They Are Everywhere - Andreas Langer - E-Book

They Are Everywhere E-Book

Andreas Langer

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Beschreibung

Sommer 2055: Roboter, Androiden und virtuelle Welten sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Die 16-jährige Hannah soll zum Ausgleich analoge Ferien auf einer Farm in Ohio verbringen. Doch dann gerät alles aus den Fugen: Die Maschinen wenden sich gegen Menschen – mit tödlichen Folgen.  Für Hannah beginnt eine atemlose Flucht, auf der sie sich größten Gefahren und ihren Ängsten stellen muss. Und dann ist da noch Jarrett, ihr Fluchtgefährte, der Hannah immer wichtiger wird. Während ihre Gefühle verrücktspielen, jagt eine Gefahr die nächste – die Maschinen sind überall. Ein Pageturner, den man nicht aus der Hand legen will! 

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Seitenzahl: 463

Veröffentlichungsjahr: 2025

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Sommer 2055: Roboter, Androiden und virtuelle Welten sind aus dem Alltag nicht mehr wegzudenken. Die 16-jährige Hannah soll zum Ausgleich analoge Ferien auf einer Farm in Ohio verbringen. Doch dann gerät alles aus den Fugen: Die Maschinen wenden sich gegen Menschen – mit tödlichen Folgen.

Für Hannah beginnt eine atemlose Flucht, auf der sie sich größten Gefahren und ihren Ängsten stellen muss. Begleitet wird sie vom geheimnisvollen Jarrett, der ihr immer wichtiger wird. Und mit ihm landet Hannah genau dort, wo der tödliche Technik-Virus geplant wurde …

Ein Pageturner, den man nicht aus der Hand legen will!

Home, sweet home

Hannah

Eigentlich mochte ich Überraschungen. Genau wie Gespräche und … Jungs. Doch wann immer zwei oder drei dieser Dinge zusammenkamen, war ich heillos überfordert.

Jedenfalls im sogenannten echten Leben. Im Metaverse war alles leichter. Dort merkte niemand, wie ich vor Aufregung rot wurde. Niemand sah die Schweißflecken unter meinen Achseln oder die kleinen Härchen, die meine Arme bevölkerten. Im Metaverse hatten alle mein virtuelles Ich vor sich und das war 24/7 selbstsicher und cool.

Doch blöderweise war mein virtuelles Ich im Augenblick offline und mein reales Alter Ego nicht in der Lage, Schweißflecken, rote Wangen und körperliche Makel geheim zu halten. Was umso fataler war, da ich mich auf einem Flughafenparkplatz in Columbus befand, wo ich die Tür eines Autos geöffnet hatte, in dem entgegen meiner Erwartung jemand saß. Ein Junge, das auch noch, und da er wach war und mich ansah, musste ich annehmen, dass er jeden Moment etwas sagen würde.

»Hey.« Da war es.

»Hey«, entgegnete ich und zwang mich, nicht auf meine Sneakers, sondern in seine Richtung zu schauen. Er war Afroamerikaner und sah schlank, aber sportlich aus, soweit ich das bei seiner weit geschnittenen Kleidung – Jeans und T-Shirt – auf die Schnelle beurteilen konnte. Seine Haare waren kraus und ziemlich kurz, sein Gesichtsausdruck ernst. Er lächelte nicht, weder mit dem Mund noch mit seinen großen braunen Augen.

»Ich bin Jarrett. Bist du das Mädchen aus Deutschland?«

Jarrett sprach schnell und nicht gerade deutlich, aber ich verstand ihn trotzdem. Im Metaverse unterhielt ich mich andauernd auf Englisch und mittlerweile fielen mir für viele Dinge erst englische Worte ein, ehe ich auf halbwegs passende deutsche kam. Deep eyes war das Erste, was mir zu Jarretts Augen in den Sinn kam, denn ich verlor mich beinahe in ihnen, so hypnotisch und gleichzeitig melancholisch war ihr Ausdruck.

Mit einem Mal wurde mir bewusst, dass ich nicht auf Jarretts Frage geantwortet hatte und ihn regelrecht anstarrte. Ich nickte kurz (Wahnsinnsantwort, Hannah!), zerrte die Reisetasche von der Schulter und hielt sie beim Einsteigen wie ein Schutzschild vor mich. Am liebsten hätte ich sie auch noch wie einen Raumteiler hochkant gestellt, doch dann legte ich sie nur zwischen uns und zog die Autotür zu. Jarrett sah noch immer zu mir her, vermutlich weil er darauf wartete, dass auch ich mich vorstellte.

»Ich bin Hannah«, sagte ich und sprach meinen Namen englisch aus, während meine Gesichtsfarbe wahrscheinlich zu Stoppschildrot wechselte. Ich rang mir ein kurzes, peinliches Lächeln mit geschlossenem Mund ab, drehte mich weg und griff nach dem Anschnallgurt. Ich zog nur langsam daran, um den Moment hinauszuzögern, in dem ich ihn einrasten lassen und mich wieder in Jarretts Richtung drehen musste. Denn wenn auch das erledigt war, was dann?

Ein Teil von mir brannte darauf, zu erfahren, wer Jarrett war und woher er wusste, dass ich aus Deutschland kam. Aber ein anderer Teil von mir schmetterte diese Neugier nieder.

Pff, was soll schon dahinterstecken? Jarrett ist eben mit deiner amerikanischen Gastfamilie verwandt oder bekannt. Und nachdem er in Columbus Freunde getroffen oder irgendetwas erledigt hat, lassen ihn die Giddeys nun in ihrem selbstfahrenden Elektro-SUV mitfahren. Wahrscheinlich spontan, weshalb Jarrett von dir wusste, aber du nicht von ihm. Und das ist auch schon alles, mehr ist da nicht. Schnall dich an und danach widmest du dich am besten deiner Smartwatch. Stoppschildrot muss nicht das Ende sein, da geht noch mehr auf der Gesichtsfarbenskala, und das weißt du!

Wusste ich, leider. Rot war sozusagen meine Farbe und deshalb wollte ich meiner inneren Stimme gerade gehorchen, als ich die deutlich angenehmere Stimme des Bordcomputers vernahm.

»Vielen Dank fürs Anschnallen. Ich bringe Sie nun an das definierte Ziel«, verkündete die KI in akzentfreiem Englisch. »Die geschätzte Fahrzeit beträgt eine Stunde und 23 Minuten.« Kaum hörbar schaltete sich der Elektromotor ein und der SUV der Giddeys setzte zurück, um auszuparken. »Ihr Ziel liegt in Vinton County. Mit einer Bevölkerung von 12000 Menschen ist Vinton County das am dünnsten besiedelte County des Bundesstaats Ohio, in dem etwa elf Millionen Menschen leben. Mehr als ein Viertel davon hat deutschstämmige Vorfahren.«

So wie Lauren Giddey, dachte ich. Wenn mein Vater sich nicht vertat, war meine Familie über fünf oder sechs Ecken mit Lauren verwandt. Dass ich im selbstfahrenden SUV der Giddeys saß, lediglich durch meine Reisetasche von einem amerikanischen Jungen getrennt, lag jedoch nur zum Teil an meinem Familienstammbaum. Vor allem lag es an meinen Eltern, die in mir so etwas wie einen Zombie sahen. Was sie mir als Amerikaurlaub verkauften, war im Grunde nichts anderes als eine Entziehungskur.

Aber nicht mit mir. Durch die Kunstfasern der Reisetasche ertastete ich die Rettung meiner Ferien. Ich hatte meine Eltern ausgetrickst und mir im Duty-free-Shop am Flughafen dieselbe Virtual-Reality-Brille gekauft, die mein Vater daheim aus meiner Reisetasche geholt hatte. Wahrscheinlich würde ich die Brille nur heimlich benutzen können, aber immerhin. Das Metaverse würde mich nicht ganz verlieren.

»Möchten Sie mehr über Ohio erfahren?«, fragte die weibliche Stimme aus dem Lautsprecher.

Ich spürte Jarretts Blick. Ich schluckte, dann bejahte ich leise, obwohl ich an Fakten über Ohio so wenig Interesse hatte wie an einem Podcast über Ahnenforschung. Der SUV fuhr vom Parkplatz auf eine mehrspurige Straße und die KI erzählte von Ohios Geschichte, die mir zum einen Ohr hinein und zum anderen hinausging. Doch solange der Bordcomputer redete, musste ich nicht mit Jarrett reden.

Sein Blick ging über die Reisetasche (gelegt, nicht gestellt) zu meiner Hand. Erst jetzt bemerkte ich, dass ich die Finger zur Faust geballt hatte und mit dem Daumen Kreise auf das Gelenk meines Zeigefingers malte: eine Marotte von mir, die ich nicht ablegen konnte und die sich immer dann zeigte, wenn ich keinen VR-Controller in der Hand hielt oder nervös war. Und Gott, ich war nervös!

