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Traumatische Erlebnisse stürzen die junge Schülerin Lia in ein tiefes Loch, doch erst am Abgrund erkennt sie, dass sie Hilfe braucht und ihre Kraft Tag für Tag schwindet. Von heute auf morgen ist nichts mehr so, wie es mal war. Durch einen weiteren Schicksalsschlag gerät Lias Leben gänzlich aus den Fugen und dieser bringt sie dazu, ihr Leben selbst in die Hand zu nehmen. All die anfänglich harmlosen Alltagsprobleme werden zu scheinbar unüberwindbaren Hindernissen. Die gut behüteten Geheimnisse innerhalb der Familie kommen ans Licht und alles verändert sich plötzlich komplett. Lia muss lernen, Hilfe anzunehmen und mit ihren psychischen Erkrankungen zu leben. Unterstützung findet sie schnell bei ihrer Lehrerin Sabine, doch der Kampf gegen ihre Krankheiten fällt ihr zunehmend schwerer. Lia hat Angst, all ihre wertvollen Bewältigungsstrategien aufzugeben, aber ihre Willensstärke lässt sie weiterkämpfen. Eine Geschichte über Depression, Essstörung und Selbstverletzung, aber vor allem die Hilfe liebenswerter Personen und der Weg in ein neues Leben.
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Seitenzahl: 538
Veröffentlichungsjahr: 2021
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Für all diejenigen, die das Leben jeden Tag auf eine andere Art und Weise erleben und sich fragen, warum ausgerechnet ich. Für all diejenigen, die mit psychischen Erkrankungen leben und sich eine Entstigmatisierung wünschen. Für all diejenigen, die glaubten, allein zu sein.
Dieses Buch ist keine biographische Erzählung.
Triggerwarnung auf Seite →
Wer sich ein Bein bricht, bekommt Mitleid. Wer psychisch krank ist, muss sich rechtfertigen. ~ Unbekannt
Mutig zu sein, bedeutet nicht, keine Angst zu haben, sondern es trotzdem zu tun .~ Unbekannt
Frieden schließen mit sich selbst. Der wohl schwerste Kampf von allen im Leben . ~ Unbekannt
Sich Hilfe zu holen, ist eine wahrhaftige Stärke und keine Schwäche.
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Kapitel 21
Kapitel 22
Kapitel 23
Kapitel 24
Kapitel 25
Kapitel 26
Kapitel 27
Kapitel 28
Kapitel 29
Kapitel 30
Kapitel 31
Kapitel 32
Kapitel 33
Kapitel 34
Epilog
Nachwort
»Nein, bitte nicht, lass mich in Ruhe«, schrie Lia und ging einen Schritt nach hinten.
Sein muskulöser Körper baute sich vor ihr auf. Sie zitterte am ganzen Leib und wollte nur noch fliehen, doch es ging nicht. Er hatte sie bereits in die Enge getrieben. Das Essen kroch ihre Speiseröhre nach oben und sie würgte. Nichts würde jemals gut werden ... Es würde mit Sicherheit nicht mehr lange dauern, bis all ihre Geheimnisse auffliegen würden ...
Wieder einmal saß Sabine Meyer auf ihrem Platz im Lehrerzimmer und erinnerte sich an das Gespräch des letzten Dienstages vor den Ferien. Sie hatte ihrer Schülerin aufmerksam zugehört und ihr versprochen, gemeinsam mit ihr eine Lösung zu finden. Sie hatte ihr versichert, zusammen mit ihr an den Problemen zu arbeiten. Ihr bei allen Schwierigkeiten zu helfen.
In Momenten wie diesen fühlte sie sich hilflos. Noch nie war es vorgekommen, dass eine Schülerin sich danach nicht mehr gemeldet hatte.
Immer wieder spielten sich die Gespräche, die sie im Laufe der Zeit mit Lia geführt hatte, in ihrem Kopf ab. Sie wiederholte die prägenden Inhalte der Unterhaltung.
Sabine machte sich Vorwürfe: ›Habe ich falsch gehandelt? Habe ich dazu beigetragen, dass Lia ihren Problemen erlegen ist?‹
»Hallo Lia, du wolltest mit mir reden. Worum geht es denn?«, empfing Sabine Meyer ihre Schülerin mit einem Lächeln.
Schon lange hatte sie bemerkt, dass es dem Mädchen nicht gut ging. Ihr waren die tiefen Augenringe und das abwesende Verhalten aufgefallen, aber sie hatte ihr Zeit gegeben, selbst um Hilfe zu bitten. Mit jeder Unterrichtsstunde war Lia zurückhaltender geworden und hatte sich schließlich komplett aus dem Unterrichtsgeschehen zurückgezogen. Manchmal hatte Sabine den Eindruck, dass sie vollkommen abgekapselt vom Rest saß und sich klein machte.
»Ich weiß nicht, wo ich anfangen soll«, begann Lia mit zitternder Stimme.
Unsicher sah sie sich in dem Raum um. Sie schaute an Frau Meyer vorbei und fokussierte mit ihrem Blick einen Stift, der auf dem Tisch hinter ihrer Lehrerin lag.
»Ich habe ein paar Probleme, die mich belasten, und ich weiß nicht, wie ich mit ihnen umgehen soll. Es nimmt mir die Freude an fast allem.«
Es fiel Lia schwer, ihrer Lehrerin bei diesen Worten in die Augen zu sehen. Niemand würde solche Umstände so direkt offen zugeben. Ihre Stimme zitterte und sie kauerte sich auf der Couch zusammen. Ihr Blick glitt unruhig durch den Raum und sie presste ihre Hände ineinander.
»Fang einfach von vorne an und wenn ich etwas nicht verstehe, frage ich nach. Ich bin mir sicher, wir finden gemeinsam eine Lösung. Es gibt keine Probleme, die nicht überwindbar sind«, ermutigte Frau Meyer sie mit einem offenen Lächeln.
»Vor einer Woche hat meine beste Freundin mir die Freundschaft gekündigt. Ich weiß nicht, wieso. Es fing alles damit an, dass sie sich immer weiter von mir zurückgezogen hat. Ich verstehe das nicht. Wir haben uns gut verstanden. Ich bin traurig, dass ich mich so in ihr getäuscht habe. Einzig und allein meine beiden besten Freundinnen halten noch zu mir, aber die sind nicht in meiner Klasse. Ich habe das Gefühl, dass ich niemandem mehr vertrauen kann«, schilderte Lia zögernd.
Ihre Stimme zitterte und sie hatte Angst vor der Reaktion ihrer Lehrerin. Ihr Magen zog sich zusammen und eine Gänsehaut überzog ihren Körper.
Es war längst nicht alles. Doch den Rest erzählen zu müssen, machte ihr Angst. Sie verfiel in ihre Gedanken und verschwand ein Stück weit aus der Realität.
›Wie würde Frau Meyer darauf reagieren? Was würde sie denken, wenn sie erfahren würde, was bei mir alles schieflief?‹, dachte sie.
Sie war überzeugt davon, dass es nicht bei wenigen Gesprächen bleiben würde, wenn sie erzählen würde, wie sehr sie mit ihrem Körper kämpfte.
Es machte ihr Angst, wieder länger mit Frau Meyer sprechen zu müssen, ohne diese Gespräche kontrollieren zu können.
Weil Lia sich seit Wochen so unwohl fühlte, hatten ihr Kopf und ihr Körper angefangen, sich zu verändern. Täglich kämpfte sie mit den seelischen Folgen des Streits mit ihrer besten Freundin. Ständig dachte sie darüber nach, warum Saskia die Freundschaft beendet hatte.
›Bin ich schuld an allem? Habe ich einen schlimmen Fehler begangen?‹, dachte Lia.
»Das kann ich sehr gut nachvollziehen. Es tut immer weh, einen wichtigen Menschen zu verlieren. Ich glaube aber, dass sie es dir gesagt hätte, wenn sie mit dir ein Problem hat. Hast du sie direkt darauf angesprochen?«
»Nein, sie redet kein Wort mehr mit mir. Saskia hat die Freundschaft nicht einmal persönlich beendet, sondern in einer Whatsapp-Nachricht. Ich habe mich unbewusst verändert, weshalb ich Sie um dieses Gespräch gebeten habe«, erwiderte Lia mit stockender Stimme.
›Sollte ich Frau Meyer davon erzählen? Sollte ich ihr sagen, wie sehr dieser Streit mein Leben verändert hatte? Kann ich ihr vertrauen? Wird sie merken, wie ich mich wirklich fühle?‹, dachte sie.
Sie zögerte, ihrer Lehrerin von ihren privaten Sorgen zu berichten. Niemand würde sie verstehen.
»Du kannst mir alles erzählen«, sagte Frau Meyer, als hätte sie Lias Gedanken gelesen.
»Alles, was wir besprechen, bleibt in diesem Raum und ich bin überzeugt, dass es dir besser gehen wird. Oft tut es uns Menschen gut, wenn wir über das sprechen, was uns beschäftigt. Nur so können wir gemeinsam eine Lösung finden, mit der du dich besser fühlst.«
»Ich kann seitdem morgens nichts mehr essen und allgemein habe ich keinen Hunger im Laufe des Tages. Die Situation ist mir auf den Magen geschlagen, ich hungere nicht absichtlich, wirklich.«
Sie brauchte eine kurze Pause. Obwohl sie Frau Meyer vertraute, fiel es ihr schwer, diese Worte auszusprechen. Ein Stück weit schämte sie sich für ihre Probleme. Doch zu ihrem Erstaunen fragte ihre Lehrerin nicht nach und sie begann, weiter zu erzählen.
