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Agatha und Tedros stecken mitten in den Hochzeitsvorbereitungen, Sophie geht in ihrer neuen Rolle als Dean of Evil auf und ihre Freunde aus der Schule der Guten und der Bösen suchen in den Wäldern nach ihrem eigenen Happy End. Ende gut, alles gut? Nein, denn eine unbekannte Macht schreibt erbittert an einem anderen, düsteren Ende der Geschichte ... In einem tiefen, dunklen Tann liegt eine Schule wundersam: Die Schule für Gut und Böse. Zwei Türme wie Zwillingsköpfe, einer für die Reinen, einer für die Gemeinen. Es gibt kein Entrinnen, der Wald ist ein Graus. Nur durch ein Märchen find'st du hinaus. Weitere Titel der Reihe "The School for Good and Evil": Band 1: Es kann nur eine geben Band 2: Eine Welt ohne Prinzen Band 3: Und wenn sie nicht gestorben sind Band 4: Ein Königreich auf einen Streich Der Schulmeister ist besiegt! Endlich können Agatha, Sophie und ihre Freunde an der "School for Good and Evil" aufatmen. Sophie setzt als Schulleiterin des Bösen nun alles daran, dem Märcheninternat zu neuem Glanz zu verhelfen. Währenddessen stecken Agatha und Tedros in Camelot mitten in den Hochzeitsvorbereitungen und auch ihre Freunde suchen im Endloswald nach ihrem wohlverdienten Happy End. Doch der trügerische Frieden hält nicht lange an. Eine neue Form des Bösen erhebt sich, die nur ein Ziel verfolgt: Sie will das Königreich an sich reißen und Tedros, König von Camelot, und das System von Gut und Böse vernichten. Sind die Freunde auch diesmal stark genug, der Gefahr die Stirn zu bieten und die Märchenwelt vor dem Untergang zu bewahren?
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Seitenzahl: 642
Veröffentlichungsjahr: 2018
Als Ravensburger E-Book erschienen 2018Die Print-Ausgabe erscheint in der Ravensburger Verlag GmbH© 2018 Ravensburger Verlag GmbHTitel der Originalausgabe »The School for Good and Evil #4: Quests for Glory«Text Copyright © 2017 by Soman ChainaniCover and map illustration copyright © 2017 by lacopo BrunoDieses Werk wurde vermittelt durch die Literarische Agentur Thomas Schlück GmbH, Garbsen.Übersetzung: Ilse RothfussLektorat: Tamara ReisingerUmschlag: Iacopo BrunoAlle Rechte dieses E-Books vorbehalten durch Ravensburger Verlag GmbH, Postfach 2460, D-88194 Ravensburg.ISBN978-3-473-47895-8www.ravensburger.de
Für Ally und Brendan
In einem tiefen, dunklen TannLiegt eine Schule wundersam.Die Schule für Gut und Böse.Zwei Türme wie Zwillingsköpfe,Einer für die Reinen,Einer für die Gemeinen.Es gibt kein Entrinnen,Der Wald ist ein Graus,Nur durch ein MärchenFind’st du hinaus.
Teil 1
1. Die Beinahe-Königin
2. Wie man eine Krönung NICHT in den Sand setzt
3. Flah-sé-dah
4. Kursänderung
5. Einmischung von oben
6. Zwei Theorien
7. Der Vasall und die Herrin vom See
8. Eine Heldenreise für alle
9. Wer will schon einen Hort?
10. Von den Vorteilen, ein Leser zu sein
11. Bleib bei der Gruppe
12. Bedingungslose Treue
13. Wie der Vater, so der Sohn
14. König oder nicht?
15. Piratenpavillon
16. Noch mehr Rätsel
17. Der Kartenraum
18. Die Feder, die die Wahrheit schreibt
19. Viereck
20. Der Löwe und die Schlange
Teil 2
21. Verbündete und Feinde
22. Das Geheimnis eines Namens
23. Die Tochter des Sheriffs
24. Die zwei Seiten der Wahrheit
25. Romantische Nacht im Sherwood Forest
26. Fragen eines Königs
27. Die Rede des Königs
28. Die Prinzessin und die Königin
Karte
Agatha hatte sich jahrelang nach einem Happy End mit einem Mädchen gesehnt, aber dann war alles anders gekommen – und nun plante sie die Hochzeit mit einem Jungen, was sich manchmal geradezu unwirklich anfühlte.
Besonders, weil dieser Junge ihr seit Monaten aus dem Weg ging. Sie konnte kaum noch schlafen vor Angst und Kummer und weil ihr der Kopf schwirrte von all den Dingen, die sie für den großen Tag noch zu erledigen hatte. Aber das war nicht der wahre Grund, warum sie jetzt wach lag. Nein, es war etwas anderes: eine Erinnerung, die sie am liebsten für immer in ihrem tiefsten Inneren vergraben hätte …
Tedros, der tränenüberströmt von der Bühne gezerrt wurde. Tedros, dessen Schreie so verzweifelt und herzzerreißend waren, dass sie ihr noch immer in den Ohren gellten …
Sie wälzte sich herum und vergrub ihren Kopf unter dem Kissen.
Sechs Monate waren seit damals vergangen: dem Tag von Tedros’ missglückter Krönungszeremonie. Und seither schlief sie nicht mehr gut.
Agatha spürte, wie Schlitzer sich gereizt am Fußende des Bettes herumwarf, weil ihre Ruhelosigkeit ihn wach hielt. Sie seufzte und konzentrierte sich auf ihren Atem. Nach und nach wurde sie ruhiger. Wie immer fiel es ihr leichter, sich für andere zusammenzureißen, selbst wenn es nur darum ging, schneller einzuschlafen, um ihren kahlen, verwahrlosten alten Kater zu schonen. Wenn sie doch nur ihrem Prinzen auch so einfach helfen könnte! Gemeinsam schafften sie es sonst immer, eine Lösung zu finden …
Klick. Ihr Herz setzte einen Schlag lang aus.
Die Tür.
Sie lauschte angestrengt, hörte Schlitzers leises Schnarchen und das Geräusch des Türriegels, der knarzend aufging.
Agatha stellte sich schlafend, während ihre Hand vorsichtig zu ihrem Nachttisch glitt und nach dem Messer tastete. Dort lag es griffbereit, seit sie in Camelot war. Und das mit gutem Grund, denn Tedros hatte sich hier Feinde gemacht, lange bevor er als König zurückgekommen war. Diese Feinde saßen zwar jetzt im Gefängnis, hatten aber überall ihre Spione, die nur darauf lauerten, Tedros und seine künftige Königin zu töten.
Ihre Zimmertür ging langsam auf.
Niemand durfte sich um diese Zeit in ihrem Flur aufhalten, ja nicht einmal in ihrem Flügel.
Sanftes Mondlicht fiel durch den offenen Türspalt herein und beschien ihren Rücken. Agatha hielt den Atem an und lauschte auf die gedämpften Schritte, die über den Marmorboden tappten. Ein Schatten kroch an ihrem Hals hinauf, streckte sich auf ihrer Bettdecke.
Agatha umklammerte das Messer noch fester.
Langsam senkte sich ein Gewicht hinter ihrem Rücken auf die Matratze.
Ruhig, ermahnte sie sich. Das Gewicht wurde schwerer. Rückte näher.
Ruhig. Sie konnte den Atem des Eindringlings spüren.
Ruhig. Der Schatten griff nach ihr. Jetzt!
Keuchend warf sich Agatha herum und schwang ihr Messer nach dem Eindringling, der blitzschnell ihr Handgelenk packte und sie aufs Bett drückte, sodass das Messer nur zentimeterweit von seiner Kehle entfernt war.
Agatha keuchte vor Entsetzen, während sie in das Weiß seiner Augen starrte.
Mehr konnte sie im Dunkeln nicht erkennen, aber jetzt spürte sie die Hitze, die seine Haut abstrahlte, fing den frischen, vertrauten Minzgeruch auf und alle Angst wich aus ihrem Körper. Tedros. Millimeter für Millimeter ließ sie sich von ihm das Messer aus der Faust zwängen, bis er mit einem Seufzer neben ihr ins Kissen fiel. Alles lief so schnell und lautlos ab, dass Schlitzer keinen Mucks machte.
Agatha wartete darauf, dass Tedros etwas sagte, dass er sie an sich zog und ihr erklärte, warum er sie die ganze Zeit gemieden hatte. Stattdessen rollte er sich neben ihr zu einer Kugel zusammen und winselte wie ein erschöpfter Hund.
Agatha strich ihm über sein seidiges Haar und ließ ihn in ihr Nachthemd schniefen.
Sie hatte ihn noch nie weinen sehen. Nicht so wie jetzt, so voller Angst, so hoffnungslos. Aber nach und nach beruhigte er sich in ihren Armen, sein Atem wurde regelmäßiger, sein Körper überließ sich ihrer Berührung und er blickte mit einem schiefen Lächeln zu ihr auf.
Doch dann erlosch sein Lächeln.
Sie waren nicht allein. Eine hochgewachsene Frau im Turban stand in der Tür und starrte sie an, die Lippen missbilligend zusammengepresst.
Wie der Blitz war Tedros verschwunden, genauso unerwartet, wie er gekommen war.
Die Augustsonne flutete zum Fenster herein, sodass der Kronleuchter an der Decke Funken sprühte und Agathas Augen mit seinem Feuerwerk blendete.
Sie blinzelte schläfrig und studierte den Kronleuchter, an dem mehrere Kristalle fehlten und der mit Spinnweben behangen war wie ein alter Grabstein.
Seufzend umarmte sie ihr Kissen. Es roch immer noch nach ihm. Schlitzer schlich vom Fußende des Bettes zu ihr herauf, schnupperte am Kissen und hob die Pfote, um es zu zerfetzen, aber Agatha bremste ihn mit einem strengen Blick. Mürrisch kroch der Kater ans Fußende zurück. Es wurde allmählich besser mit ihm. In der ersten Nacht hatte er ungeniert in Tedros’ Schuh gepinkelt.