Beschämt steckte ich die Hand unter die Reisetasche und machte unsichtbar für Jarrett mit meinen Daumenkreisen weiter.

»Ohio ist Teil des sogenannten Corn Belts des mittleren amerikanischen Westens, in dem lange Zeit hauptsächlich Mais angebaut wurde. Mittlerweile ist die landwirtschaftliche Produktion deutlich diversifizierter«, belehrte mich die KI und ein Blick durch die getönte Fensterscheibe des SUV zeigte, dass die landwirtschaftliche Produktion auch in den Großstädten angekommen war. Der Flughafen lag etwas außerhalb von Columbus, aber überall am Horizont schraubten sich Farmscraper in den dunstigen Mittagshimmel – vertikale Farmen, in denen auf unzähligen Etagen Gemüse für die Stadtbevölkerung angebaut wurde.

Da ich meinen Eltern noch eine Nachricht schreiben musste, aktivierte ich meine Smartwatch. Die Hologrammanzeige ploppte auf und auf meinem Unterarm erschien die Projektion einer Tastatur. Meine Finger flogen über die optischen Tasten, die auf meine blasse Haut und die dunklen Härchen projiziert waren. Wenn es nach meinen Eltern ging, sollte mir dieser zwangsverordnete USA-Urlaub helfen, allein in der Realität zurechtzukommen und selbstständiger zu werden. Es passte nur nicht so recht dazu, dass ich meinen Eltern Nachrichten schreiben sollte, sobald ich sicher gelandet war (was ich getan hatte), sobald ich im Auto saß (was ich in diesem Augenblick erledigte) und dann noch einmal, wenn ich bei den Giddeys angekommen war. Eine Stunde und 16 Minuten veranschlagte der Bordcomputer noch dafür und es sah ganz danach aus, als würden es 76 Minuten des Schweigens werden, denn Jarrett hatte sich abgewandt und sah, mit Kopfhörern über den Ohren, aus dem getönten Fenster.

Ich war erleichtert und gleichzeitig enttäuscht. Ich hatte vermeiden wollen, dass Jarrett noch einmal das Gespräch mit mir suchte, insgeheim jedoch hatte ich mir genau das gewünscht. Da war etwas in seinem Blick gewesen, das mich fasziniert hatte. Und davon abgesehen – wäre es nicht nett gewesen, zur Abwechslung mal im realen Leben ein paar Worte mit einem Jungen zu wechseln? Nett und obendrein gut fürs Ego? Wenn ich ehrlich war: ja, und zwar so was von ja. Aber natürlich war es nicht dazu gekommen, denn ich hatte wieder einmal sensationell versagt.

Mit einem Tastendruck deaktivierte ich die Smartwatch und sofort verschwanden die Hologrammanzeige und die auf meinen Unterarm projizierte Tastatur. Ich öffnete den Reißverschluss der Reisetasche, steckte die Hand hinein und strich über das Gehäuse meiner neuen Brille. Es verlangte mich danach, sie herauszuholen, aufzusetzen und ins Metaverse zu fliehen. Aber ich hatte den nur spärlich geladenen Akku noch vor dem Abflug in die Knie gezwungen und alles, was ich jetzt noch tun konnte, war, die Finger um den Controller zu schließen und den Daumen über die kreisrunde Taste kreisen zu lassen. Es bewirkte nichts, jetzt, da die Brille ausgeschaltet war, aber zumindest beruhigte es mich.

Ein Gähnen stemmte mir den Mund auf. Achteinhalb Stunden war ich nach New York geflogen, wo ich am Flughafen vergeblich nach einer freien Steckdose zum Aufladen der Brille gesucht hatte, ehe ich abermals in einen Flieger gestiegen war. Aufgrund der Zeitverschiebung war es in Amerika erst Mittag, aber ich war seit mehr als 14 Stunden unterwegs und während der ganzen Zeit nur einmal kurz eingedöst. Meine Beine hatten sich in beiden Flugzeugen als hinderlich lang erwiesen, in der Fahrgastkabine des SUVs jedoch konnte ich sie problemlos ausstrecken und jetzt lag ich mehr, als dass ich saß.

Aus den Augenwinkeln schielte ich zu Jarrett, der, wie ich feststellte, nicht nur große Augen, sondern auch ziemlich große Ohren hatte, und nach wie vor aus dem Fenster starrte. Am Straßenrand hinter der getönten Scheibe ploppte ein Werbehologramm für eine im Bau befindliche Hyperloopstrecke auf, die es möglich machen würde, von Columbus in zwei Stunden den Strand von Florida zu erreichen. Geplante Fertigstellung: Sommer 2057. Wenn die ersten Ohioaner (oder wie immer man die in diesem Bundesstaat lebenden Menschen nannte) in Kapseln stiegen, um mit Schallgeschwindigkeit einem Nachmittag am Strand entgegenzujagen, würde ich nicht mehr 16, sondern 18 sein. Volljährig. Ich bezweifelte, dass diese Tatsache mein reales Leben beflügeln würde.

Der SUV reihte sich in eine Kolonne von selbstfahrenden Autos ein, die auf einem Highway stadtauswärts fuhren, gleich neben den Hyperloopröhren. Es waren zwei, eine für jede Fahrtrichtung, und soweit ich das beurteilen konnte, sahen sie fertig aus. Wir fuhren an einer Wohnwagensiedlung vorbei und ein paar Minuten später durch irgendeinen Vorort von Columbus, dann zogen vor den getönten Fenstern nur noch Leitplanken, Stromleitungen und Natur vorüber. Was Jarrett immer noch interessanter zu finden schien als mich, das befremdliche Mädchen aus Deutschland. Die KI war mittlerweile beim Themenpunkt Religion in Ohio angekommen, woraus ich schloss, dass ich wohl kaum etwas verpasste, wenn ich die Augen zumachte und ein wenig döste.

* * *

»Hey. Hannah.« Jarretts Stimme drang wie durch Watte an mein Ohr. »Ich glaube, es ist Zeit zum Aufwachen.«

Ich blinzelte mich wach, kehrte aus dem Tiefschlaf in den SUV der Giddeys zurück. Jarrett hatte die Kopfhörer abgenommen und sah zu mir her. Auch diesmal lächelte er nicht.

»Noch ein paar Minuten«, er nickte in Richtung des Bordcomputers, »dann sind wir da.«

»Okay«, sagte ich und spürte den Speichelfaden, der aus einem meiner Mundwinkel geronnen war. Auch Jarrett musste ihn bemerkt haben, genau wie mein hervorstehendes Kinn, das den Speichelfaden bremste. Hitze überzog mein Gesicht, während ich mich hastig abwandte und versuchte, den Speichel beiläufig wegzuwischen.

Ich war froh, dass Jarrett mich rechtzeitig geweckt hatte, aber ich bedankte mich nicht bei ihm, ich stierte aus dem Fenster. Das Gelände war hügeliger als dort, wo ich eingeschlafen war, und wir fuhren auch nicht mehr auf dem Highway, sondern auf einer schmaleren Straße. Statt Leitplanken gab es jetzt einen zweifachen gelben Mittelstreifen, die Stromleitungen neben der Straße waren aber immer noch da, genau wie die Natur.

Der SUV bog auf einen asphaltierten Weg, der zuerst von ein paar Bäumen und schließlich von einem weiß gestrichenen Lattenzaun gesäumt wurde. Dahinter begannen Äcker und Felder, auf denen in endlosen Reihen grüne niedrige Pflanzen wuchsen. Noch eine Minute, kündigte das Display des verstummten Bordcomputers an, und durch die Windschutzscheibe drängten bereits die Gebäude der Farm. Oder vielmehr: meiner Entzugsklinik auf dem Land.

Das größte Gebäude war eine riesige, in kräftigem Rot gestrichene Scheune, vor der sich auf einem von dicken Kabeln umrankten Stahlgerüst ein Windrad drehte. Das weiß gestrichene Wohnhaus besaß eine Veranda, deren Überdachung ebenso wie das Hausdach mit Solarzellen gepflastert war, und auf der Veranda stand winkend die Klinikleiterin.

Der SUV kam zum Stehen, die KI bedankte sich für die Fahrt und Lauren Giddey öffnete die Tür zur Fahrgastkabine.

»Hannah, wie schön, dass du da bist!« Ihr Lächeln war so nett, dass ich drauf und dran war, ihr die Freude abzukaufen. »Und du musst Jarrett sein. Herzlich willkommen auf unserer Farm!«

Also doch kein Verwandter oder Bekannter der Giddeys. Aber wer war Jarrett dann?

Meine sperrige Reisetasche bewahrte mich nicht vor einer Umarmung. Lauren war Mitte bis Ende 20, hatte kurze blonde Haare und ein hübsches, ebenmäßiges Gesicht. Über einem Jeansrock trug sie ein blaues Top mit Spaghettiträgern. Ihre Arme waren kein bisschen behaart.

