The Husband – Er will nur ihr Bestes - Hannah Mary McKinnon - E-Book

The Husband – Er will nur ihr Bestes E-Book

Hannah Mary McKinnon

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Beschreibung

Erst liebe ich sie. Dann töte ich sie.

Lucas Forsters Ehefrau ist spurlos verschwunden. Die Familie ist verzweifelt, ihr Mann stürzt in tiefe Trauer. Zumindest bis er allein ist, und die Maske fällt. Lucas liebt seine Frau durchaus, sie ist hübsch und intelligent. Vor allem aber ist sie steinreich. Sein lang ersehntes Ziel – er wollte Zugriff auf ihr Vermögen – ist endlich in greifbarer Nähe. Lucas hat ewig an seinem perfekten Plan gearbeitet, war vorsichtig und ist sich sicher, dass nichts ihn verraten kann. Doch eine rätselhafte Nachricht versetzt den sonst so gerissenen Lucas in blanke Panik: Irgendjemand ist ihm auf der Spur …

Ein böser und brillanter Thriller

In diesem Thriller mit Nervenkitzel schreibt Hannah Mary McKinnon über einen charmanten, cleveren und der perfekten Schwiegersohn, hinter dem sich jedoch ein Gentlemankiller vom Feinsten verbirgt.

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Aus dem Englischen von Ulrike Clewig

© Hannah Mary McKinnon, 2022

Titel der kanadischen Originalausgabe: »Never Coming Home«, Mira/Harlequin Enterprises ULC, 2022

© Piper Verlag GmbH, München 2023

Konvertierung auf Grundlage eines CSS-Layouts von digital publishing competence (München) mit abavo vlow (Buchloe)

Covergestaltung: zero-media.net, München

Covermotiv: Virginia Ateh / Trevillion Images; FinePic®, München

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Inhalt

Inhaltsübersicht

Cover & Impressum

Zitat

SONNTAG

Kapitel 1

Kapitel 2

Kapitel 3

Kapitel 4

Kapitel 5

Kapitel 6

Kapitel 7

Kapitel 8

Kapitel 9

MONTAG

Kapitel 10

Kapitel 11

Kapitel 12

Kapitel 13

Kapitel 14

Kapitel 15

Kapitel 16

DIENSTAG

Kapitel 17

Kapitel 18

Kapitel 19

Kapitel 20

MITTWOCH

Kapitel 21

Kapitel 22

Kapitel 23

Kapitel 24

Kapitel 25

Kapitel 26

Kapitel 27

Kapitel 28

DONNERSTAG

Kapitel 29

Kapitel 30

Kapitel 31

Kapitel 32

Kapitel 33

Kapitel 34

Kapitel 35

Kapitel 36

FREITAG

Kapitel 37

Kapitel 38

Kapitel 39

Kapitel 40

Kapitel 41

Kapitel 42

Kapitel 43

SAMSTAG

Kapitel 44

Danksagung

Buchnavigation

Inhaltsübersicht

Cover

Textanfang

Impressum

Wenn du willst, dass man bestimmte Lügen glaubt, dann gib ihnen den Anschein von Wahrheit.

Dänisches Sprichwort

SONNTAG

Kapitel 1

Das ständige Geräusch der antiken französischen Reiseuhr auf dem Kaminsims war irgendwie stärker geworden, ein rhythmisches »ticktack, ticktack«, das man normalerweise gar nicht bemerkte. Nach fast einer Stunde, in der ich in derselben Körperhaltung verharrt und meiner hinfälligen Schwiegermutter die Hand gehalten hatte, bohrte sich das unaufhörliche Ticken förmlich in mein Hirn, wo es an meinen Nerven nagte und Fantasien von Hämmern, verbogenen Kupferspulen und zerschmettertem Glas heraufbeschwor.

Nora sah wesentlich schlechter aus als bei meinem Besuch zu einem früheren Zeitpunkt in der Woche. Inmitten einer Vielzahl von Kopfkissen lag sie hochgelagert im Bett und hatte abgenommen, was der schmächtigen Statur, die sie vor der Krankheit gehabt hatte, nicht gut bekam. Ihre Knochen ragten hervor wie die Felsen einer Klippe, was einen Kuss auf die Wange zu einem extremen Unterfangen machte, bei dem man leicht auch ein Auge einbüßen konnte. Die geisterhafte Farbe ihres Gesichts erinnerte an die Kinder, die sich ein paar Tage zuvor an Halloween als Dämonen verkleidet hatten, und betonte die dunklen Ringe, die ihre Augen in kleine Trichter verwandelt hatten. Wie viel Zeit ihr noch blieb, war unklar. Ich war kein Mediziner, aber wir alle wussten, dass es nicht mehr lange dauern würde. Als sie mir vor kaum drei Wochen die Diagnose ihres Arztes mitgeteilt hatte, war noch von zwei Monaten die Rede gewesen, doch wenn man sich vor Augen führte, wie schnell Nora verfiel, wäre es keine große Überraschung gewesen, wenn es nur noch um Tage ging.

Ovarialkarzinom. Als zweiunddreißig Jahre alter Engländer, der nicht einmal halb so alt wie Nora war, hatte ich keine Ahnung gehabt, dass man diesen Krebs auch als »stillen Killer« bezeichnete, doch jetzt verstand ich, warum. Trotz des beträchtlichen Vermögens und des gesellschaftlichen Ansehens, das Nora in dem vornehmen, malerischen Städtchen Chelmswood unweit von Boston genoss, waren ihre lebenswichtigen Organe bereits beträchtlich in Mitleidenschaft gezogen, als sie wegen Rückenbeschwerden ärztliche Hilfe gesucht und man herausgefunden hatte, was tatsächlich vorlag. Die Krankheit war ein heimtückischer Gegner, ein Attentäter, der sich verstohlen anschlich und sie von innen heraus zerstörte, bevor sie überhaupt bemerkte, dass etwas nicht stimmte.

Wahrhaft eine Schande, denn Nora war die Einzige in der gesamten Familie Ward, die ich wirklich mochte. Zum Wohle meines Schwiegervaters hätte ich nicht so lange auf meinem Allerwertesten gesessen, bis er taub wurde, so viel steht fest. Wäre mir die Gelegenheit vergönnt gewesen, hätte ich ihn mit dem Kopfkissen erstickt, wenn die Krankenschwester mal nicht hingesehen hätte. Nicht aber Nora. Sie war warmherzig, liebenswürdig. Die Art Mensch, die im Stillen Zeit und Geld für eine Vielzahl von Anliegen und wohltätigen Zwecken aufwendete, ohne dafür auch nur die geringste Anerkennung zu erwarten. Manchmal stellte ich mir vor, dass meine Mutter wie Nora gewesen wäre, wenn sie noch leben würde, und fragte mich angelegentlich, was wohl aus mir geworden wäre, wenn sie nicht so jung gestorben wäre. Ob aus mir wohl ein guter Mensch geworden wäre.

Vorsichtig löste ich meine Hand von Noras und griff nach meinem Smartphone, um eine Partie oder auch zwei Backgammon zu spielen, bis sie aufwachte. Die letzten drei Runden hatte mich die App geschlagen, und jetzt war ich wieder dran, aber bevor ich meinen ersten Zug machen konnte, zuckten Noras Finger. Ich studierte ihre Stirn, die selbst im Schlaf schmerzvoll verzerrt zu sein schien. Nicht zum ersten Mal hoffte ich, dass der Sensenmann sein Werk eher schneller denn langsamer verrichten würde. Wäre ich der Tod, würde ich schnell vorgehen, effizient, barmherzig und würde keinen Prozess zulassen, der sich schmerzhaft in die Länge zog und Körper und Geist oder beide dahinsiechen ließ. Die Menschen sollten nicht leiden, wenn sie starben. Jedenfalls nicht alle.

»Lucas?«

Ich zuckte zusammen, als Diane, Noras Krankenschwester und meine Nachbarin, mir die Hand auf die Schulter legte. Sie hatte den Raum lediglich für ein paar Minuten verlassen, trug aber bei der Arbeit stets diese Schuhe mit weichen Sohlen, sodass ich sie erst kommen hörte, als sie schon fast neben mir stand. Ganz schön gewieft, wenn ich mir’s recht überlegte. Ich beschloss, mich nicht mehr mit dem Rücken zur Tür hinzusetzen.

Als sie an mir vorbeiging, erfüllte das die Luft mit diesem typisch medizinischen Geruch nach Handdesinfektionsmittel und Antiseptikum. Ich hasste diesen Geruch. Zu viele schlechte Erinnerungen, die ich nicht abschütteln konnte. Diane stellte ein Glas Wasser auf den Nachttisch, überprüfte Noras Vitalwerte und drehte sich zu mir um. Mit den Händen auf den Hüften blickte sie aus ihren Augen in ein Meter achtzig Höhe auf mich herunter. Ihre dichten dunklen Locken baumelten dabei bis zum Unterkiefer herab wie eine Ansammlung winziger Korkenzieher.

