Tippelei ins Liebesglück - Lina Weber - E-Book

Tippelei ins Liebesglück E-Book

Lina Weber

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Beschreibung

Nina führt ein etwas kompliziertes Leben auf dem Hof ihrer Eltern, weil sie zwischen zwei Stühlen sitzt: Einerseits dürfen ihre Eltern unter gar keinen Umständen von einem Geheimnis aus ihrer Vergangenheit erfahren, und andererseits wird sie von ihrer Lebensgefährtin Carmen damit erpresst. Nina soll ihr bei ihren Plänen, den Hof rücksichtslos in eine Goldgrube zu verwandeln, bloß nicht in die Quere kommen. Dieser Status Quo gerät eines Tages jedoch ins Wanken, als Nina über die Wandergesellin Ari stolpert, die zur Werkstatt auf dem Hof unterwegs ist, um ihre Dienste anzubieten. Nina und Ari spüren sofort eine Verbundenheit, die Carmen natürlich so überhaupt nicht passt. Heimliche Treffen werden zum Drahtseilakt, Carmen spinnt eine Intrige nach der anderen – die Situation auf dem Hof spitzt sich immer weiter zu, während Nina verzweifelt um Ari kämpft . . .

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Seitenzahl: 338

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Lina Weber

TIPPELEI INS LIEBESGLÜCK

Roman

© 2024édition el!es

www.elles.de [email protected]

Alle Rechte vorbehalten.

ISBN 978-3-95609-385-2

Coverfoto:

Für E.K. Meine bessere Hälfte, meine Inspiration und die Liebe meines Lebens

1

Die ganze Familie sitzt am Mittagstisch beisammen, was nicht selbstverständlich ist. Das wird besonders Nina immer wieder bewusst, wenn sie ihre Mutter dabei beobachtet, wie sie sich schwerfälliger als vor ihrer Krebserkrankung vor zwei Jahren vom Stuhl erhebt, um den Kindern den Saft aus der Küche zu holen.

»Mama, lass doch. Ich kann auch gehen«, schreitet Nina besorgt ein und will aufstehen.

»Ach was, ich bin doch topfit. Ihr müsst endlich aufhören, euch Sorgen zu machen«, erwidert Irma mit einem Lächeln und zwinkert Nina zuversichtlich zu.

Nina zieht eine Augenbraue hoch und zögert kurz, ehe sie sich wieder auf den Stuhl zurücksinken lässt.

Die Kinder sind bereits fertig mit Essen und toben nun um den Tisch herum.

»Wisst ihr was?«, brummt eine Stimme hinter ihnen. Es ist Opa Edgar. Ein gutmütiger und liebevoller Mensch, der – wenn es darauf ankommt – auch mal streng durchgreift und manchmal ein kleiner Bollerkopp sein kann. Aber sein Herz hat er am rechten Fleck, und es schlägt besonders für seine beiden Enkelkinder Luzie und Jonathan, die abrupt mit dem Gerenne aufhören und ihn neugierig anschauen.

»Wir gehen jetzt die Schafe und Hühner füttern, dann können sich die Damen noch ein wenig unterhalten und später nachkommen. Ich finde, bei dem herrlichen Wetter können wir den Nachtisch draußen essen.«

»Jaaa!«, johlen die Kinder, zischen hinaus und sind bereits auf dem Weg zum Stall, bevor Edgar sich überhaupt die Schuhe anziehen kann.

»Habt ihr das von Emmas Freundin Jana gehört?«, fragt Irma in die verbliebene Runde, als wäre sie kurz davor, ein gut gehütetes Geheimnis auszuplaudern.

»Was meinst du?«, will Nina wissen und nippt an ihrem Wasser, in dem eine leicht labbrige Gurkenscheibe schwimmt.

»Na, die hat doch ein Buch geschrieben. Und während sie sich dafür feiern lässt, große Partys in München gibt, um allen Leuten zu zeigen, was sie da zu Papier gebracht hat, trauen sich ihre Eltern in Südbayern kaum noch auf die Straße.«

Nina verschluckt sich fast. »Wieso das denn?«, versuchte sie, so gefasst wie möglich zu antworten.

»Ach, die hat doch so einen Schundroman geschrieben. Angeblich alles ausgedacht. Aber Emma erzählte mir, dass das meiste wohl direkt aus ihrem Leben gegriffen ist.«

Nina traut sich kaum zu atmen. Ihre Lebensgefährtin Carmen, die die ganze Zeit stumm neben ihr gesessen hat, kann sich ein hintergründiges zufriedenes Lächeln nicht verkneifen.

»Jedenfalls haben da schon Reporter bei den Eltern angeklingelt und wollten ein Interview«, setzt Irma fort. »Aber die haben natürlich nicht aufgemacht und Jana per Brief mitgeteilt, dass sie sich nicht mehr blicken lassen soll. Die wollen nichts mit so einem Schmuddelkram zu tun haben.«

»Das ist ja furchtbar«, platzt es aus Nina etwas zu schockiert heraus.

»Ja, ich finde es auch schrecklich, was sie ihrer Familie angetan hat. Wie kann man so rücksichtslos nur an sich und seinen eigenen Erfolg denken und dabei ganz vergessen, dass der Ruf der ganzen Familie auf dem Spiel steht.« Irma schüttelt verständnislos den Kopf und beginnt, den Tisch abzuräumen.