»Wie war der Flug, Hannah?«

»Äh, okay. Ziemlich lang.«

»Oh, das kann ich mir vorstellen.« Lauren tätschelte mir mitfühlend die Schulter, dann bemerkte sie Jarrett, der ums Auto herumgekommen war. »Ich bin Lauren, Quentins Frau.« Sie streckte ihm die Hand entgegen und Jarrett schüttelte sie, hatte aber auch für unsere hübsche Gastgeberin kein Lächeln, was mich aufrichtig erstaunte.

»Und«, sagte Lauren, »habt ihr beide euch schon angefreundet während der Fahrt?«

»Ähm … Na ja … Ein bisschen vielleicht«, stammelte ich und wagte es nicht, Jarrett in die Augen zu schauen. Von den anderthalb Stunden, die wir uns jetzt kannten, hatte ich den größten Teil verschlafen. In den wenigen Minuten, die ich wach gewesen war, hatte ich es geschafft, mehrfach knallrot zu werden (so wie jetzt), aus dem Mund zu sabbern und zusammengerechnet vier Worte mit ihm zu wechseln. Man konnte sagen, ich hatte mein Möglichstes getan, damit er sich nicht mit mir anfreunden wollte.

Laurens Blick verharrte etwas zu lang auf mir. Dann war ihr Lächeln wieder da, diesmal jedoch wirkte es aufgesetzt. »Na, dann kommt mal mit rein«, sagte sie und nickte uns zu.

Wir folgten ihr über die Veranda ins Haus, das hell, geräumig und ziemlich modern eingerichtet war. Auf dem Esstisch türmte sich etwas, das aussah wie eine Mischung aus Burgerpatties und nicht glasierten Elisenlebkuchen.

»Das ist Goetta. Eines der traditionellen Gerichte Ohios, das seinen Ursprung in Deutschland hat. Gekochte Hafergrütze, Zwiebeln, Gewürze und Schweinehackfleisch – also eigentlich. Bones ersetzt es auf unseren Wunsch hin durch Tofu.« Lauren deutete auf den Haushaltsandroiden in der zum Wohnbereich hin offenen Küche. Es war ein eher simples Modell, mit weißem Kunststoff verkleidet und einem Torso, der nicht auf Beinen, sondern auf großen Rollen aufsaß. Die Sensoraugen des Androiden waren auf eine Rührschüssel gerichtet, in die seine stufenlos biegbaren Finger ein Ei aufschlugen.

»Bones backt Himbeerkuchen«, erklärte Lauren, »für den Nachmittagskaffee. Heute Abend hätte ich an vegetarisches Barbecue gedacht. Aber nehmt euch erst einmal Goetta. Ansonsten ist Bones beleidigt.« Sie zwinkerte uns zu, woraufhin Jarrett sich zwei Tofulebkuchen auf seinen Teller legte. Ich murmelte etwas von wegen kein Hunger.

»Quentin füllt gerade Pflanzenschutzmittel in die Sprühtanks der Drohnen«, sagte Lauren in die etwas peinliche Stille hinein. »Aber er müsste jeden Moment fertig sein, dann kann er euch die Farm zeigen. Möchtest du dich vorher frisch machen, Hannah?«

»Ähm, ja, gerne, aber …« Mein Blick wurde von der brillenförmigen Ausbeulung in meiner Reisetasche angezogen. »Könnte ich mich nach dem Duschen vielleicht erst mal ausruhen?«

»Natürlich, Hannah.« Lauren nickte verständnisvoll. »Wollen wir nach oben gehen, damit ich dir das Bad und dein Zimmer zeigen kann?« Sie stand auf und lud sich die Reisetasche auf die Schulter. »Ich bin gleich zurück, Jarrett. Nimm dir ruhig noch einmal nach, ja?«

Er nickte und ich folgte Lauren nach oben, wo sie mir Bad und Gästezimmer zeigte und mich ermutigte, zu ihr zu kommen, sollte ich irgendetwas brauchen. Doch das Bad und das Gästezimmer waren völlig okay und was das Wichtigste war: Es gab eine strategisch sehr günstig gelegene Steckdose unmittelbar neben dem Bett. Ich holte die Brille und den Adapterstecker vom Duty-free-Shop aus der Reisetasche, stöpselte Kabel und Stecker zusammen und stülpte mein Kissen darüber. Lauren schien nett zu sein, aber meine Eltern hatten sie nun mal zur Leiterin meiner Entzugsklinik auserkoren – oder eher: verdammt. Bis klar war, auf wessen Seite sie stand, war ich besser vorsichtig.

Die Dusche verfügte über eine coole Wasserfallfunktion, die ich nur kurz auskostete. Ich trocknete mich ab und schlüpfte eilig in die frische Kleidung, die ich aus meiner Tasche bereitgelegt hatte: Unterhose, Füßlinge, meine schwarze Lieblingsjeans, in der ich fast so etwas wie einen Hintern hatte, BH und ein schlichtes weißes T-Shirt, dessen Ärmel bis zu den Ellbogen reichten. Ich hatte es gerade über den Kopf gezogen, als sich mein Blick im Spiegel verfing. Es gab nicht viel, was ich an mir mochte: meine grünbraunen Augen, die geschwungenen, dichten Brauen und vielleicht noch meine hohen Wangenknochen. Der Rest hingegen … Mein Kinn war zu spitz, der Hals zu lang und meine Figur nicht nur hager, meine Arme und Beine waren obendrein von Heerscharen kleiner Härchen besiedelt.

Schnell streifte ich das T-Shirt über, floh aus dem Bad und in mein Zimmer. Ich verriegelte die Tür, schrieb meinen Eltern die dritte kurze Nachricht, dann stellte ich mich neben das Bett, setzte die VR-Brille auf und nahm die Controller in die Hände. Ich drehte die Lautstärkeempfindlichkeit nach oben, damit ich im Flüsterton sprechen und Lauren mich nicht hören konnte, und schaltete den Displaymodus von Mixed auf Virtual Reality. Prompt verschwand das Gästezimmer der Giddeys hinter den Polygonwänden meines virtuellen Lofts.

Ich seufzte, spürte, wie sich mein ganzer Körper entspannte. Ich war zurück in der Welt, in der auch ich mich hübsch, selbstsicher und beachtet fühlte. Zurück im Metaverse, zurück in meinem wahren Leben.

Es dauerte keine 30 Sekunden, dann klingelte es an der Tür meines virtuellen Lofts. Fjellas virtuelles Alter Ego trug Minirock und Lederjacke, die Lippen hatte sie knallrot geschminkt. In Norwegen, wo die leibliche Fjella vermutlich in ihrer autofreien Garage stand, war es Freitagabend.

»Hannah! Ich habe mich sofort herteleportiert, als ich deine Statusmeldung gesehen habe. Ich dachte, du wärst in Amerika und deine Eltern hätten dir verbo…«

»Ich bin in Amerika, Fjella! Und deswegen kann ich auch nicht laut sprechen, aber ich bin trotzdem am Start! So in eineinhalb oder zwei Stunden muss ich mich wieder blicken lassen, also … was machen wir so lange? Heute ist doch das Konzert der Spotted Beasts! Oder sollen wir erst mal auf Marisas Ausstellung? Entscheid du, Fjella, mir ist beides recht. Gott, es ist so schön, hier zu sein!«

Mensch – Maschine

Jarrett

Die Räder des Traktors wirbelten trübgelbe Staubwolken auf, die vom Feldweg über die Äcker walzten. Quentin Giddey, ein drahtiger Kerl Ende 20, saß mit hochgerollten Hemdsärmeln am Lenkrad und erzählte, dass laut seiner Smartwatch so bald nicht mit Regen zu rechnen sei.

»In fünf Tagen vielleicht, 45-prozentige Wahrscheinlichkeit aktuell. Es ist zu trocken, Jarrett, viel zu trocken. Das Gewitter vorletzte Nacht war nur ein Tropfen auf den heißen Stein – jedenfalls hier auf dem Land. Hat es in Columbus mehr geregnet?«

»Ich weiß nicht«, sagte Jarrett. »Kann sein.« Er hatte die Regentropfen in jener Nacht aufs Dach prasseln hören und sie später auch auf Kleidung und Haut gespürt. Doch er hatte sie kaum beachtet, denn seine Gefühle waren Achterbahn gefahren und sein Körper geradezu übergelaufen vor Adrenalin. Quentin Giddey mochte jene Nacht mit dem Regen verbinden, der für seine Felder nicht ausreichte. Jarrett selbst verband sie mit dem, was er kaputt gemacht hatte.