»Du kannst jetzt nach Hause gehen. Ich übernehme ab hier.« Auch wenn sie das in einem freundlichen Ton sagte, gab es keinen Zweifel, dass dies eine Anordnung war, aber immerhin fügte sie hinzu: »Gönn dir etwas Ruhe. Du siehst weiß Gott so aus, als könntest du’s gebrauchen.«

»Vielen Dank auch«, entgegnete ich in gespielter Entrüstung. »Du weißt einfach, wie man Männern schmeichelt.«

Diane neigte den Kopf zur Seite, verschränkte die Arme vor der Brust und bedachte mich mit einem intensiven Blick, den andere einschüchternd gefunden hätten. »Wie lange hast du nicht geschlafen? Ich meine, wirklich geschlafen.«

Ich wedelte mit der Hand. »Ist doch erst sieben Uhr.«

»Schon klar. Ich glaube, unter diesen Umständen würde ich auch nicht gerne alleine zu Hause sein.«

Ich sah weg. »Darum geht’s nicht. Ich werde hierbleiben, bis Nora aufwacht, damit ich mich noch verabschieden kann. Du weißt schon, falls sie …« Meine Stimme brach ein wenig bei diesen letzten Worten, und ich gab vor, husten zu müssen, während ich mir die Handballen auf die Augen presste.

»Wird sie nicht«, flüsterte Diane. »Heute Nacht nicht. Glaub mir. Sie ist noch nicht bereit abzutreten.«

Ich wusste, dass Diane zwanzig Jahre in einem Hospiz gearbeitet und mehr als den ihr gebührenden Anteil an Menschen zu sehen bekommen hatte, die ihren letzten Atemzug taten. Wenn sie sagte, dass es heute Nacht nicht geschähe, dann würde Nora morgen früh noch da sein.

»Ich verdrück mich bald. Wenn sie aufgewacht ist.«

Diane seufzte schicksalsergeben und setzte sich auf den Stuhl am gegenüberliegenden Ende des Bettes. Eine angenehme Stille machte sich zwischen uns breit, und das, obwohl wir uns nicht besonders gut kannten. Ich hatte Diane und ihre Frau Karina, beide in ihren Vierzigern, kennengelernt, weil die beiden meine Frau Michelle und mich angesprochen hatten, als wir vor drei Jahren in unser Haus auf der anderen Seite von Chelmswood gezogen waren. Wegen der Tage, an denen die Müllabfuhr kam, und wegen der Vorschriften für Recycling, glaube ich. Dieses profane Gespräch hätte zu zahlreichen Drinks, gemeinsamen Essen und dem Austausch von Geschichten aus unserer Kindheit führen können, doch wir waren alle das, was Michelle »schwer beschäftigte Berufstätige« genannt hatte, mit (Zitat) »vollgestopften Terminplänen, was die Pflege neuer Freundschaften erschwerte.« Der Subtext ihres Kommentars lief daher auf »Haben gerade keine Zeit« hinaus, weshalb wir vier den Schritt von schlichten Nachbarn zu guten Freunden nie vollzogen hatten.

Abgesehen von gelegentlichen Einladungen zu Sommerpartys oder wenn es um das Versorgen der Wohnung ging, wenn wir wegfuhren – Post aus dem Briefkasten holen, Blumen gießen, solche Sachen –, sahen wir uns nur flüchtig. Dennoch hinterließ Karina bei unserer Rückkehr regelmäßig eine »Willkommen-zu-Hause«-Karte auf der Arbeitsplatte in unserer Küche, zusammen mit einem Blumenstrauß aus ihrem Garten und einer Flasche Wein. Weil sie sich nicht gerne übertreffen ließ, handhabte es Michelle genauso, wobei sie stets noch üppigere Sträuße und ausgefallenere Weine wählte. Der insgeheime Wettstreit meiner Frau, den ich nach Kräften ignorierte, war mir immer unglaublich peinlich, doch als Nora krank und Diane eine ihrer Pflegerinnen wurde, war ich erleichtert, dass es jemand war, den ich kannte und dem ich vertraute.

»Was du da durchmachen musst, tut mir leid«, sagte Diane und schreckte mich aus meinen Erinnerungen eines Ehegatten auf. »Das ist nicht fair. Ich meine, es ist nie fair, klar, aber das noch zusätzlich zu dem, was du sowieso schon wegen Michelle mitmachst. Mag ich mir gar nicht vorstellen. Das ist so schrecklich …«

Was sie ungesagt ließ, quittierte ich mit einem Kopfnicken. Es gab nichts, was wir über die Situation mit meiner Frau nicht schon gesagt, wieder und wieder gesagt, aufgeschlüsselt und rekonstruiert hatten – um dann wieder von vorne anzufangen. Wir hatten das Rätsel, wo sie sich aufhielt, weder gelöst noch weitere Hinweise gefunden. Nichts Neues, nichts Nützliches, nichts, was Hoffnung versprach. Wir würden es niemals herausfinden.

Wieder trat Schweigen zwischen uns ein. Die pompöse Reiseuhr tickte vor sich hin und belebte aufs Neue die Fantasien von mir mit dem Hammer in der Hand, als plötzlich die Türglocke diese Vorstellung übertönte.

»Ich geh schon«, murmelte Diane, und bevor ich überhaupt die Chance hatte aufzustehen, war sie schon hinaus aus dem Zimmer und schloss die Tür. Ich fragte mich natürlich, ob ihr schnelles Entschwinden möglicherweise etwas damit zu tun hatte, dass sie wegwollte von mir, von dem Mann, der sich in den letzten Wochen fast täglich an ihrer Schulter ausgeheult hatte. Ich beschloss, es etwas weniger dramatisch anzugehen. Niemand wollte, egal unter welchen Umständen, die ganze Zeit eine exaltierte Heulsuse um sich haben.

Ich versuchte, Stimmen zu erkennen, hörte aber keine, obwohl ich mir in Richtung Tür fast den Hals verrenkte. Starke Bewegungen konnte ich nicht riskieren, damit ich Nora nicht weckte. Ihr Körper versagte seine Dienste, aber ihr Verstand war weiterhin messerscharf. Sie würde sich fragen, was ich vorhatte, wenn sie sähe, wie ich mein Ohr gegen das Mahagonipaneel presste. Massives Mahagoniholz. Das beste Holz, was dank des in dritter Generation bestehenden Bauimperiums der Familie Ward für Geld zu haben war. In diesem Haus gab es kein billiges Baumaterial, darauf hatte mein Schwiegervater gleich beim ersten Mal hingewiesen, als er mir die sechs Schlafzimmer, vier Empfangssalons, die Küchen im Innern des Hauses und draußen (die scheußlich kalten Winter in Boston kümmern uns nicht) sowie das vorführte, was nur als Außenanlagen zu beschreiben war, weil der Begriff Garten voraussetzt, dass man es mit einem Handrasenmäher schon hinkriegt.

»Für meine Familie nur das Beste«, hatte Gideon auf seine charakteristische, polternde und pompöse Art gesagt, während er sich ein weiteres Glas Laphroaig hinter die Binde kippte, wobei sich mit jedem gierigen Schluck der breite Ostküstenakzent, den er immer zu verbergen trachtete, stärker bemerkbar machte. »Kein MDF, kein Vinyl, kein Laminatschrott – nein, danke. Dafür bin ich nicht der Typ. Überhaupt nicht.«

Das ist nur in den Häusern, die du für andere baust, dachte ich, als ich eine kaum zu verstehende Antwort grummelte, die er zweifellos als Zustimmung missverstehen würde, weil man ihm nur selten widersprach. Als ich mein Glas hob, erwähnte ich jedenfalls die städtischen Sozialbauten nicht, in denen ich aufgewachsen war und die Gideon immer als »die unschöne Seite des Teichs« abtat. Und auch nicht die vielen Male, die Dad und ich aus unseren schäbigen Löchern geflogen waren, weil er wieder mal die Miete nicht zahlen konnte, sodass wir auf der Straße landeten. Meine Kindheit war äußerst anders gewesen als die meiner Frau. Ich stellte mir immer mit Vergnügen vor, wie Gideon die Augen aus dem Kopf träten, wenn ich einmal das Elend beschreiben würde, in dem ich gelebt hatte, und er daraufhin begreifen würde, dass mein sozialer Hintergrund meilenweit entfernt war von der elitären Hochglanzversion, die ich allen als die Wahrheit weisgemacht hatte. Ich malte mir mein Lachen aus, wenn ihm klar würde, wie tief unter ihrem Stand seine perfekte Tochter geheiratet hatte. Sie hätte mich genauso gut wie eine Karotte aus dem Dreck ziehen können. Allerdings keine teure mit Biosiegel.

Natürlich hatte ich ihm nie etwas davon gesagt. Ich hatte mir einen weiteren Schluck von dem schottischen Whisky genehmigt, den ich nicht mochte, und hatte ansonsten meinen Mund gehalten. Auch wenn es durchaus seinen Reiz gehabt hätte: Dass mein Schwiegervater die Wahrheit über meine Herkunft erfuhr, hatte nie zu meinen längerfristigen Plänen gehört. Dennoch lief, Gideons Bemühungen zum Trotz, alles nach Plan. Besser noch sogar. Denn der eingebildete Fatzke war tot.