»Aber Mama, es ist doch nur ein Buch«, versucht Nina zu beschwichtigen. »Und es gibt Millionen solcher Bücher. Irgendjemand muss doch auch über Sex schreiben. Die Leute lesen es nun mal gern. Und ich kenne Jana. Sie hat bestimmt keinen ›Schund‹ geschrieben, wie du es nennst. Vielleicht sollten wir einfach mal einen Blick in das Buch werfen, ehe wir vorschnell urteilen.«

»Bist du verrückt? Ich würde so ein Buch nicht mal mit der Grillzange anfassen«, erwidert Irma entsetzt. »Nein, nein. Ich kann die Eltern sehr gut verstehen. Ich möchte nicht in ihrer Haut stecken.« Sie bugsiert aufgestapelten Tellerberg in die Küche. »Es ist ihnen bestimmt nicht leichtgefallen, ihre eigene Tochter vor verschlossenen Türen stehen zu lassen«, fügt sie etwas lauter sprechend hinzu. »Aber Jana ist schließlich selbst daran schuld. Sie hätte sich vorher überlegen sollen, dass man so intime Sachen nicht mit der Öffentlichkeit teilen kann, ohne dass die ganze Familie betroffen ist.«

Nina schluckt nur und weiß nichts dazu zu sagen. Carmen schweigt ebenfalls weiterhin vielsagend.

Irma erscheint wieder im Türrahmen und trocknet sich die Hände an ihrer Schürze ab. Sie blickt ihre Tochter an. »Stell dir nur vor, Janas Vater wurde von seinen Kollegen gefragt, ob seine Tochter ganz nach ihm käme oder ob seine Frau so ein schlimmer Finger wäre, die Jana die passenden Gene für so eine Geschichte vererbt hat. Was für eine Schande.« Kopfschüttelnd geht Irma zurück in die Küche und beginnt damit, die Töpfe im Spülbecken einzuweichen.

Carmen greift nach Ninas Hand unter dem Tisch, drückt sie ein bisschen zu fest und raunt ihr ins Ohr: »Siehst du, mein Schatz, du solltest gut auf dein kleines Geheimnis aufpassen, wenn du Haus und Hof behalten willst und nicht mit der Mistgabel davongejagt werden möchtest.« Dann drückt sie ihr einen Kuss auf die Wange.

»Ach, ihr seid so ein schönes Paar.« Irma ist aus der Küche zurück. »Ich bin froh, dass wir euch hier auf dem Hof haben und dass ihr uns so unter die Arme greift.« Sie stößt einen kleinen Seufzer aus. »Was wäre aus uns und dem Familienbesitz geworden, wenn ihr euch nicht entschieden hättet hierzubleiben, als ich krank wurde. Ich weiß doch, dass es besonders dir, Carmen, nicht leichtgefallen ist, nicht nach Berlin zurückzukehren«, sagt sie leise schluckend und verdrückt ein Tränchen der Dankbarkeit, als sie Carmen und Nina in die Arme nimmt.

»Mama, das haben wir wirklich gern gemacht. Es ist doch auch mein Zuhause hier. Ich hätte euch nie im Stich gelassen. Und für die Kinder ist es hier doch so viel schöner als in der miefigen Großstadt«, versichert Nina und erwidert die Umarmung. Ihre Gedanken sind jedoch ganz woanders.

»Lass mich dir beim Abräumen helfen«, sagt Carmen mit freundlich verstellter Stimme.

Nina könnte kotzen. Diese Frau hat das entsetzliche Talent, die Menschen um sich herum charmant um den Finger zu wickeln. Mit Leichtigkeit kann sie jedem das Gefühl vermitteln, dass sie immer ganz selbstlos zuerst an alle anderen denkt.

Lächelnd räumt Carmen die Teller zusammen und nimmt Irma auch das Aufräumen in der Küche ab.

Nur Nina bleibt am Esstisch sitzen, um sogleich ihren Groll gegen Carmen weiter genährt zu bekommen, denn Irma kommt schwärmend zu ihr.

»Kindchen, du bist wirklich gesegnet mit dieser Frau. Sie weiß genau, was sie tut, und ist so eine Bereicherung für diesen Hof. Als ich krank war, konnten wir uns immer auf sie verlassen. Mittlerweile vertrauen wir ihr blind.«

Am liebsten hätte Nina genervt die Augen verdreht, aber sie tut es nicht, sondern lässt die Lobeshymnen schweigend über sich ergehen.

»Es ist wirklich ganz wunderbar, dass wir durch ihre Hilfe in der letzten Zeit ganz sorglos sein konnten. Und ich hatte die Chance, in Ruhe gesund zu werden.« Irma seufzt glücklich und blickt Richtung Küche. »Tja, und dann ist sie auch noch eine Küchenfee.« Sie lacht.

Natürlich ruft Carmen sofort aus der Küche: »Ach was. Ich mache das wirklich gern für meine Lieblingsschwiegereltern.«

Nina atmet tief ein und aus. Doch die Wut, die in ihr aufsteigt, wenn sie Carmen bei ihrem Schauspiel beobachten muss, ist gegen jede beruhigende Atemtechnik immun.