Aus dem Flur drang Stimmengemurmel herein, das rasch näher kam. Bald schon war es vorbei mit der schönen Morgeneinsamkeit. Agatha setzte sich in ihrem unförmigen schwarzen Nachthemd auf und blickte sich im Zimmer um. Es war dreimal so groß wie ihr altes Zuhause auf dem Grabhügel, aber kaum weniger verwahrlost. Die juwelenbesetzten Spiegel waren staubig und blind, das Sofa abgewetzt und durchgesessen, und der zweihundert Jahre alte Schreibtisch aus Elfenbein war völlig zerkratzt. Agatha umklammerte ihr Kissen wie einen Rettungsring und genoss die Stille, die von den rissigen taubenblauen Marmorfliesen und den gleichfarbigen Wänden mit ihrem gold gesprenkelten Blütenmuster ausging. Die Gemächer der Königin waren wie alles hier in Camelot: auf den ersten Blick prunkvoll und königlich, aber alt, verstaubt und verblichen, wenn man genauer hinsah. In gewisser Weise passte das ja zu ihr – sie lebte in den Gemächern der Königin, war aber in Wahrheit noch nicht einmal gekrönt.
Noch zwei Monate bis zur Hochzeit.
Eine Hochzeit, die ihr von Tag zu Tag unheimlicher wurde.
Früher hatte Agatha davon geträumt, mit ihrer besten Freundin Sophie in Gavaldon in einem Haus am Dorfplatz zu leben, wo sie jeden Morgen Tee und Toast frühstücken und dann gemeinsam in ihre neu eröffnete Buchhandlung A&S Bookshop gehen würden. Der Laden hatte einst Mr Deauville gehört, aber Agatha und Sophie hatten ihn nach dem Tod des alten Buchhändlers übernommen. Abends würden sie Kräuter und Blumen für Sophies Schönheitscremes pflücken, und dann würden sie Agathas Mutter auf dem Grabhügel Nummer 1 besuchen, um mit ihr zu Abend zu essen – würziges Lammhirngulasch oder Eidechsen-Quiche. (Für Sophie würde es natürlich gedünstete Pflaumen und geraspelte Gurken geben.) Ein ganz normales, unspektakuläres Leben. Ein glückliches Leben. Ihre Freundschaft mit Sophie war alles, was Agatha dazu gebraucht hätte.
Sie drückte das Kissen noch fester an sich. Wie schnell sich doch alles ändern konnte …
Jetzt war ihre Mutter tot, Sophie war die Schulleiterin des Bösen an ihrer alten Schule und Agatha würde in zwei Monaten König Artus’ Sohn heiraten.
Im Gegensatz zu Agatha war Sophie schon ganz im Hochzeitsfieber. Sie schickte ihr Briefe über Briefe mit Tortenrezepten und Entwürfen für Kleider oder prunkvolles Hochzeitsgeschirr, das Agatha ihrer Meinung nach für diesen Tag anfertigen lassen musste.
Agatha warf einen Blick auf die Briefe, die sich auf ihrem Schreibtisch stapelten und bereits mit Spinnweben überzogen waren. Jeden Tag nahm sie sich vor, ihrer Freundin endlich zu antworten, konnte sich aber nie dazu aufraffen. Und das Schlimmste war, dass sie nicht einmal wusste, warum.
Die Schritte im Flur kamen immer näher.
Agathas Magen fing an zu flattern.
So ging das jetzt seit sechs Monaten. Sie wurde immer unglücklicher und Tedros zog sich immer mehr zurück. Gestern Nacht hätten sie endlich die Chance gehabt, miteinander über den Krönungstag zu reden, und trotzdem hatte keiner von ihnen den Mut dazu aufgebracht. Agatha wusste, dass Tedros sich schämte … dass er zerknirscht und hilflos war … Aber wie sollte sie ihm helfen, wenn er nicht mit ihr redete? Und wie sollte er auch mit ihr reden, wenn er nie mit ihr zusammen war?
Noch mehr Stimmen. Und Schritte. Jetzt schon ganz nahe.
Agathas Mund wurde trocken vor Angst und sie griff nach dem Wasserglas auf ihrem Nachttisch. Leer. Der Krug ebenso.
Schlitzer huschte vom Bett hinunter und lief zu der zweiflügeligen Tür.
Agatha brauchte mehr Zeit mit Tedros. Sie sehnte sich danach, wieder offen und ehrlich mit ihm sprechen zu können, so wie früher. Einfach mit ihm zusammen zu sein, unbefangen und unter vier Augen, ohne seinen ganzen Hofstaat um ihn herum.
Die Tür krachte auf und vier Kammerfrauen trippelten herein, alle in den gleichen fließenden Gewändern, nur in einem jeweils anderen Pastellton – pfirsichfarben, pistaziengrün, pampelmusengelb, marzipanrosa –, wie eine Auswahl von Macaron-Plätzchen. Eine hochgewachsene Frau mit dunklem Teint folgte ihnen. Sie war ganz in Lavendelblau, hatte dunkle, rauchige Augen, blutrot geschminkte Lippen und eine wilde schwarze Haarmähne, die kaum unter ihren Turban passte. In der einen Hand hielt sie ein ledergebundenes Notizbuch, in der anderen eine Schreibfeder, so lang und spitz, dass sie eher einer Peitsche glich.
»Um sieben Uhr Frühstück mit der Hoffloristin im Speisesaal des Blauen Turms; danach wirst du im Zwanzigminutentakt die Näherinnen empfangen, die sich für die Anfertigung der königlichen Hochzeitswäsche beworben haben; dann ein Interview mit dem Camelot Courier für die Vorhochzeitsausgabe. Um neun wirst du den Zoo von Camelot besuchen, um die offiziellen Hochzeitstauben auszuwählen; es gibt verschiedene Arten in allen erdenklichen Weißschattierungen …«
Agatha konnte sich kaum konzentrieren, weil Pfirsich und Pistazie sie aus dem Bett gehoben hatten und abwechselnd mit kochend heißen Handtüchern abrubbelten, während Pampelmuse ihr eine Zahnbürste in den Mund steckte und Marzipan ihr Gesicht mit diversen Cremes behandelte, so wie Sophie es früher gemacht hatte – nur leider komplett ohne Sophies Charme und Witz.
»Danach eine Signierstunde für Die Geschichte von Sophie und Agatha im Büchereck, um Spenden für die Reparatur der Rohrleitungen im Schloss aufzutreiben«, fuhr Lavendelblau fort, »gefolgt von einem Charity-Lunch, bei dem du den Kindern reicher Mäzene eine Geschichte vorlesen wirst. Das Geld, das wir dabei einnehmen, fließt in die Instandsetzung der Zugbrücke …«
»Ähm, Lady Gremlaine? Bleibt da noch Zeit, dass ich Tedros mal sehen kann?«, murmelte Agatha unter dem blauen Gewand hervor, das die Kammerfrauen ihr über den Kopf zerrten. »Wir haben seit einer Ewigkeit nicht mehr zusammen gegessen …«
»Nach dem Lunch wirst du mit deinen Tanzstunden beginnen, als Vorbereitung auf den Hochzeitsball, danach folgt eine Unterweisung in Tischmanieren und höfischem Protokoll, damit du dich beim Festessen nicht blamierst, und schließlich hast du noch eine Geschichtsstunde über die Triumphe und Desaster vergangener Königshochzeiten, in der Hoffnung, dass deine nicht zu letzteren gehören wird«, beendete Lady Gremlaine ihren Vortrag.
Agatha knirschte mit den Zähnen. »Tanzen, Etikette, Geschichte … das ist ja wie in der Schule für Gute. Nur mit dem Unterschied, dass ich dort genug Zeit hatte, um mit meinem Prinzen zusammen zu sein.«
Lady Gremlaine hob den Kopf und klappte ihr Notizbuch zu, so abrupt, dass dabei einer der Edelsteine aus dem brüchigen Spiegel fiel. »Nun, wenn du keine weiteren Fragen hast, werden deine Kammerfrauen dafür sorgen, dass du rechtzeitig zum Frühstück erscheinst«, sagte sie und drehte sich zur Tür um. »Der König braucht mich dringend an seiner Seite, und zwar in jeder einzelnen Sekunde.«
»Ich will Tedros heute sehen«, beharrte Agatha. »Bitte bringen Sie das in meinem Terminplan unter.«
Lady Gremlaine erstarrte, wandte sich wieder Agatha zu und kniff ihre Lippen zu einem dünnen roten Strich zusammen. Die Kammerfrauen wichen ängstlich zurück.
»Soviel ich weiß, hast du ihn gestern Nacht lange genug gesehen. Und zwar gegen die Regeln!«, zischte Lady Gremlaine. »Der König darf vor eurer Hochzeit nicht mit dir allein im Zimmer sein.«
»Tedros wird mich ja wohl sehen dürfen, wann immer er will«, schoss Agatha zurück. »Ich bin schließlich seine Königin.«
»Noch nicht, Prinzessin«, erwiderte Lady Gremlaine kühl.