»Das ist der vierte Sommer, seit Lauren und ich die Farm gepachtet haben, und mit Abstand der trockenste.« Quentin griff sich an die Baseballkappe, auf die das Logo der Ohio State University genäht war, eingerahmt von einem verblichenen Schweißfleck. »Wir haben den Pachtvertrag am Tag vor der Hochzeit unterschrieben, was es mir leichter macht, mich ans Datum zu erinnern. Also an das unseres Hochzeitstages.« Er lachte, dann zeigte er über das Getreidefeld zu dem asphaltierten Weg, auf dem der SUV in Richtung Landstraße fuhr. »Die Inspektion steht an, drüben in Chillicothe. Ich bin froh, dass der SUV das allein hinkriegt. Es gibt nur noch eine Maschine auf der Farm, die gesteuert werden muss, und das«, er trommelte aufs Lenkrad, »ist Little John hier.«

»Little John?«, wiederholte Jarrett, um nicht unhöflich zu erscheinen. Sie fuhren auf einem grünen Traktor der Marke John Deere – es war nicht schwer, sich zusammenzureimen, warum Quentin diesen Spitznamen gewählt hatte. Die Frage war höchstens, ob er Robin Hood gelesen oder gestreamt hatte. Wie sich herausstellte, kannte Quentin nur die Serie mit Denji Bassey. Er erzählte, dass der nach der Romanfigur benannte Traktor uralt und Teil des Pachtvertrags gewesen sei. Höchstgeschwindigkeit: 25 Meilen pro Stunde. Tankinhalt: 164 Liter. Verbrauch: 16,9 Liter pro Stunde. Jarrett musste an das Mädchen aus Deutschland denken, das verklemmt, aber clever genug gewesen war, Müdigkeit vorzuschieben und in ihrem Zimmer zu bleiben.

Dabei war die Farmtour eigentlich gar nicht so übel, nur Quentins Faible für technische Details nervte. Und davon gab es eine Menge auf einer Farm, die normalerweise nur von zwei Menschen, aber wer weiß wie vielen Maschinen bewirtschaftet wurde. Da waren Jätroboter, die zwischen langen Reihen von Sojabohnen hindurchzuckelten, über Kamerasysteme verfügten und darauf programmiert waren, alles wegzuhacken, was nicht nach Sojabohnen aussah. Über einem benachbarten Feld kreisten autonome Drohnen, die flüssige Pflanzenschutzmittel aus 18,1 Liter großen Tanks versprühten und bis zu 72 Minuten in der Luft bleiben konnten – nur zwei von dutzenden Zahlen, die Quentin ungefragt ausspuckte. Und dann, auf einem bereits abgeernteten Feld, kam der Technische-Daten-Overkill: ein massiver, kettenbetriebener Feldroboter, der, wenn man ihn umlackiert und mit einer Rohrkanone ausgestattet hätte, mühelos als Panzer durchgegangen wäre. Im Augenblick zog der Feldroboter einen Pflug und er war so vielseitig, dass Jarrett ein ums andere Mal nicken und Interesse heucheln musste, bis Quentin endlich alle Funktionen und Details abgespult hatte.

»Für einen jungen Kerl wie dich dürfte es ein Kinderspiel sein, die Roboter und Drohnen einzusetzen. Im Grunde brauchst du nur deine Smartwatch. Sobald ich sie freigegeben habe, kannst du sämtliche Maschinen mit ihr steuern. Da fällt mir ein: Ich müsste noch deine Ferienarbeitserlaubnis sehen.«

Jarrett ließ seine Uhr den entsprechenden Nachweis anzeigen. Die Zeitanzeige 15.22 Uhr verschwand und das Hologramm jenes digitalen Zertifikats ploppte auf, das man in Ohio brauchte, um mit fünfzehn einen Ferienjob anzunehmen. Quentin warf einen flüchtigen Blick darauf, während er Little John einhändig um ein Getreidefeld lenkte.

»Und deine Eltern sind einverstanden?«

»Ja.« Die Lüge kam prompt von Jarretts Lippen. Er wollte diesen Ferienjob, wenn auch nicht wegen dem, was er hier tun sollte, oder der Bezahlung. Dieser Job war kein Ausweg aus dem Dilemma, in das er sich selbst hineinmanövriert hatte, aber er verschaffte ihm zumindest ein paar Tage Zeit.

Über ihnen pinselte ein Flugzeug einen weißen Kondensstreifen auf den wolkenlosen blauen Himmel. Quentin faselte irgendetwas von wegen Landeschneise und Maschinen aus Charlotte und Atlanta, aber Jarrett war in Gedanken woanders. Als Quentin zu ihm herübersah, nickte er reflexartig, doch diesmal schien das nicht zu genügen, denn Quentin runzelte die Stirn.

»Entschuldigung, ich habe gerade nicht zugehört. Was hattest du gesagt?«

»Kein Problem.« Quentins forschende Miene löste sich zu einem sonnigen Lächeln auf. »Ich hatte dich nur nach deiner Meinung gefragt. Denkst du auch, dass sich Kontinentalflüge in ein paar Jahren erledigt haben?«

»Schon möglich. Aber erst einmal müssen all die Hyperloop-Strecken fertig werden, oder?«

»Ja. Und dann stellt sich noch die Frage, was so eine Kapselfahrt kos…« Quentins Blick wurde von dem Hologramm angezogen, das Jarretts Smartwatch nach wie vor projizierte. Aber nun zeigte das Hologramm nicht mehr das Ferienarbeitszertifikat an, stattdessen standen da Worte.

With God

All Things

Are Possible

(Mt. 19,26)

»Mit Gott sind alle Dinge möglich … Das ist ja Ohios Staatsmotto! Wow, ich hätte nicht gedacht, dass ein Junge deines Alters diesen Satz als Standardholo wählt.«

»Das … habe ich auch nicht.«

»Ist doch cool.« Quentin schien zu glauben, dass Jarrett sich dafür schämte, das Bundesstaatsmotto als Standardanzeige festgelegt zu haben, die je nach Einstellung kurz zu sehen war, ehe sich die Hologrammprojektion automatisch abschaltete. Aber er hatte diesen Satz nicht gewählt. Irritiert drückte er auf seine Smartwatch, doch sie reagierte nicht.

»Wusstest du, dass Ohios Staatsmotto auf einen zehnjährigen Jungen zurückgeht? Er hat diesen Vers in einem Brief an den Cincinatti Enquirer vorgeschlagen. Müsste so vor hundert Jahren gewesen sein.«

Diesmal machte sich Jarrett nicht die Mühe zu nicken. Er mochte diesen Spruch nicht, hatte ihn nie gemocht. Wenn es einen Gott gab und wenn mit ihm alles möglich war, dann hatte der Gott, der für sein Leben zuständig war, eine Vorliebe für schlechte Dinge.

Seine Smartwatch, die bis eben nie groß aufgemuckt hatte, war jetzt ungewöhnlich warm. Und sie reagierte einfach nicht, weder auf Sprachkommandos noch auf Tastendruck.

Auch Quentin drückte mittlerweile an seiner Uhr herum. »Bei mir funktioniert die Hologrammanzeige nicht. Gar nichts funktioniert mehr, aber …« Auf dem Display von Quentins Smartwatch standen dieselben Worte, die als Hologramm groß über Jarretts Arm schwebten. »Ist heute irgendein Ohio-Jahrestag, von dem ich nichts weiß? Irgendein Jubiläum, wegen dem Gouverneur Baker unsere Smartwatches kapert?«

Jarrett antwortete nicht. Stattdessen versuchte er zum wiederholten Mal, seine Uhr neu zu starten. Er spürte, wie die Taste unter seinem Finger nachgab und sanft vibrierte. Aber es tat sich einfach nichts. Das Hologramm war wie eingefroren.

Ohne Vorwarnung trat Quentin auf die Bremse. Jarrett folgte seinem Blick und landete bei zwei Jätrobotern, die quer durch ein Sojafeld in Richtung Traktor fuhren. Ihre Hacken bohrten sich in einem fort in den Boden. Ganz egal, was dort wuchs.

»Verdammt! Die machen mir die Bohnen kaputt!« Quentin drehte den Zündschlüssel herum und riss die Tür auf. »Komm mit, Jarrett! Wir müssen sie stoppen!« Er sprang auf den Weg und rannte aufs Feld.

Jarrett zögerte einen Moment, dann stieg auch er aus und eilte hinter Quentin auf die Jätroboter zu.

»Sie müssen ein Problem mit den Kameras haben! Und mit dem Datenbankzugriff!«

»Und wie stoppen wir sie?«, rief Jarrett zurück. An seiner Jeans streiften unentwegt Sojabohnen entlang.

»Normalerweise per App. Jetzt manuell. Siehst du die Kabel, die rings um die Roboter gespannt sind? Wenn man Druck auf sie ausübt, halten die Roboter an.«

»Das heißt, ich soll daran ziehen?«

»Genau!«

Quentin brauchte nicht mehr zu schreien, denn Jarrett hatte ihn eingeholt und gleich darauf überholt. Er war seit zwei Jahren im Leichtathletikteam der Henderson High.