»Tagsüber fühle ich mich oft leer. Ich weiß nicht so recht, was ich mit mir anfangen soll. Es gibt immer häufiger Tage, an denen ich morgens nicht mehr aus dem Bett komme oder den gesamten Tag am liebsten liegen bleiben und nichts tun möchte«, brach Lia leise ihr Schweigen und sah kurz auf, ehe sie ihren Blick wieder senkte.
»Ich habe kein richtiges Hungergefühl und mir macht diese Veränderung Angst. Zu Hause fühle ich mich momentan nicht mehr wohl und bin meist den ganzen Tag draußen, um allein zu sein. In manchen Momenten wünsche ich mir, unsichtbar zu sein.«
Diese Worte glitten kaum über ihre Lippen, sie fühlten sich wie zu geklebt an. Aber sie klammerte sich an den kleinen Funken Hoffnung, dass ihre Lehrerin ihr helfen könnte.
»Danke, dass du mir davon erzählt hast, Lia. Es ist nicht ungewöhnlich, dass uns eine Situation auf den Magen schlägt. Du bist genau im richtigen Moment zu mir gekommen. Wenn wir darüber sprechen und du es nicht mit dir selbst ausmachst, wird es dir bald wieder besser gehen«, erwiderte Sabine mit ruhiger Stimme.
Sie machte eine kurze Pause und Lias Herzschlag begann, schneller zu schlagen.
»Wir sollten uns zusammen Methoden überlegen, die dir helfen, wieder in ein geregeltes Essverhalten zu kommen. Hast du schon mal versucht, mit jemandem gemeinsam zu essen? In Gesellschaft können wir meistens besser essen und denken gar nicht daran. Und kannst du dir denn erklären, warum du dich zu Hause immer unwohler fühlst?«
»Ich will mich nicht zwingen müssen. Essen sollte etwas völlig Normales sein. Zu Hause fühle ich mich kontrolliert. Meine Eltern verstehen nicht, dass ich in einem Alter bin, in dem ich etwas allein machen möchte.«
Sabine erkannte zum ersten Mal die Willensstärke des jungen Mädchens – sie zeichnete sich nicht nur in diesem Gespräch ab. Auch in vorherigen hatte sie Lias großen Willen wahrnehmen können. Lia nahm keine Situation so hin, wie sie war, wenn es einen anderen Weg gab.
Gemeinsam sprachen die beiden einen Moment über das Ende der Freundschaft und Lias Beziehung zum Essen, ehe sie das Gespräch mit ein paar Aufgaben zu ihrem Essverhalten beendeten. Sabine wollte von nun an regelmäßig mit Lia sprechen, um eine Entwicklung beobachten zu können. Sie hatten abgemacht, dass sie zu bestimmten Zeiten etwas essen würde, um auf eine ausreichende Menge zu kommen.
Auch das zweite Gespräch bereitete Sabine Sorgen. Sie hatten diese Beratung am letzten Schultag geführt. Seitdem waren fast zwei Wochen vergangen. In den Ferien hatte sie nur gelegentlich an Lia gedacht. Mit jedem Tag fiel es ihr schwerer, Lias Veränderungen hinzunehmen.
»Lia, wie geht es dir heute?«, fragte sie mit sanfter Stimme.
»Besser, das Reden hat geholfen und ich fühle mich nicht mehr so allein«, erwiderte diese erleichtert.
Sabine hatte einen anderen Eindruck. Lias Kraftlosigkeit blieb nicht verborgen und sie machte einen eher erschöpften Anschein, der ihr Sorgen bereitete.
»Wie ist es denn in den letzten Tagen mit dem Essen gelaufen? Hast du regelmäßiger gegessen?«
In ihrer Stimme lag Hoffnung, aber Lias Antwort enttäuschte sie leider.
»Nein, ich schaffe es nicht. Es geht nicht.«
Sabine sah Tränen in ihren Augen schimmern und ihre Stimme zitterte.
»Das klingt nicht gut, auf drei Mahlzeiten am Tag solltest du mindestens kommen. Ich möchte dich bitten, bis zu unserem nächsten Gespräch nach den Ferien alles aufzuschreiben, was du am Tag isst. Wir schauen uns das gemeinsam an.«
Sabine sprach mit friedlicher Stimme und beobachtete Lia genau. Sie merkte den abwesenden Blick. Lia schaute an ihr vorbei und knetete ihre Hände unruhig ineinander. Auch auf ihre Worte zeigte Lia keine Reaktion.
»Lia, ich sage es dir jetzt schon: Noch sehe ich bei dir keine Gefahr und du bist rechtzeitig zu mir gekommen, damit wir an deinen Problemen arbeiten können. Aber wenn es sich in der kommenden Zeit deutlich verschlimmern sollte, sodass ich das nicht mehr verantworten kann, muss ich deine Eltern informieren und du solltest dir professionelle Hilfe holen. Dabei werde ich dich unterstützen.«
Sie sprach langsam und ruhig, um Lia zu signalisieren, dass sie ihr so lange helfen wollte, wie sie konnte.
»Nein, bitte nicht. Das kann ich nicht!«, erwiderte Lia.
Ihre Augen weiteten sich und sie wurde aufgewühlter. Panisch sah sie umher und richtete sich wieder auf. Unruhig knete sie ihre Hände ineinander und ließ ihren Blick zur Tür gleiten. Die Angst drohte, ihren Willen, sich helfen zu lassen, zu verdrängen.
»Es ist alles gut. Momentan habe ich keinen Grund dazu, doch wir müssen deine Situation im Auge behalten. Wie sieht es denn mit deinen schlechten Tagen aus? Bist du in den letzten Tagen besser aus dem Bett gekommen, weil du dir klare Ziele für den Tag gesetzt hast?«, hakte Sabine mit einem Lächeln nach.
»Es geht. Ich komme morgens gut aus dem Bett, aber ich bin seitdem wieder öfter draußen. Meine Eltern haben dazu bisher nichts gesagt. Sobald ich meine Hausaufgaben fertig habe, gehe ich spazieren oder mache Sport«, antwortete Lia schulterzuckend.
Es beunruhigte sie, dass sie mit einem Mal solch einen Bewegungsdrang entwickelt hatte und lieber in der Natur war, als irgendwo anders.
›Entwickle ich eine Essstörung? Das will ich gar nicht, oder? Ich habe ich doch die Kontrolle darüber, oder etwa nicht?‹, schoss es ihr durch den Kopf.
Sabine machte sich immer häufiger Gedanken um Lias Essverhalten und fragte sich an einzelnen Tagen in den Osterferien, wie viel Lia wohl gegessen hatte. Sie fühlte sich hilflos, weil sie aufgrund der Ferien nichts tun konnte. Sie hatte Lia Aufgaben gegeben und gesagt, dass sie sich jederzeit bei ihr melden könnte, wenn es ihr schlechter ging.
Ständig dachte sie an diese Gespräche und ging sie im Kopf durch. Hatte sie etwas übersehen? So sehr wollte sie Lia helfen und ihr einen Weg heraus aus den Problemen zeigen.
Es war ein Tag wie jeder andere, doch Sabine fühlte, dass etwas nicht stimmte. Sie hatte Lia bis zu diesem Tag Zeit gegeben, sich zu melden, aber nichts war geschehen.
Lia war am Morgen nicht in der Schule aufgetaucht und hatte keine einzige Nachricht hinterlassen.
Vor zwei Tagen hatte der Unterricht wieder begonnen. Direkt für den ersten Tag hatte Sabine ein Gespräch mit Lia vereinbart, doch sie war weder erschienen, noch hatte sie sich entschuldigt.
Der Klassenlehrer hatte keine Information und nahm die Gegebenheit hin. Für ihn war ein einzelner Fehltag nichts Ungewöhnliches, aber Sabine machte sich Gedanken. Sie kannte dieses auffallende Verhalten nicht von Lia.
Als sie am Donnerstag und Freitag ebenfalls nichts von Lia hörte, wurde sie misstrauisch. Sie konnte nicht ausschließen, dass etwas passiert war.
Ihre Sorge wuchs mit jeder Minute. ›War Lia etwas zugestoßen? Hatte sie sich aufgegeben?‹
An jedem Tag, an dem sie in Lias Kurs Unterricht hatte, betrat sie den Raum hoffnungsvoll und wurde immer wieder aufs Neue enttäuscht. Denn auch nach drei Tagen blieb ihr Platz leer. Ihre Mitschüler hatten keine Ahnung und Lias ehemalige Freundin wollte nichts davon hören. Niemand wusste, was mit dem Mädchen passiert war. Lia hatte sich ihr anvertraut, weil sie soziale und psychische Probleme hatte.
Auf ihre E-Mails und Nachrichten reagierte sie nicht mehr. Lia hatte lediglich zu Anfang geschrieben, dass es ihr bis auf eine hartnäckige Grippe gut ging.
Sabine Meyer fand es seltsam, dass sonst niemand etwas Genaueres darüber wusste und nicht einmal ihre Freundinnen wussten, was mit ihr war.
Am Donnerstag war sie unauffällig an Lias Haus vorbeigefahren, doch sie war nicht zu sehen gewesen.
Sie hatte lange überlegt, ob sie diesen Schritt gehen sollte, aber am Ende hatte ihre Sorge überwogen. Sie musste wissen, ob es dem Mädchen gutging, oder ob etwas passiert war.