»Ja, aber in zwei Monaten bin ich es«, sagte Agatha herausfordernd. »Und es macht mich verrückt, dass ich meine Zeit für die Hochzeitsplanung vergeude und herumrenne wie ein kopfloses Huhn, obwohl ich viel lieber mit Tedros zusammen wäre. Aber da Sie ja nicht nur die Oberhofmeisterin des Königs, sondern auch die seiner künftigen Königin sind, werden Sie dieses Treffen mit Tedros sicherlich für mich arrangieren können.«
»Ah, ich verstehe.« Lady Gremlaine kam drohend auf Agatha zu. »Das Schloss verfällt, dein König trägt eine Krone, die noch immer umstritten ist, überall lauern Spione, die dich töten wollen, die einstige Königin und ihr ehebrecherischer Ritter sind seit der Krönung untergetaucht, und der Royal Schrott, dieses Hetzblatt, das auf den Sturz der Monarchie hinarbeitet, nennt dich eine ›verwöhnte Diva aus einem volksverdummenden Märchen, die Tedros noch mehr Schande machen wird als seine eigene Mutter‹. Und du hast nichts Besseres zu tun, als von deiner Schulzeit und ein paar heimlichen Küssen im dunklen Flur zu träumen?«
»Aber darum geht es doch gar nicht!«, protestierte Agatha, der von dem schweren Parfüm der Oberhofmeisterin fast schlecht wurde. »Ich weiß ganz genau, welche Probleme auf uns zukommen, aber Tedros und ich müssen doch zusammenarbeiten …«
»Ach ja? Und warum fragt er dann nie, ob er dich sehen kann?«, fauchte Lady Gremlaine. »Um die Wahrheit zu sagen, der König hat kein einziges Mal deinen Namen erwähnt, außer wegen des Zwischenfalls gestern Nacht, der sich, wie er mir versprochen hat, nicht wiederholen wird.«
Agatha sagte nichts darauf.
»Nun, siehst du – ich fürchte, König Tedros hat Wichtigeres zu tun, wenn er die Schande dieses Krönungstags rechtzeitig zur Hochzeit wieder wettmachen will«, fuhr Lady Gremlaine fort. »Eine Hochzeit, die so prunkvoll, so einzigartig und atemberaubend sein muss, dass alle Zweifel weggefegt werden, die seine würdelose Krönungszeremonie hinterlassen hat. Und die Hochzeit wird nun mal nach alter Tradition von der künftigen Königin ausgerichtet. Damit kannst du dem König helfen.« Sie beugte sich so weit vor, dass sich ihre Nasenspitzen fast berührten. »Aber wenn du wünschst, dass ich König Tedros wissen lasse, deine Pflichten als künftige Königin seien unter deiner Würde, und dass du dich gegen alles sträubst, was man dir sagt, bis hin zur Farbe deiner Garderobe, der Wichtigkeit regelmäßiger Wannenbäder und der Auswahl deines Schuhwerks, und dass du überdies seine dringend erforderlichen Bemühungen, sich als König zu zeigen, untergräbst, nur um das Gefühl zu haben, dass du mit ihm zusammenarbeitest … nun, dann werde ich dir selbstverständlich zu Diensten sein, Prinzessin. Wir werden ja sehen, was er dazu sagt.«
Agatha schluckte und ihr Hals wurde feuerrot. »Nein, nein … schon okay. Ich werde ihn sicher morgen sehen können«, sagte sie leise und hob den Kopf.
Aber Lady Gremlaine war bereits fort. Zurück blieben ihre pastellfarbenen Handlangerinnen, die nur darauf warteten, Agatha zum Frühstück zu scheuchen, obwohl man ihr gar keine Zeit zum Essen lassen würde.
Nach der Hälfte des Programms wäre Agatha am liebsten davongelaufen. Seit Wochen ließ sie das nun alles mit einem gequälten Lächeln über sich ergehen. Es war immer der gleiche Trott: Aufstehen, Anziehen, Termine durchsprechen und dann Platzkarten, Torten, Kerzen oder Tafelaufsätze in allen Varianten inspizieren, obwohl Agatha keinerlei Unterschiede erkennen konnte. (Wenn es nach ihr gegangen wäre, hätten sie auch in einer Fledermaushöhle heiraten können – dort war zumindest kein Platz für Gäste.) Zwischendurch musste sie noch ihre Auftritte für die Aktion »Schönes Camelot« absolvieren, die von ihr als künftiger Königin angeführt wurde, um Spenden für das zerbröckelnde Schloss aufzutreiben, das nach König Artus’ Tod dem Verfall preisgegeben war. Agatha stand zwar voll hinter dieser guten Sache und nahm im Prinzip jeden Blödsinn dafür in Kauf (als Sophies beste Freundin war sie ja einiges gewöhnt), aber Lady Gremlaines Programm überstieg einfach ihre Kräfte. Die Hofmeisterin ließ auch keine Gelegenheit aus, Agatha bloßzustellen und zu demütigen – so musste sie zum Beispiel die Hymne beim Wald-Rugby-Cup singen (selbst die Mannschaft von Camelot hielt sich dabei die Ohren zu) oder beim Frühlingsfest auf einem Bullen reiten (der so lange bockte, bis Agatha kopfüber in einem Misthaufen landete).
Guinevere hatte Agatha vor ihrer neuen Zuchtmeisterin gewarnt. Lady Gremlaine hatte bereits im Schloss regiert, als Guinevere König Artus geheiratet hatte, aber Guinevere entließ sie kurz nach Tedros’ Geburt. Nach Guineveres Flucht und Artus’ Tod übernahm der Kronrat die Herrschaft von Camelot, weil Tedros noch nicht sechzehn war, und diese sogenannten Ratgeber holten Lady Gremlaine zurück. Da nun aber auch Guinevere ins Schloss zurückgekehrt war, hatte Lady Gremlaine es natürlich eilig, Tedros und seine neue Königin unter ihre Fuchtel zu bringen. Agatha hätte die alte Wichtigtuerin am liebsten gefeuert, aber das konnte sie erst, wenn Tedros’ Krönung besiegelt war.
Ihr blieb also nichts anderes übrig, als sich mit Lady Gremlaine gutzustellen, obwohl diese von Anfang an kein gutes Haar an ihr gelassen hatte. Agatha hatte keine Ahnung, warum, aber Lady Gremlaine wollte sie definitiv nicht als Königin von Camelot sehen. Und sie schien zu glauben, dass Agatha freiwillig auf ihren Prinzen verzichten würde, wenn sie ihr nur lange genug das Leben schwer machte.
Aber da konnte sie lange warten. Lieber sterbe ich, schwor sich Agatha. Und so war sie im letzten halben Jahr jeden Morgen mit dem festen Entschluss aufgestanden, sich nicht von dieser Frau unterkriegen zu lassen.
Aber der Tag heute brachte das Fass zum Überlaufen.
Zuerst die Floristin, die Agatha dreißig Minuten lang so viele duftende Blumenbouquets unter die Nase hielt, dass ihr die Augen tränten und sie ständig niesen musste. Als Nächstes erschienen die sechs Näherinnen und präsentierten ihr jede Menge Leinenstoffe, die alle gleich aussahen. Dann war die Reporterin vom Camelot Courier an der Reihe, eine grässliche Quasselstrippe namens Bettina, die mit einem roten Lolli im Mund erschien.
»Lady Gremlaine hat alle deine Antworten bereits vorgegeben. Wir können also das Protokoll vergessen und einfach ein bisschen plaudern, nur so zum Spaß«, schwindelte die Reporterin, um dann eine Reihe unverschämt vertraulicher Fragen über Agathas Beziehung zu Tedros auf sie abzufeuern: »Was hat er im Bett an?«; »Hat er einen Kosenamen für dich?«; »Hast du ihn schon mal dabei ertappt, dass er anderen Mädchen nachschaut?«
»Nein«, sagte Agatha auf die letzte Frage und hätte am liebsten hinzugefügt: »Und schon gar nicht so einem mickrigen Furz wie dir.« Aber sie hielt eine ganze Stunde lang den Mund, bis es ihr endgültig reichte.
»Möchtet ihr denn bald Kinder haben?«, säuselte Bettina mit einem kitschigen Lächeln.
Worauf Agatha sagte: »Wieso? Brauchst du neue Eltern?«
Damit war das Interview beendet.
Aber der Charity-Lunch war kein bisschen besser. Agatha musste einer Schar verzogener Bälger »Der Löwe und die Schlange« vorlesen, das berühmteste Märchen von Camelot. Und die Kinder, die die Geschichte natürlich schon kannten, hatten sie ständig unterbrochen, bis ihr erneut der Geduldsfaden gerissen war.
Jetzt klebte sie wie ein nasser Sack in ihrem verschwitzten Kleid in der königlichen Kutsche (zwischendurch hatte sie noch die Hochzeitstauben im Zoo ausgesucht), und als sie an die Tanz- und Benimmstunden dachte, die noch vor ihr lagen, brach sie in Tränen aus.
Um die Wahrheit zu sagen, der König hat kein einziges Mal deinen Namen erwähnt. Lady Gremlaines boshafte Bemerkung ging ihr nicht mehr aus dem Kopf.
Agatha hatte sich damit zu trösten versucht, dass die alte Intrigantin gelogen hatte, aber sie wusste, dass das nicht stimmte. Tedros ging ihr aus dem Weg, so viel stand fest, und wenn er ihr zufällig mal irgendwo begegnete, machte er ihr schnell ein nichtssagendes Kompliment oder redete über das Wetter, um dann hastig davonzuhuschen wie ein verschrecktes Eichhörnchen. Gestern Nacht hatte sie ihn zum ersten Mal ohne sein gehetztes Plastiklächeln gesehen, das er immer aufsetzte, um sie abzuwimmeln. Ein Lächeln, das ihr signalisierte: Frag mich ja nichts. Mir geht’s blendend, okay?
Was natürlich nicht stimmte. Und Agatha hatte keine Ahnung, wie sie ihm helfen sollte.
Mit einem Seufzer wischte sie sich die Tränen ab. Wegen Tedros war sie doch nach Camelot gekommen. Um seine Königin zu werden. Um ihm zur Seite zu stehen, in guten wie in schlechten Tagen. Und jetzt waren sie beide allein, jeder kämpfte für sich auf verlorenem Posten. Dabei wusste Agatha, dass Tedros sie brauchte. Deshalb war er gestern Nacht auch zu ihr ins Bett gekrochen. Aber warum konnte er das nicht einfach zugeben? Tief in ihrem Herzen wusste Agatha, dass es nichts mit ihr zu tun hatte. Und trotzdem fühlte sie sich zurückgewiesen und gekränkt.
Schlitzer rollte sich auf ihrem Schoß zusammen, um ihr zu zeigen, dass er auch noch da war.
