühlt sich die kühle Luft gut auf meiner Haut an, nüchtert mich ein wenig aus.
Zwei Häuser entfernt kann ich Ricci schon hören, lang gezogenes Gejammer und »Neeeein. Ich will nicht.«
Ich hole tief Luft und öffne die Haustür. Ich bin so froh, dass ich was intus habe, das alles um mich herum abstumpft, wenigstens ein bisschen.
Meine Mutter steht im Wohnzimmer, ihr Gesicht rosa und genervt, die Hände in die Seiten gestemmt, während meine kleine Schwester sich auf dem Boden wälzt, ihr Tablet in den Händen.
Ich schließe die Haustür. Mom dreht sich zu mir um. »Wo warst du? Ich habe dir mehrere Nachrichten geschrieben.«
Das Haus riecht nach verkochten Nudeln. Nudeln mit Käse ist das Einzige, was Ricci im Moment isst, und sie will die Nudeln so weich gekocht haben, dass sie praktisch auf ihrer Gabel zerfließen.
»Bei Amber. Habe ich doch heute Morgen gesagt.«
Sie schnüffelt. »Was riecht da so? Hast du geraucht?«
Ich lasse meinen Rucksack auf den Boden fallen.
Mein Kopf sagt: Sag ihr, dass es Kristen war. Sie mag Kristen sowieso nicht.
»Kristen raucht E-Zigaretten. Ich nicht. Das weißt du.«
»Habt ihr getrunken? Wir haben eine Abmachung, Bella.«
Ach ja, die Abmachung nach Luis’ Party: kein Alkohol, keine Partys.
»Nö. Soll ich dich anhauchen?« Ich öffne den Mund.
Meine Mutter sieht mich prüfend an.
Wenn du so tun willst, als wäre alles in Ordnung, dann tu so, als wäre alles in Ordnung. Als gäbe es nichts zu verstecken. Ich bin ein braves Mädchen. Ich bekomme gute Noten. Ich helfe im Haushalt. Ich habe einen Job. Ich halte alles zusammen. Ich habe Tod und Scheidung überlebt. Mein überaus bedauerlicher Untergang vor aller Welt war nichts als ein Ausreißer, mehr nicht.
Ich halte meinen Blick auf das Gesicht meiner Mutter gerichtet, während ich sage: »Mom, echt jetzt?«
»Du weißt, was ich von Kristen halte.«
Ich zucke mit den Schultern. Die Abneigung, die meine Mutter gegen Kristen hegt, setzt jeglichen Verdacht gegen mich außer Kraft. Außerdem ist sie im Moment von Ricci total genervt.
Sie fällt in sich zusammen. »Ich brauche hier mal ein bisschen Hilfe. Sie hat heute nur den halben Schultag durchgehalten und ich habe einen Abgabetermin. Den muss ich einhalten. Kannst du …«
Meine Mutter schreibt für eine komische tägliche Radioshow, die aus einem anderen Bundesstaat gesendet wird. In sieben Jahren hat sie nicht ein Mal ihren Chef getroffen, hat sich nur per E-Mail, Telefon und Zoom-Meetings mit ihrem Producer ausgetauscht. Sie schlagen ihr ein Thema für eine Sendung vor, wie zum Beispiel die Legende über Außerirdische in Roswell oder die Geschichte, dass ein berühmter Hollywood-Schauspieler seine Mutter in seiner Villa kryonisch konserviert hat. Sie recherchiert dann alle Theorien und Berichte dazu, fasst alles zusammen und der Radiomoderator, ein Typ namens A.W. Stryker, berichtet dann darüber. Ich höre die Sendungen gern – sind echt abgefahren. Bei jeder Show bekommt er Dutzende von Anrufen und tatsächlich, es ist genau, wie Laurel gesagt hat: Die Menschen tragen wirklich etwas Dunkles in sich. Und haben ganz schön viel Zeit. Es ist eine sehr beliebte Sendung, aber der Moderator ist seltsam und ändert manchmal in letzter Minute das Thema, sodass meine Mutter bis spät in die Nacht arbeiten muss. Ich weiß, dass sie eigentlich etwas anderes machen will, was sie manchmal »richtig schreiben« nennt, aber das ist der einzige Job, den sie mit Ricci vereinbaren kann.
Ricci macht eine Menge Arbeit.