Als sie ihre Sorge nicht mehr aushielt, beschloss sie, endlich mit der Direktorin und ihrer besten Freundin, Johanna Schäfer, zu sprechen, die selbst einmal Vertrauenslehrerin gewesen war.
Sabine war sich sicher, dass Lia sich in den Ferien gemeldet hätte, wäre es ihr schlechter gegangen. Dass sie nicht eine einzige Nachricht hinterlassen oder auf ihre Fragen nach ihrem Essverhalten geantwortet hatte, bereitete Sabine Bauchschmerzen. Sie wusste, wie sensibel und zurückhaltend Lia war. Ebenso fand sie es seltsam, dass die Eltern sie noch nicht krankgemeldet hatten.
Dieses Verhalten war ungewöhnlich für Lia. Bisher war sie immer eine ruhige, aber bewusste Schülerin gewesen, die sich an jede Regel hielt.
Vorsichtig klopfte Sabine an der Tür des Büros der Schulleiterin. Sie musste es einfach tun. Sabine nahm die Situation ernst, denn im Gegensatz zu den anderen Lehrern wusste sie, mit welchen Problemen Lia zu diesem Zeitpunkt zu kämpfen hatte. Zu oft hatte sie sich in den letzten Tagen an Lias Worte und ihren erschöpften Körper erinnert.
»Johanna, hast du einen Moment für mich? Ich muss etwas Wichtiges mit dir besprechen«, fragte Sabine, als sie die Tür zum Direktorat geöffnet hatte.
Noch nie hatte sie so einen Schritt gehen müssen – es war eine komplett neue Situation für sie. Bisher hatten die Schüler zielführend mit ihr zusammengearbeitet und den Weg in ein sorgenfreieres Leben zurückgefunden. Allerdings hatte noch niemand so schnell solche psychischen Probleme preisgegeben.
Die meisten kamen zu ihr, weil sie schulische Sorgen plagten oder sich in einem kurzen Tief befanden. Nur wenige hatten bisher Symptome einer Essstörung sowie ernsthaften Depression aufgezeigt, worüber Sabine erleichtert war.
»Selbstverständlich, Sabine. Komm rein«, erwiderte sie herzlich lächelnd, während sie ihre schulterlangen braunen Haare zusammenband.
»Worum geht es denn?«
Sabine setzte sich auf einen der Stühle, die gegenüber vom Schreibtisch der Schulleiterin standen.
»Ich mache mir zunehmend Sorgen um eine Schülerin und möchte mich absichern, bevor ich etwas in die Wege leite oder anderweitig handle. Sie ist seit Ende der Ferien nicht mehr in der Schule gewesen und weder ihr Klassenlehrer noch ihre Mitschüler wissen, was mit ihr los ist. Ich habe ihr bereits mehrere E-Mails geschrieben, bekam aber nur eine einzige Antwort, in der sie schrieb, dass sie eine hartnäckige Grippe habe. Keinem anderen hat sie davon erzählt«, fing Sabine an, zu erzählen.
Ihre Stimme war unruhig und sie hatte Mühe, ihren Sätzen eine Struktur zu geben. Ihre Hände bewegte sie und konnte sie nicht stillliegen lassen.
Johanna erkannte auf den ersten Blick die Sorge in Sabines Augen. Sie kannte ihre beste Freundin nicht erst seit gestern und wusste sofort, wie sich ihre Gefühle und Gedanken in ihren Worten widerspiegelten. Sie ließen ihre Stimme höher werden oder deutlich trauriger klingen.
»Das kann ich verstehen. Warum machst du dir ausgerechnet um dieses Mädchen solche Sorgen?«, hakte Johanna freundlich nach.
»Kurz vor den Ferien hatte ich zwei Gespräche mit ihr, um die sie selbst gebeten hatte. Johanna, sie hat mir erzählt, dass sie das Gefühl hat, zunehmend weniger Kraft zum Leben zu haben. Sie hat kaum etwas gegessen und fühlte sich unwohl zu Hause. Ich hatte zwar bei keinem unserer Gespräche den Eindruck, dass sie sich umbringen möchte, aber dennoch ist die Sorge da, dass ihr irgendwas passiert ist. Es liegt bisher nicht einmal eine Krankmeldung vor«, erklärte Sabine mit unruhiger Stimme.
Während Sabine sprach, überschlugen sich einzelne Worte und sie wirkte zittrig. Normalerweise ging sie nicht zur Direktorin und verriet das ihr Anvertraute, aber hier schien Sabine keinen anderen Ausweg gesehen zu haben, das merkte Johanna. Es war ihr wirklich ernst. Sie erkannte an Sabines Stimme, wie sehr sie an diesem Mädchen hing.
»Hast du schon mit ihren Eltern gesprochen?«
Die Atmosphäre nahm an Anspannung zu und die Besorgnis war auf beiden Seiten zu spüren. Auf keinem der Gesichter zeichnete sich die Spur eines Lächelns ab.
»Ich habe versucht, sie zu erreichen, aber es geht immer nur der Anrufbeantworter ran. Ich weiß nicht mehr, was ich noch machen kann. Ich habe es auch mit SMS und E-Mails probiert, aber alles wird ignoriert. Wir können sie doch nicht einfach ihrem Schicksal überlassen! Was ist, wenn ihr etwas passiert ist?«
Sabine klang schon fast flehend. Ihre Stimme hatte sich zu Beginn überschlagen, doch zum Ende hin war sie ins Stocken geraten. Johanna erkannte das Schimmern in ihren Augen.
Die Atmosphäre war von Verzweiflung geprägt. Schweigend saßen die beiden auf ihren Stühlen. Sabine sah Johanna mit hilflosen Augen an, während sie ihre Hände im Schoß bewegte.
Eine Weile sagte keiner der beiden etwas.
»Wohnt sie hier in der Stadt?«, fragte Johanna schließlich nachdenklich.
Sabine würde sich niemals aus belanglosem Grund solche Sorgen machen, davon war die Schulleiterin überzeugt. Die Schilderungen klangen besorgniserregend. Keiner wusste, ob das Mädchen ihrem Leben ein Ende gesetzt hatte oder zusammengebrochen war.
»Ja, ich war mir aber nicht sicher, ob ich einfach so vorbeifahren und klingeln soll. Ich war einmal da, also ich bin dran vorbeigefahren. Was ist, wenn sie wirklich nur krank ist und die Krankschreibung heute kommt?«, sprach die Lehrerin ihre Gedanken der letzten Tage aus.
»Lieber wir fahren einmal zu viel vorbei, als dass etwas passiert ist.«
»In welche Klasse geht sie denn? Hast du heute schon Rücksprache mit dem Klassenlehrer gehalten? Ich weiß, dass ihr mir keine Namen verraten dürft, aber wir müssen handeln. Wir sollten zuerst in Erfahrung bringen, ob heute eine Krankmeldung angekommen ist. Sollte sich dann bis Montag gar nichts tun, werden wir das Jugendamt informieren müssen. Es ist unsere Fürsorgepflicht und nach drei Tagen muss ein Attest vorliegen«, erklärte Johanna und versuchte, professionell zu bleiben.
Es fiel ihr nicht leicht. Sie musste diese Situation neutral betrachten, aber zugleich war Sabine ihre beste Freundin.
Auf Sabines Gesicht zeichnete sich für einen Moment ein Lächeln ab, obwohl ihr überhaupt nicht danach zumute war. Hatte sie anfangs doch gedacht, dass ihre Sorge schon fast überfürsorglich sein könnte, würde ihre Chefin nun gemeinsam mit ihr nach dem Mädchen schauen.
»Sie ist in der 8e. Ich habe gestern mit ihrem Klassenlehrer Rücksprache gehalten. Bis dahin lag keine Krankmeldung vor, aber ich glaube kaum, dass heute eine vorliegen wird«, erwiderte Sabine, ohne zu zögern.
Sie wollte dem Mädchen helfen, koste es, was es wolle.
»Okay, dann sprich bitte kurz mit ihrem Klassenlehrer und frag, ob eine vorliegt. Danach machen wir uns auf den Weg«, sagte Johanna.
Diese kannte das Mädchen zwar nicht und wusste keinen Namen, aber die Schilderungen ihrer Kollegin klangen danach, dass das Mädchen Hilfe brauchte. Auf Sabines Erfahrungen war stets Verlass.
Sabine betrat das Lehrerzimmer und informierte den Klassenlehrer über das weitere Vorgehen. Vorher erkundigte sie sich beim ihm nach einer Krankmeldung an diesem Tag.
Mit keinem Wort erwähnte sie, dass sie mit der Direktorin gesprochen hatte und beide sich Sorgen machten.
Die Frauen machten sich auf den Weg zu Lia. Das Haus war zügig erreicht. Sabines Herz schlug mit jedem Meter, den sie dem Gebäude näherkamen, schneller. Sie hatte Angst, das Vertrauen ihrer Schülerin mit diesem Schritt zu verlieren, aber sie konnte nicht anders. Sabine musste wissen, ob es dem Mädchen gut ging.
Vor der Haustür angekommen, versuchten die beiden, durch eines der Fenster ins Innere zu schauen, aber alle Gardinen waren zugezogen. Das Backsteinhaus wirkte vollkommen verwahrlost. Die Fassade war heruntergekommen und die Fensterscheiben verdreckt.
»Es scheint jemand zu Hause zu sein, zumindest der Lautstärke der Musik nach zu urteilen. Wir sollten klingeln«, sagte Johanna, nachdem sie an der Tür gelauscht hatte.
Sie betätigte die Klingel mehrmals, doch kein bisschen geschah. Im Haus regte sich gar nichts. Es war wie eingefroren.