Und da war er nicht der Einzige.

Kapitel 2

Erneut zuckte die Hand meiner Schwiegermutter und zog die Aufmerksamkeit auf sich, fort von den Erinnerungen an ihren verstorbenen Mann. Als Nora flatterhaft die Augen aufschlug, wartete ich erst noch eine Weile ab, bis sie sich orientiert hatte. Wie war das wohl in diesem Bruchteil einer Sekunde nach dem Aufwachen, fragte ich mich, bevor ihr wieder einfiel, dass sie im Sterben lag und Michelle nicht da war? Möglicherweise fand sie ein wenig Trost in dem Gedanken, dass ihr Elend bald ein Ende haben würde. Vielleicht war sie froh, dass ihr Kampf zu Ende ging.

»Ich bin wohl wieder eingeschlafen«, sagte sie, als sich unsere Blicke trafen, mit krächzender Stimme, der selbst nach Jahrzehnten in den USA noch immer der Akzent aus dem Südwesten Englands anhaftete. »Ich bin bestimmt nicht die beste Gesellschaft, oder? Du hättest nach Hause gehen sollen.«

Als sie sich das kurze silberne Haar zurechtstrich, erinnerte mich die dünne, runzlige Haut auf dem Rücken ihrer zittrigen Hand an das Krepppapier, das wir immer beim Basteln in der Schule verwendeten, als ich ein Kind war. Das Bild einer Spinne ging mir durch den Kopf. Dreiecke aus Goldpapier, sorgsam nacheinander ausgeschnitten und an eine Konstruktion aus Pfeifenreinigern geklebt. Als ich mein Kunstwerk stolz nach Hause trug, um es Dad zu zeigen, hatte es sich ein bulliger Junge namens Tony gekrallt, das Ganze in eine Pfütze geschmissen und mit seinen Füßen in Schuhgröße 42 alles zertrampelt. Das blaue Auge und die kahle Stelle auf dem Kopf, die ich ihm daraufhin verpasst hatte, verhalfen mir bei meinen Klassenkameraden zu hohem Ansehen, brachten mir aber einen Verweis der Rektorin ein, die mich für drei Tage vom Unterricht suspendierte. Beides war es wert gewesen, doch es war auch eines der letzten Male, bei denen ich öffentlich Hand an jemanden gelegt hatte.

»Ich wollte noch nicht gehen«, sagte ich. »So leicht wirst du mich nicht los.«

»Offensichtlich nicht.« Nora versuchte es mit einem Lächeln, das jedoch eher einer Grimasse ähnelte, während sie mit ihren blutunterlaufenen, wässrigen Augen das Zimmer absuchte. »Wo ist Diane?«, sagte sie mit leichter Panik in der Stimme. »Sie ist doch nicht gegangen, oder?«

»Nein, da war nur jemand an der …«

Wie bestellt öffnete sich die Schlafzimmertür. Als Diane mit Detective Anjali Dubal im Schlepptau wieder hereinkam, setzte ich mich kerzengerade hin. Nora riss die Augen auf. Sie versuchte, sich im Bett aufzurichten, und ich ergriff ihren Arm, um sie zu stützen, doch sie schüttelte den Kopf.

»Detective«, keuchte sie, »haben Sie Neuigkeiten für mich?«

Anjali, die von Anfang an darauf bestanden hatte, dass wir sie beim Vornamen nannten, ging zum Fußende des Bettes. Das lange schwarze Haar fiel ihr über die Schultern. Sie war Mitte/Ende dreißig, ungefähr einen Kopf kleiner als ich und die Sorte Mensch, die ihre Körpergröße, oder eben das, was daran fehlte, niemals als Hindernis empfunden hatte. Sie war ehrgeizig und entschlossen. Man musste sie auf der Rechnung haben.

»Ich dachte, es wäre am besten, wenn ich mal kurz reinschaue«, meinte sie. »Schön, Sie beide zu sehen. Wie geht’s?«

Nora fasste nach meiner Hand, Knochen gruben sich in meine Handfläche.

»Ach, geht so, nicht wahr?«

»Na ja.« Ich stand auf und wandte mich zu Anjali um, bevor ich die Frage meiner Schwiegermutter wiederholte, wenn auch in weitaus zackigerem Ton. »Gibt’s Neuigkeiten?«

Detective Anjali stopfte die Hände tief in die Taschen ihres knielangen anthrazitfarbenen Mantels, die Füße hüftbreit auseinander. Aus unseren Unterredungen mit Anjali wusste ich, dass sie Single und kinderlos war und in den vergangenen beinahe zwei Jahren nicht mehr als eine Woche Urlaub genommen hatte. Sie hatte sich nicht beklagt. Sie liebte ihren Job, war erfolgreich und schien völlig in ihrem Element zu sein, wie sie da selbstbewusst in Noras Schlafzimmer stand, die Pistole im Hüftholster. Zweifellos waren ihre Instinkte und Fähigkeiten beeindruckend. Sie waren nur einfach nicht gut genug.

»Die gerichtsmedizinische Untersuchung des gestohlenen Lieferwagens ist jetzt abgeschlossen.« Anjalis Gesicht nahm apologetische Züge an. Mir war schon länger aufgefallen, dass ihr Gesichtsausdruck weniger einem offenen Buch glich denn einer öffentlichen Bibliothek, und ich hoffte in ihrem eigenen Interesse, dass sie nie Poker spielte. Dennoch ließen ihre Worte meine Neugier anwachsen. Auch ein wenig Beklemmung war dabei, wenn ich ehrlich bin.

»Was haben Sie herausgefunden?«, erkundigte ich mich und versuchte, den Atem nicht anzuhalten, während ich ihre Antwort erwartete.

Sie schüttelte den Kopf. »Nichts, was uns weiterhelfen würde, bedauerlicherweise.«

»Nichts?«, fragte ich, während mir das Herz bis zum Hals schlug. »In dem ganzen Lieferwagen? Wie das?«

»Wir wussten ja gleich, dass es schwierig werden würde, als wir gesehen haben, dass der Wagen ausgebrannt war«, entgegnete Anjali. »Leider hat der Brand alle DNA-Spuren vernichtet. Keine verwertbaren Fingerabdrücke, und auch keine Fußabdrücke. Nicht mal ein einzelnes Haar oder irgendeine Faser.« Sie vergrub die Hände so tief in den Manteltaschen, dass ich schon überlegte, wohin ihr Selbstbewusstsein sich verflüchtigt hatte und ob sie dort drinnen vielleicht irgendeine magische Fluchtgelegenheit suchte. »Es tut mir außerordentlich leid, das sagen zu müssen, aber nach Auswertung aller Spuren stecken wir fest. Es gibt keine Aufnahmen aus Überwachungskameras oder anderes Beweismaterial, das wir nicht bereits geprüft hätten.«

»Und immer noch keine Zeugen?«, flüsterte Nora.

»Nein«, sagte Anjali. »Wer auch immer Michelle entführt haben mag, wusste genau, was er tat.«

»Profis«, bemerkte Diane, und die Ermittlerin stimmte ihr zu.

Noras Stimme wurde zittrig. »Haben Sie Hoffnung, dass Michelle lebend wieder nach Hause kommt?«

Anjali machte einen Schritt nach vorne und wartete einen Moment, bevor sie antwortete. »Ich habe von Anfang an versprochen, dass ich nicht lügen werde. Die Tatsache, dass ihr Entführer zur Lösegeldübergabe nicht erschienen ist, kann vieles heißen. Kalte Füße zum Beispiel.«

»Aber Sie sagen doch auch, dass es Profis waren«, wandte ich ein.

»Ja, aber es könnte auch logistische Gründe geben …«

»Logistische Gründe?«, blaffte ich. »Michelle ist doch nicht irgendein bescheuertes Amazon-Paket. Sie wussten doch, dass Sie da sein würden, dass die Polizei alles beobachten würde.« Als Anjali ihren Mund aufmachte, legte ich gleich nach. »In ihrer Lösegeldforderung hatten sie ja deutlich gesagt, dass ich Sie außen vor lassen sollte, aber Sie haben darauf bestanden und gesagt, was Sie vorhatten, und dass Sie alles unter Kontrolle hätten.«

»Lucas, bitte«, schaltete Diane sich ein. »Wir ziehen hier alle am selben Strang.«

»Schon möglich.« Ich biss mir auf die Lippen, um mich wieder in die Gewalt zu bekommen. »Aber was ist, wenn … wenn sie ihr etwas getan haben, weil ich nicht auf ihre Forderungen eingegangen bin? Hätte ich das nicht gemacht, wäre sie möglicherweise hier unter uns.«

Anjali hob die Hand. »Wir können doch nicht …«

»Es ist jetzt einunddreißig Tage her, seit Michelle entführt worden ist. Einunddreißig.« Zweifellos konnte jeder die wachsende Anspannung spüren, wie sich die an- und abschwellende Frustration in meiner Stimme zu einem heranrollenden Crescendo, ja, zu einem entfesselten verbalen Tsunami verdichtete. »Und achtundzwanzig Tage, seit die Lösegeldübergabe schiefging, aus Gründen, die niemand erklären kann oder auch nur willens ist, zu erklären.«

»Verstehe«, meinte Anjali.