Als er den Roboter erreichte, bückte er sich zu dem ringsum gespannten Kabel und zog daran. Doch der Roboter fuhr und jätete weiter. Jarrett zog erneut, diesmal noch fester, und wich gleichzeitig zurück, damit seine Turnschuhe nicht unter die Hacken gerieten. Aber egal wie fest er am Kabel zog, die Hacken gruben sich immer weiter in den Boden. Jarrett wollte gerade fragen, was er falsch machte, doch ein Blick zu Quentin zeigte ihm, dass es dem genauso ging.

»Keine Ahnung, was da los ist!« Quentin sah ihn mit umwölkten Augen an.

Sie versuchten es weiter, zogen an den Kabeln und liefen dabei rückwärts übers Feld. Quentin schrie seine Smartwatch an und hämmerte auf die Taste – aber die Steuerungs-App der Jätroboter zu öffnen, schien nicht mehr zu den Dingen zu gehören, die mit Gott möglich waren.

»Scheiße, scheiße, scheiße! Die ruinieren mir noch die ganze Ernte! Jarrett, komm her, wir versuchen, einen von ihnen umzudrehen!«

Jarrett eilte zu Quentin, aber wenig überraschend erwies sich der Roboter als zu schwer, um ihn hochzuheben. Erstaunlicher war, dass der andere Jätroboter seine Richtung geändert hatte und sie nun von der Seite bedrängte. Jarrett spürte das Kabel an seinem Knie und machte einen Satz rückwärts. Sofort korrigierte auch die Maschine ihren Kurs und hielt, unermüdlich Sojabohnen jätend, auf ihn zu.

Jarrett tauschte einen kurzen, verdutzten Blick mit Quentin, dann schlug er einen Haken und sprintete auf die andere Seite des Roboters. Doch der drehte sich prompt um 180 Grad und verfolgte ihn abermals.

Offensichtlich funktionierten die integrierten Kameras also noch. Nur schienen die Roboter plötzlich nicht mehr auf Unkraut programmiert zu sein, sondern auf Menschen.

Ein Sirren in der Luft ließ Jarrett herumfahren. Drohnen! Und sie flogen so schnell heran, dass die Jätroboter im Vergleich wie Schnecken wirkten. Aber es sah so aus, als visierten Schnecken und Drohnen dieselben Ziele an.

»Was zur Hölle ist hier eigentlich los?« Quentins Augen leuchteten blau aus seinem kreidebleichen Gesicht.

Das Sirren der Propeller schwoll an und Jarrett erkannte die Tanks (18,1 Liter groß, er hatte es sich tatsächlich gemerkt) und die Vorrichtungen, aus denen sich sprühender Regen ergoss.

»Das ist Pflanzenschutzmittel!«, schrie Quentin, der seine Kappe tief ins Gesicht zog. »Pass auf, dass es dir nicht in die Augen kommt!«

Jarrett schirmte die Augen mit den Händen ab. Er hörte, wie die Drohnen über ihnen kreisten, spürte den Sprühregen auf Haut und Kleidung.

»Warum spritzen sie auf uns statt auf die Pflanzen?«

»Ich weiß es nicht. Erst unsere Uhren, dann die Jätroboter und jetzt die Drohnen – alles spielt verrückt!« Quentins Stimme klang wacklig. »Wir steigen besser wieder in den Traktor, sonst verätzt uns das Pflanzenschutzmittel noch die Haut!«

Sie rannten los, doch aus dem bereits abgeernteten Feld walzte ein Panzer heran: Der kettenbetriebene Feldroboter, der noch immer den Pflug hinter sich herzog. Er war Little John näher als sie und obendrein schneller. Und wenn Jarrett sich nicht verdammt täuschte, nahm er dieselben Ziele wie die Jätroboter und Drohnen ins Visier.

Quentin kam armerudernd zum Stehen, fuhr herum und packte Jarrett am Arm. »Wir müssen ins Haus! Oder in die Scheune! Los, los, los!«

Jarrett rannte, und obgleich er seine Arme nicht einsetzen konnte, weil er mit den Händen die Augen schützte, hatte er Quentin bald abgehängt. Über ihm sirrten die Drohnen und besprühten ihn. Die Haut an seinem ungeschützten Nacken fing schon zu jucken an. Jarrett warf einen hastigen Blick über die Schulter und sah, dass Quentin ebenfalls von Drohnen bespritzt wurde und der pflügende Panzer beständig aufholte.

»Keine Sorge, der kriegt mich nicht!«, rief Quentin, der alles andere als schlecht in Form war. Außerdem war es nicht mehr weit zum Haus und zur Scheune.

Doch plötzlich ging eine der Drohnen vor Quentin in den Sinkflug. Er schaffte es nicht rechtzeitig, die Hände hochzunehmen, und auch der Schirm seiner Baseballkappe schützte ihn nicht vor dem Beschuss von vorn. Schreiend fasste er sich an die verätzten Augen und während die Drohnen ihn aus allen Richtungen besprühten, walzte über den Feldweg der Panzer heran. Jarrett brüllte und endlich setzte sich Quentin wieder in Bewegung. Aber er taumelte nur noch vorwärts und geriet vom Weg in den angrenzenden Acker, wo er blindlings in eine Ackerfurche stolperte. Er ging zu Boden, seine Augen waren einen Moment lang ungeschützt und die Tanks der Drohnen noch längst nicht leer. Schreiend und wankend rappelte sich Quentin wieder auf. Doch im nächsten Moment walzte der Panzer über ihn hinweg und der Pflug grub seine eisernen Messer in ihn.

Jarretts Magen krampfte sich zusammen. Einen Moment lang glaubte er, erbrechen zu müssen, doch anscheinend überlegte es sich die zerkaute Goetta auf halber Strecke anders. Jarrett riss seinen Blick von Quentin Giddeys zerhacktem Körper los und zwang sich zu funktionieren. Zu rennen.

Es dauerte keine drei Sekunden, dann schwirrten sämtliche Drohnen über ihm, dem einzig verbliebenen lebendigen Ziel. Schon ging die erste Drohne in den Sinkflug und attackierte ihn von vorn, aber er versuchte erst gar nicht, sein Gesicht zu schützen, denn seine Arme mussten schwingen. Und sie schwangen, während er mit geschlossenen Augen weitersprintete, eskortiert vom sirrenden Regen der Drohnen.

Der Feldweg war ziemlich eben, aber er war keine Tartanbahn und Jarrett wusste, dass ein einziges Schlagloch reichen würde, um ihn aus dem Tritt zu bringen. Der Feldroboter wummerte immer lauter in seinem Nacken, aber als Jarrett vorsichtig blinzelte, sah er für einen Moment das Haus, weiß wie die Ziellinie im Stadion. Dann verschwamm es vor seinen fürchterlich brennenden Augen. Am liebsten hätte er geschrien, aber er hatte keine Luft dafür und durfte auch keine dafür verschwenden. Jarrett versuchte, wie auf der Tartanbahn zu denken, aber es klappte nicht, denn hier ging es nicht um einen neuen Rundenrekord, sondern um alles.

Das Rattern des Roboters und das Scharren der Pflugmesser schwollen an. Jarrett rannte, machte die Augen einen Spalt weit auf, sah die Stufen zur Veranda und spürte, wie das Pflanzenschutzmittel seine Bindehaut in Brand setzte. Zwei Stufen auf einmal, ein Sprung, ein Schlag nach den Drohnen, dann riss er keuchend Fliegentür und Verandatür auf und knallte sie hinter sich wieder zu, gerade noch rechtzeitig, bevor die vorderste Drohne hereindrängte. Wie durch einen Schleier sah er die Umrisse des Wohnraums, stürzte in die Küche und zum Waschbecken. Er schaufelte Wasser in die Augen, hielt sie direkt unter den Strahl, aber es nützte nicht viel – sie brannten wie Hölle.

Als er das Wasser abschaltete und sich umdrehte, machte er einen blau-roten Schemen auf der weißen Wohnzimmercouch aus.

»Lauren.« Er ging auf sie zu und das Hologramm, das noch immer über seinem linken Arm schwebte, bewegte sich mit ihm. Jarrett schluckte angesichts dessen, was er berichten musste. »Lauren. Die Maschinen draußen spielen alle verrückt! Und Quentin, er …«

Aber Lauren Giddey musste nicht mehr erfahren, dass ihr Mann von einem Feldroboter geplättet und wie ein Truthahn an Halloween tranchiert worden war. Aus ihrer Brust ragte der Holzschaft eines Barbecuespießes, der sie durchbohrt und an die Couch gespießt hatte.

Jarrett spürte, wie sich die zersetzte Goetta in seinem Magen rührte. Einen Moment lang hoffte er, dass Lauren nur verletzt war, aber ihre fehlende Reaktion, der leere Blick und das viele Blut ließen nur einen Schluss zu: Sie war so tot wie Quentin.