•••

Später, als die Kinder endlich schlafen, steht Nina im Badezimmer vor dem Spiegel und betrachtet sich eindringlich. Ihre rotbraunen lockigen Haare stecken in einem Dutt, den sie über ihrem Undercut trägt. Ein Überbleibsel aus ihrer wilden Zeit in Berlin.

Ihre blauen Augen strahlen heute nicht so wie sonst. Nicht, dass Nina sich ständig stundenlang im Spiegel betrachtet und Buch darüber führt, welche Strahlkraft ihre Augen haben. Aber heute fällt es ihr auf. Müde sehen sie aus. Und ihre Haut tut es den Augen gleich. Nina reibt und knetet ihre Wangen, um etwas mehr Farbe ins Gesicht zu bekommen. Doch es hilft nichts.

Die Worte ihrer Mutter beschäftigen sie unaufhörlich. Die Frau, die sie da im Spiegel vor sich sieht, kommt ihr in diesem Moment wie eine Hochstaplerin vor. Sie gibt sich für jemanden aus, der sie gar nicht ist.

Die brave Tochter, die den Eltern zu Hilfe geeilt ist, um ihnen in einer schweren Zeit zur Seite zu stehen. Ist sie das?

Nina zuckt mit den Schultern.

»Na, mein Schatz?« Carmen betritt das Bad. In ihrer Stimme liegt eine gewisse Zufriedenheit.

»Was willst du, Carmen?«, fragt Nina harsch und dreht sich zu ihrer Lebensgefährtin um.

»Ich möchte nur sichergehen, dass du dir im Klaren darüber bist, was es für Folgen hätte, wenn du deinen Eltern erzählst, dass du nicht besser als diese Jana bist.« Carmen grinst selbstzufrieden. »Im Gegenteil. Womöglich bist du sogar noch schlimmer. Immerhin hast du nicht nur irgendeinen Sexroman geschrieben.« Ihr Grinsen wird breiter. »Nein, es ist ein lesbischer Sexroman, in dem du deine vielen kleinen geilen Liebschaften in Berlin für jeden auf dem Silbertablett servierst.« Sie greift Nina von hinten in den Schritt und packt so fest zu, dass Nina die Augen zukneift und die Zähne zusammenbeißt, um kein Geräusch von sich zu geben.

»Lass das«, faucht sie Carmen an.

»Aber, aber, warum so prüde? Hast du deine lüsterne Seite in der Hauptstadt gelassen? Da warst du im Bett wenigstens noch zu was zu gebrauchen«, zischt Carmen ihr ins Ohr und leckt ihr über den Hals.

Nina verzieht das Gesicht. Sie hasst es, wenn Carmen das tut. Das hat sie noch nie gemocht. Nicht mal in der Zeit, als ihre Beziehung noch alle Höhen erlebt hat, die zu einer Beziehung dazugehören.

Bilder von früher fliegen durch ihre Hirnwindungen, die sich heute irgendwie verknotet anfühlen.

»Ich muss noch mal los«, sagt Nina eilig, drückt Carmen von sich weg und schnappt sich einen dünnen Wollpullover vom Badewannenrand, ehe sie das Badezimmer verlässt.

»Wo willst du hin?«, fragt Carmen, die es gar nicht leiden kann, wenn sie die Kontrolle verliert.

»Weg. Warte nicht auf mich«, gibt Nina knapp zur Antwort, schnappt sich die Autoschlüssel vom Schlüsselbrett und hechtet zur Haustür hinaus.

Klare Luft strömt ihr entgegen, als sie auf den spärlich beleuchteten Hof hinaustritt. Kurz bleibt sie stehen, um ein paar tiefe Atemzüge zu nehmen. Dann steigt sie ins Auto.

»Nina . . .?«, murmelt es durch die Freisprechanlage im Auto, nachdem es mindestens sechs Mal geklingelt hat.

»Hast du schon geschlafen?«, fragt Nina und wirft dann einen Blick auf die Uhr. Fast Mitternacht. Ups.

»Stell dir vor, normale Menschen schlafen an einem Dienstag um diese Zeit.« Ein Gähnen. »Selbst in Berlin, wo auch nachts noch das Leben tobt. Aber das gilt nicht für mein Schlafzimmer.« Emma gähnt noch einmal.

»Na ja, jetzt bist du ja wach. Hast du kurz Zeit für mich?«, fragt Nina hoffnungsvoll.

»Für dich doch immer, Schwesterherz«, erwidert Emma und klingt schon ein wenig wacher.

Nina erzählt von dem Gespräch und von Carmens Reaktion. Ihr Herz klopft schnell und sie wünscht sich so sehr, dass Emma eine Idee aus dem Ärmel schüttelt, die alles wieder gut werden lässt.

Doch Emma muss Nina enttäuschen. »Ich habe geahnt, dass Mama es anspricht. Ich hatte ihr von Jana und auch von ihrer Familie erzählt, um herauszufinden, wie sie reagiert. Ich dachte, vielleicht täuschen wir uns, und Mama und Papa würden es gar nicht schrecklich finden, dass du in deiner wilden Lebensphase ein nicht ganz erfolgloses Buch darüber geschrieben hast, wie du dich munter durch die Hauptstadt vögelst.« Sie lacht leicht.

