Tinte in Wasser - Bella Bender - E-Book

Tinte in Wasser E-Book

Bella Bender

4,9

Beschreibung

Sie lügen, sinnen auf Rache, sind nostalgisch oder ängstlich: Was sie verbindet, ist das Gefühl, sich selbst zu verlieren. "Tinte in Wasser" porträtiert in fünf Erzählungen Hoffnung, Wahnsinn, sowie das menschliche Scheitern und hält die Suche seiner Protagonisten nach der eigenen Identität zwischen vielen Zerrbildern und Täuschungen fest.

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Bella Bender wurde 1997 in Baden-Baden geboren, wo sie zur Schule ging und 2014 ihr Abitur absolvierte. Sie studierte zunächst drei Semester Zahnmedizin in Freiburg, brach aber das Studium ab, um sich ganz dem Schreiben widmen zu können. Heute studiert sie Germanistik und Kunstgeschichte und lebt als freie Autorin in Heidelberg. „Tinte in Wasser“ erschien im Jahr 2017 beim Self-Publisher-Verlag Books on Demand und ist ihr Erstlingswerk.

Inhalt

Nur ein Treffen

Galerie

Hochzeitstag

Endhaltestelle

Es geht mir gut

Nur ein Treffen

An einem verregneten Nachmittag im April war Iola wieder da. Zwei Stunden zuvor hatte sie sich bei ihm angekündigt. Ihre gestammelten Wortfetzen hatte er kaum verstehen können, aber vielleicht hatte das auch daran gelegen, dass er mehr auf den Klang ihrer Stimme als auf das Gesagte geachtet hatte.

„Nicht weit vom Bahnhof, sagst du? In Ordnung, ich denke ich finde das Haus schon.“

Schließlich ein Klicken in der Leitung, dann Stille. Er legte das Telefon aus der Hand und wandte sich zur Küchentür. Langsam zog er die Schublade auf, öffnete eine Dose Kaffee und setzte das Wasser auf. Er kratzte sich zerstreut am Kopf.

Iola. Wann hatten sie sich das letzte Mal gesehen?

Es dauerte ein paar Minuten, bis er sich wieder an diese Absolventenfeier erinnerte. Sie war nicht alleine gewesen und hatte ihm nur kurz verlegen ins Gesicht geschaut. Ihr letztes Lebenszeichen war ein Brief gewesen, den sie ihm geschickt hatte, als sein Vater gestorben war. Zur Beerdigung war sie jedoch nicht gekommen und hatte auch auf seine Antwort nicht reagiert.

Bastian öffnete den Kühlschrank. Er hatte noch ein Glas von der etwas zu teuren Pestosauce und eine Flasche trockenen Weißwein, wie sie ihn mochte. Er hoffte bereits, sie würde zum Abendessen bleiben, dabei war es erst sechzehn Uhr. Ohne an den Kaffee auf dem Herd zu denken, eilte er ins Wohnzimmer und räumte hastig die herumliegenden Blätter vom Schreibtisch.

Als er ein Zischen aus der Küche hörte, rannte er fluchend zurück und stolperte beinahe über den alten, ausgefransten Perserteppich im Flur. Gerade als er versuchte, den vergossenen Kaffee aufzuwischen, klingelte es. Er zog den Topf vom Herd, stürmte zur Tür und riss sie ein wenig zu weit auf.

Vor der Türschwelle stand wie eingefroren eine Frau im blauen Mantel, das helle, krause Haar vom Kopf abstehend und die Augen weit aufgerissen.

„Iola“, sagte er nur und sie entspannte sich.

„Schön dich zu sehen.“

Ein zögerliches Lächeln breitete sich auf ihrem Gesicht aus. Sofort befürchtete er, sie zu fest umarmt zu haben.

„Wie lange bleibst du in Leipzig?“, er griff nach ihrer Hand, zog sie über die Türschwelle und half ihr aus dem Mantel.

„Nicht lange, denke ich. Eigentlich komme ich fast nie hierher.“

„Und was hat dich dann dieses Mal hergeführt?“

„Ich habe meine Großtante besucht; sie wohnt ja nicht weit von hier. Ich vergesse immer den Namen des Ortes.“

„Und wie war es?“

„Für mich sehr traurig und für sie unverständlich. Alma hat Alzheimer, sie hat mich nicht einmal erkannt.“

„Das tut mir leid, Iola.“

Sie nickte.