»Ricci!«, rufe ich und stelle mich vor meine Schwester. »Achtung!«
Sie hört auf, sich hin und her zu wälzen, und richtet sich auf, steht stramm, das Tablet unterm Arm.
»Sergeant Schwester, bist du bereit fürs Bett?«
»Nein, Ma’am, nein.«
»Sergeant Schwester, wirst du nach dreißig Minuten Katzen-Videos und drei Keksen und einem Glas Milch bereit fürs Bett sein? Major Mom wurde zum Arbeitseinsatz abkommandiert und muss ausrücken, sonst heißt es Militärgefängnis. Wollen wir das Major Mom zumuten?«
»Nein, das wollen wir nicht.«
»Verstehen wir einander, Sergeant? Hier spricht dein Captain.«
Meine Schwester strafft ihre Schultern. »Ich bin bereit, Captain.«
»Dann, los, marsch, eins zwei, eins zwei.« Ich gehe im Marschschritt und zeige den Flur hinunter in Richtung ihres Zimmers.
Meine Schwester marschiert mit schwingendem Pferdeschwanz den Flur entlang, während ihre Schlafanzughose mit Olaf, dem Schneemann, ihr den Hintern runterrutscht. Ich folge ihr.
»Ricci, hast du heute in der Schule so getan, als wärst du krank, damit du nach Hause konntest?«, frage ich leise, als wir in ihrem Zimmer angekommen sind. »Du weißt doch, dass Mom arbeiten muss.«
»Tut mir leid«, sagt sie und reibt sich das Gesicht.
Ricci hat es schwer in der Schule. Meine Eltern haben sie in eine neue geschickt, wo es für die Ruhepausen Sitzsäcke gibt, aber es kostet auch was. Mindestens zweimal die Woche klagt Ricci über Bauchschmerzen oder Kopfweh, und entweder meine Mom oder mein Dad, wer immer in der Woche für uns verantwortlich ist, muss alles stehen und liegen lassen und sie abholen. Jedes einzige Mal geht es ihr wie durch ein Wunder besser, sobald sie zu Hause ist, und dann streiten meine Eltern am Telefon darüber, was mit ihr nicht stimmt und wer daran schuld ist, und währenddessen schreie ich in Gedanken: Das ist so, weil unsere Großmutter gestorben ist und ihr euch habt scheiden lassen, und jeden Tag, wenn sie das Haus verlässt, hat sie Angst, dass sich wieder etwas verändert, während sie nicht da ist, und sie ist sieben Jahre alt, und noch etwas Schreckliches hält sie nicht mehr aus.
Ricci hat nichts davon zu mir gesagt, natürlich. Das ist nur meine Theorie.
»Okay«, sage ich. »Warte hier auf mich. Ich bin gleich zurück.«
»Was ist heute Abend das Thema?«, frage ich meine Mutter, während ich Ricci in der Küche ein Glas Milch eingieße und die Kekse in eine Serviette wickle.
Meine Mutter hat tiefe Ringe unter den Augen und sieht aus, als hätte sie heute keine Zeit gehabt zu duschen. Sie sortiert ihre Papierstapel auf dem Küchentresen. »Eine Frau in Arkansas hat Jesus auf ihrem Käsetoast gesehen und ein Mann in Italien will den Schiefen Turm von Pisa heiraten.«
»Ich hoffe, sie werden glücklich miteinander.«
»Außer es stellt sich heraus, dass Pisa ein zänkisches Weib ist.«
Ich fahre mit den Fingern über die Oberfläche der Kekse. Das ist etwas, das mein Dad letztes Jahr zu meiner Mom gesagt hat, bevor er ausgezogen ist. Ich weiß nicht, ob er wusste, dass ich ihren Streit hören konnte. Sie hatten ihre Schlafzimmertür zugemacht und ihre Stimmen zu einem scharfen Flüstern gesenkt. Was ist bloß aus dir geworden, Diana. Ein zänkisches Weib.
»An die Arbeit, Major Mom.«
Sie schenkt mir ein dankbares Lächeln, setzt sich an die Kücheninsel und klappt ihren Laptop auf.