Aber Nina ist nicht nach Lachen zumute. Sie schnaubt und brummt: »Lass das, Emma! Erstens müsste es ›gevögelt hast‹ heißen, denn wie du weißt, sind diese Zeiten vorbei. Und zweitens . . .« Nina stockt. Mehr fällt ihr nicht ein. Denn eigentlich stimmt es, was Emma sagt.

Sie seufzt. Es war nicht ganz dumm, Janas Erfahrungen zum Anlass zu nehmen, um die Meinung ihrer Eltern über erotische Lektüren, geschrieben von den eigenen Kindern, herauszukitzeln.

»Carmen ist echt so scheiße«, entfährt es Emma.

Nina nickt. »Ja, aber nach dem Gespräch heute wissen wir beide definitiv, dass ich aus dieser Nummer nicht so schnell herauskomme.«

Sie seufzt noch einmal, fährt rechts ran und legt ihre Stirn gegen das Lenkrad.

»Wie konnte ich auch so dumm sein und Lesungen veranstalten?«, murmelt sie wie zu sich selbst. »Da habe ich mich schon für ein Pseudonym entschieden, damit nicht herauskommt, dass ich dieses Buch geschrieben habe, und dann lasse ich mich beim Vorlesen als Autorin filmen, fotografieren und feiern.« Mehrmals stößt sie ihre Stirn auf das Lenkrad.

»Ja, das war irgendwie ein bisschen naiv«, stimmt Emma zu. »Wer weiß, vielleicht hat Carmen damals schon die Grundsteine für das gelegt, was sie jetzt mit dir abzieht«, überlegt Emma. »Schließlich hat sie dir als Werbefachfrau für die Kampagne zu den öffentlichen Auftritten geraten.«

Nina haut ihren Kopf immer wieder auf das lederbezogene Lenkrad und seufzt verzweifelt.

Nach einer kurzen Paus fügt Emma hinzu: »Und ich habe echt keine Lösung für dieses Problem. Wenn du alles auf eine Karte setzt und Mama und Papa dein Geheimnis aus der Vergangenheit gestehst, kannst du alles verlieren. Und deine Kinder ebenfalls. Sie lieben den Hof. Und sie lieben ihre Großeltern. Und denk an Mamas Gesundheit. Sie ist zwar wieder fit. Aber abgebaut hat sie in den letzten zwei Jahren trotzdem.«

»Ich weiß das alles, Emma«, erwidert Nina jammernd.

Sie weiß es wirklich. Seit Jahren weiß sie das alles. Und seit Jahren grübelt sie darüber nach, ob ihre Eltern sie wirklich verstoßen würden. Würden sie ihre geliebten Enkelkinder vom Hof werfen? Würden sie riskieren, dass der Hof samt Obstanbau und Eierhandel den Bach runtergeht, weil ihr Vater mit der Hofverwaltung überfordert wäre? Immerhin leitet er nebenbei auch noch seine Tischlerei und ist nicht mehr der Jüngste.

Würden sie das also wirklich tun? Oder würden sie nicht doch nach einem anfänglichen Schock Verständnis zeigen?

»Ich kann mir einfach nicht vorstellen, dass Mama und Papa uns verbannen würden«, murmelt Nina mit unsicherer Stimme. Denn nach dem Gespräch am Abend erscheint ihr diese Konsequenz leider nicht wirklich abwegig.

»Schwesterchen, du musst selbst wissen, was du riskierst. Ich weiß, was du jeden Tag für eine Last trägst. Ich bewundere dich dafür, dass du noch nicht darunter zusammengebrochen bist. Aber vielleicht fällt uns doch noch was ein, wie wir Carmen loswerden können, ohne dass du dich als Autorin outen musst.«

»Wie denn? Im See versenken? Sie die Hühnerleiter runterschubsen und hoffen, dass sie sich das Genick bricht? Das Essen vergiften?«, stößt Nina verächtlich aus.

»Wir könnten ihr bescheuertes Laufband auf die schnellste Stufe stellen, und wenn sie das nächste Mal draufsteigt, wird sie im hohen Bogen gegen die Wand geschleudert«, erweitert Emma die Liste und beide müssen lachen.

»Ach Emma, wie konnte ich da nur hineingeraten? Wieso habe ich nicht eher gemerkt, dass Carmen es nur auf den Hof abgesehen hat? Wie konnte ich nur so blind sein und nicht sehen, dass sie mich mit diesem blöden Buch erpressen würde?«

Ninas Magen zieht sich zusammen. Ihr Leben hat sich komplett verändert, seit Carmen zum ersten Mal damit gedroht hat, ihren Eltern alles zu sagen, ihnen die Videoaufnahmen und Artikel über die Lesungen und auch die Honorarabrechnungen des Verlages zu zeigen, sollte Nina sich von ihr trennen oder sich ihr in den Weg stellen.