„Sie hat auch dich immer gemocht. Inzwischen redet sie nur noch von ihren Eltern und von ihrem Alfred. Niemand traut sich ihr zu sagen, dass er vor zehn Jahren gestorben ist, obwohl sie jeden Tag fragt, wann er nach Hause kommt.“

Iola stand wie ein verirrter Fremdkörper im Flur und sah sich um. Bastian versuchte ihrem Blick zu begegnen, was sie erst nach einer Minute bemerkte, um dann verlegen zu lachen.

„Entschuldige, es... ich muss mich irgendwie erst wieder an dich gewöhnen.“

„Es ist ja auch lange her.“

Iola betrachtete ihre Hände.

„Setz dich doch erst einmal hin“, er schob sie auf das Sofa, „möchtest du Kaffee?“

„Ja gerne.“

„Erzähl mal von dir. Was gibt es Neues in deinem Leben?“

Sie seufzte.

„Nicht viel.“

„Gibt es vielleicht jemanden?“

„Nein“, sie schüttelte den Kopf, „ich hatte immer mal wieder ein paar blöde Affären, aber...“

Er nickte.

„Ich verstehe.“

„Und du, bist du mit jemandem zusammen?“, Iola lächelte, wenn auch ein wenig unsicher.

„Nein. Ich habe mit Céline eineinhalb Jahre lang zusammengelebt, aber wir haben uns vor ein paar Monaten im gegenseitigen Einvernehmen getrennt.“

„Das tut mir leid“, er war sich nicht sicher, ob sie es ehrlich meinte, „warum denn?“

„Am Ende war der Druck zu groß, denke ich.“

„Dann standest du dieses Mal also auf der anderen Seite...“

„Das ist etwas Anderes“, antwortete er scharf, „bring das nicht durcheinander, das ist nicht gerecht.“

„Ja, vermutlich“, ihre Stimme wurde leiser, während er aufstand und in die Küche lief. Als er zurückkam, rührten sie in ihren Kaffeetassen und sahen sich dabei nicht in die Augen.

„Und du lebst wieder in Hamburg?“

„Ja“, sie nickte, „ich verbinde mit dieser Stadt einfach sehr viel, immerhin bin ich dort aufgewachsen. Und meine Mutter und mein Bruder sind dort. Ich glaube in Leipzig bin ich nie wirklich heimisch geworden, auch wenn ich fast zehn Jahre hier gewohnt habe.“

„Wie geht es Andreas?“

„Ganz gut, denke ich. Er ist vor zwei Monaten mit seiner Freundin Sara zusammengezogen.“

„Denkst du?“

„Wir sehen uns nicht so oft, weil er so viel arbeitet.“

„Liegt wohl in der Familie. Und wie läuft deine Arbeit?“

„Gut. Ich bin in einer ziemlich renommierten Kanzlei in Hamburg untergekommen. Genauso wie ich es immer wollte. Und mein Chef ist klasse. Du weißt ja, ich lebe für meine Arbeit.“

Er nickte, auch wenn er solche Aussagen nicht mochte, weil sie so klangen, als rezitiere jemand aus einem schlechten Drehbuch. Aber natürlich sagte er ihr das nicht, sie hätte es falsch verstanden.

„Bist du glücklich?“, fragte er stattdessen. Sie seufzte.

„Glück. Was für ein Wort. Für jeden kann es etwas Anderes bedeuten. Meine Definition von Glück unterscheidet sich sicherlich von deiner. Die Philosophie hat nie eine endgültige Antwort darauf gefunden, was es damit auf sich hat, und ich ehrlich gesagt auch nicht.“

„Das kannst du aber besser“, er nickte ironisch mit dem Kinn, leicht verärgert über ihre gewollt reflektierte Sicht der Dinge.

„Was denn?“

„Mir vor unangenehmen Fragen ausweichen.“

„Ich habe zu wenig Zeit, um glücklich zu sein“, sagte sie schließlich, „Was ist das denn, ein Verhör?“

Er schaute nicht einmal weg. Ihre Ausflüchte hatten ihn schon immer gereizt.

„Ja. Was denn auch sonst. Du kennst mich, ich habe mich nicht verändert.“

„Kann man sich in fünf Jahren nicht verändern? Wenn man einmal bedenkt, was schon in fünf Monaten alles passieren kann.“

„Würdest du sagen, dass du dich verändert hast?“

„Natürlich.“

„Jedenfalls wäre das keine Veränderung, die man sofort erkennt.“

„Es ist ja auch nichts, was man direkt aus meinem Gesicht lesen könnte, Bastian. Außerdem sitzen wir erst seit ein paar Minuten hier.“

Sein Ärger über sie verflog, als er ihre vertraute leicht gekrümmte Haltung von früher wiedererkannte.