Durch ein offen stehendes Fenster drang das Sirren der Drohnen. Lediglich ein Fliegengitter hinderte sie am Eindringen und es war sicher ratsam, das Fenster rasch zu schließen. Doch Jarretts Gedanken formten sich nur langsam und ebenso langsam und mit wackligen Knien trat er von Lauren zurück. Ein neues Geräusch riss ihn aus seiner Lethargie. Der Haushaltsandroide der Giddeys rollte auf ihn zu. Seine vormals schwarzweißen Sensorenaugen leuchteten rot und mit einer seiner biegbaren Kunststoffhände hielt er einen weiteren Barbecuespieß. Paprika- und Zucchinischeiben steckten darauf, aber es gab noch reichlich Platz für menschliche Innereien.

Bones stieß den Spieß nach vorn, aber Jarrett sprang gerade noch rechtzeitig zurück. Sein Rücken krachte gegen die Kante des Esstischs. Er war zum Nachmittagskaffee gedeckt. Bones’ Arm schnellte vor, Jarrett wich geistesgegenwärtig zur Seite aus und der Barbecuespieß bohrte sich in den Himbeerkuchen. Der Androide zog ihn heraus und jetzt waren die Paprika- und Zucchinischeiben mit Himbeersahne überzogen.

Jarrett trat gegen den mit Kunststoff verkleideten Torso. Bones’ Oberkörper kippte vor und zurück, mehr bewirkte der Tritt nicht. Sofort setzte der Androide wieder zum Angriff an, doch Jarrett flüchtete auf die andere Seite des Esstischs.

Polternd krachte das Fliegengitter auf den Dielenboden. Durchs offene Fenster drang eine Drohne. Sie versprühte Pflanzenschutzmittel und hielt auf das Mädchen aus Deutschland zu, das unbemerkt von Jarrett die Treppe heruntergekommen war.

»Mach die Augen zu!«, brüllte er und stürmte um den Tisch herum.

Hannah reagierte nicht. Wie versteinert stand sie auf der untersten Stufe der Treppe, den Blick auf ihre an die Couch gespießte Verwandte geheftet.

Die Drohne besprühte Hannah. Sie schrie und schützte endlich ihr Gesicht, aber Jarrett packte eine ihrer Hände, zog sie von der Drohne weg und die Treppe herunter. Bones wollte schon wieder zustechen, doch Jarrett trat ihm seitlich gegen den Arm und zerrte Hannah hinter den Küchenschrank.

Durchs offene Fenster schwirrte eine weitere Drohne. Auch ihr Tank war noch nicht leer.

»Wir müssen hier weg!« Jarrett zog das unter Schock stehende Mädchen in den hinteren Teil des Hauses. Das Sirren in seinem Rücken ließ ihn hastig über die Schulter blicken. Die Drohnen flogen um den Küchenschrank herum. Unmittelbar unter ihnen rollte Bones. Von den Gemüsescheiben tropfte Sahne.

Jarrett zerrte das Mädchen durch den Flur. Links war die Tür zur Toilette, rechts eine Tür, die vielleicht in einen Abstellraum führte. In beiden Räumen würden sie in der Falle sitzen. Was blieb, war die Haustür. Er riss sie auf, bugsierte Hannah ins Freie und schlug die Tür hinter sich zu. Über seiner Uhr schwebte eingefroren das Hologramm.

»Schnell! Hier draußen ist ein Feldroboter, der … Ach, renn einfach!« Er zog sie mit sich, und als er glaubte, dass sie begriffen hatte und auch allein weiterrennen würde, ließ er los.

Hinter ihnen sirrte es. Bones hatte mit seiner freien Hand die Haustür geöffnet und die Drohnen nach draußen gelassen, wo sie ihre Geschwindigkeit wieder voll ausspielen konnten.

»Wenn sie vor uns sind, musst du die Augen zumachen und blind rennen!«

»Aber wohin?« Ihre roten Augen tränten. »Was ist hier eigentlich los?!«

Er hatte keine Zeit für Erklärungsversuche. Aber die Frage nach dem Wohin war eine verdammt gute. Jarrett schwang die Arme und auf einmal kam ihm die Antwort. Er hatte zwar nicht den blassesten Schimmer, warum die Maschinen auf dieser Farm auf einmal Menschen jagten. Aber es gab eine Maschine, die es nicht tat. Eine Maschine, die sich nicht selbst gesteuert fortbewegte, sondern gehorchen würde.

Die Drohnen hatten sie überholt und sprühten jetzt von vorn. Jarrett riss den Kopf herum und sah, dass Hannah nicht auf ihn gehört hatte. Sie rannte nicht mit geschlossenen Augen weiter, sie rannte überhaupt nicht. Er stürzte zu ihr, nahm ihre Hand und zog sie wieder mit sich. Er wusste, wo er hinmusste und wie er dorthin kam, ohne ihren Vorsprung auf den wummernden, mit den Messern scharrenden Feldroboter herzuschenken.

Er zog Hannah quer übers Feld, wo die Sojabohnen gegen seine Hosenbeine klatschten. Dem stärker werdenden Sprühregen nach zu schließen, waren die Drohnen wieder alle vereint. Hannah war nervtötend langsam. Am liebsten hätte er sie losgelassen und die Arme so geschwungen, wie er es gewohnt war. Aber sie brauchte ihn. Und wenn er sich selbst nicht noch mehr hassen wollte, brauchte er sie auch.

Endlich waren da keine Sojabohnen mehr, stattdessen knirschte Kies unter seinen Sohlen. Und unter denen von Hannah. Sie keuchte wie die Dampflok in den alten Harry-Potter-Filmen, die er sich mit Desmond und Jazmine zur Weihnachtszeit ansah. Vielleicht keuchte sie aber auch wie seine leibliche Mutter, wenn die einmal im Monat den Weg zu Bobbys Bruchbude im fünften Stock auf sich nahm.

Das Rattern und Kratzen hinter ihnen schwoll an. Hannah stolperte. Sie fiel nicht, weil er sie mit eisernem Griff davor bewahrte, aber für einen Moment verloren sie jegliches Tempo. Jarrett zerrte sie weiter und machte die Augen einen Spalt weit auf. Sofort schrien sie vor Schmerz, aber da war Little John, nur noch ein paar Fuß entfernt!

Jarrett setzte zum Endspurt an, riss die Tür zur Fahrerkabine auf und schob Hannah die Trittstufen hinauf. Der Panzer machte keine Anstalten, langsamer zu werden, und rauschte frontal in den Traktor. Hannah verlor das Gleichgewicht, Jarrett flog beinahe von der oberen Stufe, aber seine Finger krallten sich in das Gummi des Türrahmens.

Er schubste Hannah in die Kabine und schlug nach einer Drohne, die hinterherwollte. Einer ihrer Propeller riss ihm die Hand und den Unterarm auf, aber für einen Moment geriet die Drohne aus der Balance, und während sie schwankte, zwängte er sich in die Kabine und knallte die Tür zu.

»Du blutest.« Hannah keuchte noch immer, aber sie sprach.

»Ist nicht so schlimm.« Was schlimm war, war der lodernde Schmerz in seiner Bindehaut. Auch in Hannahs Augen war kein Weiß mehr.

Die Drohnen versprühten ihr Pflanzenschutzmittel jetzt auf die Scheiben. Die Türen schlossen gut, lediglich auf der Gummidichtung bildete sich ein kleines Rinnsal. Der Panzer ratterte noch immer, aber er schaffte es nicht, Little John vom Fleck zu schieben.

»Okay«, Jarrett atmete durch, »jetzt müssen wir nur noch hier weg.« Nur noch. Er setzte sich hinters Lenkrad und klappte Hannah den kleinen Sitz herunter, auf dem er selbst gesessen hatte, als Quentin gefahren war. Der Schlüssel steckte noch, aber da waren eine Menge Hebel und er hatte nicht aufgepasst, welche Quentin benutzt hatte.

Hannah stöhnte auf. Jarrett blickte durch die besprühte Windschutzscheibe und sah den Haushaltsandroiden auf Little John zurollen. In seiner Hand steckte noch immer der Spieß.

»Er hat keine Beine. Er kommt hier nicht hoch«, murmelte Jarrett und widmete sich wieder den Hebeln. Hatte Quentin sie überhaupt benutzt?

Drauf geschissen. Er wischte die blutige Hand am Sitz ab und drehte den Zündschlüssel herum. Den hatte Quentin definitiv benutzt und Little John machte auch einen Satz vorwärts, aber dann stand er wieder und der Motor war aus. Bones rollte neben den Panzer hin. Es sah aus, als wären sie alte Kumpels.

»Was, wenn er in die Reifen sticht?«

Jarrett antwortete nicht. Irgendwas hatte er übersehen, aber er glaubte nicht, dass es die Hebel waren. Er blickte sich in der Kabine um. Da waren mehrere Pedale, die er mit den Füßen erreichen konnte. Doch welches sollte er drücken? Er hatte keine Ahnung, aber warum nicht zwei auf einmal? Er drehte den Zündschlüssel und trat die Pedale durch. Diesmal bewegte sich Little John nicht von der Stelle. Aber der Motor war an. Irgendetwas hatte er richtig gemacht. Nur nicht genug.