»Wir werden einen Weg finden. Aber bitte überstürz nichts. Weißt du was?«, fragt Emma zuversichtlich. »Ich wollte euch sowieso bald mal wieder besuchen. Habe Mama und Papa ja auch ewig nicht gesehen. Dann gehen wir ausgiebig spazieren und lassen unserer Fantasie freien Lauf. Vielleicht finden wir eine Möglichkeit, dass Carmen nicht gleich sterben muss, sondern nur über alle sieben Berge verschwindet und dich endlich in Ruhe lässt.«

»Ja, bitte komm uns besuchen.« Ein Flehen schleicht sich in Ninas Stimme. »Du fehlst mir. Und ich halte solange die Füße still. Versprochen. Es ist zwar nicht gerade das Leben, das ich mir immer erträumt habe, aber wenn ich Carmen ihr Ding machen lasse, dann lässt sie mich ja meist in Ruhe. Auch wenn ich es kaum mit ansehen kann, dass ausgerechnet sie sich unseren Hof unter den Nagel gerissen hat.« Verächtlich zieht Nina die Oberlippe hoch. »Ich weiß zwar nicht viel, aber ich glaube nicht, dass sie alles im Sinne von Mama und Papa verwaltet. Auch wenn sie vor ihnen immer besonders gute Miene zum bösen Spiel macht. Sie hat die beiden so perfekt umgarnt, die würden es mir nicht mal glauben, dass Carmen mich seit Jahren erpresst.«

»Nina, bitte komm zur Ruhe. So gut es geht. Lenk dich ab. Mach mehr Yoga, genieß die Zeit mit den Kindern. Hat Luzie nicht eh gerade Ferien? Geht schwimmen im See, fahrt ans Meer oder kommt für ein paar Tage nach Berlin und besucht mich. Aber bitte lenk dich ab, damit du nicht ganz so tief in diese ganze Scheiße rutschst. Es wird alles gut werden. Da bin ich mir sicher. Ich habe es im Gefühl. Vertrau mir.«

Nina lächelt schief. Dafür liebt sie ihre kleine Schwester. Sie ist Meisterin darin, ihr Mut zu machen und ihr ihren Kopf aus der Schlinge zu ziehen, in die sie ihn manchmal steckt.

»Danke, Mausi. Ich hab dich lieb. Und jetzt schlaf weiter. Ich werde mal wieder zurückfahren. Hoffentlich Carmen schläft schon«, seufzt Nina.

Sie schicken sich noch ein paar Küsse durchs Handy, und dann ist es still im Auto.

2

»Jonathan, los jetzt. Schuhe an, Hut auf und ab ins Auto«, drängt Nina ihren jüngsten Spross, der sich gerade dafür entschieden hat, sich noch eine Runde zu der gutmütigen Familienhündin Smilla ins Körbchen zu legen, um mit dem grauen Labrador zu kuscheln.

»Gleich, Mama!«, brüllt er und Smilla spitzt die Ohren. Dann legt sie ihre Schnauze auf Jonathans Bauch und lässt sich den Hals kraulen.

»Nein, jetzt!«, beharrt Nina streng. »Ihr wollt heute doch einen Ausflug machen. Die anderen Kinder warten bestimmt nicht, bis du fertig gekuschelt hast.«

Sie hört das Körbchen knarren. Smilla gähnt fiepend und stupst Jonathan noch einmal an, während er schon mit einem Fuß auf dem Dielenboden steht.

»Tschüss, Smilla«, sagt er. »Jonathan jetzt Ausflug machen mit Kita. Dann wieder kuscheln.«

Er rennt in den geräumigen Flur, setzt sich auf seinen Hocker und lässt sich von Nina die Sandalen anziehen.

»Jetzt aber zack zack«, mahnt Nina. Der Blick auf die Uhr verrät ihr, dass Eile geboten ist. Sie dreht sich leicht um. »Luzie? Ich bringe Jonathan in die Kita. Bin gleich wieder da«, ruft sie ins Haus hinein, ohne genau zu wissen, wo sich ihre Tochter gerade befindet. Aus einer gewissen Entfernung vernimmt sie ein leises »Jahaaa!«.

Es kann endlich losgehen.

Auf dem Rückweg vom Kindergarten dreht Nina die Musik ganz auf. Klänge aus ihrer Vergangenheit bahnen sich einen direkten Weg in ihr Hirn. Eigentlich kann sie jedoch die Erinnerungen, die sie mit dieser Musik verknüpft, gerade gar nicht gebrauchen.

Sie seufzt. Der gestrige Abend steckt ihr noch in den Knochen. Carmen schlief tief und fest, als Nina nach Hause kam und beschloss, im Yoga-Zimmer zu übernachten. Das tut sie öfter. Sie hat Carmen schon vor langer Zeit etwas von Schlafstörungen erzählt, um nicht jedes Mal eine neue Ausrede erfinden zu müssen, warum sie es nicht ertragen kann, im gemeinsamen Bett zu liegen.

Gerade laufen die Pussycat Dolls mit Don’t Cha. Die Boxen ihres etwas in die Jahre gekommenen Audi A3 springen ihr fast entgegen. Auf gerader Strecke schließt sie kurz die Augen und schwelgt eine Sekunde in Erinnerungen an durchtanzte Nächte in den Clubs der Hauptstadt. An Bekanntschaften und Liebschaften und an die absolute Freiheit, die sie damals empfunden hat. Damals, als sie noch Single war. Als sie hier und da jobbte, die verschiedensten Menschen traf und für niemanden Verantwortung tragen musste, außer für sich selbst.