Sabine erstarrte für einen Moment. Sie befürchtete, dass etwas Schlimmes passiert war, doch dann ertönte eine Stimme durch die Klingelanlage.
»Ich kann nicht zur Tür kommen. Ich weiß, dass Sie es sind, Frau Meyer, aber mir geht es nicht gut. Ich schreibe Ihnen, wenn ich wieder gesund bin und in die Schule gehen kann.«
Ihre Stimme war krächzend und sie klang erkältet, doch keinesfalls zu krank, um nicht zur Tür zu kommen. Sabine wollte etwas erwidern, aber Lia hatte bereits aufgelegt.
»Sie klang schon ein wenig erkältet, doch ich empfand es nicht als allzu krank. Ich weiß, dass Schüler oft krankspielen, aber mich hat das nicht wirklich beruhigt. Sie hätte doch wenigstens zur Tür kommen können. Dass sie direkt wieder aufgelegt hat, ist auch seltsam«, sagte Sabine beunruhigt und sah sich um, in der Hoffnung, das Mädchen an einem der Fenster zu erblicken, doch es geschah nichts.
»Das ist ungewöhnlich, aber mehr können wir jetzt nicht machen. Wir dürfen sie nicht zwingen, aus dem Haus zu kommen. Es ist ihre Privatsphäre und sie hat mit uns gesprochen. Wir sollten wieder zurück zur Schule fahren und den Montag abwarten, spätestens dann brauchen wir die Krankschreibung. Wir wissen jetzt schon einmal, dass sie noch am Leben ist. Es ist komisch, dass sie nicht an die Tür kommt und bisher keine Krankmeldung in der Schule vorliegt, wenn sie doch krank ist«, gab Johanna zu denken.
Die Eltern handelten bei Abwesenheiten normalerweise schnell. Anfangs hatte sie noch gedacht, dass ihre Kollegin etwas überbesorgt war, aber mittlerweile teilte sie deren Sorge, obwohl sie das Mädchen nicht einmal kannte.
Obgleich die beiden sich mit diesem ernüchternden Ergebnis nicht zufriedengeben wollten, stiegen sie mit hängenden Schultern wieder in das Auto und fuhren zurück zur Schule. Ab Montag durften sie nicht mehr wegsehen und mussten handeln.
»Halte mich bitte auf dem Laufenden, falls sie sich nochmal bei dir meldet. Wir sollten aufpassen, was geschieht, aber wir können sie nicht kontrollieren. Sie ist ein eigenständiger Mensch, und auch wenn sie sich dir anvertraut hat, ist es ihre Entscheidung, ob sie weiterhin mit dir reden möchte oder nicht. Vergiss nicht, es gibt keinen konkreten Anschein, dass sie sich etwas angetan hat. Ihr Wohl schien nicht gefährdet.«
»Ich weiß, trotzdem hat es mich wenig beruhigt. Sie war schon immer ein sensibler Mensch, der kaum über seine Probleme redet. Sie braucht ihre Zeit, bis sie etwas sagt«, erwiderte Sabine unschlüssig.
Es war nicht das erste Mal, dass sie mit Lia ein Gespräch geführt hatte. Bereits früher hatte Lia hin und wieder mit ihr gesprochen, um sich einen Rat zu holen.
»Wir können momentan nicht mehr machen. Aber danke, dass du mich informiert hast. Wir werden das gemeinsam hinbekommen und es wird sich mit Sicherheit bald alles aufklären«, sprach Johanna mit ruhiger Stimme.
Als Direktorin musste sie in solch einer Situation professionell bleiben. Auf keinen Fall durfte sie sich von ihren Gefühlen leiten lassen.
›Warum kann die mich nicht einfach in Ruhe lassen?‹, schoss es Lia durch den Kopf, nachdem sie sicher war, dass Frau Meyer nicht mehr vor ihrer Tür stand.
Sie hatte sofort gewusst, dass es ihre Lehrerin gewesen war. Kurz vorher hatte sie eine E-Mail von ihrem Klassenlehrer bekommen und Frau Meyer an der Straße für eine Sekunde stehen sehen.
Darin hatte sie ihre Chance gesehen, endlich Hilfe zu erhalten, aber sie konnte nicht. Noch immer war sie wie gelähmt. Wie auch all die Tage zuvor lag sie auf der kleinen Stoffcouch, die im Wohnzimmer stand, und rührte sich nicht. Ihr Körper war geschwächt.
Stattdessen starrte sie an die Decke und versuchte, einen einzigen klaren Gedanken zu fassen, aber es gelang ihr nicht. Sie war vollkommen erfüllt von der Leere, die sie umgab.
Immer und immer wieder durchlebte sie diesen einen Moment. Jedes einzelne Wort hallte dabei durch ihren Kopf und sie wollte nicht an das Erlebte denken. Es hatte alles komplett verändert und ihr den Boden unter den Füßen weggerissen. Von einem auf den anderen Moment war nichts mehr, wie es einmal war, und sie schaffte es nicht, ihre Lehrerin oder jemand anderen um Hilfe zu bitten.
Sie verfing sich immer mehr in einem Lügengestrick.
Sie bereitete ihrer Lehrerin in dieser Situation große Sorgen und dennoch gelang es ihr nicht, in einem einzigen Wort zu erwähnen, wie schrecklich es ihr wirklich ging. Vielmehr versank sie in ihrer Traurigkeit und kämpfte jeden Tag mit sich und ihrem Leben. Ihr Körper litt immer mehr. Morgens, wenn sie aufwachte, begann sie zu zittern. Oft verkrampfte sich ihr Magen und sie hatte Mühe, sich aufrechtzubewegen. Am liebsten wäre sie den ganzen Tag liegengeblieben und hätte nichts gemacht. Ihr fehlte die Kraft.
Ihre Gedanken und Erfahrungen plagten sie. Jegliche Freude verließ ihren Körper und Lia dachte nur ans Aufgeben.
Das Wochenende begann und noch immer lag sie auf der Couch. Auf keinen Fall hatte sie zu einem Arzt gewollt. Die Konsequenzen ihrer Handlung waren ihr kaum bewusst.
Überall auf dem Boden befanden sich Staub und Müll. Seit Tagen hatte sie sich nicht bewegt, geschweige denn war sie draußen gewesen. Sie hatte Angst vor sich selbst, aber sie konnte nicht mehr anders. Sie war gefangen in dieser Blase. Ständig klingelte das Festnetztelefon, doch anstatt ranzugehen, ließ sie es klingeln. Es war ihre Lehrerin, die wissen wollte, wo sie war, wie es ihr ging und wo ihre Krankschreibung blieb.
Ebenso quoll ihr E-Mail-Postfach über. Sie war seit zweieinhalb Wochen nicht mehr in der Schule gewesen und hatte nicht einmal mit ihren Freundinnen geredet. Es traf sie im Herzen, aber ihr fehlte die Kraft.
Auf WhatsApp hatte sie den blauen Haken ausgeschaltet. Niemand sollte sehen, dass sie die Nachrichten zwar las, aber nicht antwortete. Es tat ihr leid, dass sie den wenigen Menschen, die sie noch hatte, solche Sorgen bereitete. Besonders ihrer Lehrerin, der sie sich anvertraut hatte, aber sie war zu sehr in den Erlebnissen gefangen. Ihr Umfeld war nie groß gewesen und nur wenigen Personen vertraute sie, doch einzelne hatten ihr bisher immer wieder auf die Beine geholfen.
Noch immer war sie wie gelähmt und konnte nicht reagieren. Die letzten Wochen hatten schwerwiegende Auswirkungen auf sie gehabt. Sie war entkräftet. Nicht nur ihre Seele war am Ende, auch ihr Körper hatte keine Kraft mehr. Jeder Tag glich dem anderen und sie schaffte es nicht, ihre Trauer zu überwinden.
Sie wollte ihrer Lehrerin sagen, dass sie nicht mehr konnte. Am Ende war, aber selbst das gelang ihr nicht. Anfangs hatte sie kurze und fragende E-Mails bekommen. Mittlerweile häuften sie sich und wurden stets emotionaler und besorgter.
Wieder einmal hatte sie ihr Handy in der Hand und schaute mit leerem Blick darauf. Aber dann tauchte ein ihr bekannter Name auf dem Bildschirm auf und sie wusste nicht, was geschehen war. Auf dem Display stand erneut der Name ihrer Lieblings- und Vertrauenslehrerin und plötzlich war sie wieder wie gelähmt. Ihre Finger bewegten sich keinen Zentimeter und ihr Körper war eingefroren. Sie wollte rangehen, aber es ging nicht. Am liebsten hätte sie es getan. Sie wollte um Hilfe schreien und alles vergessen, stattdessen ließ sie es nur klingeln. Auf ihrem gesamten Körper stellten sich die Haare auf und sie begann, stark zu zittern. Das war nichts Ungewöhnliches, aber Lia erschrak jedes Mal aufs Neue.
Das Klingeln ihres Handys verstummte und der verpasste Anruf tauchte auf. Tränen bahnten sich ihren Weg. Wieder einmal hasste sie sich selbst und wusste nicht, warum es ihr nicht möglich war, ihre Gedanken zu überwinden. Die Angst vor der Verurteilung war größer als ihre Angst, irgendwann zu zerbrechen und nicht mehr aufzuwachen.