Meine Schwester liegt unter der Decke. Ich gebe ihr die Serviette mit den Keksen und rutsche auch drunter, lege mich neben sie. Vorsichtig schnüffele ich an ihrem Hals. »Du musst mal wieder baden, Ricci.«
»Wasser juckt. Mach das Zimmer fertig!«
Ich seufze, stehe wieder auf und Ricci macht das Video an, das sie gucken will. Man könnte ja meinen, vor dem Schlafengehen vor einem Bildschirm zu sitzen, würde sie noch mehr aufputschen, aber Tierfilme beruhigen sie. Sie liebt Tiere. Wenn es nach ihr ginge, wäre unser Haus ein Zoo.
Für Ricci muss alles an seinem Platz sein, bevor sie schlafen kann, also gehe ich durchs Zimmer, stelle die Minecraft-Figuren auf ihrem Schreibtisch richtig hin, ordne ihre Buntstifte nach Farben (weiß, schwarz, gelb, blau, grün, rosa), tippe dreimal gegen das Aquarium, um den molligen Goldfischen gute Nacht zu sagen, sehe nach, ob im Schrank auch keine Monster sind. Als Letztes stopfe ich die Bettdecke eng um sie, unter ihre Beine und um ihren Oberkörper, aber nicht ihre Arme. Die müssen draußen bleiben. Sie nennt das »Pfannkuch-Wickel«.
»Unteroffizierin Schwester, die Kaserne ist sauber. Darf ich nun mit ins Feldbett?«
Sie nickt glücklich. Ich lege mich neben sie.
»Du musst Mom arbeiten lassen«, sage ich zu ihr. »Sie muss ihren Job machen. Du hast dreißig Minuten und dann wird das Licht ausgemacht, okay? Ich habe noch zu tun.«
Meine Stimme war wohl etwas schärfer, als ich es beabsichtigt habe, denn Ricci verzieht das Gesicht.
»Tut mir leid«, flüstert sie.
Ich bemühe mich, jetzt sanfter zu klingen. »Alles gut. Aber das war’s dann, ja?«
Sie nickt.
Ich stelle den Timer auf meinem Handy an.
Süße Katzen- und Igelvideos, die Kekse werden geknurpst, die Milch geschlürft und bald fallen meiner Schwester die Augen zu. Ich streiche ihr über das Haar. Manchmal vergesse ich, dass sie erst sieben und das Leben schwer für sie ist. Sieben kommt mir so lange her vor, ich weiß kaum noch was, nur manchmal blitzt eine Erinnerung auf, wie ich meiner Lehrerin sorgsam laut vorlese und sauber und ordentlich meine Mathe-Hausaufgaben mache. Sanft nehme ich ihr das Tablet aus den Händen und sie kuschelt sich an mich.
Ich kämpfe darum, wach zu bleiben, weil ich noch nicht einschlafen will, also zwicke ich mir durch die Jeans in den Oberschenkel, denn ich will mich in meinem Zimmer noch auf den Boden legen und allein sein, meine Kopfhörer aufsetzen, meinen Sprodka austrinken, während ich die Lichterketten an meinen Wänden betrachte und Dylan vergesse und alles vergesse, allein und stumpf dahintreibe durch meinen eigenen ganz persönlichen Ozean.
Unaufhaltsam kaut sich Ricci durch ihr Knuspermüsli. »Du siehst komisch aus«, sagt sie. Milchtropfen perlen ihr das Kinn runter.
Ich werfe ihr eine Serviette zu, gieße Cold-Brew-Kaffee aus dem Kühlschrank in einen großen Becher und trinke einen kräftigen Schluck. Mein Kopf dröhnt und meine Augen brennen. »Halt die Klappe. Ich habe Kopfschmerzen.«
Ricci sieht in ihre Schüssel und rührt durch ihr Müsli. Sanft klirrt ihr Löffel gegen die Schüssel.
Ich habe sie verletzt. »Tut mir leid«, murmele ich.
»In letzter Zeit bist du manchmal ganz schön gemein«, sagt Ricci leise.
»Na ja, manchmal nervst du …«
Meine Mom kommt in die Küche, reibt sich das Gesicht. »Bin ich müde. Ich habe noch so lang gearbeitet. Der Käsetoast-Jesus ist ganz schön kompliziert, muss ich sagen.« Sie stellt den Wasserkessel auf, um Tee zu machen, und sieht Ricci an.