Als sie die Augen wieder öffnet, durchzuckt sie ein Schrecken. Am Straßenrand steht jemand. Das passiert doch sonst nicht. Nicht hier. Im Nirgendwo von Brandenburg. Sie bremst stark ab und kommt hinter der Person zum Stehen.

Der Bass lässt alle losen Teile ihres Autos erbeben. Schnell schaltet sie die Musik ab. Das ist ja peinlich.

Die Person entpuppt sich als Frau. Wow, was für ein knackiger Hintern, denkt Nina, als sie einen flüchtigen Blick riskiert.

Suchend schaut die Fremde sich um. Sie hat eine Karte in der Hand. Wie oldschool. Nina zieht eine Augenbraue hoch, während sie die Frau noch eine Weile dabei beobachtet, wie sie die Karte dreht und wendet und konzentriert in alle Richtungen schaut. So konzentriert, dass sie erschrickt, als sie sich so weit herumdreht, dass sie Ninas Auto – und Nina – bemerkt.

Nina öffnet die Tür und steigt aus. »Ich wollte dich nicht erschrecken«, sagt sie lächelnd.

»Und warum schleichst du dich dann so an?«, fragt die Frau mit hochgezogenen Augenbrauen zurück, während ihr Blick prüfend an Nina hinauf und hinab wandert.

»Angeschlichen? Dein Ernst? Ich hatte die Musik so laut, dass mein Auto fast auseinandergefallen wäre, und beim Bremsen haben die Reifen gequietscht. Wenn das deine Definition von Anschleichen ist, dann wirst du auf der Jagd wohl keinen Erfolg haben«, erwidert Nina lachend.

»Ich war wohl abgelenkt«, gesteht die Fremde und grinst.

»Wovon?«

»Von der schönen Aussicht hier. Ich liebe es, zwischen Wäldern und Feldern unterwegs zu sein und die Natur zu genießen. Aber ich schätze, die größte Ablenkung ist die Tatsache, dass ich das Gefühl habe, mich total verlaufen zu haben«, antwortet sie und wirft wieder einen Blick auf die Karte.

»Na ja, mit so einem Oldschool-Navi wäre ich auch aufgeschmissen«, grinst Nina. »Ich bin übrigens Nina, und auch wenn ich nicht gerade die geborene Reiseleitung oder Geografin bin, kann ich gern versuchen, dir zu helfen.«

»Ich bin Ari. Eigentlich Ariane. Aber ich kann mich nicht daran erinnern, wann ich zum letzten Mal Ariane genannt wurde.« Dann hebt sie die Karte hoch. »Und dieses Oldschool-Navi, wie du es so liebevoll nennst, ist Teil meiner Mission.« Sie breitet ihre Arme aus und blickt an sich hinunter.

Erst als Nina ihrem Blick folgt, bemerkt sie Aris Aufzug. »Ach, jetzt verstehe ich. Du bist auf Wanderschaft. Im wahrsten Sinne des Wortes«, platzt die Erkenntnis aus ihr heraus.

»Sehr richtig. Du klingst, als würdest du damit Erfahrung haben«, bemerkt Ari und schaut Nina neugierig an.

»Nicht direkt. Aber ab und zu sind mal Wandergesellen bei meinem Vater in der Tischlerei abgestiegen.«

»Jetzt sag nicht, dein Vater ist Edgar Brinkmann von der Tischlerei Brinkmann«, stellt Ari fragend fest.

»Doch. Tatsächlich ist das mein Vater. Und ich bin gerade auf dem Weg zurück zum Hof. Denn rein zufällig wohne ich dort. Und wenn ich mich recht erinnere, darf ich dich ein Stück mitnehmen. Weil per Anhalter zu fahren ist ja auf der Walz erlaubt, richtig?«

»Richtig«, grinst Ari.

Nina steigt ein, schiebt schnell noch ein paar Kassenzettel und Schokoladenpapier vom Beifahrersitz und wirft ein Ersatzpaar Gummistiefel in Schuhgröße 23 auf die Rückbank.

»Na dann los. Spring rein«, fordert sie Ari auf, die geduldig gewartet hat, bis Nina einigermaßen mitfahrtaugliche Ordnung in ihrem Auto hergestellt hat.

»Da war ich ja doch auf dem richtigen Weg, wie es scheint«, bemerkt Ari, als sie schon nach wenigen Minuten die Hofeinfahrt passieren und Nina das Auto neben Carmens SUV parkt. Blitzblank geputzt und ohne Kekskrümel auf der Rückbank. Er passt zu Carmen. Groß, protzig und arrogant.

»Danke fürs Mitnehmen«, sagt Ari, nachdem sie ausgestiegen ist und ihr überschaubares Gepäck, bestehend aus einem Leinentuch mit ihren Habseligkeiten und dem Wanderstock, aus dem Kofferraum holt.

»Sehr gern. Wenn du magst, zeige ich dir noch die Tischlerei«, schlägt Nina vor. Sie schaut auf die Uhr. Halb neun. »Papa müsste eigentlich auch schon in der Werkstatt sein.«

Da kommt Luzie über den Hof gestürmt. »Mamaaaa!«, ruft sie, als hätte sie Nina seit zwei Jahren und fünf Monaten nicht mehr gesehen.