Der Anruf hätte ihre Rettung sein können, aber sie ergriff den Anker nicht. Enttäuscht und frustriert legte sie ihr Handy beiseite und ergab sich erneut ihrer Trauer. Salzige Tränen flossen an ihren Wangen hinunter und ihre Kehle wirkte wie zugeschnürt. Auch wenn sie nur ein Wort sagen wollte, blieb alles stumm.
Sie hatte diese Veränderungen vor einiger Zeit bemerkt, doch waren sie dort noch lange nicht so gravierend gewesen. Diese eine Nachricht hatte alles ins Rollen gebracht und ihr Leben vollkommen zerstört. Plötzlich glich nichts mehr der Vergangenheit und sie fühlte sich in diesem ewigen Kreislauf aus Hass, Verzweiflung, Trauer und Essen gefangen. Jeden Tag hörte sie aufs Neue das monotone Ticken der Uhr. Das Haus war von kompletter Stille erfüllt. Die Musik hatte sie ein einziges Mal angehabt, damit ihre Lehrerin nichts merkte. Sie hatte gehofft, ihre Anwesenheit zu übertönen.
Eigentlich hätte sie froh sein sollen, dass ihre grausame Kindheit endlich vorüber war, aber der Schock saß tiefer.
Erschöpft schloss sie ihre Augen und hoffte innerlich, dass ihre Lehrerin es noch einmal versuchen würde. Sie fühlte sich kindisch, weil sie keine Hilfe annehmen konnte, obwohl es ihr so schlecht ging. Lia war sich nicht mehr sicher, ob Frau Meyer die richtige Ansprechpartnerin war. Aber sie war die Einzige, mit der sie reden konnte.
Immer, wenn sie ihre Augen schloss, tauchten die Bilder vor ihrem inneren Auge auf. Sie ließen sie in ihr bisheriges Leben zurückschauen und jedes Mal aufs Neue liefen Tränen an ihren Wangen hinab.
Ihr Körper hatte sich bereits an all dies Leid gewöhnt und ließ sie kaum einen Ausweg finden. Sie wollte leben, doch unter diesen Umständen konnte sie es nicht mehr. Ihr Körper bekam zu wenige Nährstoffe und sie ließ ihn leiden.
Immer wieder trat ihre Willenskraft für einen Moment an die Oberfläche, doch der innere Wille hatte keine Chance, zu überleben.
Nichts änderte sich. Lia hing in ihrer Blase fest, doch alles kam anders als erwartet. Es war eine Nachricht ihrer Lehrerin, die am Sonntag ihr Leben veränderte. Frau Meyer informierte sie darüber, dass sie das Jugendamt einschalten müssten, wenn sie sich am nächsten Tag nicht melden würde.
Augenblicklich stieg Panik in ihr auf. Ihr Herz begann zu rasen und Schweiß bildete sich auf ihrer Stirn. Ihr Handy konnte sie kaum halten – es drohte immer wieder aus ihren nassen Händen zu rutschen. Ihre Augen waren geweitet und sie wusste nicht, was sie tun sollte. Nie hatte sie schlimme Absichten verfolgt.
Dennoch fasste sie nach dieser Nachricht den Entschluss, am nächsten Tag wieder in die Schule zu gehen, um all dem Ärger zu entgehen. Am morgigen Tag würden viele Fragen auf sie zukommen und alles würde sich verändern.
Ihr Aussehen war der Vergangenheit gewichen. Jedem würde diese Veränderungen auffallen. Seit dem Schicksalsschlag hatte sie sich äußerlich so sehr verändert. Ihre Haare waren dünner geworden, ihre Haut fiel stellenweise in sich zusammen und sie hatte erkennbar an Gewicht verloren.
»Bitte machen Sie das nicht. Es war nur eine Grippe und morgen werde ich wieder in die Schule kommen.«
Doch erst dann nahm alles seinen Lauf…
Am nächsten Morgen wachte Lia mit Kopfschmerzen auf und konnte sich kaum aufraffen, ihr Bett zu verlassen. Sie fühlte sich nicht in der Lage, zur Schule zu gehen, aber sie durfte nicht noch länger fehlen. Sie hatte keine Hoffnung, dass alle ihre Ausrede glauben würden.
Sie dachte an das Gespräch, das sie am ersten Tag ihrer Abwesenheit mit Frau Meyer gehabt hätte. Es war die Beratung, die direkt nach den Ferien hätte stattfinden sollen. Sie überlegte, worüber sie geredet hätten und was Frau Meyer gesagt hätte, wenn sie erfahren hätte, dass Lia kein einziges der Versprechen hatte einhalten können.
In der letzten Woche hatte sie nicht mutwillig geschwänzt. Nein, es war ganz anders. Ihr Leben hatte sich von einem auf den nächsten Moment verändert.
Lia hatte Angst, wieder in die Schule zu gehen. Sie hatte sich verändert und diese Veränderung würde jeder bemerken.
Schon beim bloßen Gedanken daran, wie die abschätzigen und prüfenden Blicke ihrer Klassenkameraden auf ihr liegen würden, beschleunigte sich ihr Pulsschlag.
Erschöpft schleppte sie sich ins Badezimmer, um sich fertig zu machen. Doch vor der Tür hielt sie inne. Ihre Füße bewegten sich keinen Zentimeter über die Türschwelle.
»Bleib stehen. Leg dich hin, sonst wird alles nur noch schlimmer«, schrie er.
Sie zuckte zusammen. Sie zitterte am gesamten Körper und hatte keine Kontrolle mehr über ihn. Mit weichen Knien ließ sie sich nach vorne fallen und zog den Kopf ein.
Lia schreckte hoch und kniff sich kurz in den Arm. Sie durfte nicht immer wieder daran denken. Mit weichen Knien betrat sie das Badezimmer und sah sich im Spiegel an. Gestern hatte sie überlegt, ihre Augenringe mit Schminke zu überdecken, doch sie hasste Kosmetik und wusste, dass es sinnlos war. Kein Make-up der Welt konnte ihr helfen. Ihre Augen waren von tiefen schwarzen Linien gezeichnet.
In der letzten Nacht hatte sie kaum ein Auge zu gemacht. Immer, wenn sie versucht hatte, einzuschlafen, hatte ihr Kopf begonnen, an den morgigen Tag zu denken.
Erneut sah sie auf die Uhr und wusste, dass noch zu viel Zeit übrig war. Langsam ging sie in die Küche und schmierte sich ein Brot, obwohl sie genau wusste, dass dieses am Ende des Tages noch immer an derselben Stelle in ihrer Tasche liegen würde, an der sie es am Morgen platziert hatte.
Ihr Schulweg zog sich quälend in die Länge. Jeder Schritt, den sie auf dem gepflasterten Weg machte, fiel ihr schwer. Keine Menschenseele war um sie herum. Sie genoss, dass ihr Weg nicht direkt an der Straße entlangführte. Ihr kleines Haus war schon lange aus ihrem Sichtfeld verschwunden, aber das Schulgebäude kam nicht näher. Normalerweise brauchte sie nie mehr als eine Viertelstunde für den schon fast ländlichen Weg, doch heute war alles anders. Sie sah sich plötzlich vor ihrem inneren Auge rennen.
›Ich muss es einfach tun. Es gibt jetzt keinen anderen Ausweg mehr. Ich habe mich schon viel zu lange gegen meine Anspannung gewehrt‹, redete Lia sich ein und lief zum nächstgelegenen Supermarkt.
Sie wusste genau, wonach sie suchte. Niemand würde sie mehr davon abhalten können. Ihre Haare klebten in ihrem Gesicht und ihr Herz raste. Obwohl sie keine Kraft hatte und ihr immer wieder schwindlig wurde, rannte sie weiter. Sie durfte erst zur Ruhe kommen, wenn sie den Supermarkt erreicht hatte.
Als sie wieder in der Realität ankam, schlug sie den Weg zur Schule ein und nicht den zum Supermarkt. Trotzdem nahm sie einen Umweg. Auf keinen Fall wollte sie allzu früh da sein. Dann hätten ihre Mitschüler noch mehr Zeit, um sie mit Fragen zu löchern.
Ihr Herz schlug bis zum Hals und sie konnte das Rauschen des Blutes in ihren Ohren hören. In wenigen Schritten würde sie das moderne Schulgebäude betreten und kurze Zeit später im Unterricht ihrer Lieblingslehrerin sitzen.
Seit dem letzten verpassten Gespräch hatte sie sich nicht mehr bei Frau Meyer gemeldet, weshalb ihre Angst mit jedem Meter zunahm. Ihre Hände begannen zu zittern und ihre Knie fühlten sich mit jedem Schritt weicher an.
Ihre Lehrerin machte sich große Sorgen, das wusste Lia, immerhin hatte sie ihr genügend Anlass dafür gegeben. Nicht nur ihre Aussagen bei ihrem letzten Gespräch, auch ihre lange, unentschuldigte Abwesenheit sorgten dafür.
Auf dem Weg zu ihrem Klassenraum hielt sie ihren Kopf gesenkt und niemand sprach sie an. Unbeobachtet schlich Lia sich auf ihren Platz und hoffte, dass keiner sie ansprechen würde.
Ihre Hoffnung wurde prompt zerstört, als ihre Mitschülerin, mit der sie vorher nie viel Kontakt gehabt hatte, direkt darauf losplauderte: »Hey Lia, wie schön, dass du wieder da bist. Wie geht es dir?«
»Ich hatte eine hartnäckige Grippe, aber mir geht es so weit gut«, antwortete Lia kurz angebunden.
Sie wandte ihren Blick ab und bewegte ihre Hände unruhig in ihrem Schoß. Nach diesen Worten wollte ihre Mitschülerin erst recht etwas erwidern, aber genau in diesem Moment betrat ihre Lehrerin den Raum.