»Hast du deinen Rucksack für Dad gepackt?«, fragt sie. »Ich fahre dich in einer Stunde hin.«
Ich halte mich an meinem Kaffeebecher fest. Ich habe vergessen, dass wir heute zu Dad gehen.
Ricci seufzt und formt eine Milchblase. »Jaha.«
Meine Mutter wendet sich an mich. »Was ist mit dir?«
»Ich muss heute Abend arbeiten. Ich gehe dann danach zu ihm. Vor der Arbeit muss ich noch ein Gruppenprojekt für Kunst mit ein paar anderen in der Bibliothek fertig machen, weil einer aus der Gruppe krank war und unsere Lehrerin uns mehr Zeit gegeben hat. Wir müssen Montag abgeben.«
»Bekommst du dann eine schlechtere Note, weil ihr spät abgebt? Sie sollten nicht dir die Schuld geben, wenn ein anderer Schüler krank war. Du siehst aber auch nicht besonders gut aus.«
Sie geht auf mich zu, als wollte sie mir die Hand auf die Stirn legen. Ich weiche ihr aus.
Sie guckt mich an. »Meine Güte, da ist ja jemand empfindlich.«
»Lass es einfach«, sage ich. »Mir geht’s gut.«
»Na ja, du solltest die Lehrerin bitten, die Abgabe zu …«
Ich unterbreche sie. »Bitte fang nicht wieder an …«
Aber sie fängt wieder an. Ich halte meinen Kaffeebecher derart fest, dass ich Angst habe, er könnte zerspringen.
»Hast du schon mit deinem Aufsatz angefangen? Warte bloß nicht bis zur letzten Minute. Das machst du nämlich immer. Und was passiert dann? Dann gerätst du in Panik. Deine Noten sind im Moment sowieso nicht die allerbesten …«
Ich beiße die Zähne zusammen. Meine Mutter ist von meinen Noten besessen. Was das Ganze noch schlimmer macht, ist, dass Eltern jetzt online nachgucken können, welche Hausaufgaben nicht abgegeben oder zu spät eingereicht wurden und in Echtzeit sehen können, wie man benotet wird und mal ehrlich, ich bin sowieso schon nervös wegen der Schule, da brauche ich nicht noch die Nervosität meiner Mutter obendrauf. Ich meine, was ist so schlimm daran, wenn man mal eine Zwei bekommt? Oder eine Drei? Meine Mutter ist selbst lange Zeit nicht mal auf eine richtige Schule gegangen. Laurel hat jahrelang in den Wäldern von Upstate New York in einem Künstlerkollektiv gelebt, bevor sie in die Stadt gezogen ist. Die Eltern haben die Kinder abwechselnd in einer Jurte unterrichtet. Manchmal wurde ein ganzer Tag damit verbracht zu lernen, wie man Brot backt. Wochen wurden einer Aufführung von Romeo und Julia gewidmet, bis hin zum Nähen der Kostüme, der Gestaltung des Bühnenbildes, dem Bau der Bühne selbst und den Kulissen aus Pappe, Gipskarton und Holz. Klingt meiner Meinung nach besser als elende Notendurchschnitte und Zusatzkurse und dieser ganze Leistungskram auf dem Weg zu diesem weit entfernten, mythischen Traum vom College.
»Ich habe das Buch. Ich habe meine Notizen. Ich bin vorbereitet. Das wird. Mach dir keine Sorgen.«
»Holt dein Dad dich von der Arbeit ab? Du weißt, dass ich es nicht mag, wenn du so spät noch den Bus nimmst.«
Ich rühre mit dem Finger durch meinen kalten Kaffee und versuche nicht zu grinsen. Meine Mutter macht sich Sorgen, wenn ich abends den Bus nehme, während ich vor zwielichtigen Schnapsläden stehe und vollkommen Fremde bitte, uns Wodka zu kaufen.
»Ja, ich habe ihm schon eine Nachricht geschrieben.« Ich glaube, das habe ich tatsächlich auch vergessen.
Ich kann spüren, wie sich immer mehr in mir anhäuft: der Aufsatz, das Kunstprojekt, Dad, die Arbeit.
Meine Mutter hakt weiter nach. »Und er hat auf deine Nachricht reagiert? Du weißt, wenn er nicht reagiert, heißt das, er hat sie nicht gelesen oder …«
»Er hat geantwortet.« Ich muss daran denken, nachzugucken, ob er das gemacht hat und ob ich ihm überhaupt geschrieben habe.