Wehmütig kraulte sie seinen kahlen Kopf. »Ach, könnten wir doch auf unseren guten alten Grabhügel zurück – in die Zeit, als von Jungs noch keine Rede war …«
Schlitzer fauchte zustimmend.
Agatha schaute aus dem Fenster ihrer blau-goldenen Kutsche, die durch die Altstadt zum Marktplatz von Camelot rollte. Normalerweise mied der Kutscher die Abkürzung durch diesen Teil von Camelot, weil der Zustand der Straßen hier so schlecht war, und nahm stattdessen die längere Route zum Schloss zurück. Aber sie waren schon ziemlich spät dran für die Tanzstunde und Agatha wollte nicht gleich beim ersten Mal einen schlechten Eindruck auf ihren Lehrer machen. Schlamm und Erde spritzten von den ungepflasterten Gassen um die Kutsche herum auf und der dichte Regen trübte die Sicht auf die bunten Zelte, die alle mit dem Wappen von Camelot beflaggt waren: Excalibur, von zwei Adlern flankiert, auf blauem Grund.
Trotz des Regens, der die Scheiben beschlagen ließ, bemerkte Agatha sofort den krassen Unterschied zwischen den reich gekleideten Bürgern und den vielen zerlumpten, ausgemergelten Tagelöhnern, die in ihren baufälligen Hütten in den Gassen um den Markt herum hausten. Königliche Wachen patrouillierten auf dem Platz und hielten das Lumpenvolk mit roher Gewalt von den reichen Bürgern fern, die in den Zelten ein und aus gingen. Agatha schob ihr Fenster hinunter, um besser hinaussehen zu können, aber der Kutscher klopfte sofort mit seiner Reitgerte gegen die Scheibe.
»Nicht rauslehnen, Mylady«, warnte er.
Agatha stieß das Fenster wieder hoch. Als sie vor einem halben Jahr in ihr neues Königreich eingeritten war, hatte sie dieselben Elendsquartiere mitten in der Altstadt gesehen. Laut Tedros hatte Camelot unter seinem Vater ein goldenes Zeitalter erlebt, in dem jeder seinen Besitz vermehren konnte. Aber nach Artus’ Tod hatten seine Ratgeber sich mit den Reichen verbündet und halsabschneiderische Gesetze erlassen, um das Vermögen und den Landbesitz der Mittelschicht an sich zu bringen, die daraufhin völlig verarmte. Tedros hatte angekündigt, dass er diese Gesetze rückgängig machen und den vielen Obdachlosen wieder ein Dach über dem Kopf verschaffen würde. Aber die Schere zwischen Arm und Reich war in den letzten Monaten nur noch weiter aufgeklafft. Warum hatte er keinen Erfolg mit seinen Maßnahmen? Sah er denn nicht, dass das Königreich zu zerfallen drohte? Wie konnte er zulassen, dass sein Volk in Armut und Elend verkam? Wenn ich der König wäre, dachte Agatha …
Aber sie war ja noch nicht mal Königin. Und so wie er gestern Nacht geweint hatte, war Tedros offenbar genauso frustriert und ratlos wie sie selbst. Er regierte Camelot ganz allein, niemand war an seiner Seite, um ihn zu unterstützen, weder seine Mutter noch Lanzelot, ja nicht einmal Merlin, der mit den anderen beiden vor sechs Monaten spurlos verschwunden war.
PLATSCH! Ein schwarzer Klumpen aus zermatschtem Essen knallte gegen die Scheibe. Agatha drehte sich um und sah einen schmutzigen Tagelöhner, der hinter der Kutsche herbrüllte: »DIESERSOGENANNTEKÖNIGUNDSEINEBEINAHE-KÖNIGIN!«
Jetzt wurden auch andere auf die Kutsche aufmerksam. »DIESERSOGENANNTEKÖNIGUNDSEINEBEINAHE-KÖNIGIN!«, johlten sie hasserfüllt und bewarfen den Wagen mit Essen, alten Schuhen und Erdklumpen. Der Kutscher peitschte wild auf die Pferde ein, um sie aus dem Marktviertel hinauszutreiben.
Heiße Wut stieg in Agatha auf, und am liebsten wäre sie aus dem Wagen gesprungen, um diesen Dummköpfen klarzumachen, dass weder Tedros noch sie für die Zustände hier verantwortlich waren – die Elendsviertel, die missglückte Krönungszeremonie, die Tatsache, dass das einst blühende Camelot so heruntergekommen war …
Aber es half ja nichts. Wenn ich auf der Straße leben müsste und nichts zu essen hätte, würde ich vermutlich auch dem König die Schuld daran geben, dachte Agatha.
Schließlich regierten sie jetzt das Land, auch wenn sie für den Niedergang von Camelot nichts konnten. Aber dem notleidenden Volk war die Vergangenheit egal, es wollte Fortschritte sehen. Und Camelot war nicht die Schule, wo jeder Sieg und jede gute Tat auf einer Tafel vermerkt wurden, damit alle es sehen konnten. Das hier war das wirkliche Leben. Und zugegeben, sie hatten bisher nicht viel bewirkt, aber sie gaben ihr Bestes, um das Land wiederaufzubauen, obwohl sie beide noch so jung und unerfahren waren.
Oder jedenfalls Tedros gab sein Bestes. Während Agatha, seine Königin, auf dem Weg in ihre Tanzstunde war!
Missmutig saß Agatha in ihrer Ecke, als die Kutsche den Hang hinaufratterte, zu den elfenbeinfarbenen Toren von Camelot, die bei ihrer Ankunft von der königlichen Leibwache geöffnet wurden. Die Mauern mochten voller Rostflecke sein und die Türme oben verwittert und rußgeschwärzt, aber Artus’ Schloss war trotzdem ein imposanter Anblick – eine Festung, die auf zerklüfteten grauen Felsklippen hoch über dem Wilden Meer thronte. Die weißen Türme mit ihren blauen Kuppeln, die in die tief hängenden Wolken aufragten, schimmerten sanft im trüben Nachmittagslicht.
Vor einem Felsspalt, der zum Eingang des Schlosses führte, hielt die Kutsche an.
»Die Zugbrücke ist nach der Krönung immer noch nicht passierbar«, seufzte der Kutscher und lenkte die Pferde in eine Remise am Rand der Felswand. »Wir werden die Seilbrücke nehmen müssen.«
Agatha stürzte aus der Kutsche, ehe der Mann ihr den Wagenschlag öffnen konnte. Genug gejammert, dachte sie, während sie über die wacklige Seilbrücke balancierte, die auch hohe Ehrengäste benutzen mussten, bis die Zugbrücke repariert war. Tedros jammert auch nicht, weil wir keine Zeit füreinander haben. Er beharrt nicht darauf, dass wir doch ein Team seien und zusammenarbeiten müssten. Nein, Tedros reißt sich zusammen und schuftet für sein Volk.
Vielleicht hatte Lady Gremlaine ja recht. Vielleicht sollte Agatha nicht immer nur daran denken, was sie als Königin alles nicht durfte, sondern sich lieber auf ihre Aufgabe konzentrieren. Ein Fest der Liebe und Schönheit war sicher die beste Möglichkeit, nach der missglückten Krönung das Vertrauen in das Königreich wieder zu festigen. Mit einer prunkvollen Hochzeit konnten sie dem Volk zeigen, dass das goldene Zeitalter von Camelot zurückkehren würde … dass ihr Happy End sie nicht umsonst hierhergeführt hatte … dass nicht nur Agatha und Tedros ihr Glück gefunden hatten, sondern auch das Volk von Camelot, selbst die, die alle Hoffnung verloren hatten.
Hocherhobenen Hauptes marschierte Agatha ins Schloss zurück, um so schnell wie möglich zu ihren Tanzstunden zu kommen. Sie war jetzt wild entschlossen, ihr Bestes zu geben.
Bis sie auf ihren Lehrer traf.
Obwohl er kaum Zeit für sich selbst oder für Agatha hatte – und eigentlich überhaupt keine –, verlor Tedros nicht den Mut. In schwarzen Kniestrümpfen und abgeschnittener Kniehose schlich er durch die modrigen dunklen Gänge des Goldenen Turms, ein Handtuch über dem nackten gebräunten Oberkörper. Es war ihm manchmal fast peinlich, dass er jeden Morgen um halb fünf aufstand, um zu trainieren (es hatte so was Eitles, Zwanghaftes), aber irgendwie war es das Einzige, was er noch selbst bestimmen konnte. Denn Punkt sechs Uhr würde Lady Gremlaine mit vier männlichen Höflingen in sein Schlafzimmer platzen, und von diesem Moment an war er nicht mehr sein eigener Herr, bis er spätabends ins Bett zurückkroch.
Als er an Agathas Zimmer vorbeihuschte, wäre er am liebsten kurz zu ihr reingeschlüpft, um sie aufzuwecken. Aber seine Eskapade gestern Nacht hatte ihm schon genug Ärger eingebracht, und noch mehr Stress konnte er beim besten Willen nicht verkraften. Sein Königreich stand kurz vor einer Revolte. Deshalb überließ er Lady Gremlaine die Leitung aller Regierungsgeschäfte. Als König Artus’ einstige Oberhofmeisterin war sie in Camelot eine vertraute Gestalt, was dem Volk das Gefühl gab, dass der neue König in guten Händen war. Aber es gab noch einen anderen Grund, warum er sich von Lady Gremlaine bevormunden ließ – einen, den er niemals laut ausgesprochen hätte.
Tedros hatte kein Vertrauen in seine Fähigkeiten als König. Er brauchte eine Beraterin wie Lady Gremlaine, die jeden seiner Schritte überwachte und alle seine Maßnahmen kontrollierte. Wenn er doch nur bei der Krönungszeremonie auf sie gehört hätte, dann wäre das alles nicht passiert. Darum hörte er jetzt auf sie. Denn eins stand fest: Noch mehr Fehler konnte er sich nicht leisten.