»Wirklich? Ist die Liebe Ihres Lebens vielleicht mal entführt worden?«

»Das nicht, Lucas. Aber ich verspreche, dass wir …«

»Hart arbeiten werden?« Ich stieß ein bitteres Lachen aus. »Sie haben das schon so oft gesagt, dass ich inzwischen den Überblick verloren habe. Und mittlerweile läuft Michelle und uns die Zeit davon …« Ich kniff mich in den Nasenrücken, doch es war zu spät. Alle wussten, wen ich meinte. Ich atmete tief aus und schüttelte den Kopf. »Sie haben Noras Frage noch nicht beantwortet. Haben Sie wirklich Hoffnung, dass Michelle lebend wieder nach Hause kommt? Und reden Sie diesmal nicht irgend so einen Blödsinn von Logistik daher!«

Anjali senkte den Blick, und als sie den Kopf zur Seite neigte, machte ich mich auf die Antwort gefasst, von der ich wusste, dass sie kommen würde. »Stellt man sich der Tatsache, dass wir von den Entführern keine Nachricht erhalten haben und seit vier Wochen auch keine Forderungen erhoben worden sind … nun ja, dann spricht die Statistik gegen uns.«

Nora stieß einen schwachen Schrei aus, als sie wieder in ihre Kissen zurücksank, während Diane ihre Hände so heftig rang, dass ich schon befürchtete, es würden gleich Flammen züngeln. Ich blinzelte dreimal, und die Muskeln meines Unterkiefers verkrampften sich vor Anstrengung, als ich auf mich wirken ließ, was die Ermittlerin gerade gesagt hatte.

»Wir dürfen die Hoffnung nicht aufgeben.« Nacheinander sah Anjali jedem von uns direkt in die Augen. »Ist mir schon klar, dass ich das schon mal gesagt habe, aber Michelle zu finden hat für mich oberste Priorität, und das wird auch so bleiben. Ich wollte diesen Fall unbedingt und habe dafür gekämpft. Und ich gebe Ihnen mein Wort, dass ich auch weiterhin kämpfen werde.«

»Danke, Anjali, wir sind Ihnen dankbar dafür.« Noras Enttäuschung war mit Händen zu greifen. »Können Sie uns sonst noch irgendetwas sagen?«

»Nein.« Anjali schüttelte kaum merklich den Kopf. »Ich wünschte, ich hätte bessere Nachrichten.«

Nora schob das Kinn nach vorn und demonstrierte auf diese britische Art ihren Willen, sich nicht erschüttern zu lassen. Ihrer warmherzigen Art zum Trotz war meine Schwiegermutter nicht der Typ Mensch, der seine Gefühle öffentlich zur Schau stellte. Außer an dem Tag, an dem ich Michelle geheiratet hatte. Damals blieb kein Auge trocken, auch bei mir nicht, obwohl meine Miniwasserspiele aus anderen Gründen erfolgten.

»Diane«, sagte Nora ruhig, »wären Sie so freundlich, Detective Dubal zur Tür zu begleiten? Ich brauche etwas Zeit mit Lucas allein.«

Diane zögerte, aber nachdem Anjali sich verabschiedet hatte und man hörte, wie sie die Treppe hinunter in die Diele gingen, sah Nora mich entschlossen an. Sie deutete auf einen Stuhl neben sich und wartete ab, bis ich dort Platz genommen hatte, bevor sie wieder etwas sagte.

»Du bist immer der perfekte Schwiegersohn gewesen.«

Ich zog eine Grimasse und rutschte auf dem Stuhl hin und her. »Oh, ich glaube nicht …«

»Doch, warst du. Du kennst das nicht, weil du noch nicht Vater geworden ist, aber wenn du Kinder hast, machst du dir immer Sorgen, du könntest vielleicht nicht die richtigen Entscheidungen treffen. Zu hart oder zu weich sein, ihnen zu viel Freiheit lassen oder auch nicht.«

»Und sich dann ihre Beschwerden anhören müssen, egal was du tust?«

»Genau. Du versuchst nach Kräften, ihnen ein guter Ratgeber zu sein, aber dennoch ziehst du dir bei jedem Fehler, den sie machen, selbst den Schuh an.« Sie legte eine Pause ein, um Atem zu schöpfen. «Aber als du geheiratet hast, wusste ich, dass ich diesmal etwas richtig gemacht hatte. Dass sie eine gute Wahl getroffen hatte. Wir hätten es uns nicht besser wünschen können.«

»Wie kannst du so was sagen?« Ich ließ meinen Blick zu Boden sinken. »Wenn ich in der Woche, in der Michelle entführt worden ist, nicht in England gewesen wäre, wenn ich hier gewesen wäre oder wenn ich der Polizei die Lösegeldforderung nicht übergeben hätte, dann vielleicht …«

»Mach dir deswegen keine Vorwürfe«, sagte Nora überraschend ernst. »Wag es nicht, deine Zeit und Energie an Schuldgefühle zu verschwenden. Ich brauch dich schließlich hier, damit du die Polizei vor dir hertreibst.« Sie ergriff meine Hand. »Lucas, du musst alles tun, was in deiner Macht steht, damit Michelle heil wieder nach Hause kommt.«

»Natürlich.«

»Koste es, was es wolle. Wenn du Geld brauchst …«

»Brauche ich nicht, alles in Ordnung.« Ich ließ die Schultern hängen und brummelte: »Finanziell jedenfalls.«

Nora beugte sich leicht zu mir herüber. »Da ist noch etwas anderes, um das ich dich bitten möchte.«

»Ja?«

»Kümmere dich bitte um Travis, wenn ich nicht mehr da bin. Er wird sich mehr denn je auf dich verlassen.«

»Das freie Zimmer gehört ihm, solange er es haben will oder es braucht.«

»Was ich sehr zu schätzen weiß. Glaub mir, ich weiß, was für eine Belastung mein Sohn sein kann. Sein Rückfall ist ein großes Problem, deshalb musst du nach ihm schauen. Bring ihn dazu, die Reha wieder aufzunehmen. Hilf ihm dabei, sich wieder einzukriegen. Er hat das schon mal geschafft, ich zähle auf dich. Du wirst dafür alle Mittel bekommen, die du brauchst …«

»Ich brauche kein Geld, Nora.«

»Du vielleicht nicht, aber Travis.« Sie hielt inne. »Vielleicht sollte ich ihm sagen, dass ich Organisationen für Suchtbekämpfung den Großteil seines Erbes spenden werde, wenn er nicht mitmacht.«

Ich riss die Augen auf. »Oh?«

»Nicht alles, aber einen ordentlichen Batzen, denke ich mal. Darüber habe ich auch, ganz im Vertrauen, vor einiger Zeit mit Michelle schon gesprochen, bevor …« Sie presste die Lippen aufeinander und kniff die Augen halb zu. Ich tat es ihr nach. Meine Frau hatte mir nichts davon gesagt. »Jedenfalls glaube ich nicht, dass ich ihm Geld hinterlassen werde, jedenfalls nicht direkt. Seinen Rückfällen in jüngster Zeit nach zu urteilen, würde er es schneller wegschnupfen, als du das Wort Drogenmissbrauch aussprechen kannst.« Sie schloss die Augen. Ihr kleiner Energieausbruch war schon wieder im Schwinden begriffen, und ich wartete, bis sie sich wieder stark genug fühlte, um weiterzusprechen. »Ich denke daran, Michelle und dich als Treuhänder für seinen Vermögensfonds und sein Erbe einzusetzen. Ich möchte nicht, dass irgendjemand anonym Entscheidungen über sein Geld trifft, wenn er selbst dazu nicht in der Lage ist. So etwas muss in der Familie bleiben. Aber du, Lucas, und … und Michelle, wenn sie wieder da ist, ihr müsst ihm helfen. Kann ich darauf vertrauen, dass du das für mich tun wirst?«

»Versprochen«, sagte ich, während mir der Kopf schwirrte. »Ich gebe dir mein Wort, dass ich immer tun werde, was am besten ist.«

Sie sank zurück und seufzte. »Danke, danke. Ich wusste, dass ich auf dich zählen kann.«

»Jederzeit. Hat Travis dich heute schon besucht?«

»Nein.«

Ihre Antwort überraschte mich nicht. Travis hatte seine Mutter nach ihrer Diagnose so ziemlich im Stich gelassen. Mit einiger Regelmäßigkeit und Zuverlässigkeit tauchte er lediglich auf, wenn er etwas ganz Bestimmtes brauchte – nämlich ihr Geld. Gut zu wissen, dass er es nicht länger in die Finger bekäme, ohne vorher bei mir auflaufen zu müssen – ein Problem, das er dann nicht umgehen konnte. Noras Idee mit der Treuhänderschaft war perfekt, und es hatte dazu nicht mehr gebraucht, als, vor Monaten schon Andeutungen zu streuen, auf die Travis schließlich Bezug nahm, verbunden mit subtilen Hinweisen an die Adresse meiner Schwiegermutter, was sie denn zu tun gedenke, wenn ihr Sohn wieder mit Drogen in Berührung käme. Von Spenden an Wohlfahrtsorganisationen hatte ich allerdings nichts gesagt, und dieser Gedanke missfiel mir. Absolut.