„Aber du weißt doch...“

„Was?“

„Eine Minute mit Iola...“

„...ist wie eine Stunde mit einem normalen Menschen“, vollendete sie den Satz und lachte stumm. Sie schwiegen nun beide, ein wenig aus dem Konzept gebracht.

„Ich weiß noch, dass ich damals daran gezweifelt habe, ob du das im guten oder schlechten Sinne meinst“, bemerkte sie schließlich, „das hast du am ersten Abend zu mir gesagt, oder?“

Er nickte.

„Ja. Eine schöne Erinnerung.“

Irgendetwas in Iolas Gesicht zuckte nervös, doch er konnte nicht genau bestimmen, was es war. Er erinnerte sich, wie er damals versucht hatte, ihr Handeln vorherzusehen, indem er ihre Gesten und ihre Worte studierte, manchmal sogar intensiver als seine Gesamtausgabe von Hegel. Ganze Stunden hätte er damit zubringen können, sie zu observieren, ihre Haltung zum Beispiel, manchmal aufrecht, manchmal in sich zusammengesunken oder die Schultern leicht schräg, wenn sie sich für irgendetwas interessierte, die hellgrauen Augen gelegentlich zur Seite verdreht, wenn ihr irgendetwas auf die Nerven ging. Die Jahre hatten sie noch blasser und hagerer gemacht, dabei war sie schon damals dünn gewesen wie eine Magerkranke, da sie viel mehr Zigaretten und Wein zu sich nahm als anständige Mahlzeiten.

Vorsichtig schaute er sie von der Seite an, als sie von ihrer Mutter erzählte, die an starkem Rheuma litt, und von ihrem Vater, der sich kaum bei ihr meldete.

Bastian fragte sich, ob sie vielleicht ein wenig einsam war in Hamburg, unter all den Freunden und Kollegen, von denen sie erzählte.

„Wie läuft es bei dir beruflich?“, ihre Frage klang betont vorsichtig, als träfe sie seinen wundesten Punkt.

„Nun, ich unterrichte Philosophie an einem Gymnasium und arbeite zusätzlich im Kulturhaus. Es ist vielleicht nicht das, wovon ich als Student geträumt habe, aber es ist in Ordnung.“

„In Ordnung“, sie sprach es aus wie einen ungewöhnlichen Begriff, „und wovon träumst du jetzt?“

Der ironische Unterton entging ihm nicht. Wenn sie früher gut gelaunt gewesen war, hatte sie ihn als Idealisten bezeichnet. Wenn sie dagegen in schlechter Stimmung war, hatte sie ihn oft als naiv beschimpft.

„Als ich zwanzig war, habe ich davon geträumt, wie es wohl wäre, die jungen, unsicheren Jahre hinter sich zu lassen“, er betrachtete seine Hände, als hätte er sie vorher noch nie gesehen, „aber jetzt, jetzt wäre ich gerne wieder jünger, meinetwegen auch geplagt von all den Unsicherheiten. Die Angst, welche die Unsicherheit auslöst, ist nicht halb so schlimm wie die Macht der Gewissheit über viele Dinge. Verstehst du, was ich meine?“

„Nein“, antwortete sie langsam.

„Genau wie damals“, hätte er fast gesagt. In dieser Hinsicht hatte sie nie begriffen, was ihn so quälte, dabei war es aus seiner Sicht so einfach.

Wenn ich dem zwanzigjährigen Bastian noch einmal begegnen würde, dachte er, dann würde ich ihm sagen, er muss sich nicht vor zu vielen Möglichkeiten und falschen Entscheidungen fürchten. Denn so viel schlimmer erschien ihm dieses Gefühl, das ihn manchmal überkam, wenn er morgens ins Bad lief und das fahle Licht der nackten Glühbirne seine Falten beleuchtete: Das Wissen, die Sicherheit darüber, dass die Zeit der Entscheidungen vorbei war. Doch auch wenn er sich einst danach gesehnt hatte, der Eindruck von Erlösung wollte sich einfach nicht einstellen. Seine Unruhe hatte der Gleichmut Platz gemacht. Vielleicht war er einfach das, was Iola immer behauptet hatte: Pessimistisch und nie durch irgendetwas zufrieden zu stellen.

Anfangs hatte sie dies noch belustigt festgestellt, später hatte sie es ihm wütend vorgeworfen.

Iolas grausamster Satz?