Es gab keinen Ausweg mehr für Lia. Eine Flucht war aussichtslos, denn Frau Meyer hatte sie bereits gesehen. Lia sah das Lächeln und die Erleichterung in ihren Augen, doch sie wusste, dass dies nicht alles gewesen sein würde. Sie hatte sich in den letzten Tagen zu auffällig verhalten.
Hier wollte sie nicht sein. Um ehrlich zu sein, wollte sie nirgends sein. Tränen wollten aus ihren Augen strömen, doch Lia hielt sie zurück. Niemals würde ihr in den Sinn kommen, hier vor ihrem gesamten Kurs zu weinen.
Vorsichtig versuchte Lia, den Blicken ihrer Lehrerin auszuweichen, und trotzdem hatte sie immer wieder das Bedürfnis, ihr in die tiefen blauen Augen zu sehen. Ihre Hoffnung war groß, dass Frau Meyer in ihren Augen erkennen würde, welche Hilfe sie brauchte, denn sie konnte nicht reden. Sie hatte Angst – Furcht vor der Wahrheit. Ihre Lippen klebten aneinander und ihre Kehle war zugeschnürt.
Alles sollte raus ans Licht kommen, aber eine unsichtbare Macht stand ihr im Weg, die sie davon abhielt, jedem zu erzählen, was geschehen war.
Der Unterricht begann. Lia konnte gar nicht anders, als ihre Lehrerin heimlich zu beobachten. Es fiel ihr schwer, einzuschätzen, was geschehen würde. So gerne wollte sie vom Auslöser erzählen, nur nicht von den Folgen. Jeder würde sie verurteilen und verachten, das wusste sie ganz genau.
Wann immer ihr Blick auf den sanften ihrer Lehrerin traf, schaute sie schnell ertappt aus dem Fenster. Ihre Hände konnte sie nicht stillhalten. Immer wieder verschränkte sie ihre Finger verkrampft ineinander.
Es war unmöglich, dem Unterricht zu folgen. Fast hoffnungslos schaute sie mit traurigem und leerem Blick nach vorne. Ihr Herz schlug schnell und ihre Sicht war verschleiert.
›Wieso bin ich nur aufgestanden? Warum bin ich nicht einfach liegen geblieben und habe mich meinem Schicksal ergeben? Wieso hat mein Gehirn sich den Gedanken in den Kopf gesetzt, an diesem Tag in die Schule zu gehen und um Hilfe zu bitten?‹, überlegte sie.
Verzweiflung erfüllte sie. Ihr Kopf war schwer und sie hatte Mühe, aufrecht zu sitzen. Sie fühlte sich innerlich komplett zerrissen und das Gedankenkarussell wollte nicht mehr anhalten. Ihr war schwindlig.
Immer wieder musste sie daran denken, wie dieser Tag enden könnte. Sie hatte sich ihn tagelang ausgemalt und doch war sie nie zu einem, für sie, guten Schluss gekommen.
Ihr Blick glitt regelmäßig zur Uhr. Sie hoffte, dass die Stunde rum war, stattdessen schlug ihr Herz mit jeder Minute schneller und kräftiger. Spätestens in der Pause würde sie um ein Gespräch nicht mehr drum herumkommen.
»Lia, hast du einen Moment für mich?«, riss Frau Meyer sie aus ihren Gedanken.
Erschrocken schaute Lia auf und entdeckte, dass ihre Lehrerin auf dem Platz neben ihr saß und sie mit besorgtem Blick ansah. Sie wirkte nachdenklich und zugleich musterte Frau Meyer sie mit Sorge. Lia wusste nicht, was geschehen war. Mit einem Mal waren ihre Mitschüler in Aufgaben vertieft, von denen sie nichts mitbekommen hatte, oder tuschelten leise miteinander.
»Jetzt? Ich habe schon so viel verpasst.«
Sie ohrfeigte sich innerlich für diese Aussage. An diesem Tag war sie zur Schule gekommen, um Hilfe zu bekommen, die niemand anderes ihr geben konnte, und nun stand sie sich wieder einmal selbst im Weg.
Sie konnte keinem Menschen auf dieser Welt erzählen, was geschehen war. Niemandem hätte sie von ihren Problemen erzählt, aber Frau Meyer hatte ihr bereits einmal geholfen, was ihr Hoffnung gab.
»Es ist wirklich wichtig. Ich mache mir Sorgen und einfach so lassen sich die letzten Wochen nicht abtun.«
Sie sprach mit etwas Nachdruck, dennoch war ihre Stimme weich.
»In der großen Pause vielleicht«, rang Lia sich zu einer Antwort durch und hoffte, dass ihre Lehrerin dem zustimmen würde.
»Okay, in der ersten großen Pause, und dann wie immer. Du kommst zum Raum.«
Mit diesen Worten verließ ihre Lehrerin den Platz wieder, doch es entging Lia nicht, dass Frau Meyer ihre Figur einmal von oben bis unten musterte.
Ihr Herz schlug schneller und sie war sich nicht sicher, ob das die richtige Antwort gewesen war. Ihr war schlecht und ihr Körper fühlte sich heiß an, obwohl ihr kalt war.
Mit einem Mal empfand sie alles falsch, sie wollte den gesamten Tag rückgängig machen. Sie hatte einen Fehler gemacht, den sie nun ausbaden musste, damit es am Ende nicht schlecht ausging.
Alle konzentrierten sich auf ihre Englischaufgaben, nur Lia schien die Einzige zu sein, die keinen Gedanken daran verschwendete. Sie hatte keine Ahnung, worum es ging und es war ihr egal. Das Karussell in ihrem Kopf drehte sich immer schneller und ließ sie nicht aussteigen. Ihre Hände begannen zu schwitzen und das Blut schoss durch ihren Körper.
Aufgeben. Alles hinschmeißen. All dies stieg ihr in den Kopf, wenn sie an das nahende Gespräch dachte.
Sie war so in ihren Gedanken versunken, dass sie nicht bemerkte, wie die Zeit vergangen war und die Fünf-Minuten-Pause anstand.
Noch immer in ihren Gedanken vertieft, griff Lia in ihre Tasche. Sie sollte zumindest von ihrem Brot abbeißen, das würde weniger auffallen.
Allein der Anblick des Brotes verstärkte ihre Übelkeit. Sie hatte panische Angst vor dem Gespräch, sodass ihr schon jetzt schlecht war. Ihr Magen hatte sich umgedreht und rebellierte, doch sie musste es durchziehen, um nachher keine Fragen beantworten zu müssen.
Voller Hass und Ekel biss sie in ihr Brot. Ein einziger Bissen und sie ließ das Butterbrot wieder sinken. Es war eine Qual und augenblicklich hatte sie das Gefühl, dass ihr Magen voll war – gefüllt mit Trauer und Wut. Sie konnte rein gar nichts dagegen machen. Es hatte sich alles gefestigt. Sie wollte kämpfen, aber sie war zu schwach.
Erneut durchfuhr die Wut ihren Körper und ließ sie für einen Moment zittern. Kalt war ihr ohnehin, also war es nicht allzu auffällig. Auf ihren Armen zeichnete sich eine Gänsehaut ab, an der jeder hätte erahnen können, dass ihr kalt war oder etwas nicht stimmte.
Lia bekam nicht mit, dass die Pause längst vorbei war und der Unterricht weiterging.
Sofort ließ sie ihr Brot vom Tisch verschwinden, aber ihre Abwesenheit war längst aufgefallen. Die Augen ihrer Lehrerin brannten für einen Moment auf ihrer Haut und sie hatte das Gefühl, dass Frau Meyer in sie hineinschauen würde.
›Möglichst unauffällig verhalten‹, schoss es ihr durch den Kopf und sie tat so, als würde sie sich wieder komplett auf den Unterricht konzentrieren.
Doch tief in ihrem Inneren wusste sie bereits jetzt, dass das nachfolgende Gespräch lang und von Fragen geprägt sein würde. Und obwohl sie so viel sagen wollte, hatte sie das Gefühl, keine einzige Antwort parat zu haben.
Nach dieser Aktion konnte sie sich noch weniger auf den Unterricht konzentrieren. Sie schaute immer wieder auf die Uhr und hatte das Gefühl, sich jeden Moment übergeben zu müssen. Auf keinen Fall wollte sie weiter auffallen. Ihr Herz schlug schnell und sie wünschte sich nichts sehnlicher, als ihre Entscheidung, hierher zu kommen, rückgängig zu machen.
Wie ferngesteuert ging ihr Arm in die Höhe.
»Ja, Lia?«, fragte ihre Lehrerin mit hoffnungsvoller Stimme.
»Darf ich auf die Toilette?«, erwiderte sie und versuchte, selbstsicher zu sprechen.
Ihre Lehrerin nickte.
»Ja, klar.«
Frau Meyer ließ es sich nicht nehmen, noch einmal liebevoll zu lächeln.
Lia verließ den Raum und wurde von allen angeschaut. Die Blicke der anderen spürte sie noch eine ganze Weile auf sich. Sie fühlte sich ertappt.
Das Gefühl, dass alle die Folgen der letzten Wochen gesehen hatten und sie mit vollkommen neuen Augen sahen, machte sich in ihr breit. Augenblicklich keimte die Übelkeit stärker in ihr auf und sie verspürte einen zunehmenden Würgereiz. Sie wurde nervös. Ein Pochen durchfuhr ihren Kopf. Der Weg zur Toilette kam ihr wie eine halbe Ewigkeit vor.