Nach ein wenig mehr Small Talk mit Nora und Diane verließ ich kurze Zeit später das Haus und zog die drei Meter hohe, eigens angefertigte Eingangstür hinter mir ins Schloss. Nicht zum ersten Mal fragte ich mich dabei, ob deren Größe möglicherweise etwas mit einem Gefühl männlicher Unzulänglichkeit zu tun hatte, das Gideon insgeheim hegte.

Die frische, kühle Novemberluft barg bereits das Versprechen eines weiteren langen Winters. Hoffentlich mein letzter an der Ostküste. Wenn ich in einem Jahr etwas mit Schnee, Eis und schweinekalten Außentemperaturen zu tun haben wollte, dann würde dies aus freien Stücken geschehen, und dann sicher auch an einem aufregenderen Ort. Aspen, Chamonix, Verbier, Whistler. Hol’s der Teufel, ich würde das Alphabet der schönsten Skiorte der Welt ausbuchstabieren.

Optimistisch gestimmt von diesen Gedanken an meine nicht allzu ferne Zukunft, spürte ich, wie sich mein Lächeln regelrecht in ein leises Lachen verwandelte. Winterurlaube nach meinem Geschmack waren keineswegs Fantasiegebilde, reine Spekulation oder Wunschdenken. Sie waren Gewissheit. Bald schon würde ich das Geld meiner Frau für alles, was mir vorschwebte, ausgeben können. Denn weil ich getan hatte, was ich getan hatte, wusste ich bereits, dass Michelle niemals wieder nach Hause käme.

Kapitel 3

Es kostete mich etwas Anstrengung, meine Schritte nicht ganz so federnd wirken zu lassen, während ich zu meinem Auto ging, einem brandneuen Mercedes-Coupé der C-Klasse, mit dem mich Michelle an meinem letzten Geburtstag überrascht hatte. Es war kein besonderer Geburtstag gewesen, sodass ich protestiert und darauf bestanden hatte, dass ich doch zufrieden wäre mit dem gebrauchten Audi, den ich ein paar Jahre zuvor gekauft hatte, als ich in die USA kam. Der neue Wagen sei zu extravagant, hatte ich gesagt, der Preis geradezu obszön, und ich meinte das ernst. Aber Michelle hatte einfach nur den Kopf in den Nacken geworfen und gelacht.

»Extravagant und obszön, genau das sind Treuhandfonds nun mal, mein Schatz.« Sie drückte mir die Schlüssel in die Hand, während ich mir sehr viel Mühe gab, zu ignorieren, dass damit wieder eine beträchtliche Summe von ihrem Konto verschwand, obwohl ich ja wusste, dass es eine ihrer letzten teuren Transaktionen sein würde. Meine Pläne waren zu diesem Zeitpunkt bereits angestoßen worden. Der Countdown lief.

»Darf ich dich daran erinnern«, fuhr sie in jener ausdrucksstarken Stimmlage fort, mit der sie ihre Gegner in der Regel in die Knie zwang, »dass man einem geschenkten Gaul nicht ins Maul schauen, geschweige denn ihm eine Kugel in den Kopf jagen sollte? Ja, schon richtig, ich bin in letzter Zeit vielleicht nicht die Pflegeleichteste gewesen. Aber ich hoffe doch, dass dich das dafür entschädigen kann, mal ganz abgesehen von anderen Sachen, die ich auch noch geplant habe …«

Mit einem durchtriebenen Lächeln auf den herzförmigen Lippen schlang sie mir die Arme um den Hals. Es war die Art Umarmung, von der ich wusste, dass sie uns ins Schlafzimmer, auf die Sofalehne oder den Küchenfußboden führen würde. Ich küsste sie heftig, nicht nur weil Sex winkte, der immer spektakulär war. Ich kam auf diese Weise auch drum herum auszusprechen, dass sie nicht nur in letzter Zeit eine furchtbare Nervensäge gewesen war, sondern von Anfang an, seit wir uns kennengelernt hatten.

Und das Auto … Mein lieber Schwan, das war schon ein unglaubliches Kaliber. Als die Tür mit ihrem typischen, schweren metallischen Klacken zufiel und die Erinnerungen an den Geburtstag draußen im Fahrtwind zerstoben, hatte ich meine Freude daran, die meisterhaft konstruierte, ruhige Fahrerkabine für mich allein zu haben. Nachdem ich mir die Freiheit genommen hatte, noch eine Weile friedlich in Noras Auffahrt stehen zu bleiben, schmiss ich den Motor an und tastete im Handschuhfach nach der Packung Marlboro, die ich dort deponiert hatte.

Michelle hatte Rauchen verabscheut und immer gesagt, dass allein schon der Geruch ihr den Magen umdrehte. Sie hatte jedoch nie geahnt, dass es sich um eines meiner Laster handelte und ich ihm oft frönte. Ich war gut darin, Dinge zu verbergen – meine Geschichte, meine wahren Gedanken, Gefühle und Gewohnheiten. Es gab sehr viele Dinge, die meine Frau von mir nicht wusste.

Als ich aus dem Anwesen der Familie Ward mit seinem gusseisernen Tor herausfuhr, zog ich zufrieden ein weiteres Mal an meiner Zigarette und grinste bei dem Gedanken, dass ich jetzt nie mehr Handschuhe tragen musste, um den Geruch zu kaschieren, wenn ich eine geraucht hatte, mir nicht mehr jedes Mal Michelles Missfallensbekundungen anhören musste, wenn wir an jemandem vorbeikamen, der gerade eine Zigarettenpause machte. Den bösen Blick ertragen, den zuzuwerfen sie sich anmaßte, wobei sie dabei regelmäßig den Kopf so nach hinten verdrehte, dass es einem Wunder gleichkam, wenn die Angesprochenen nicht auf der Stelle zu Stein erstarrten.

Nicht dass ich Michelle gehasst hätte, das sollte ich an dieser Stelle wahrscheinlich einmal ganz klar sagen. Wie hätte ich das tun können, wo sie mir doch alles gab, was ich mir je gewünscht hatte? Außerdem hatte mein Vater, als ich noch ein Kind war, immer gesagt: »Hass ist ein starkes Wort, mein Sohn«, und es hatte in meinem Leben ein paar ganz andere Leute gegeben, die diese Emotion weitaus stärker und auch schneller heraufbeschworen hatten als Michelle. Nein, ich habe sie nicht gehasst, aber ich habe sie mit Sicherheit auch nicht besonders gemocht. Um es mal vorsichtig auszudrücken: Meine Frau ist mir tierisch auf die Eier gegangen.

Ich wette, das ist bei Ihrem Partner nicht anders. Oder wollen Sie mir wirklich erzählen, dass Sie in einem dunklen, sehr privaten Moment, zum Beispiel nach einem wieder mal heftigen Streit wegen grundloser Eifersucht, wegen der Aufteilung der Hausarbeit, des Zustands der Familienfinanzen oder nach einem erneuten hinterfotzigen Kompliment der verschwägerten Verwandten, sich niemals vorgestellt haben, Ihre bessere Hälfte wäre … weg?

Na schön, Sie müssen sich ja nicht gleich vornehmen, sie mit einem Santoku-Messer im Schlaf in Scheiben zu schneiden. Vielleicht tun Sie’s ja doch, aber wer bin ich, darüber zu richten? Und es gibt ja auch Dinge, die sich der eigenen Kontrolle entziehen. Ein unglückliches Vorkommnis. Etwa wenn der eigene Partner nach einem Herzanfall im Supermarkt plötzlich zusammensackt und mit dem Gesicht in den tiefgefrorenen Erbsen landet. Wenn das Auto unvermutet auf Blitzeis gerät und sich um eine Hunderte Jahre alte Eiche wickelt. Vielleicht gehen Sie auch eher wie in einer Comedy vor – ein Klavier oder ein Amboss stürzt aus heiterem Himmel herab, damit es sich nicht so machiavellistisch anfühlt. Wie auch immer, natürlich waren alle diese Szenarien tragisch – aber nach einer angemessenen Zeit der Trauer wären Sie frei, Ihr Leben genauso zu führen, wie es Ihnen vorschwebt. Keine Marotten mehr, die einen in den Wahnsinn treiben und mit denen man sich herumschlagen muss. Keine Überempfindlichkeiten, bei denen man die Zähne zusammenbeißen muss. Keine hässliche Scheidung mit Wucheralimenten und hitzigem Streit darüber, wer denn nun die Katze bekommt.