»Na, mein Schatz, wo warst du?«, fragt Nina und gibt ihrer Tochter einen liebevollen Kuss auf das braungelockte Haar, das dringend mal wieder eine Bürste sehen müsste.

»Ich habe mit Oma die Gänse auf die Wiese gebracht und jetzt wollen wir unten am See schwimmen gehen. Kommst du mit?«, fragt Luzie und zerrt aufgeregt an Ninas Hand.

Ari steht daneben und grinst das flippige Mädchen an.

»Gleich kommen die Yoga-Mamas. Danach komme ich gern runter zum See, in Ordnung?«

»Hm, na gut«, erwidert Luzie. Dann schaut sie Ari an. Sie betrachtet sie von oben bis unten und kneift die Augen zusammen. »Hä? Und wer bist du?«

»Hallo, ich bin Ari«, antwortet Ari lächelnd und streckt Luzie die Hand entgegen.

Höflich begrüßt Luzie den Gast per Handschlag. »Du siehst aber schön aus. Ne, Mama? Ari sieht richtig schön aus.«

Nina wird rot. Dann grinst sie etwas verlegen und sagt zu Luzie: »Ja, da hast du recht. Die Zunftkleidung gefällt mir auch immer sehr gut.«

»So, so . . .« Ari zwinkert Nina keck zu.

Nina schluckt. Stopp. Das geht zu weit. Ihr Herz rutscht ihr fast in die weite Yogahose. Und da gehört es in dieser Situation auf keinen Fall hin. Schnell wendet sie sich wieder an ihre Tochter. »Pack schon mal deine Schwimmsachen und dann geh zu Oma. Ich bringe Ari eben zu Opa und dann muss ich mich beeilen. Die Yoga-Mamas warten nicht gern.«

»Ist gut, Mama«, trällert Luzie und hüpft zum Haupthaus. Unterwegs dreht sie sich um und sagt zu Ari: »Viel Spaß bei Opa. Und wenn du später Lust hast, dann kannst du ja auch zum See kommen. Oder hast du keinen Badeanzug bei?«

Ari lacht. »Danke für die Einladung. Aber leider habe ich wirklich keinen Badeanzug dabei.«

»Ach, nicht schlimm. Dann leihst du dir einen von Mama. Oder von Carmen. Aber die verleiht ihre Sachen nicht gern. Die ist da echt doof.«

»Luzie!«, mahnt Nina streng.

»Tut mir leid, Mama. Aber es ist doch wahr.«

Nina sieht ihre Tochter mit finsterem Blick an und dann läuft Luzie grinsend ins Haus.

»Ja, das war meine Tochter«, erklärt Nina den Umstand, der nach diesem Gespräch eigentlich keiner Erklärung mehr bedarf.

»Süße Maus«, stellt Ari fest.

»Ja, wenn sie will, ist sie zuckersüß«, bestätigt Nina und denkt gleichzeitig an die vielen Auseinandersetzungen mit der quirligen Achtjährigen, bei denen Nina nicht selten den Kürzeren zieht.

»So, nun aber bitte hier entlang«, weist Nina mit einer eleganten Handbewegung den Weg in Richtung Tischlerei.

Als sie die Werkstatt betreten, steht Edgar gerade mit dem Gesellen Hannes am Auftragsbrett und bespricht die Aufgaben des Tages.

»Hallo Papa«, grüßt Nina und gibt ihrem Vater einen Kuss auf die Wange. »Hallo Hannes. Zu Hause alle wieder fit?«, erkundigt sie sich bei dem langjährigen Mitarbeiter ihres Vaters.

»Ja, alle wieder fit. Und Henry ist sogar wieder in der Kita. Mal sehen, wie lange diesmal«, antwortet er.

»Oh ja, das erste Jahr ist das schlimmste«, winkt Nina ab. »Ich hab den Überblick darüber verloren, wie oft Jonathan zu Hause gewesen ist.«

Hannes nickt verständnisvoll und schaut dann zu Ari.

»Ach ja, tut mir leid. Papa, das ist Ari. Ich habe sie am Straßenrand aufgegabelt und dir mitgebracht«, erklärt Nina verschmitzt, als würde sie über einen streunenden Hund reden.

Edgar lacht und reicht Ari die Hand. »So, so, aufgegabelt und mitgebracht. Ich bin Edgar. Bist du nur auf der Durchreise und wurdest von meiner reizenden Tochter ungewollt verschleppt oder möchtest du bleiben?«

Ari lacht. Edgar gefällt ihr. Genau ihr Humor. Gut, dass es hier Humor gibt. Im letzten Betrieb, in dem sie gearbeitet hat, war Spaß Mangelware gewesen. Sie hat das Gefühl, dass das hier anders ist.

»Wenn es hier Arbeit gibt, würde ich gern mit anpacken«, antwortet sie.