Dass er sich gestern Nacht zu Agatha geflüchtet hatte, war ein Ausrutscher gewesen. Lady Gremlaine hatte ihm eingetrichert, auf keinen Fall denselben Fehler zu machen wie sein Vater, der wegen eines Mädchens seine Pflichten als König vernachlässigt hatte. Tedros nahm ihre Warnung sehr ernst und hatte sich die ganze Zeit – bis auf gestern – nur auf seine Arbeit konzentriert, während Agatha mit ihren eigenen Aufgaben beschäftigt war. Ich Idiot!, dachte er. Warum musste ich auch in ihr Zimmer schleichen, todmüde und hilflos wie ein kleines Kind, und ihr die Ohren vollheulen? Tedros krümmte sich bei dem Gedanken daran. Er hatte Agatha nach Camelot gebracht, ihr alles genommen, was ihr lieb und vertraut war, also musste er wenigstens dafür sorgen, dass sie sich hier wohlfühlte. Er konnte ihr doch nicht zeigen, wie schwach und ängstlich er war und dass er am liebsten mit ihr durchgebrannt wäre, um sich irgendwo mit ihr zu verkriechen und die Welt auszusperren.
Trotzdem hatte er gestern genau das getan.
Und warum? Nur um für kurze Zeit Trost in Agathas Armen zu finden und seine künftige Königin ratlos und besorgt zurückzulassen. Und natürlich hatte er Lady Gremlaine enttäuscht und verärgert. Du benimmst dich wie ein kleiner Junge, schimpfte Tedros vor sich hin. Das muss aufhören! Handle endlich wie ein König! Also ließ er Agatha weiterschlafen und ignorierte das große schwarze Loch in seinem Herzen.
Schweißüberströmt rannte er durch die goldene Passage und die hohen Bogengänge. Seine blonden Locken fielen ihm feucht in die Stirn, seine Hose klebte ihm an den Schenkeln. War es früher auch so stickig im Schloss gewesen? Nein, nicht soweit er sich erinnerte. Zwei Mäuse huschten an ihm vorbei und verschwanden in einem Loch im Wandverputz. Eine Ameisenkolonne wuselte über das Wandrelief mit den berühmtesten Rittern von Camelot; alle Figuren waren zerbröckelt, überall fehlte ein Arm oder ein Bein. Früher, in seiner Kindheit, war diese Halle immer angenehm kühl und sauber gewesen, selbst in den sengenden Hundstagen im August. Jetzt aber stank hier alles nach toter Katze.
Tedros lief drei Treppenfluchten hinunter, vorsichtig, um in seinen Strümpfen nicht auf dem abgewetzten goldenen Stein auszurutschen, dann durchquerte er im Eiltempo den Fitnessraum mit seiner umfangreichen Sammlung von Sportgeräten, vorbei an den alten Waffen und Ritterrüstungen, die an der Wand entlang in Glasvitrinen ausgestellt waren. Denn heute hatte er ein anderes Ziel; Tedros lief weiter, ohne dem großen Glaskasten in der Mitte des Raums mehr als einen flüchtigen Blick zu schenken … Der Prunkvitrine, die jetzt nur noch eine leere Schwerthülle enthielt …
»EXCALIBUR« stand auf einem Schild daneben.
Der deprimierende Anblick verfolgte ihn noch immer, als er kurz darauf in die Artus-Grotte kam – ein abgesunkener Badeteich in den Tiefen des Schlosses. Früher, in seiner Kindheit, war diese Grotte ein kleines Paradies gewesen, mit blühenden Pflanzen, die sich um hohe Steincairns und einen dampfend heißen Wasserfall rankten. Das duftende Wasser wurde von den Feen am Teich in rosa-violettes Licht getaucht. Diese Zauberwesen pflegten die Grotte und erhielten dafür Schutz und Zuflucht in Camelot. Tedros hatte hier viele Vormittage verbracht und die Feen um die Artus-Statue in der Mitte des Teichs gejagt, bis die kleinen Geschöpfe das Wasser funkeln ließen wie ein Feuerwerk.
Davon war jetzt nichts mehr zu sehen. Die Königsgrotte war verwahrlost, der Teich dunkel und kalt, das Wasser voller Algen. Die Pflanzen waren tot, der Wasserfall tröpfelte widerwillig. Tropf, tropf, tropf. Auch die Feen waren verschwunden, von Artus aus dem Schloss verbannt, nachdem Guinevere und Merlin ihn verlassen und seinen Glauben an die Magie zerstört hatten.
Tedros starrte auf die Kugelhanteln, die er aus dem Trainingsraum gestohlen hatte und in der Grotte aufbewahrte, zusammen mit einem armseligen Seil, das er an der Decke befestigt hatte, um Kletterübungen zu machen.
In dem anderen Raum konnte er nicht trainieren, denn die leere Vitrine dort erinnerte ihn unweigerlich an die missglückte Krönungszeremonie. Und an das Schwert, das noch immer …
Zähneknirschend schaute er auf den trüben Teich, in dem die verwitterte Statue seines Vaters aufragte, ganz von Moos und Flechten überzogen. König Artus, Excalibur in den Händen, starrte zu ihm zurück.
Oder nein, jetzt nicht mehr. Anstelle der blauen Augen hatte der König nur noch zwei große schwarze Löcher im Gesicht. Ihm waren die Augäpfel ausgerissen worden.
Eine Welle von Schuldgefühlen stieg in Tedros auf, noch quälender als vorhin in der Trainingshalle.
Er hatte diese Untat begangen. Er hatte seinem Vater die Augen ausgerissen.
Weil er den Blick des alten Königs nicht ertragen konnte, nach allem, was bei der Krönung geschehen war.
Ich bringe es wieder in Ordnung, Vater, schwor er. Alles.
Tedros warf sein Handtuch auf den modrigen Boden und hechtete kopfüber in den Teich, um alle schlimmen Gedanken im eisigen Wasser zu ertränken.
Der Krönungstag vor sechs Monaten war sonnig und warm gewesen. Tedros hatte sich noch kaum von den Strapazen und Aufregungen der letzten Zeit erholt – der Versöhnung mit seiner Mutter, dem Krieg gegen den Schulmeister des Bösen und dem nächtlichen Ritt nach Camelot, um rechtzeitig zur Krönung am nächsten Tag einzutreffen.
Trotzdem strahlte er vor Zuversicht, obwohl er sich wie ein ausgelaugter, übernächtigter Zombie fühlte. Nach all den Fehlstarts und Irrwegen hatte Tedros endlich sein Happy End gefunden. Er war der König von Camelot, dem berühmtesten Reich im Wald, mit Agatha, der künftigen Königin, an seiner Seite. Er hatte seine Mutter (und Lanzelot) nach Hause geholt, um endlich wieder eine Familie zu haben.
Das alles wäre an sich schon ein tolles Geschenk zu seinem sechzehnten Geburtstag gewesen. Aber das Beste war, dass Sophie, seine alte Hassliebe, als Schulleiterin des Bösen in ihrer alten Schule blieb, weit genug entfernt, um ihnen nicht wieder dazwischenfunken zu können. Es war fantastisch: keine Sophie-Intrigen mehr für den Rest ihres Lebens. (Jeder wusste, dass Tedros und Sophie nicht allzu lange unter einem Dach weilen konnten, ohne einander umzubringen, zu küssen oder einen mörderischen Krieg anzuzetteln.)
»Hmmm, kann Merlin nicht einen Zauber wirken, damit das hier besser riecht?«, murmelte Tedros vor seinem Badezimmerspiegel und schnupperte an dem alten Gewand seines Vaters. »Das riecht irgendwie faulig.«
»Das ganze Schloss stinkt nach Fäulnis«, knurrte Lanzelot, der auf einem Streifen Dörrfleisch herumkaute. »Und Merlin hab ich nicht mehr gesehen, seit ich in Lieblichtal aus der Kutsche gesprungen bin. Er sagte, wir treffen uns im Schloss. Eigentlich müsste er schon hier sein.«
»Merlin lebt nach seiner eigenen Uhr«, seufzte Guinevere und setzte sich neben Lanzelot auf das Bett ihres Sohnes.
»Er wird bestimmt bald hier sein. Kann ja wohl meine Krönung nicht verpassen.« Tedros hielt sich schaudernd die Nase zu. »Vielleicht, wenn wir ein bisschen Parfüm drübersprühen …«
»Das ist ein Krönungsgewand, Tedros. Du musst es ja nur einmal tragen«, sagte seine Mutter. »Außerdem … ich rieche nichts, nur dieses … ich weiß nicht … Hundefutter, das Lanzelot sich aus der Küche geklaut hat.«
»Im Ernst jetzt, Gwen«, knurrte Lanzelot, schlug mit der Faust auf die Bettdecke und löste dadurch einen kleinen Staubsturm aus. »Was zum Teufel ist mit diesem Schloss passiert?«
»Ach, keine Sorge, Agatha und ich bringen das alles wieder in Ordnung«, versprach Tedros großspurig und kämmte sich die Haare. »Wir wussten ja, was uns hier erwartet. Dads Kronrat hat das Schloss verfallen lassen und sich die Taschen mit den Steuern des Königreichs gefüllt. Ich hätte nur zu gern ihre Gesichter gesehen, als Lance sie ins Gefängnis geworfen hat.«
»Och, die waren ziemlich locker, wenn ich ehrlich sein soll. Als hätten sie schon damit gerechnet … oder zumindest gewusst, dass es zwecklos war, Widerstand zu leisten«, sagte Lanzelot mit einem lauten Rülpser. »Sie haben nur ein bisschen rumgemault, dass ich nicht das Recht hätte, sie einzusperren, solange Tedros noch nicht König ist. Hab ihnen dann gesagt, sie können mich mal.«
»Aber in diesem Punkt hatten sie recht«, sagte Guinevere in schneidendem Ton. »Und wenn du nicht anständig essen kannst, sorge ich dafür, dass die Küche dir nur noch Gemüse vorsetzt.«
Tedros und Lanzelot starrten sie entsetzt an.