Das ist Ihnen nie in den Sinn gekommen? Nicht ein einziges Mal? Tja, habe ich auch gedacht.

Meine Frau war Kuratorin in einer Kunstgalerie im Stadtteil Back Bay in Boston. Die Art von überkandideltem Viertel, wo dann aufwendige Vernissagen stattfinden, bei denen sich alle Luftküsschen geben und die man wegen der fingerhutgroßen Kanapees mit mehr Hunger verlässt, als man mitgebracht hat, auf denen man teuren Champagner schlürft, während man sich den Kopf darüber zerbricht, was der aktuelle Liebling der Kunstwelt mit seinen abstrakten Kreationen wohl zum Ausdruck bringen wollte. »Her mit deiner Knete« war die Botschaft, die ich dabei stets empfing und der die Schickeria nur allzu willig huldigte. Sie würden mit den Beträgen prahlen, die sie ihren Brieftaschen dafür entnommen hatten, darüber spekulieren, wie viel ihre Kunstsammlungen Jahr für Jahr an Wert zugelegt hatten, und sich gegenseitig zu übertreffen suchen, aus purem Zeitvertreib.

Im Gegensatz dazu warb ich für den IT-Bereich neue Mitarbeiter an. Deutlich weniger glamourös, zweifellos, aber dennoch lukrativ, wenn man sich reinhängte. Da gab es genauso viele Angeber, und es konnte sogar noch tausend Prozent gnadenloser zugehen, was hieß, dass mein Besteckkasten mit den virtuellen Messern immer scharf geschliffen blieb.

Ich war schon Jahre in dem Geschäft gewesen. Die Fluktuation beim Personal war enorm, weil viele mit dem Konkurrenzkampf, dem Termindruck, der Frustration wegen unzuverlässiger Kandidaten und all den exzentrischen Team- und Personalleitern nicht zurechtkamen. Und ich? Für mich war das ein ideales Terrain. Alles änderte sich ständig und wurde zunehmend schwierig. Aber langweilig war es nie. Anders als die Kollegen, denen ich es überließ, mir den Dreck hinterherzuräumen, scherte ich mich nicht um Work-Life-Balance, um das, was mein Arbeitgeber in Sachen Flexibilität sonst noch so zu bieten hatte, oder um kostenloses Essen. Mir ging es ums Gewinnen, mein schärfster Konkurrent war mein früheres Ich – und ich brillierte.

Michelle hat nie verstanden, warum ich es so toll fand.

Als wir uns kennenlernten, hatte ich gedacht, wir würden eine ganze Weile länger verheiratet bleiben, wenigstens ein paar Jahre mehr. In einer Beziehung zu stecken, in der sie Geld im Überfluss und auch keine Scheu hatte, es auszugeben, hatte seine Vorteile, aber es gab natürlich auch eine Kehrseite. Mit verschwenderischen Geschenken überhäuft zu werden, machte Spaß, genauso wie ich mir das anfangs vorgestellt hatte, aber keinen Zugang zu den Finanzen zu haben, zehrte an meinen Nerven, ebenso, dass Michelle das Geld leichtfertig ausgab. Seit wir in unser Haus gezogen waren, hatten wir schon zweimal ein neues Sofa gekauft, obwohl an keinem etwas zu beanstanden war. Das Design und auch der graue Farbton waren praktisch identisch gewesen, aber meine Frau hatte gemeint, es sähe irgendwie nicht gut aus. Es gab neue Autos, neuen Schmuck, teure Menüs und, großer Gott, ständig neue Schuhe. Wie viele Paar genau gleiche schwarze Stöckelschuhe brauchte man denn? Es war ja nicht so, dass meine Frau noch weitere Paar Füße übrig gehabt hätte, mit denen sie die Dinger hätte spazieren führen können.

Die ganze Chose mit dem Ehering, den man ihr auf den Finger steckt, diente ja lediglich dazu, an das Geld zu kommen. Eigentlich hatte ich von Anfang an eine Scheidung eingeplant, aber die Dinge hatten sich einfach nicht so entwickelt dank eines wasserdichten Ehevertrags, den zu unterzeichnen aufdringliche Berater sie genötigt hatten. Ich musste meine Strategie daraufhin überdenken, mir alles noch einmal durch den Kopf gehen lassen, bevor ich mich in eine andere, weniger wünschenswerte Richtung orientierte. Hätte ich das nicht getan, wäre möglicherweise nicht mehr genug Geld übrig geblieben, das meinen Einsatz noch gelohnt hätte.

Ich überlegte eine Weile hin und her, wie ich alles ins Laufen bringen könnte, und debattierte mit mir selbst darüber, ob ich es wirklich durchziehen konnte. Einesteils hatte ich in Erwägung gezogen, das Geld einfach zu stehlen und damit zu verschwinden, doch ich wollte für den Rest meines Lebens nicht ständig verstohlene Blicke über die Schulter werfen müssen. Ich wollte frei sein. Und reich. Nicht irgendwo herumkauern und darauf warten, dass mich die Behörden doch noch kriegten. Was ich getan hatte, war keiner Laune entsprungen. Ich hatte eine Ewigkeit damit verbracht, zahlreiche Szenarien durchzuspielen, eines befremdlicher als das andere, damit es nicht in die Hose ging, aber dann war die Pandemie, die Mutter aller Brandbeschleuniger, über meine Pläne hereingebrochen.

Michelle und ich hatten lange Stunden auf der Arbeit in unterschiedlichen Stadtteilen zugebracht, und als unsere jeweiligen Chefs schließlich Maßnahmen zum Abstandhalten umsetzten und Homeoffice anordneten, schien es zunächst so, als hätten wir richtig Glück. Unsere Jobs waren sicher, die Arbeitsplätze zu Hause schon eingerichtet, unsere stürmische Romanze bildete den Stoff für Legenden in unserem kleinen Freundeskreis, der ausschließlich aus Menschen aus Michelles Umfeld bestand. Wir waren das perfekte, von allen bewunderte Paar, von dem alle wussten, dass in Wirklichkeit meine Frau die Hosen anhatte, während sie mich in dem Glauben ließ, es wäre anders. Dachten sie jedenfalls.

Doch die Pandemie erschöpfte meine Geduld beinahe restlos. Mal ehrlich, du verbringst endlose Monate zusammengepfercht in einem Haus mit jemandem, dem du Liebe vorgegaukelt hast, und zugleich regt es deine Fantasie an. Du stellst dir eine Menge Dinge vor, nicht zuletzt die Musik, die bei der Beerdigung des anderen gespielt wird.

Nicht dass wir Michelle schon beerdigt hätten. Es gab keine Leiche, die man hätte bestatten können, denn wir hatten ja noch Hoffnung (hier jetzt bitte verlassen dreinblickende, glänzende Hundeaugen einblenden). Außerdem, o Mann, Beerdigungen sind ganz schön teuer, und wenn wir denn irgendwann mal eine haben werden, nachdem man Michelle offiziell für tot erklärt hat, muss ich so ziemlich aufs Ganze gehen. Wahrscheinlich geht es nicht ohne einen kostspieligen, wenn auch leeren Sarg, um der Trauerfeier einen Anstrich von Normalität zu geben. Für Blumen müsste gesorgt sein und zweifellos auch für einen opulenten Leichenschmaus für ihre Schickimicki-Truppe von der Galerie. Es wäre natürlich alles eine Show, aber ein symbolisches Behältnis, mit Alufolie umhüllt und einem billigen Strauß von der Tankstelle obendrauf, mag ich mir auch nicht vorstellen. Wenn ich damit durchkäme, würde ich’s natürlich machen, klar.

Ich rauchte meine Zigarette zu Ende und warf die Kippe aus dem Autofenster, als ich in die Sackgasse einbog und vor dem letzten Haus dort vorfuhr, ein Hochzeitsgeschenk von Gideon und Nora. Natürlich nicht für mich, denn mein Name stand nicht auf der notariellen Urkunde, aber Michelle hatte immer in der Nähe ihrer Eltern leben wollen. Niemals wäre es ihr in den Sinn gekommen, irgendwo anders zu wohnen als in dem lauschigen Vorort Chelmswood.

Außer im Schlafzimmer hatte meine Frau nie Freude daran gehabt, etwas Neues auszuprobieren. In Urlaub fuhren wir üblicherweise ein oder zwei Wochen in ein Fünfsternehotel irgendwo in der Karibik, wo sie sich am Strand aalte, mit den Fingern die Bedienung herbeischnippte und an ihrer Bräune arbeitete, während ich das gesamte Sportangebot testete. Sie war nicht der spontane Abenteurertyp, weshalb meine Stichelei, wir könnten doch mal einen Backpacker-Trip nach Asien und Australien machen, mit verächtlichem Schnauben quittiert wurde, weil sie annahm, es sollte ein Witz sein.