»Und wenn der Android in die Reifen sticht!?« Hannahs Stimme klang schrill in seinen Ohren.

Jarrett reagierte nicht. Er versuchte, sich die Fahrt mit Quentin ins Gedächtnis zu rufen. Der Farmer hatte viel geredet, aber was hatten seine Hände und Füße getan?

»Scheiße, jetzt sticht er!«

Jarrett blickte auf und durch die Glasscheibe. Tatsächlich, Bones stach zu. Aber er traf keinen Reifen, sondern eine Felge. Das Aufeinanderprallen von Stahl auf Stahl war selbst durch die Kakophonie aus Rattern, Kratzen und Sirren zu hören.

»Warum fährst du nicht los?!« Hannah starrte ihn mit feuerroten, vor Angst geweiteten Augen an.

»Ich weiß nicht, wie! Ich bin noch nie gefahren! Kein Mensch fährt mehr selbst! Und hör auf, davon zu reden, dass der Android gleich in den …« Er brach gerade noch rechtzeitig ab. »Das Ding hat eine beschissene künstliche Intelligenz! Es kann nicht nur hören, es kann auch denken! Wir haben nur Glück, dass es ein einfaches Modell ist. Und dass es nicht zu seiner Routine gehört, mit einem Spie… Ach, verdammt!« Er schlug gegen das Lenkrad, das Hologramm über seinem Arm erzitterte und Little John machte einen Satz vorwärts.

Für einen Moment glaubte er, dass es an seinem Schlag lag. Dann begriff er, dass er vor Wut die Pedale nicht mehr durchgedrückt hatte. Die Pedale … Da waren drei, nicht zwei.

Während Bones auf die Felge einstach, drehte Jarrett den Zündschlüssel und trat auf zwei andere Pedale. Der Motor sprang wieder an und Little John ein weiteres Mal vorwärts. Doch diesmal kam er nicht zum Stehen.

»Wir fahren! Scheiße, wir fahren!« Er sah zu dem Mädchen, das er eben noch angeschrien hatte, doch jetzt entfuhr ihm ein anderer, gänzlich unerwarteter Laut. Jarrett lachte. Es war ein trockenes, krächzendes Lachen – aber verdammt noch mal, es fühlte sich gut an!

Highway to hell

Hannah

Ich lachte nicht. Ich lächelte nicht einmal, ich starrte ihn nur an.

»Wir nehmen die Abkürzung übers Feld«, verkündete Jarrett und drehte am Lenkrad. »Weg von hier, zurück zur Straße.«

Es holperte ein bisschen, als er den Traktor durch die kleinen grünen Pflanzen lenkte. Ich drehte mich um und sah, dass Bones wieder rollte, aber rasch zurückfiel. Auch der Feldroboter schien langsamer als der Traktor zu sein, blieb uns jedoch auf den Fersen. Die Drohnen konnten unser Tempo mühelos halten, aber wir hatten die Scheiben als Schutz und im Gegensatz zu uns besaßen die Scheiben keine Bindehäute.

Meine brannten höllisch und die von Jarrett womöglich noch höllischer. Doch die Tatsache, dass er es geschafft hatte, den Traktor zum Fahren zu bringen, schien ihn für den Moment immun gegen Schmerz zu machen. Ich gönnte es ihm, schließlich brachte er uns hier fort, weg von diesen durchgedrehten Maschinen, und die Betonung lag auf uns: Er hatte mich mitgenommen. Obwohl ich ihn nur behindert hatte.

Ich wollte ihn fragen, warum. Aber die Stimme in meinem Kopf ließ mich nicht zu Wort kommen.

Warum er dich mitgenommen hat? Ehrlich? Ist das denn nicht offensichtlich? Na, weil er dich toll findet, schon von der ersten Sekunde an! Und als er dich dann schwitzen und sabbern gesehen hat, war es endgültig um ihn geschehen. Gewöhnliche hilflose Mädchen hätte er einfach bei den Killerrobotern zurückgelassen, aber dich – dich will er, Hannah!

Also fragte ich nicht, weshalb er mich mitgenommen hatte. Er hätte jede und jeden mitgenommen, das hatte mir meine innere, äußerst sarkastische Stimme eindrucksvoll klargemacht. Und überhaupt: Wieso dachte ich wieder nur an mich, wo doch gerade eine junge Frau gestorben war, die irgendwie sogar mit mir verwandt war? Und, noch überhaupter: Was war eigentlich mit Laurens Mann?

»Ist Quentin auch …?«

Erleichterung, Freude, Stolz – was immer Jarrett angesichts unserer geglückten Flucht empfunden haben mochte: Meine Frage wischte alles weg. Er nickte, dann sagte er leise: »Der Feldroboter hat ihn überfahren.«

Ich wusste nicht, was ich darauf antworten sollte. Ich wusste nicht einmal, was ich fühlen sollte. Lauren hatte mich herzlich empfangen und einen netten Eindruck gemacht. Quentin hatte ich nur von einem Videotelefonat gekannt. Die Tatsache, dass sie beide tot waren, und das so plötzlich, schockierte mich. Ebenso wie die Art und Weise. Ich fragte mich, was mit Bones und den anderen Maschinen nicht stimmte, und gleichzeitig war ich mir sicher, dass ich nie, nie wieder Barbecue essen würde. Und wahrscheinlich auch nie wieder Himbeerkuchen. Aber ich war nicht wirklich traurig oder so was. Ich war eher verstört.

Ich blickte nach hinten und erkannte, dass unser Vorsprung auf den Feldroboter größer geworden und Bones kaum noch zu erkennen war. Da ich nicht wusste, was ich sonst tun sollte, setzte ich mich auf den kleinen Klappsitz und sah zu, wie Jarrett den Traktor durchs Feld und dann auf einen asphaltierten Weg lenkte. Nach einer Weile erkannte ich, dass es derselbe war, auf dem der SUV uns zur Farm gebracht hatte. Jetzt fuhren wir in die entgegengesetzte Richtung.

Jarrett wischte das Blut an seiner Hand und auf seinem Arm ein weiteres Mal am Sitz ab. Er trug dieselbe Hose wie auf der Hinfahrt, aber ein anderes T-Shirt. Das neue war so gelb wie das Fliegenpapier, das sich vom Rückspiegel kringelte. Ein großer Brummer und drei kleinere Fliegen klebten daran.

Jarretts unverletzte Hand war nicht rot, im Gegensatz zu meinen Händen und Armen, auf denen sich deutliche Anzeichen von Ausschlag zeigten.

Über Jarretts Smartwatch schwebte noch immer das seltsame Hologramm.

With God

All Things

Are Possible

(Mt. 19,26)

Die gleichen Worte standen auf dem Display meiner warmen, nicht reagierenden Smartwatch. Und auch meinen heimlichen Trip ins Metaverse hatten diese Worte jäh beendet, gerade als Marisa mich auf der Ausstellung mit einem der jungen Künstler hatte bekannt machen wollen. Die Anzeige war plötzlich auf Mixed Reality gewechselt und das Einzige, was sich noch über das Gästezimmer der Giddeys gelegt hatte, war dieser Spruch gewesen. Er war nicht mehr verschwunden, egal, was ich gesagt oder gedrückt hatte.

»Hast du eine Ahnung, was die Worte bedeuten?« Schüchtern deutete ich auf Jarretts Hologramm.

»Mit Gott sind alle Dinge möglich – das ist das Motto unseres Bundesstaats«, antwortete er. »Ich war mit Quentin auf dem Traktor, hatte ihm gerade meine Ferienarbeitserlaubnis gezeigt. Dann kamen diese Worte.« Er drehte den Arm ein bisschen und das Hologramm drehte sich mit. »Und sie gehen nicht mehr weg.«

Ferienarbeit. Die Frage, was Jarrett auf der Farm und im SUV der Giddeys verloren hatte, war damit beantwortet. Blieb die weitaus wichtigere Frage, warum unsere Uhren nur noch das Motto des Bundesstaats Ohio anzeigten. Ich dachte darüber nach, aber in meinem Kopf machte es einfach nicht klick.

»Was ist mit den Buchstaben und Zahlen in den Klammern?«

»Ich weiß es nicht. Falls sie uns das in Geschichte beigebracht haben, habe ich wohl gerade nicht aufgepasst. Außerdem hasse ich dieses Motto.«

Überrascht sah ich von meiner Uhr auf. »Warum?«

»Egal«, antwortete Jarrett nur, den Blick auf den Weg gerichtet.

Ich fragte nicht weiter nach und versuchte all das, was über mich hereingebrochen war, zu verarbeiten. Dass der Sprühregen der Drohnen aufgehört hatte, merkte ich erst, als Jarrett mich darauf hinwies.

»Endlich sind die Tanks leer. 18,1 Liter«, seufzte er.