»Sie hatten recht?«, fragte Tedros ungläubig.
»Gemüse?«, stieß Lanzelot mit vollem Mund hervor.
»Ja, bis zur offiziellen Krönungszeremonie hat der von Artus ernannte Kronrat das Recht, alle Entscheidungen zu treffen«, erklärte Guinevere. »Aber egal. In ein paar Stunden bist du König; du hast ja keine Rivalen, die einen legitimen Anspruch auf die Krone aus dem Hut zaubern könnten. Deshalb haben die Wachen Lance auch nicht daran gehindert, die Ratgeber ins Gefängnis zu werfen.«
Das beruhigte Tedros und er widmete sich wieder seinem Spiegelbild.
»Aber genug mit dem Spiegel geflirtet, mein Junge. Du siehst wunderschön aus.« Guinevere lachte. »Und die arme Agatha muss sich unterdessen ganz allein für die Zeremonie fertig machen … da kann sie sicher etwas weibliche Unterstützung gebrauchen. Ich werde gleich mal hingehen …«
»Agatha macht das schon«, sagte Tedros und drückte einen lästigen Pickel neben seinem Mund aus. Gott, ich bin schon fast so schlimm wie Sophie! »Und ich hab schließlich Geburtstag«, fügte er schmollend hinzu. »Den würde ich gern mit meiner Mutter verbringen.«
Er sah, wie Guinevere rot wurde. Es brachte sie immer noch aus der Fassung, wenn er ihr mal etwas Nettes sagte.
»Haha, der kleine König hat wohl Angst, mit mir allein zu sein?«, witzelte Lance.
»Sag noch einmal kleiner König, und ich ramme dir mein Schwert in den Wanst!«, fauchte Tedros und tippte auf Excalibur an seiner Seite. »Und außerdem, wer will schon mit dir allein sein?«
»Deine Mutter zum Beispiel. Ihr gefällt das sogar ziemlich gut«, trumpfte Lanzelot auf.
»Ach du liebe Güte«, murmelte Guinevere.
»Also, jedenfalls hat Agatha diese komische Lady Gremlaine, die ihr beim Ankleiden hilft. Ihr wisst schon, die Frau, die uns gestern Nacht bei unserer Ankunft begrüßt hat und so nach Parfüm riecht«, sagte Tedros und checkte seine Zähne im Spiegel. »Mir wollte sie auch helfen, aber ich hab ihr gesagt, dass ihr das macht. Hat ihr nicht gepasst, glaube ich.«
»Ja, genau, Gwen … Was ist los mit dir und dieser Gremlaine? Ich dachte schon, ihr geht euch an die Kehle, so wie ihr euch angefunkelt habt«, brummte Lanzelot.
»Nichts weiter. Sie war meine Oberhofmeisterin, als Tedros zur Welt kam. Kurz danach habe ich sie entlassen. Und jetzt ist sie wieder da«, sagte Guinevere kurz angebunden.
»Aber irgendwas muss doch zwischen euch passiert sein …«
»Nein, nichts.«
»Und warum guckst du dann in ihrer Gegenwart so finster, so wie damals bei Millie?«
»Wer ist Millie?«, fragte Tedros.
»Ach, nur eine läufige Geiß, die deine Mutter auf dem ganzen Hof herumgejagt hat.« Lanzelot grinste und Guinevere trat ihn gegen das Schienbein.
»Ich glaube, ihr hattet da draußen einfach zu viel Freizeit«, murrte Tedros in den Spiegel.
»Lady Gremlaine ist unwichtig«, sagte Guinevere, jetzt wieder ernst. »Ein Hofmeister hat nur Macht über einen Prinzen, bis er zum König gekrönt ist. Sobald deine Krönung besiegelt ist, bist du der Herrscher und kannst Lady Gremlaine für immer aus dem Schloss verbannen.«
»Was soll das heißen, ›meine Krönung besiegelt‹? Ich schwöre meinen Eid und halte eine Rede, und das war’s dann, oder?« Tedros ließ sich in einen rußigen Sessel neben seinem Bett fallen.
Guinevere runzelte die Stirn. »Ich dachte, du weißt, wie die Krönungszeremonie abläuft?«
»Ja, wie war das noch? Du brauchst keine Vorträge von uns?«, witzelte Lanzelot.
»Na ja … also, ich meine, gibt es irgendwas Besonderes, das ich bei meiner Rede beachten muss?«, sagte Tedros ungeduldig.
»Was für eine Rede, du Dussel?«, schnaubte Lanzelot.
Tedros blinzelte. »Keine Rede? Aber wann soll ich euch beide dann dem Volk präsentieren?«
Tedros’ Mutter und Lanzelot wechselten einen betroffenen Blick. »Ähm, Tedros, ich glaube nicht, dass das eine gute Idee wäre …«
»Aber es ist richtig, und richtig ist immer gut«, beharrte Tedros. »Was zwischen dir und Dad war, ist doch Jahre her. Das wird die Leute jetzt nicht mehr interessieren.«
Lanzelot holte Luft. »Tedros, so einfach ist das nicht. Du bist dir nicht im Klaren, welche Konse…«
»Wenn wir in Angst leben, werden wir nie etwas erreichen«, schnitt Tedros ihm das Wort ab. »Ich werde dieser Lady Gremlaine sagen, dass sie euch auf der Bühne neben mir platzieren soll.«
»Oh, sie wird begeistert sein«, sagte seine Mutter hintergründig.
Lanzelot warf ihr erneut einen fragenden Blick zu, aber Guinevere gab keine weiteren Erklärungen.
Tedros beließ es dabei. Nach seiner ersten und bisher einzigen Begegnung mit Lady Gremlaine war er überzeugt davon, dass sie ihm jeden seiner Wünsche erfüllen würde.
»Und wenn ich keine Rede halten soll, was passiert dann?«, fragte er und lehnte sich in seinem Sessel zurück.
»Der Schlosskaplan wird dir den Eid abnehmen und dich dein Gelübde vor dem ganzen Königreich nachsprechen lassen«, erklärte Guinevere. »Dann musst du deinen Krönungstest bestehen.«
Tedros’ Augen weiteten sich. »So wie die geschriebenen Tests in ›Gute Taten‹?«
»Du bist wirklich ahnungslos«, raunzte Lanzelot. »Diesen Test hat sich dein Vater ausgedacht. Er hat ihn in seinem Testament festgehalten, das während der Krönung eröffnet werden soll.«
»Ach so, klar. Dad hat’s mir mal erklärt. Aber das ist kein Test, das ist nur eine symbolische Handlung. Er hat gesagt, er würde nie was aussuchen, das ich nicht schaffen kann. Er will, dass ich stark und gebieterisch vor meinem Volk dastehe.«
»Stark und gebieterisch? Das wäre in deinem Fall eine echte Herausforderung«, brummte Lanzelot.
Guinevere funkelte ihn an und stellte sich neben ihren Sohn.
»Ich muss also den Test bestehen, den Dad mir hinterlassen hat?«, sagte Tedros. »Und dann bin ich König?«
»Richtig, dann bist du König«, sagte seine Mutter lächelnd und zerzauste ihm das Haar.
Tedros lächelte zurück. Er genoss die Berührung, auch wenn er sich hinterher die Haare noch mal kämmen musste.
»Aber zuerst kommen noch die tanzenden Affen«, sagte Lanzelot.
»Ach, sei still.« Guinevere kicherte.
Tedros schaute von einem zum anderen. »Sehr komisch.«
Seine Mutter lachte immer noch.
Tedros verdrehte die Augen.
»Und hier nun die erlauchten Mahaba-Affen von den Malabar-Hügeln!«, verkündete der Ausrufer mit lauter Stimme.
Eine Kanone schoss Konfetti in die Menge und die Leute johlten. Mindestens fünfzigtausend drängten sich auf den Hängen unter dem Schloss. Nach alter Tradition war die Zugbrücke heruntergelassen worden, damit das Volk von Camelot königlichen Grund betreten konnte. Schon seit dem frühen Morgen strömten sie ins Schloss, um der Krönung von Artus’ Sohn beizuwohnen – und es wurden immer mehr. Die, die keinen Platz fanden, drängten sich auf der Zugbrücke oder unterhalb der Klippen. Von dort schauten sie zum Schlossbalkon und der schönen Marmorbühne hinauf, die für diesen Anlass errichtet worden war.
Tedros, der auf dem Podest thronte, wusste allerdings, dass der Marmor in Wahrheit billiges, brüchiges Holz war, das sich unter einer marmorierten Farbschicht verbarg; die ganze Vorrichtung knarzte entsetzlich unter dem Gewicht von Artus’ Thron. Aber was noch schlimmer war: Ständig tropfte heißes Wachs auf sein muffiges Gewand. Es kam von den wackligen Kandelabern, die sie aus der Schlosskapelle gestohlen hatten, um Fackeln für die Zeremonie zu sparen. Trotzdem hatte er die ganze Zeit gute Miene zum bösen Spiel gemacht – Camelot war pleite, und es wäre unverantwortlich gewesen, allzu viel Geld für die Krönung auszugeben. Aber als die armseligen Schausteller benachbarter Königreiche vor ihm herumhampelten, verlor er langsam die Geduld. Zuerst trat eine Feuerschluckerin aus dem Königreich Schöne Aussicht auf, die versehentlich ihr Kleid in Brand steckte. Dann kam eine stocktaube Sängerin aus Fuchswald, die den Text der Krönungshymne – God save the King – vergessen hatte, gefolgt von zwei beleibten jungen Brüdern aus Avonlea, die von einem fliegenden Trapez in die Menge stürzten … Und jetzt auch noch die Affen.
»Wenn diese Leute sich nicht so abstrampeln würden, könnte man meinen, sie wollten mich veräppeln«, brummte Tedros, den es unter seinem Gewand juckte.