»Was hat er denn genau geschrieben? Du hast ihm die Uhrzeit gesagt, ja? Das heißt, Ricci muss länger aufbleiben, und das ist nicht gut für sie …«
»Er hat geantwortet: ›Cool, zehn Uhr, bis dann, kein Problem.‹ Musst du die Nachricht selber lesen? Außerdem ist Samstag. Da kann sie aufbleiben und einen Film gucken. Sie ist kein Baby mehr.«
Ich muss lügen, damit sie aufhört, aber meine Stimme ist zu laut. Es sorgt dafür, dass mein Kopf noch mehr wehtut.
»Bella, dein Ton …«, fängt Mom an.
»Mein Ton ist völlig in Ordnung. Mann, lass mich doch mal in Ruhe. Sonst komme ich zu spät und ich muss noch duschen«, sage ich und stehe auf. »Ich gucke noch mal in Riccis Rucksack, bevor ich gehe, damit sie nichts vergisst.«
Und ich verlasse die Küche, bevor meine Mutter noch etwas sagen kann.
Meine Haare sind nass und hängen mir ins Gesicht, während ich verzweifelt mein Zimmer nach meinem Arbeitshemd durchsuche. Ich habe immer noch Kopfschmerzen und mein Mund ist total trocken. Auf dem Schreibtisch steht eine Flasche Wasser und ich trinke in großen Zügen. Endlich entdecke ich das Hemd unter einem großen Stapel Kleider auf meinem Schreibtischstuhl und rieche daran. Ganz in Ordnung, aber vorne in der Mitte ist ein Fleck, was Patty nicht gefallen wird. Vielleicht kann ich heute Abend meine Schürze höher tragen, dann sieht man es nicht. Ich habe zwei Hemden für die Arbeit, aber eins ist bei Dad und da will ich nicht hin, bevor ich muss, und im Zweifel hat er sowieso keine Wäsche gewaschen. Man muss an so viel denken, wenn man an zwei Orten gleichzeitig lebt. Welche Kleider wo sind, ob das Ladegerät in diesem oder jenem Haus ist, an die Schulsachen, wer wen wann wo abholt. Es macht mich fertig. Ganz zu schweigen davon, dass Dads Erziehungsmethoden extra darauf angelegt zu sein scheinen, meiner Mutter den Stinkefinger zu zeigen: Ricci bleibt zu lange auf, sogar wenn Schule ist, weil er nicht der »Böse« sein will; ich kann nach Hause kommen, wann ich will, weil er meint, sonst »behindert das den ganz normalen Drang von Jugendlichen, die Welt zu erkunden«, man kann nirgendwo richtig Hausaufgaben machen, außer an dem winzigen Tisch in der Küche, an den wir drei kaum passen; zum Abendessen bestellen wir meistens was oder es gibt Tiefkühlpizza. Und dann ist da noch Vanessa, was eine ganz andere Nummer ist.
Mein Kopf tut so weh, dass ich kaum denken kann, während ich meine Schulsachen in meinen Rucksack stopfe, nachgucke, ob ich meine Lieblingstops und Jeans eingepackt habe, meine Schminke und ein paar Tampons, weil ich versuche, ein paar Vorräte bei Dad anzulegen. Er ist nicht sehr gut darin, beim Einkaufen an so was zu denken.
In Riccis Rucksack gucke ich auch noch mal rein. Wie ich mir schon gedacht habe, hat sie Mom angelogen, wahrscheinlich in der Hoffnung, dass Mom es ihr vorbeibringt, wenn sie etwas vergessen hat, und dann würde Ricci einen Ausraster bekommen und mit Mom zurückfahren und nicht bei Dad bleiben wollen, was meistens passiert. Sie macht das übrigens bei beiden.
Ich stopfe ihr grünes Hausaufgabenheft rein, ihr Tablet und ihre Airpods, ein paar T-Shirts, Socken, Hosen und saubere Unterwäsche. Fertig.
Meine Mom und Ricci sind im Wohnzimmer und suchen Riccis Turnschuhe. Sie haben die Sofakissen rausgezogen und alles.
Ich gebe meiner Mutter Riccis Rucksack.
»Du warst ganz schön unverschämt, Bella«, sagt sie, den Blick auf mein Gesicht gerichtet.