»Mit dem Rucksack?«, sagte sie und zog die Brauen hoch. »Warum das denn? Sag nicht, du möchtest als Nächstes in einer dieser wanzenverseuchten Jugendherbergen absteigen. Eklig! Da kannst du mich gleich umbringen.«

Oh, schön wär’s.

Ich schob meine Reisevorstellungen beiseite und parkte den Wagen vor dem Haus statt in der Garage, in der für drei Autos Platz war. Michelle hätte das beanstandet. Wir waren gleich alt, ihre Teenagerjahre lagen deshalb noch nicht so lange zurück, doch sie schien anzunehmen, dass die örtlichen Jugendlichen, wenn man sie denn ließe, bestenfalls einfach mit dem Wagen losfahren, ihn schlimmstenfalls stehlen und in seine Einzelteile zerlegen würden, um diese dann bis zum Morgengrauen schon verkauft zu haben. Geschenkt, dass der Wagen eine schicke Diebstahlsperre hatte, unsere Wohnanlage bewacht war und sich deren stolze Bürgerwehr einmal im Monat traf, um bei Cocktails lieber ein Pläuschchen zu halten statt über die Einbruchsrate zu sprechen – denn da hätte es nichts zu besprechen gegeben. Die Kids in Chelmswood brauchten das Geld nicht, das sie für so eine protzige Karre bekommen hätten. Gott noch mal, die meisten von ihnen standen bereits auf der Anmeldeliste für eine Eliteuniversität, bevor sie überhaupt gezeugt waren.

Ich hab das Michelle nie gesagt, aber wärst du mit meinem Mercedes zu meiner alten Wohnung in Manchester gefahren, hätte wahrscheinlich jemand versucht, mir noch im Fahren die Reifen abzumontieren. Um zu beweisen, dass ich recht hatte, stieg ich aus, schloss den Wagen nicht ab und war schon an der Haustür, als ich es mir anders überlegte. Ich hatte das Schicksal in letzter Zeit genug herausgefordert, und man sollte den Bogen nicht überspannen. Nicht solange es immer noch so viele Unwägbarkeiten gab.

Kapitel 4

Ich ging den Weg zu unserem Haus hinauf, einem zweistöckigen Anwesen im Kolonialstil mit vier Schlafzimmern und vier Bädern, das für uns völlig ausgereicht hatte, aber unter Michelles Ägide, meine Zustimmung stillschweigend immer vorausgesetzt, neu gestaltet und renoviert worden war. Das äußere Erscheinungsbild hatte der magischen Runderneuerung nicht entkommen können – »der erste Eindruck ist so wichtig, Liebling«, hatte sie gesagt. An dem von Landschaftsgärtnern gestalteten Weg standen zu beiden Seiten fachmännisch beschnittene japanische Ahorngehölze Wache, ein kleiner Vorgeschmack auf die exquisite Innenarchitektur. Ein wirklich schönes Haus, wenn man so etwas mochte, was bei mir der Fall war, besonders wenn ich daran dachte, was auf dem Markt dafür einmal zu erzielen sein dürfte. So gesehen würde jeder Dollar, der für die Neugestaltung ausgegeben wurde, den Weg zurück in meine Tasche finden, plus fünfundzwanzig Prozent obendrauf. Ich wusste, was eine gute Investition ist … das Haus … und meine Frau.

Ich hoffte, dass Travis jetzt nicht da sein würde. Die Außenbeleuchtung war jedenfalls nicht an, und auch sein BMW war nicht zu sehen. Was beides nichts heißen musste. Vielleicht hatte er den Wagen verkauft, ihn bei einer Wette verloren oder war mit einem Taco-Truck zusammengestoßen. Es wäre nicht das erste Mal, hatte es alles schon gegeben.

Zwar hatte ich Nora gesagt, ihr Sohn könne so lange bei mir wohnen, wie er wolle, aber das stimmte so nicht. Mein Mitbewohner hatte ein Limit, das in direkter Verbindung stand mit der Zeit, die seine Mutter noch zu leben hatte. Ich würde es mit Travis nur diese Zeitspanne aushalten, bevor ich dann eine Stelle suchen musste, an der ich die Leiche entsorgen konnte. Na ja, ich mach bloß Spaß. Aber andererseits wäre es schließlich nicht das erste Mal, dass ich jemanden loswerden musste. Natürlich würde es auch meinen Heldenstatus beschädigen, wenn Travis etwas zustieße, obwohl ich doch versprochen hatte, ihn wieder in die Reha zu schaffen. Aber er würde erneut einen Rückfall erleiden, dafür würde ich schon sorgen. Wenn ich vorher versucht hatte, ihn von der Reha zu überzeugen, würde mich das gut aussehen lassen, und ich war ja auch ehrlich gewesen, als ich Nora gesagt hatte, dass ich tun würde, was das Beste wäre. Für mich das Beste selbstverständlich.

Und warum zum Teufel auch nicht? Ich verspürte keinerlei Verpflichtung gegenüber dem Kerl.

Obwohl durchaus belesen, war Travis der heutige Inbegriff von Faulheit und Unzuverlässigkeit. Ein Neunundzwanzigjähriger, der, ganz ähnlich wie Michelle, so privilegiert aufgewachsen war, dass er dieses Privileg nicht sah und es auch nicht nutzbringend umsetzte. Er benutzte mein Gästezimmer nach Gusto, kam und ging, wie es ihm beliebte. Pflichtschuldigst spielte ich den hilfsbereiten Schwager, obwohl ich ihn am liebsten mit den schmutzigen Socken, die er überall herumliegen ließ, erschlagen hätte. Er sah nicht ein, mal aufzuräumen oder auch nur eine Tasse zu spülen, weil irgendein Bediensteter es stets für ihn getan hatte. Es hätte mich auch nicht gewundert, wenn ein Lakai ihm den Pimmel gehalten hätte, wenn er mal pinkeln musste.

Glücklicherweise war von ihm nichts zu sehen, als ich die Tür aufstieß. Auch kein Hauch von seinem beißenden Aftershave, ein Geruch, den ich besonders unangenehm fand, der aber Frauen offenbar nicht gleichermaßen abschreckte. Stattdessen sprang mich ein rauflustiger Fellballen an, bellte und wedelte mit dem Schwanz.

»Na, Roger, wie sieht’s aus?«, sagte ich, beugte mich vor und tätschelte ihm den riesengroßen Schädel.

Der Hund warf sich zu Boden und streckte mir seine Vorderpfote entgegen, sein Maul verzerrt zu etwas, das man nur als lachhaftes Grinsen beschreiben kann. Die Zunge hing zur Seite heraus, während er darum bettelte, den Bauch gestreichelt zu bekommen. Ich hockte mich neben ihn, kam der Bitte nach und schimpfte ihn einen blöden Hund, was ihn nicht davon abhielt, mir die Hände zu lecken.

Roger war ein Mischling mit unklaren Anteilen. Grob gesagt, hätte ich geschätzt, dass einige seiner Vorfahren wohl Wolfshunde gewesen waren, weil er etwas Zotteliges und Verlottertes an sich hatte, aber welcher Linie auch immer er angehören mochte, sie war jedenfalls ordentlich verwässert. Ich hatte ihn in der Woche, bevor Michelle verschwand, um unser Haus und auch hinten in unserem Garten, der an eine Schlucht grenzte, herumschleichen sehen. Er musste ganz unübersehbar dringend mal geschrubbt und gebürstet werden, brauchte auch was Ordentliches zu fressen, doch als Michelle mich dann mit einem Teller veganem Bacon in der Hand zur Hintertür hinaushuschen sah, war sie nicht sonderlich begeistert gewesen.

»Untersteh dich! Wenn du ihn fütterst, werden wir ihn nicht mehr los. Ich ruf das Tierheim an.«

»Ich will ihm doch nur etwas Gutes tun, Michelle«, hatte ich widersprochen.

»Wie bitte?«

»Die werden ihn einschläfern, Schatz.«

Sie zuckte mit den Schultern, schnalzte mit der Zunge und strich sich durch ihr blondes, kinnlanges Haar, mit dem sie jeden Morgen eine halbe Stunde beschäftigt war, bis sie jede einzelne Strähne glatt gekämmt und gestriegelt hatte. Es war von Natur aus wellig, was ich liebte, sie aber hasste. Meine Frau war atemberaubend schön, keine Frage, und das war schon immer so gewesen. Von Geburt an eine klassische Schönheit. Und nicht das leiseste befremdliche Anzeichen von Schlaksigkeit, dicken Bäckchen und Mausgesichtigkeit, als sie in die Pubertät kam. Ich hatte Fotos gesehen.

»Euthanasie wäre das Beste für ihn«, meinte sie, als sie das Telefon in die Hand nahm und zu mir herüberkam, um mich in die Wange zu kneifen. »Jetzt mal ehrlich, wer braucht denn so einen Köter?«

Ich blickte zum Fenster hinaus. Der Hund saß draußen und sah mich an, den Kopf zur Seite geneigt und mit einem Ausdruck, den ich unzählige Male selber zu sehen bekommen hatte, wenn ich als Teenager zufällig mal in den Spiegel blickte. Die hässliche Fresse eines Außenseiters, eines Ausgestoßenen. Von jemandem, den alle für einen Verlierer hielten. Von jemandem, von dem alle eine einschlägige Meinung hatten und den sie unterschätzten. Von jemandem, der lange Zeit unsicher gewesen war, sich wertlos gefühlt hatte, herabgewürdigt. Nun nicht mehr.