»Nun, ich fürchte, gelungenere Darbietungen hätten unser Budget gesprengt.« Lady Gremlaine, die neben ihm saß, nippte geziert an einem Becher Mineralwasser. »Aber die Affen haben wir bezahlt. Sie waren die Lieblingsnummer deines Vaters.«
Tedros starrte auf die sechs Affen in roten Paillettenhüten, die sich an ihren Weichteilen kratzten und unrhythmisch mit dem Hintern wackelten.
»Aber vermutlich erst, als er mit dem Trinken angefangen hatte!«, zischte Tedros verächtlich.
Lady Gremlaine verzog jedoch keine Miene. Für eine Hofmeisterin, die es für ihre Pflicht hielt, ihm von morgens bis abends zur Seite zu stehen, war sie nicht gerade aufmunternd.
Bei ihrer ersten Begegnung gestern Abend hatte Tedros geglaubt, Lady Gremlaine müsse von seinem Charme und seiner Schönheit so bezaubert sein, dass sie ihm jeden Wunsch erfüllen würde. Stattdessen warf sie ihm abschätzige Blicke zu, wann immer er den Mund aufmachte, als wäre er dumm wie Stroh. Das nagte an Tedros’ Selbstbewusstsein – was er in so einem Moment am allerwenigsten gebrauchen konnte.
»Ich verstehe nicht, warum Agatha nicht hier oben neben mir sitzen darf«, knurrte er mit einem Blick zur königlichen Galerie auf dem Rasen unter dem Balkon. Er konnte seine Prinzessin – eingezwängt zwischen Herzögen, Grafen und anderen Adelsgrößen – dort nur schemenhaft erkennen. »Oder auch meine Mutter, ehrlich gesagt.«
Lady Gremlaine rückte ihren Turban gerade. »Agatha ist noch nicht deine Königin, Tedros. Erst wenn ihr verheiratet seid, darf sie dich bei offiziellen Anlässen begleiten. Und was deine Mutter betrifft … Nun ja, angesichts ihrer schändlichen Flucht mit Lanzelot hielt ich es für besser, sie fürs Erste im Hintergrund zu lassen.«
Tedros folgte Lady Gremlaines Blick zu einem weißen Gazevorhang, der den Balkon hinter ihnen verhüllte. Durch den halb transparenten Stoff konnte er seine Mutter und Lanzelot erkennen, die mit einer Reihe von Mägden und Küchenjungen die Zeremonie verfolgten.
»Ich wundere mich nur, dass es sich noch nicht herumgesprochen hat«, fügte Lady Gremlaine hinzu. »Vor allem, nachdem Lanzelot gestern Abend den Kronrat so überaus medienwirksam ins Gefängnis geworfen hat.«
»Na und?«, entgegnete Tedros. »Je eher die Leute hier erfahren, dass meine Mutter und Lanzelot zurück sind, desto besser.«
»Wenn du erst ein gekrönter König bist, kannst du deine eigenen Entscheidungen treffen.«
»Ich finde es idiotisch, dass meine Mutter weggesperrt wird wie eine Leprakranke, während ich hier neben Ihnen sitze«, nörgelte Tedros weiter und schaute zu einer Wolke auf, die sich gerade vor die Sonne schob. »Als ob Sie meine Königin wären oder was auch immer.«
Lady Gremlaine rümpfte die Nase.
»Wenn Merlin kommt, müssen Sie ihm Ihren Platz überlassen, Lady Gremlaine. Er wird mein wahrer Ratgeber sein, wenn ich erst mal König bin«, fügte Tedros herausfordernd hinzu.
»Merlin darf die Grenze zu Camelot nicht überschreiten. Als er deinen Vater im Stich ließ, wurde er von Artus aus dem Königreich verbannt«, sagte Lady Gremlaine.
»Na und? Artus hat auch ein Todesurteil über meine Mutter verhängt, und wie Sie sehen, ist sie noch sehr lebendig«, gab Tedros scharf zurück. »Ich halte mich nicht an die Erlasse vergangener Könige, und Merlin auch nicht, selbst wenn es sich um einen Befehl meines Vaters handelt.«
»Und warum ist Merlin dann nicht hier?«, fragte Lady Gremlaine mit einem boshaften Lächeln.
Tedros erstarrte. »Er kommt bestimmt gleich. Sie werden schon sehen.« Er muss, dachte er. Der Gedanke, Camelot ohne Merlin regieren zu müssen, raubte ihm den Atem.
»Darauf würde ich mich nicht verlassen. Er wird sofort zum Tode verurteilt, wenn er sich hier blicken lässt«, sagte Lady Gremlaine steif.
Tedros schnaubte. »Niemand krümmt Merlin ein Haar, solange ich König bin! Wenn Sie glauben, Sie könnten ihn hinrichten lassen, dann sind Sie so dumm wie die Affen dort unten.«
Ein Paillettenhut knallte ihm ins Gesicht und er fuhr herum. Zwei Schimpansen lieferten sich gerade ein wildes Gefecht und prügelten nach allen Regeln der Kunst aufeinander ein, während die Menge vor Lachen brüllte.
»Ist das wirklich alles, was wir können?«, stöhnte Tedros. »Wer hat dieses Affentheater organisiert?«
»Ich«, sagte Lady Gremlaine.
»Ach ja? Dann kann ich nur hoffen, dass Sie nicht für die Hochzeitsplanung zuständig sind.«
»Die Hochzeit wird ausschließlich von der künftigen Königin organisiert«, erwiderte Lady Gremlaine mit eisiger Miene. »Ich hoffe, sie ist ihrer Aufgabe gewachsen.«
»Selbstverständlich ist sie das. Ich würde mein letztes Hemd darauf verwetten«, fuhr Tedros auf.
Agatha und Hochzeitsplanerin? Tedros musste daran denken, wie seine Prinzessin sich an Halloween als Braut verkleidet hatte. Agatha wäre es wahrscheinlich am liebsten, wenn sie um Mitternacht auf einem Friedhof heiraten würden, mit ihrem teuflischen Kater als Zeremonienmeister.
Agatha schafft das schon, dachte er. Sie findet immer eine Lösung. Wenn er seine Krönungszeremonie würdevoll und ohne Schnitzer hinter sich brachte, würde Agatha seinem Beispiel folgen und eine unvergessliche Hochzeit auf die Beine stellen. Lady Gremlaine würden die Augen aus dem Kopf fallen.
Nachdem die Affen schließlich mit einer Wanne voll Bananenbrei bestochen und von der Bühne gezerrt worden waren, nahm Tedros seinen Platz vor dem Schlosskaplan von Camelot ein, einem alten Tattergreis mit knallroter Nase und borstigen Haarbüscheln, die ihm aus den Ohren wuchsen. Der Geistliche legte Tedros seine Hand in den Nacken und führte ihn vor das Podest, das über den dicht besetzten Hängen aufragte.
Wie aufs Stichwort kam die Sonne hinter der Wolke hervor und überflutete den Prinzen mit ihrem Licht.
Ehrfürchtige Stille senkte sich über die Menge.
Alle Blicke waren auf Tedros gerichtet, den Prinzen, der den Schulmeister besiegt und die Immerreiche gerettet hatte … den künftigen König, der Camelot wieder groß machen würde.
»Bin ich wirklich der Herrscher über all diese Menschen?«, stieß Tedros hervor, dem plötzlich bewusst wurde, welche Bürde ihm sein Amt auferlegte.
»Oh, dein Vater hat genau das Gleiche gesagt, mein Sohn! Angst ist ein gutes Zeichen«, krächzte der alte Kaplan und lachte heiser. »Und zum Glück kann uns hier oben niemand hören.«
Der Kaplan drehte sich zu einem klapperdürren rothaarigen kleinen Messdiener um, der etwa in Tedros’ Alter sein musste und ein juwelenbesetztes Kästchen in den Händen hielt. Als er es öffnete, blitzten die fünf Zacken der Krone im Sonnenlicht wie ein Netz aus Gold – und ein Raunen ging durch die Menge. Tedros betrachtete einen Augenblick König Artus’ Krone. Sie hatte die Form einer fünfzackigen Lilie, deren Blütenblätter mit jeweils einem Diamanten besetzt waren.
Als Sechsjähriger hatte er einmal die Krone vom Nachttisch seines Vaters gestohlen und war damit zu Merlin in den Unterricht gekommen. Er hatte dem Magier befohlen, sich vor ihm zu verneigen und ihn »mein König« zu nennen. Seltsamerweise hatte Merlin mitgespielt und sich tief vor ihm verbeugt. Die ganze Mathe- und Astronomiestunde über hatte er Tedros mit »Majestät« angeredet, und auch noch in Englisch und Geschichte. Vielleicht hätte Merlin ihn für immer König sein lassen, aber Tedros hatte die Krone bald wieder abgenommen und kleinlaut auf den Nachttisch seines Vaters zurückgelegt. Sie war viel zu schwer für seinen kleinen Kopf gewesen.
Und nun, zehn Jahre später, hielt der Kaplan ihm dieselbe Krone hin. »Sprich mir den Eid nach, junger Prinz. Die Worte mögen ein wenig seltsam klingen, aber der Eid ist auch gut zwei Jahrtausende alt. Denk daran, nicht die Worte machen einen König aus. Die Angst, die dich erfüllt, ist alles, was du brauchst. Denn wenn du Angst hast, wird dir bewusst, dass diese Krone eine Vergangenheit und eine Zukunft hat, die weit über dich hinausreichen. Angst bedeutet, dass du reif dafür bist, mein lieber Tedros. Und bereit, ein ruhmreicher König zu werden.«
Tedros’ Beine zitterten, als er dem Geistlichen den Eid nachsprach.