„Ich verstehe dich nicht. Wenn das überhaupt irgendjemand jemals kann.“

Es war ein wenig seltsam, wieder neben ihm zu sitzen auf diesem Sofa, das eigentlich überhaupt nicht seinem Stil entsprach. Auch wenn sie zunächst vom Gegenteil überzeugt gewesen war, hatte er sich doch sehr verändert: Seine hektischen Gesten waren verschwunden, er sah fast gelassen aus, anders als früher, wenn er sich über eine komplizierte Gedankenkette tagelang den Kopf zerbrochen oder sich völlig überzogene Sorgen gemacht hatte um Dinge, die sie in Sekundenschnelle aus der Welt schaffen konnte.

Sekundenschnelle traf es gut, wenn sie ihr Leben hätte beschreiben wollen. Sie dachte oft, dass es wohl ebenso wenig langsam und ruhig verlief wie ihre Fahrten auf der Autobahn. Die rasante Geschwindigkeit schien sich niemals zu verringern, es gab keine Ruhepausen oder Auszeiten, nur den sich ewig wiederholenden Prozess des Beschleunigens und Überholens.

Iola war sich sicher, ihn damals gleichermaßen schockiert wie fasziniert zu haben.

In welcher Geschwindigkeit verlief wohl sein Leben inzwischen? Ob er immer noch dieser Träumer war, für den ein Tag wie sieben Leben sein konnte? Er sah auf dieselbe Art und Weise romantisch und verträumt aus wie damals mit seinem Dreitagebart, der inzwischen nicht mehr schwarz, sondern grau war, seinem abgeschabten Wollpullover und seinen tragikomischen dunklen Augen. Ein bisschen erinnerte er an ein männliches Schönheitsideal aus vergangenen Epochen oder an einen längst verstorbenen, aber zeitlosen Denker.

Jedoch war er weniger ernst, weniger tragisch als früher, scherzte mehr und wirkte weniger selbstmitleidig. Manche seiner Witze waren sogar regelrecht dumm, scheinbar hatte er diesen Anspruch abgelegt, ständig klug zu wirken.

„Auf eine seltsame Art bist du jünger geworden“, lachte sie, als er ihr noch mehr Kaffee einschenkte.

„Was?“, er grinste, „Das kannst du doch kaum ernst meinen. Aber echt, im Ernst, ich fühle mich manchmal richtig alt. Du nicht?“

„Nein.“

Sie log nicht, das konnte er ihr ansehen. Vermutlich war es eben Iolas Art, möglichst wenig über sich selbst nachzudenken. So war sie schon immer gewesen. Iola wickelte den Schal von ihrem langen Hals. Auch diese Bewegung sah exakt und präzise durchgeführt aus, wie vieles, was sie tat. Sie nahm die kleine gusseiserne Teekanne in die Hand, welche er auf dem Tisch platziert hatte und betrachtete sie fasziniert, als hätte sie nie etwas Vergleichbares gesehen. Er wusste jedoch genau, woher ihre Verwunderung kam. Dass er keinen Tee trank, wussten sie beide ganz genau, aber es war einer der Versuche Célines gewesen, ihn für eine gesündere Lebensweise zu begeistern.

Sein Magen verkrampfte sich leicht, als er daran dachte, wie er mit Céline auf diesem Sofa gesessen hatte, ihr hübsches Gesicht sich zu einer verächtlichen, hässlichen Grimasse verzog und sie sprach: „Du kannst noch so viele philosophische Essays schreiben und Psychologiebücher lesen, wie du willst, du wirst deine Mitmenschen nie verstehen. Wenn du immer nach dem Sinn suchst, suchst du doch nur dich selbst und verlierst alle anderen.“

Ein paar Tage später hatte sie ihre Koffer über den Flur in den Aufzug getragen, während er regungslos auf dem Bett gesessen hatte, zu schwach und zu ermüdet, um sie aufzuhalten.

Sie telefonierten nicht mehr und schrieben sich nicht mehr. Wozu auch, wenn man sich nichts mehr zu sagen hatte?

Doch es ging nicht immer nur um verpasste Worte und Gelegenheiten. Manchmal ging es auch einfach darum, nicht alleine zu sein, wenn man nach Hause kam, oder jemandem Gute Nacht sagen zu können, wenn man schlafen ging. Zu wenig, als dass zwei Menschen davon leben könnten, aber dennoch genug, um es als einzelner Mensch zu vermissen. Vielleicht hatte Iola Recht und er war zu idealistisch.