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Theklas Erbschaft ist eine Erzählung von Wilhelm Raabe. Auszug: Eines Sommers, wie der des Jahres achtzehnhundertfünfundsechzig, konnte sich der bekannte, gottlob zu jeder Zeit vorhandene »älteste Greis« nicht erinnern, und es wurde dadurch den Meteorologen künftiger Jahrhunderte ein gewiß recht merkwürdiger Präzedenzfall geschaffen. Die Tage vom Mai bis zum September gemahnten den Schreiber dieses sehr lebhaft an eine Reihe durchgesägter Schädeldecken von Selbstmördern, welche er einst in einem anatomischen Museum mit Wehmut und mit unendlichem Respekt vor den Staatsgesetzen, die einen solchen unglücklichen Prädestinierten, welcher Hand an sich legt, noch immer der Anatomie von Rechts wegen und nicht von Nützlichkeits wegen zuweisen, betrachtete. Diese Hirndecken zeichneten sich sehr abnorm durch Gewicht und Textur vor denen der Leute, welche eines sogenannten natürlichen Todes oder durch die Hand des lieben Nächsten zu sterben berufen sind, aus, und ruhig kann ich es dem Leser überlassen, die Verbindungsstriche des Gleichnisses selber zu ziehen.
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Seitenzahl: 24
Eines Sommers, wie der des Jahres achtzehnhundertfünfundsechzig, konnte sich der bekannte, gottlob zu jeder Zeit vorhandene »älteste Greis« nicht erinnern, und es wurde dadurch den Meteorologen künftiger Jahrhunderte ein gewiß recht merkwürdiger Präzedenzfall geschaffen. Die Tage vom Mai bis zum September gemahnten den Schreiber dieses sehr lebhaft an eine Reihe durchgesägter Schädeldecken von Selbstmördern, welche er einst in einem anatomischen Museum mit Wehmut und mit unendlichem Respekt vor den Staatsgesetzen, die einen solchen unglücklichen Prädestinierten, welcher Hand an sich legt, noch immer der Anatomie von Rechts wegen und nicht von Nützlichkeits wegen zuweisen, betrachtete. Diese Hirndecken zeichneten sich sehr abnorm durch Gewicht und Textur vor denen der Leute, welche eines sogenannten natürlichen Todes oder durch die Hand des lieben Nächsten zu sterben berufen sind, aus, und ruhig kann ich es dem Leser überlassen, die Verbindungsstriche des Gleichnisses selber zu ziehen.
Unter diesen schwülen, schweren, bewegungslosen, drückenden Tagen befanden sich einige, an welchen die Sonne nicht schien, und diese waren natürlich die schlimmsten. Man atmete das höchste Unbehagen ein, ohne zu wissen, wo es gekocht wurde, man fühlte eine glühende Hand auf dem Gehirn, aber man sah sie nicht; glücklich waren die, welche matt oder stark genug waren, um sich ergeben hinwerfen zu können und das Fallen des Thermometers regungslos zu erwarten. Verloren in allem Jammer waren aber die, welche das Fieber zwischen Erschlaffung aller Lebensgeister und höchster Spannung umtrieb, und es gab für sie kaum eine andere Rettung als eine wahnsinnig energische Lektüre von Dante Alighieris Hölle.
In einem Garten meinen Fenstern gegenüber hatte ein Tertianer seine Lektion zu lernen, und dieser Schlingel war mein einziger Lichtpunkt an einem solchen Tage; denn seine Qualen waren noch größer als die meinigen. Als mein Auge ihn über meinen Schreibtisch hinweg zuerst erfaßte, saß er noch anständig, wenn auch schon sehr verstimmt, auf einem Gartenstuhle und betrachtete die auf seinen Knieen liegende Grammatik mit berechtigtem Ekel und Überdruß. Bei einer solchen Witterung sich mit dem Accusativus cum infinitivo abgeben zu müssen! Es war ein heilloses, ein über alle Maßen unverschämtes Begehren, und ich blickte mit nicht größerer Abneigung auf meine Manuskripte als der Junge auf sein Buch. Ich sah aber bald mit Vergnügen auf den Jungen. Seine Anstrengungen, dem verruchten syntaktischen Regelngewirr beizukommen, waren wunderbar – fabelhaft. Er versuchte es auf jede Weise, und aus jedem neuen Modus schwitzte die Verzweiflung und das haarsträubende Grauen vor dem morgenden Tage und dem Professor Hauländer. Ich hatte den Tag über mehr als einmal seufzend die Feder fortgeworfen, aber die herbe Notwendigkeit, welche mich am Kragen hielt, war doch nichts gegen den ehernen Finger, welcher diesem jungen Unglücklichen seinen Weg durch die graue Schwüle der Zeit kategorisch andeutete.