»Bey euerm Herrn und Gott, der mir dies aufgesetzet, gelob ich, Camelots Ehr und Stolz wider alle Feind und Fährnis zu verteidigen. Euerm gottselgen Reich gelob ich allzeit ein strahlend Licht im Dunkeln zu seyn …«
Der Kaplan hatte ihn nicht umsonst gewarnt: Tedros stolperte über die seltsamen Worte, ohne wirklich zu begreifen, was er da sagte. Und dennoch – irgendwo im tiefsten Herzen verstand er ihren Sinn. Seine Augen füllten sich mit Tränen. Eben noch war er ein unbedarfter Erstklässler in der Schule für Gut und Böse gewesen, ein großspuriger Prahlhans, der seine Unsicherheit zu überspielen versuchte …
Und jetzt würde er bald König sein. Und verheiratet. Und eines Tages auch Vater.
Im Stillen gelobte er sich, in jeder Hinsicht sein Bestes zu geben, so wie sein Vater einst. Der große König Artus, den er liebte und an jedem einzelnen Tag seines Lebens vermisste.
Der Geistliche setzte Tedros die Krone auf den Kopf und dem jungen König strömten die Tränen über die Wangen. Die Menge brach in wildes Jubelgeschrei aus, das noch lange anhielt, nachdem er seine Gefühle wieder unter Kontrolle hatte.
Der Kaplan tätschelte ihm die Schulter. »Und jetzt, mein Sohn, wirst du den Krönungstest ablegen, um die Krönung zu besiegeln, die dich offiziell zum König machen wird.«
»Ist es erlaubt, dass ich zuerst ein paar Worte spreche?«, fragte Tedros den Kaplan. »Zu meinem Volk, meine ich.«
Der Kaplan runzelte die Stirn. »Ich fürchte, es ist etwas ungewöhnlich, vor Vollendung der Zeremonie zu sprechen, zumal dich sowieso niemand hören wird.«
Doch plötzlich fiel etwas von oben herunter, direkt in die Falten von Tedros’ viel zu weitem Gewand. Ein fünfzackiger weißer Stern, wie der, den Merlin auf das Grab seines Vaters in Avalon gelegt hatte.
»Komisch«, sagte Tedros und studierte den Stern. »Wie kommt das denn jetzt hier …« Seine Stimme wurde sofort um ein Vielfaches verstärkt, sodass er nun weithin zu hören war.
Die Menge starrte ihn verwundert an, genau wie der Kaplan, aber Tedros wusste natürlich, wer hinter dieser Hexerei steckte.
Er hob den Blick zum weiten blauen Himmel und lächelte erleichtert. »Danke, Merlin«, flüsterte er. Dann legte er den magischen Stern auf seine Schulter, damit seine Rede in alle Winkel des Reichs übertragen wurde.
»Ehrlich, es ist mir verdammt schwergefallen, auf euch alle runterzusehen, ohne Hallo zu sagen«, fing er an, seine Stimme hallte weit über die Klippen. »Also, ähm, erst mal Hallo. Ich bin Tedros. Willkommen bei diesem Krönungsrummel.«
Unterdrücktes Gekicher.
»Okay, ihr kennt mich ja alle. Ich bin der Dreikäsehoch, der immer hier oben stand und neben Artus herumzappelte, wenn er zu euch gesprochen hat. Bin nur ein bisschen älter geworden. Und hübscher hoffentlich.«
Leises Gelächter lief durch die Menge.
Tedros strahlte, beflügelt von der Zustimmung, die ihm entgegenschlug. Er hielt nach Agatha Ausschau, konnte sie aber in dem grellen Sonnenlicht nicht erkennen. Bisher hatte er immer seine Prinzessin an der Seite gehabt, wenn es darauf ankam. Aber die letzten Monate hatten ihn so mit ihr zusammengeschweißt, dass er sie neben sich spürte, auch wenn sie gar nicht da war. Was würde Agatha ihm jetzt wohl raten?
Vermutlich dasselbe wie immer: dass er ehrlich sein und seine Gefühle zeigen sollte – was leider gar nicht seine Stärke war.
Tedros holte tief Luft. »Früher, als ich neben meinem Vater hier oben stand, gab es für mich nur Gut und Böse, Schwarz und Weiß«, fuhr er fort und seine Stimme wurde mit jedem Wort fester. »Aber die wichtigste Lektion, die ich in der Schule gelernt habe, lautet: Niemand weiß, was gut oder böse ist, solange die Geschichte nicht zu Ende geschrieben ist. Uns bleibt also nur, im Augenblick zu leben und etwas daraus zu machen. Und jetzt sind wir hier und müssen sehen, wie es weitergeht. Glaubt mir, es war ein Schock für mich, als ich nach Camelot zurückkam. Wir sind kein glanzvolles Königreich mehr, an dem sich alle anderen Reiche im Wald messen. Unsere Straßen sind schmutzig und löchrig, das Volk hungert und ich spüre die Fäulnis, die in allem steckt. Selbst die Gemächer des Königs riechen ein bisschen modrig.
Zum Teil liegt es natürlich daran, dass das Schloss und das ganze Reich dem Verfall preisgegeben wurden«, fuhr Tedros fort. »Die Schuldigen wurden von ihren Posten entfernt und ins Gefängnis gesteckt, aber damit sind unsere Probleme noch lange nicht gelöst. Selbst wenn mein Vater, König Artus, in diesem Moment zurückkäme, könnte er die Uhr nicht zurückdrehen und alles wieder so machen, wie es früher war. Der Schulmeister des Bösen hat den Wald für immer verändert. Und obwohl er jetzt tot ist, hat sich die Grenze zwischen Gut und Böse verwischt. Seht euch nur unser Camelot an, das langsam von innen heraus verrottet.«
Die Menge lauschte gebannt, dicht an dicht, wie ein Wald voller Bäume, an denen sich kein Blatt regt.
»Ich mag jung und unerfahren sein, aber ich vertraue meinen Instinkten«, verkündete Tedros mit wachsendem Selbstvertrauen. »Instinkte, die mir geholfen haben, den Weg zu euch zurück zu finden, auch dann noch, als das Schwert das Bösen auf mein Herz zielte und die Axt mir im Nacken saß. Instinkte, mit deren Hilfe ich die beste aller Prinzessinnen – und bald auch eure Königin – gefunden habe.«
Alle folgten seinem Blick zur königlichen Galerie, wo die Großen des Landes zurücktraten, um dem Volk einen besseren Blick auf seine zukünftige Königin zu gewähren.
Tedros lächelte und wartete auf Applaus.
Der nicht kam.
Schweigend nahm die Menge Agathas geisterhaft blasses Gesicht mit den dunklen Käferaugen und dem dicken schwarzen Haarschopf in sich auf. Dann blickten sie sich suchend um, in der Hoffnung, irgendwo neben oder hinter Agatha »die beste aller Prinzessinnen« zu entdecken – als könnten sie nicht glauben, dass das hier die Agatha aus dem Märchen sein sollte, das im ganzen Endloswald berühmt war. Doch dann blitzte Agathas Krone im Sonnenlicht auf – dieselbe, die Artus einst Guinevere aufgesetzt hatte –, und das Volk erstarrte. Leises Murren stieg aus dem Gewühle auf.
»Agatha und ich haben gemeinsam gegen tödliche Feinde gekämpft und schließlich unser Happy End miteinander gefunden«, fuhr Tedros fort. »Aber das Märchen ist zu Ende und das wahre Leben beginnt. Wir sind nicht mehr in der Geschichte, die der Storiker geschrieben hat. Das hier ist die Geschichte des ganzen Königreichs, die wir alle zusammen schreiben müssen. Eine Geschichte, die eine Vergangenheit und eine Zukunft hat. Und wir alle sind jetzt ein Teil davon, selbst diejenigen unter euch, die an den Fähigkeiten meines Vaters gezweifelt haben. Oder jetzt auch an meinen. Wir werden zusammen eine neue Seite aufschlagen …«
Tedros holte tief Luft. »Und als Zeichen, dass das hier der Beginn eines neuen Camelot ist, möchte ich euch zwei Mitglieder meines Königshofes präsentieren. Zwei Menschen, die Camelot besser kennen als alle anderen und die euch mit Liebe und Mut beschützen werden.«
Aus dem Augenwinkel sah er, wie Lady Gremlaine von ihrem Sitz aufsprang …
Blitzschnell schleuderte Tedros Excalibur über die Bühne. Das Schwert schlitzte den Vorhang auf und bohrte sich dann in den Torbogen des Balkons.
»Und nun darf ich euch meine Mutter, Königin Guinevere, und unseren größten Ritter, Sir Lanzelot, vorstellen.«
Tedros strahlte auf die Menge hinunter, in der ebenso naiven wie unerschütterlichen Überzeugung, dass das Volk Guinevere und Lanzelot verzeihen würde, so wie er ihnen verziehen hatte.
Aber die Leute starrten schweigend zu ihm auf, als hätte es ihnen die Sprache verschlagen. Eine kalte, tödliche Stille breitete sich aus.
Verwirrt stolperte Guinevere über den herunterhängenden Vorhangstoff, wobei sie einen Schuh verlor und beinahe mit dem Gesicht voraus auf dem Boden landete. Lanzelot fing sie im letzten Moment auf und fauchte Tedros entrüstet an: »Was zum Teufel fällt dir ein!«
»Setzt euch!«, zischte Tedros. Er führte Guinevere, die auf einem Schuh balancierte, zu seinem Thron und winkte Lanzelot auf Lady Gremlaines Platz, zum hellen Entsetzen der Oberhofmeisterin, die mit aufgerissenen Augen dastand.
Auch in der Menge hatte sich etwas verändert. Tedros spürte es in seinen Eingeweiden: So wie die warme, zuversichtliche Stimmung einem dumpfen Misstrauen gewichen war, als er Agatha präsentiert hatte, wurde das Schweigen jetzt bedrohlich und aggressiv. Kalter Schweiß sammelte sich unter Tedros’ Krone.
Sein Herz hatte ihm gesagt, dass es die einzig richtige Entscheidung war, Guinevere und Lanzelot vor dem ganzen Königreich willkommen zu heißen … richtig und gut …