Obwohl sie nichts mehr zu spritzen hatten, flogen die Drohnen weiter neben uns her. Der Feldroboter war mittlerweile deutlich zurückgefallen, die Gebäude der Farm waren gar nicht mehr zu erkennen. Ich musste an Lauren und Quentin denken.

»Wir müssen zur Polizei«, sagte ich. »Oder zu jemandem, der die Polizei ruft.«

»Ja«, sagte Jarrett.

Einfach nur ja. Ich hätte mir eine ausführlichere Antwort, eine Art Plan und irgendwie auch so was wie Trost gewünscht, aber ich bekam nur ein Ja.

Die Sicht durch die Windschutzscheibe war klar, jetzt, da sie nicht mehr besprüht wurde, und ich erkannte, dass wir uns der Straße mit dem zweifachen gelben Mittelstreifen näherten. Ich wusste nicht, wohin wir uns dort halten mussten, aber ich war mir sicher, dass Jarrett es wusste.

Ohne dass irgendetwas vorgefallen war, drehten die Drohnen auf einmal ab und flogen zurück in Richtung Farm.

»Sie können nur 72 Minuten in der Luft bleiben«, sagte Jarrett. »Schätze, die sind gleich um.« Er blickte auf das Hologramm über seinem Arm und dann auf seine Smartwatch, aber wie meine zeigte sie die Zeit nicht mehr an. Nur die Worte, aus denen ich nicht schlau wurde.

Ich überlegte, ob die Drohnen sich jetzt aufladen und danach wieder hinter uns herfliegen würden oder ob ihr abnormes Verhalten vorbei sein würde, sobald sie sich mit der Dockingstation verbanden. Aber im Grunde spielte es keine Rolle. Bis die Drohnen wieder aufgeladen waren, würden sie uns nicht mehr orten können.

Die Straße war jetzt nah und ich konnte zwei Autos sehen, die in entgegengesetzte Richtungen fuhren. Hören konnte ich sie nicht, denn der Traktor tuckerte, wohingegen die Autos natürlich Elektromotoren besaßen. Sie fuhren schnell, im Vergleich zu unserem Traktor geradezu irrsinnig schnell, und kurz bevor sie aneinander vorbeischossen, fuhren sie auf den gelben Mittelstreifen und krachten frontal ineinander.

Ich schrie. Keine Ahnung, ob Jarrett auch schrie, aber der Traktor machte einen Satz nach vorne und blieb dann stehen. Die Autos waren grotesk deformiert.

»Meinst du, da ist jemand drin?« Jarretts Stimme drang wie aus weiter Ferne zu mir.

Ich konnte es nicht erkennen, die Fahrgastkabinen waren zusammengepresst und verzogen. Die Autos sahen kaum noch wie Autos aus. Wie sollte es da erst um Menschen bestellt sein?

Trotzdem nickte ich, als Jarrett meinte, wir sollten nachsehen gehen. Als ich ausstieg und auf die Straße lief, fühlten sich meine Beine wie Pudding an. Unter einem der ineinandergekrachten Autos glühte plötzlich etwas. Keine zwei Sekunden später brannte das ganze Auto.

Wie angewurzelt stand ich da und starrte auf die Flammen, die nun auf das zweite Auto übergriffen. Ich lauschte auch, aber das, wovor ich Angst hatte, blieb aus: Niemand schrie. Falls sich jemand in diesen Überresten befand, war er oder sie schon tot.

Oder hatte keine Stimme mehr, um zu schreien.

Ich verdrängte diesen Gedanken und sah zu Jarrett. Der Adamsapfel an seinem Hals bewegte sich, dann nickte er stumm in Richtung Traktor. Ich folgte ihm und wir stiegen wieder ein, jeder an seiner Seite.

Der Feldroboter rückte uns erneut auf die Pelle, aber Jarrett wusste noch, was er tun musste, um den Motor in Gang zu bringen. Der Traktor machte einen kleinen Satz und wir fuhren vom Feldweg nach links auf die Straße ein. Rechts brannten die Autos.

»Sie sind mitten auf der Straße ineinandergekracht«, sagte Jarrett, vermutlich mehr zu sich selbst als zu mir. »So als hätten sie es darauf angelegt.«

»Ja«, sagte ich. Einfach nur Ja.

Meine Gedanken fuhren Karussell. Immer wieder stellte ich mir dieselben Fragen: Wieso zeigten unsere Uhren nur noch Ohios Staatsmotto an? Weshalb gingen die Farmroboter auf Menschen los? Und warum krachten selbstfahrende Autos ungebremst ineinander?

Wie hing das alles zusammen? Ich brannte darauf, mit jemandem darüber zu sprechen, aber mit Jarrett konnte ich es irgendwie nicht. Er sprach selbst nicht viel, jedenfalls nicht mit mir, dem Zombie und Lahmarsch, und ich konnte mich nicht dazu überwinden, den Anfang zu machen. Ich war zu schüchtern, zu unsicher und er so schwer zu deuten.

Also schwieg ich, folgte mit den Augen dem Auf und Ab des Stromkabels am Straßenrand und ließ meine Gedanken Karussell fahren. Oder eher Geisterbahn.

Außer uns und dem wieder zurückfallenden Feldroboter war nichts und niemand unterwegs. Und auch zu beiden Seiten der Straße deutete außer den Stromkabeln nichts auf Zivilisation hin. Da waren nur Wiesen und vor allem Wälder und mir fiel ein, dass der Bordcomputer des SUVs diese Gegend als die am dünnsten besiedelte in ganz Ohio bezeichnet hatte. Vielleicht war die nächste Polizeistation doch nicht so nah, wie ich geglaubt hatte.

Das Gelände war hügelig, und als wir eine bewaldete Anhöhe hinauffuhren, wurde der Traktor noch langsamer. Die Bäume wuchsen hier gleich neben dem Asphalt und ein paar der Äste hingen so weit und tief über die Straße, dass ich die schützenden Scheiben und das Dach über uns vergaß und instinktiv den Kopf einzog. Jarrett bemerkte es und sah mich von der Seite an. Meine Wangen wurden heiß und ich suchte fieberhaft nach etwas, was ich sagen konnte, um von meinem peinlichen Reflex abzulenken. Ein Schild am Straßenrand rettete mich. Es hatte eine ziemlich ungewöhnliche Form und zeigte nur eine Zahl. 35.

»Wofür steht die Zahl?«, brachte ich geradeso heraus.

»U. S. Route 35. Der Highway.« Jarrett schaute kurz auf meinen nervösen Daumen und dann wieder auf die Straße.

Ich wusste nicht, ob er in der Lage gewesen wäre, den Traktor anzuhalten und dann wieder neu anzufahren, aber es war nicht nötig. Er musste nicht bremsen, er fuhr einfach auf den Highway, der, soweit ich sehen konnte, uns gehörte. In jeder Richtung gab es zwei Fahrspuren, dazwischen einen breiten Streifen gemähtes Gras. Links und rechts der Straße hielten Seitenbegrenzungen die immer noch allgegenwärtigen Büsche und Bäume zurück. Nach einem flachen Stück bei der Auffahrt ging es in einer lang gezogenen Kurve bergauf. Nirgendwo waren Fahrzeuge.

»Quentin nennt den Traktor Little John. Hat ihn Little John genannt«, korrigierte sich Jarrett und drückte seinen Sneaker gegen eines der Pedale. Der Anstieg war ein bisschen viel für Little John.

Ich blickte nach hinten und hielt Ausschau nach dem Feldroboter, aber wegen der Kurve und der Bäume konnte ich nicht weit zurückschauen. Also drehte mich wieder um und sah zu, wie wir im Schneckentempo auf die Bergkuppe zuzuckelten.

Aus dem Augenwinkel nahm ich eine Veränderung von Jarretts Hologramm wahr. Da waren mehrere neue Zeilen. Ich blickte auf meine Smartwatch, deren Display das Gleiche anzeigte:

With God

All Things

Are Possible

(Mt. 19,26)

With God

There’s No Need

For Technology

Mit Gott gibt es keinen Grund für Technik – ich wälzte die Worte im Kopf herum und sah zu Jarrett. Er hatte die neuen Zeilen ebenfalls bemerkt, denn er guckte ebenso irritiert wie ich.

Und dann, ehe einer von uns etwas sagte, sahen wir den Rauch. Wir erreichten die Kuppe der bewaldeten Anhöhe, der Traktor nahm wieder Tempo auf und wir bekamen freie Sicht auf den Highway, der sich als graugrünes Band ins Tal wand. Überall, auf dem Asphalt, vor allem aber auf dem begrünten Mittelstreifen, brannte und rauchte es. Mal waren zwei Autos zusammengekracht, mal ein halbes Dutzend. Plus mehrere Lastwagen. Manche der Fahrzeuge waren bis zur Unkenntlichkeit ineinander verkeilt, von anderen waren nur noch verzogene, verrußte Stahlgerippe übrig.