»Da nimmt niemand ab«, sagte Michelle und ließ das Telefon in ihrer Handtasche verschwinden. »Ich muss los, aber das Viech könnte krank sein, die Tollwut haben oder so was, also ruf bitte die Hundefänger an. Ja? Wenn, dann darfst du mich heute Abend auch schon früh ins Bettchen bringen …«

Ihr Kuss verweilte zart auf meiner Wange. Vielsagend. Erst vor Kurzem hatte meine Frau mich mit einem brandneuen Wagen beglückt und gemeint, einem geschenkten Gaul sollte ich nicht ins Maul schauen, deshalb, nein, ich habe die Hundefänger nicht angerufen, und, ja, ich habe sie angelogen.

Die Woche über sah ich den Hund nicht mehr, aber wenige Tage nach Michelles Verschwinden und meiner Rückkehr aus England tauchte Roger wieder auf. Es war verblüffend, fast so, als hätte er gewusst, dass sie weg und mit ihr die Gefahr einer tödlichen Spritze verschwunden war. Schlaues Kerlchen.

Er hatte sich in den vergangenen Wochen gut herausgemacht. Ein Besuch beim Hundefriseur, einer beim Tierarzt, ein paar Impfungen plus Entwurmung. Klare Rechnung in Sachen Gesundheit. Roger war eine bessere Gesellschaft als viele meiner Mitmenschen. Und auch loyaler. Jedes Mal, wenn ich einen Anflug von Schuld wegen meiner Tat verspürte oder wenn ich die Gesellschaft meiner Gattin in dem großen Haus vermisste, in dem ich meistens alleine herumhing, rief ich mir ins Gedächtnis, dass sie seinen Tod wollte.

»Wie wär’s mit einem Spaziergang?«, sagte ich zu Roger und freute mich, dass er alles gut überstanden hatte.

Bevor ich ihn fest an der Leine halten konnte, bellte er plötzlich laut, kurz nachdem wir aus der Tür getreten waren. Die Straße war leer, die meisten Nachbarn hatten sich für den Abend bereits in ihre Häuser zurückgezogen, die protzigen Limousinen standen in der Auffahrt. Offenkundig waren sie nicht so schrecklich misstrauisch wie meine Frau. Das Licht aus den Wohnzimmern ergoss sich mit goldenem, üppigem Glanz auf den perfekt getrimmten Rasen und die Ziersträucher.

In einiger Entfernung sah ich unsere Zeitungsbotin, einen Teenager namens Katie, die immer ein fluoreszierendes Käppi trug. Sie war ein paar Häuser vor uns und zog ihr voll beladenes rot-grünes Wägelchen hinter sich her, sodass ich meine Schritte verlangsamte und hinter ihr blieb, weil mir nicht nach einer Unterhaltung war.

Soweit ich wusste, war Katie zwölf und hatte uns seit zwei Jahren bei jedem Wetter die kostenlose, wöchentlich erscheinende Lokalzeitung und etliche Prospekte gebracht. Ihre Eltern hatten ihr Vermögen nicht ererbt, wie so viele andere bei uns in der Straße, sondern waren reich geworden, nachdem sie mal mit einer Saftbar angefangen hatten. Aus dem Konzept hatten sie dann ein Franchise-Unternehmen gemacht, das sie noch vor der Pandemie für etliche Millionen verkauft hatten.

Auf irgendeiner Gartenparty hatte ich mitbekommen, dass sie erzählten, sie seien ganz vom alten Schlag und hätten Katie deshalb gesagt, sie müsse fürs College schon mal sparen, damit sie nach dem Examen nicht bis über die Ohren verschuldet sei. Also habe das Kind beschlossen, gleich damit anzufangen. Michelle hielt das für drakonisch und scherzte, sie müsste eigentlich das Jugendamt verständigen, was ihr ähnlich gesehen hätte, aber mir leuchtete dieser Standpunkt ein. In Katies Alter hatte ich ebenfalls bereits Geld verdient, viel mehr sogar, so wie die Dinge lagen, hauptsächlich indem ich mich in die Computer meiner Lehrer hackte, die Klassenarbeiten herunterlud und sie für einen Fünfer pro Stück verkaufte. Ein solides Geschäftsmodell, das auch nie aufflog. Dafür war ich zu schlau, denn ich vertrieb die Dinger über eine anonyme Website, die ich in wenigen Stunden erstellt hatte, verkaufte sie also nicht persönlich. Das war mein erster kleiner Schritt in das Leben als Schwindler und notorischer Krimineller gewesen. Ich mag es ja vielleicht nicht auf die Uni geschafft haben, aber ich hatte immer Unternehmergeist, egal, wo ich ihn walten ließ.

Ich ging weiter die Straße hinunter und hielt ab und zu an, damit Roger schnüffeln und durch Pinkeln sein Revier markieren konnte, wenn ihm danach war. Um den Spannern unter den Nachbarn etwas zu bieten, setzte ich mich auf dem kleinen Spielplatz an der Ecke, dem mit der geschwungenen gelben Rutsche und einem Piratenschiff, auf eine Bank, ließ den Kopf hängen und schirmte die Augen mit den Händen ab. Jeder, der die Szene beobachtete, würde annehmen, dass ich weinte und versuchte, die Fassung wiederzugewinnen. Sollte die Polizei sie befragen, würden alle sicherlich bestätigen, dass ich mitgenommen wirkte, verhärmt und sorgenvoll – ganz so, wie ich eben war seit Michelles Verschwinden.

Zweifellos mein größter, wichtigster Auftritt seit Langem. In den Augen meiner Mitmenschen hatte ich mit der Schauspielerei aufgehört, als ich im Alter von zehn Jahren bei einem Krippenspiel in der Grundschule einen Esel darstellte und Stevie Pritchard von der Bühne schubste, nachdem der kleine Scheißer mir sein Plastikschwert fünfmal in den Rücken gestoßen hatte. Die Auseinandersetzung hatte mir eine weitere Suspendierung vom Unterricht eingebracht und war ein Wendepunkt gewesen. Niemand hatte bemerkt, was Stevie gemacht hatte, und während ich zweihundertfünfzig Mal »Schubsen gehört sich nicht« schrieb, eine Strafarbeit meines Vaters, war ich zu dem Schluss gekommen, dass ich raffiniertere und auch diskretere Methoden entwickeln musste, um in Zukunft mit Problemen zurechtzukommen.

Während ich also da auf dem Spielplatz saß, war mir klar, dass meine Rolle diesmal komplizierter war, als einfach nur zu nicken, iah zu rufen und Stevie hinunter in die Menge zu befördern. Meine Verkörperung eines Mannes, dessen Ehepartnerin entführt worden war und der sich Vorwürfe machte, weil er nicht in der Lage gewesen war, sie zu beschützen, musste stimmig bleiben. Wenn die Frau verschwand, richtete sich der Verdacht anfänglich, und statistisch gesehen auch aus guten Gründen, stets gegen den Ehemann. Auch in diesem Fall hatte die Statistik recht, nur kannte eben niemand außer mir die ganze Geschichte rund um Michelles Verschwinden, und wenn es nach mir ging, sollte das auch so bleiben.

Kapitel 5

Ich bin ja kein Trottel. Natürlich war mir klar, dass Detective Anjali Dubal und ihre Kollegen mich durchleuchtet hatten, wahrscheinlich immer noch dabei waren. Zwar gaben sie vor, auf meiner Seite zu stehen, doch dessen ungeachtet hatten sie meinen gesamten Hintergrund und meine finanzielle Vergangenheit abgecheckt. Viel Vergnügen dabei, denn ich wusste schließlich, wie der Hase lief. Die letzten zehn Jahre hatte ich darauf verwendet, mich neu zu erfinden und Spuren zu verwischen, was hieß, dass sie nur das zu sehen bekamen, was ich für sie übrig gelassen hatte. War zwar noch nicht so lange her, dass ich auf meinem Geburtstagskuchen zweiunddreißig Kerzen ausgepustet hatte, aber ich war ihnen weit voraus und Lichtjahre davon entfernt, naiv zu sein.

Hatte ich in ihren Augen ein Motiv, Michelle umzubringen? Alle sagten, was für ein tolles Paar wir doch waren. Niemals Streit, kaum mal eine Meinungsverschiedenheit, und betrogen hatte ich sie auch nie. Oberflächlich betrachtet schien also alles gut zu sein mit uns – doch wie sah es beim Thema Geld aus? Michelle besaß viel mehr als ich, was natürlich ein Motiv ergab, sogar eines der stärksten. War also möglich. Aber gab es auch Gelegenheit dazu?