Sie beschleunigte ihre Schritte und als sie die Toiletten betrat, schaffte sie es gerade noch, sich in einer der Kabinen einzuschließen, ehe sie mit dem Kopf über der Kloschüssel hing.
Es brauchte nicht lange, bis der Brotbissen wieder draußen war, doch der Würgereiz fand kein Ende. Sie erbrach sich weiter, obwohl sie nichts mehr in sich hatte. Aber sie konnte nicht aufhören. Ihre Speiseröhre schmerzte und ihr Magen schrie. Mit all dem aufzuhören, war unmöglich.
Sie bekam mit, wie die Tür zu den Toiletten wieder zu fiel. Tränen brannten in ihren Augen, aber sie hatte sich fest vorgenommen, an diesem Tag nicht zu weinen, keine Schwäche zu zeigen.
Sie wollte und musste stark bleiben.
Lia kämpfte gegen ihre Tränen an. Sie hatte keine Kontrolle über ihren Körper. Ihr war schlecht und sie zitterte immer stärker.
Tief in ihr spürte sie, dass noch mehr aus ihr herauswollte, weshalb sie ihre Finger zur Hilfe nahm und zu würgen begann, um sich endlich von all dem Druck und Ekel befreien zu können.
Es fühlte sich grausam an. Es war krank, das wusste sie.
Obwohl ihr Brot schon lange wieder draußen war, war ihr noch immer speiübel. Sie verspürte den Druck, nicht mehr atmen zu können, und begann, nach Luft zu schnappen.
Das Brennen war kaum auszuhalten und nahm ihr ihre letzte Kraft, diesen Tag durchzustehen.
»Hallo, wie heißt du? Ist alles gut bei dir? Machst du bitte die Tür auf?!«, vernahm Lia mit einem Mal eine erwachsene Stimme, die ihr bekannt vorkam und doch völlig fremd war.
Gänsehaut bildete sich auf ihrem Körper und sie begann, zu zittern. Noch immer kniete sie auf dem Boden und hielt den Kopf über die Kloschüssel. Sie dachte gar nicht daran, die Tür zu öffnen. Ihre Direktorin sollte sie auf keinen Fall in diesem miserablen Zustand sehen.
›Was denkt sie bloß von mir?‹, überlegte Lia und konnte spüren, wie kräftig ihr Herz in ihrer Brust schlug. Immer stärker kämpfte sie mit ihren Tränen.
Voller Schmerz und Trauer sank sie an der Wand hinab. Ihr Körper hatte genauso wie ihr Verstand versagt. Eigentlich hatte sie sich noch herausreden wollen, doch nun war sie aufgeflogen und weinte hier in verschmutzter Kleidung vor ihrer Direktorin. Nur eine dünne Tür trennte die beiden voneinander.
Ihr war kalt und sie zitterte am ganzen Leib. Sie war am Ende und doch drehte in ihrem Kopf ein Karussell. Auf keinen Fall durfte sie die Tür öffnen. Sie würde sich selbst bloßstellen. Trotzdem, sie wollte diesen Kreislauf nur noch durchbrechen und das Gefängnis ihres Körpers verlassen.
»Mach bitte die Tür auf. Ich möchte nur mit dir reden und dir helfen. Dir muss das nicht unangenehm oder peinlich sein. Hier ist niemand, wir sind allein«, redete Frau Schäfer mit ruhiger Stimme auf das Mädchen ein.
Sie hatte keine Ahnung, wer sich hinter der Tür befand, und trotzdem war für sie sofort klar gewesen, dass sie sich um ihre Schülerin kümmern würde.
»Ich kann nicht«, erwiderte Lia leise mit zitternder Stimme, während sie versuchte, ihre Tränen zu unterdrücken.
Sie hatte Angst, verurteilt zu werden. Es war immerhin ihre Direktorin, die dort mit ihr sprach, und sie würde sie mit Sicherheit nicht einfach so gehen lassen. Erneut lief ihr ein eiskalter Schauer den Rücken hinunter und ließ sie zusammenzucken.
»Warum kannst du das nicht? Hier ist niemand außer mir. Ich mache mir Sorgen um dich und möchte dir helfen«, fragte ihre Direktorin mit ruhiger Stimme nach.
»Es geht einfach nicht.«
Sie versuchte, selbstsicher zu klingen, doch sie schaffte es nicht. Ihre Stimme war brüchig und sie schluchzte, während sie sprach.
»Mir geht es gut, ich brauche keine Hilfe!«
»Dann mach bitte kurz die Tür auf und lass mich nachsehen. Ich möchte mich dessen versichern«, bat Frau Schäfer nach wie vor mit sanfter Stimme.
Lia wollte noch immer dagegenhalten, doch jegliche Spannung und Kraft verließ ihren Körper. Sie sackte in sich zusammen. Salzige Tränen rannen aus ihren Augen und sie begann, lauter zu schluchzen.
»Ich höre doch, dass es dir nicht gut geht. Wie heißt du denn?«, fragte Frau Schäfer erneut.
Eigentlich wollte Lia diese Frage nicht beantworten. Doch die Kraft, um sich herauszureden, hatte sie nicht mehr. Sie war sich sicher, dass die Schulleitung über ihr Verhalten informiert worden war, und mit Sicherheit würde ihre Direktorin bei ihrem Namen sofort Bescheid wissen.
Lia konnte nicht einschätzen, ob Frau Meyer mit irgendjemandem über ihre privaten Probleme geredet und was sie erzählt hatte. Sie war überzeugt davon, dass sie sie niemals verraten hätte, aber dennoch konnte sie die Situation nicht beurteilen.
Ein Moment des Schweigens erfüllte den Raum, nur ihr unregelmäßiges Schluchzen war zu hören.
»Lia«, flüsterte sie nach einer Weile kaum hörbar.
»Lia, was ist denn passiert, dass es dir nicht gut geht?«
Angespannt wartete Johanna auf eine Antwort, doch Lia sagte nichts. Sie wusste sofort, dass es sich um die Sorgenschülerin der letzten Wochen handelte, aber sie ließ es sich nicht anmerken. Sie wollte nicht, dass Lia das Vertrauen verlor und womöglich komplett dichtmachte.
»Ich setze mich jetzt hier auf der anderen Seite auf den Boden und dann reden wir einfach etwas, okay?«, erklärte Johanna, ohne auf diese Frage eine Antwort zu erwarten, und setzte sich.
Sie wollte auf Lias Augenhöhe kommen und ihr das Gefühl geben, dass sie ihr vertrauen konnte. Aber sie wollte ihr damit zeigen, dass sie die Situation ernst nahm und nicht einfach so gehen würde.
Doch in der Toilettenkabine regte sich nichts. Schweigen nahm den Raum ein.
»Möchtest du vielleicht mit jemand anderem reden?«, fragte sie liebevoll, aber auch hierauf erhielt sie keine Antwort.
»Lia, bitte mach wenigstens die Tür auf, damit ich mir keine Sorgen mehr machen muss«, versuchte Johanna es noch einmal, »sonst hole ich den Hausmeister, um die Tür gewaltvoll zu öffnen.«
Sie hoffte sehr, dass sie mit dem zweiten Satz etwas bewirken konnte, und tatsächlich klackte das Schloss wenige Augenblicke später.
Lia wollte stark sein, weshalb sie sich die Nässe auf ihren Wangen wegwischte. Gerade, als sie ihrer Direktorin versichern wollte, dass alles gut sei, bahnten sich die Tränen aber erneut einen Weg nach außen.
Lia hatte endgültig keine Kraft mehr und sank erschöpft auf den Boden. Mit verkrampften Muskeln und Tränen in den Augen ließ sie ihren Kopf auf die angezogenen Knie fallen. Sie wollte in einem neuen Körper aufwachen und dieses Gefühl, ihren eigenen Körper abzustoßen, loswerden.
›Nun habe ich vollkommen versagt‹, schoss es ihr durch den Kopf und ihre Wut auf sich selbst wurde noch größer.
Sie bohrte ihre Fingernägel in ihre Handinnenflächen. Nur so konnte sie ihren Hass auf sich selbst kontrollieren.
Sie wollte aufhören, zu weinen, aber es ging nicht. Viel zu lange hatte sie ihre Traurigkeit schon versteckt. Alles hatte sich in ihr gestaut. Mit jedem neuen Tränenschwall begann sie, zusammen zu zucken, und die Haare auf ihren Armen stellten sich unter ihrem Pullover auf.
»Es ist alles gut«, sprach Frau Schäfer beruhigend auf sie ein.
Doch diese Worte kamen nur gedämpft in ihrem Kopf an.
Nichts würde wieder gut werden. Ihr ganzer Plan für diesen Tag in der Schule war von einer auf die andere Minute komplett zerstört worden.
Sie hatte sich vorgenommen, im Unterricht an diesem Tag unbeobachtet dabei zu sein, ein kurzes Gespräch zu führen, um Hilfe zu bekommen, und dann wäre alles wieder gut gewesen.
Aber sie hatte sich falsch eingeschätzt und war innerlich komplett zerbrochen. Ihre Seele war ein reiner Scherbenhaufen. Ihr Herz schmerzte und in unregelmäßigen Abständen verschwamm ihr Blickfeld.
Ein neuer Tränenschwall überkam sie und sie begann, hemmungslos zu schluchzen. Die Gedanken und Ereignisse der letzten Wochen hatten sie eingeholt.
»Hey, ganz ruhig! Es wird alles gut werden. Was ist denn los?«
Frau Schäfers Stimme war weich und zugleich erkannte Lia die Sorge, ein Hauch von Traurigkeit lag darin.
Die Atmosphäre war angespannt und dennoch vertraut. Aber sie konnte ihrer Direktorin nicht sagen, was los war. Stattdessen kauerte sie wie ein Häufchen Elend auf dem Boden. Sie wollte ihren Körper nur noch verlassen.
»Bei wem hast du denn gerade Unterricht? Nur, damit wir dort Bescheid sagen können, dass alles in Ordnung ist und es dir gut geht«, fragte Frau Schäfer mit ruhiger Stimme.
In diesem Moment merkte Lia, dass sie es wirklich ernst meinte, ihr helfen und sie nicht verraten wollte. Ihre weiche Stimme und das sorgsame Auftreten ließen ihr Herz etwas langsamer schlagen. Sie fasste ein wenig Mut.
»Können Sie Frau Meyer herholen?«, weinte Lia leise und kam mit ihrer inneren Anspannung nicht zurecht.
Sie wollte nicht weinen, aber genauso merkte sie, wie ihre Gefühle sie immer mehr überforderten. Ihr Körper hörte nicht mehr auf ihre Befehle und sie wollte nur noch aufgeben.
Lia wusste sofort, wie sie den Druck loswerden konnte, doch ihr war bewusst, dass sie ihre Emotionen anders bewältigen musste. Kein Mensch würde ruhig darauf reagieren, wenn er wüsste, was sie normalerweise tat.
Sie war überzeugt, dass diese Situation kein Ende nehmen würde. Ihre Speiseröhre brannte. Sie spürte, wie etwas schwer in ihrem Magen lag und sie machte sich ganz klein, weil sie ausgerechnet weinend neben ihrer Direktorin auf dem Boden saß.
Nun würde sie alles erzählen müssen. Panik machte sich in ihr breit und ein erneuter Tränenschwall überkam sie. Sie begann zu zittern. Ihr Herzschlag beschleunigte sich wieder.
Johanna, die eben noch mit einer Lehrerin auf dem Flur gesprochen hatte, damit diese Sabine holte, wandte sich dem weinenden Mädchen zu. Sie legte ihren Arm schützend um sie, um sie zu beruhigen. Sie wollte ihr das Gefühl geben, nicht allein zu sein.
Als Lia nach Sabine gefragt hatte, war Johanna sofort klargewesen, dass es sich bei diesem Mädchen wirklich um die Sorgenschülerin aus der 8e handeln musste. Allein mit dem Namen war sie sich nicht sicher gewesen.
»Es wird alles gut werden. Ich bleibe bei dir und Frau Meyer kommt auch gleich«, redete sie ruhig auf Lia ein und strich ihr besänftigend über den Rücken.
Für Johanna war dies keine ungewohnte Situation. Schon oft hatte sie eine Schülerin beruhigen müssen, als sie noch als Klassenlehrerin tätig gewesen war.
Lia hingegen war es sichtlich peinlich. Sie klammerte sich an ihren eigenen Beinen fest, um Halt zu finden.
Als sich die Tür öffnete, zuckte Lia aus Angst zusammen. Kälte durchfuhr ihren Körper. Niemand sollte sie in diesem Zustand sehen.
»Was gibt es denn? Sylvia hat gesagt, dass ich herkommen soll«, fragte Sabine, überrascht über den Anblick ihrer Chefin und den Ort, an den sie kommen sollte.
Doch dann erblickte sie die weinende Lia in Johannas Armen. Ein besorgtes Gefühl machte sich in ihr breit.
Augenblicklich dachte sie, dass sie etwas übersehen oder falsch gehandelt hatte.
»Oh Gott, Lia, was ist denn mit dir passiert?«, entfuhr es ihr eine Tonlage höher als normal.
Sie kniete sich vor Lia. Sanft strich sie ihr über den Arm.
»Ihr scheint es nicht gut zu gehen, aber mit mir wollte sie nicht reden. Stattdessen hat sie nach dir gefragt«, erzählte Johanna und Sabine ahnte, worum es ging, und warum Lia ausgerechnet mit ihr reden wollte.
»Danke. Ich glaube, es ist besser, wenn wir sie hier wegbringen. Am besten in den Beratungsraum, da kann sie erst mal zur Ruhe kommen.«
»Lia, komm, wir helfen dir.«
Frau Meyer griff ihr unter die Arme. Mit weichen Knien stand Lia auf ihren Beinen. Ein beängstigendes Gefühl durchfuhr ihren Körper.
Sofort machte sich der Fluchtinstinkt wieder in ihr breit. Ihr Herz schlug unkontrolliert und sie hatte das Gefühl, nicht mehr allein auf ihren Füßen stehen zu können. Sie hatte keine Kraft und doch wurde ihr Wunsch, dieser peinlichen Situation zu entfliehen, immer größer.
Gestützt von ihrer Lehrerin und der Direktorin verließ Lia die Toiletten, worin sie ihre Chance sah. Eigentlich wollte sie diese Hilfe annehmen und dennoch nahm sie ihre letzte Kraft zusammen und versuchte, sich aus den Griffen zu lösen.
»Hey, es wird alles gut. Wir helfen dir«, sprach Sabine beruhigend auf Lia ein, nachdem sie ihren Griff etwas gefestigt hatte.
Ihre sanfte Stimme drang nur schwer zur Lia durch.
Ihre Lehrerin schien mit dieser Reaktion gerechnet zu haben. Sie wusste, wie schwer es Lia fiel, Hilfe anzunehmen. Bereits in ihrem ersten Gespräch hatten die beiden darüber gesprochen. Immer wieder siegte Lias Angst und sie wollte der unangenehmen Situation entkommen. Lia war sich in diesem Augenblick einfach nicht mehr sicher, ob sie Hilfe wirklich wollte.
Auch wenn Lia ihre Angst noch immer deutlich spüren konnte und merkte, wie ihre Muskeln sich verkrampften, gab sie schließlich nach und ließ sich von Frau Meyer helfen. Vielleicht würde es die bessere Wahl sein, alles andere würde sie nur noch schneller ans Ende ihres Lebens bringen.
»Könnten Sie mir vielleicht meine Sachen mitbringen?«, bat Lia ihre Lehrerin, nachdem diese gesagt hatte, dass sie kurz in der Klasse Bescheid sagen würde.
Damit Sabine in Ruhe mit Lia reden konnte, bat sie einen Kollegen, in ihrer Abwesenheit die Klasse zu beaufsichtigen.
»Klar und du gehst schon mal mit Frau Schäfer mit. Ich komme gleich nach, versprochen«, antwortete Sabine lächelnd.
Sie wusste, wie sehr das Mädchen ihr vertraute. Ihr entging aber auch nicht, dass Lia mit dieser Situation kämpfte.
Die Wege der drei trennten sich und Lia ging, gestützt von Frau Schäfer, weiter. Ihre Speiseröhre brannte noch immer und so groß ihr Wunsch zu fliehen auch war, sie wusste, dass es keinen Sinn ergab. Beide Lehrerinnen hatten bereits gemerkt, wie schlecht es ihr ging, und wie sehr sie litt. Aber vielleicht war genau das ihre Rettung aus all dem Schmerz, der Trauer und dem Leid, das sie seit Wochen erfüllte.
Als die beiden den Raum betraten, blieb Lia für einen Moment wie versteinert in der Tür stehen. In diesem Raum hatte sie bereits zweimal mit ihrer Lehrerin gesprochen. Danach war sie nicht mehr gekommen.
Nichts hatte sich verändert, die Couch stand noch immer an derselben Stelle und auch der Sessel. Lediglich etwas mehr Licht fiel an diesem Tag in den Raum, da die Sonne schien. Es war der einzige Raum an dieser Schule, der nicht wie ein Klassenraum wirkte, sondern ein bisschen an ein kleines Wohnzimmer erinnerte.
Ihre Erinnerungen an das letzte Gespräch kamen hoch. Augenblicklich dachte sie an das Versprechen, das sie nicht eingehalten hatte. Ihr kam wieder in den Sinn, was sie in diesen vier Wänden preisgegeben hatte. Sie wusste genau, dass es dieses Mal definitiv anders ausgehen würde. Frau Meyer würde nicht mehr so ruhig auf ihre Erlebnisse reagieren.
Trotz all der negativen Gedanken entsprang in ihrem Kopf ein kleines Fünkchen Hoffnung, die lang ersehnte Hilfe zu bekommen. In ihr drinnen war er schon länger - der Kämpferwille - aber er hatte es bisher nicht ans Licht geschafft und Lia wusste, dass sie ohne Hilfe nicht weiterkommen würde. Vor allem aber wollte sie leben.
Sie wollte alles loswerden, von den Geschehnissen erzählen. Lediglich die Folgen sollten bei ihr bleiben, doch sie wusste, dass dies ein vergeblicher Wunsch war.
Nach einer kurzen Pause, in der Frau Schäfer keine Fragen stellte, ließ Lia sich erschöpft auf die Couch fallen. Sie hätte es kaum eine Minute länger auf den Beinen ausgehalten. Ihre Knie waren weich. Selbst die letzte Kraft hatte ihren Körper verlassen.
»Lia, du solltest deinen Pullover ausziehen«, sagte Frau Schäfer vorsichtig, denn auf ihrem Oberteil waren noch ein paar Reste ihres Erbrochenen zu sehen.
»Gleich, in den Sachen, die Frau Meyer mitbringt, ist ein Pulli drin.«