»Arbeit haben wir mehr als genug. Und du hast Glück, dass unsere Gästewohnung gerade frei ist. Wenn du möchtest, kannst du hier also auch schlafen. Über Lohn und Brot werden wir uns schon einig.«

»Na, da hat es sich ja gelohnt, zu einer Fremden ins Auto zu steigen und verschleppt zu werden«, bemerkt Ari grinsend und gibt Edgar die Hand, um das vorübergehende Arbeitsverhältnis zu besiegeln.

»Nina, wann kommen deine Yoga-Mädels?«, fragt Edgar seine Tochter.

»In einer halben Stunde.«

»Dann zeig doch Ari kurz die Gästewohnung.« Und zu Ari gewandt sagt er: »Um elf Uhr müssen wir zum Kunden. Wenn du so um zehn Uhr hier bist, haben wir noch Zeit für einen Kaffee und eine kurze Einweisung in den Auftrag. Alles Weitere dann später. Ist das okay?«

»Klingt super. Danke. Bis gleich«, verabschiedet sich Ari und folgt Nina dann über den Hof.

»Schön habt ihr es hier«, sagt Ari und lässt ihren Blick schweifen. Das Haupthaus ist ein richtiges ursprüngliches Bauernhaus. Fachwerk, viele kleine Fenster mit Sprossen und eine wunderschöne alte Eingangstür lassen Aris Herz höherschlagen. Das Kopfsteinpflaster, das jeder Kutsche die Achsen brechen würde, ziert den gesamten Innenhof, und in der Mitte steht ein alter Brunnen, der als Blumenbeet genutzt wird. Die Tischlerei liegt gegenüber vom Haupthaus, und die große Scheune dient als Lager.

Nina führt Ari an dem bepflanzten Brunnen vorbei und um die Scheune herum. Auf der Rückseite befindet sich eine Außentreppe nach oben. Nina fummelt ihren Schlüsselbund aus der Tasche und steigt die Stufen hinauf. Ari folgt ihr neugierig.

Als Nina die Tür aufgeschlossen hat, staunt Ari nicht schlecht. »Wow, damit habe ich jetzt nicht gerechnet«, sagt sie überrascht.

»Ja, das geht den meisten so«, erwidert Nina und betritt die Wohnung oberhalb des Lagers. »Mein Vater hat den Heuboden vor drei Jahren zur Gästewohnung ausgebaut. Meist wohnt meine Schwester hier drin, wenn sie uns besuchen kommt. Wir hatten mal mit dem Gedanken gespielt, sie auch fremdzuvermieten. Aber dann wurde meine Mutter krank und diese Idee war vom Tisch. Nun hast du Glück und kannst dich hier ausbreiten.« Sie blickt auf Aris geschnürtes Leinentuch und grinst. »Wobei dafür wohl auch Harry Potters Wandschrank unter der Treppe gereicht hätte.«

Ari lacht. »Oh, du wirst nicht glauben, wie ich schon genächtigt habe in den letzten zweieinhalb Jahren.«

»So lange bist du schon unterwegs?«, staunt Nina und betrachtet Ari mit einer gewissen Faszination.

»Um genau zu sein, seit zwei Jahren, neun Monaten, drei Wochen und sechs Tagen. Aber es ist nicht so, dass ich mitzähle«, schmunzelt Ari. »Meine Zeit ist bald um, sozusagen. Obwohl ich noch nicht weiß, ob ich wirklich nach drei Jahren und einem Tag aufhören werde, herumzuwandern. Oder wie du es wahrscheinlich nennen würdest, ›herumzustreunen und mich abschleppen zu lassen‹«, lacht sie.

Nina verzieht verlegen den Mund etwas schief. »Jetzt bist du ja erst einmal hier«, murmelt sie. Und wieder springt ihr Herz ein wenig schneller in ihrer Brust herum.

»Ja, jetzt bin ich erst mal hier«, wiederholt Ari lächelnd und sieht Nina dabei tief in die Augen.

Nina schluckt, räuspert sich und macht auf dem Absatz kehrt. »Ich muss los«, sagt sie hastig. »Die Yoga-Stunde fängt gleich an. Bis dann.« Und schon stolpert sie die Treppe hinab.

Unten schnappt sie nach Luft.

So aufgeregt war sie lange nicht mehr. Und so durch den Wind kann sie unmöglich mit den Yoga-Mamas arbeiten. Ein Blick auf die Uhr verrät ihr, dass sie noch Zeit für einen Kräutertee hat. Der beruhigt sie hoffentlich.

•••

»Hey, ihr Wasserratten!«, ruft Nina, als sie mit Handtuch unterm Arm und ihrer Wasserflasche in der Hand zum See läuft.

»Mamaaa!!!«, brüllt Luzie aus dem Wasser heraus und paddelt ans Ufer, um ihr entgegenzurennen.

»Iiihh!«, quietscht Nina lachend, als ihre Tochter sie klatschnass umarmt.

»Ist doch nur Wasser«, sagt Luzie grinsend und flitzt zurück in den See.

»Na, mein Kind«, begrüßt Irma ihre Tochter.

»Hallo Mama. Na, kannst du mit dem Wildfang noch mithalten?«, fragt Nina lachend, während sie die planschende Luzie beobachtet.

Irma lacht. »Wer war denn das heute Morgen auf dem Hof?«, fragt sie.

»Ach, das ist Ari. Eine Tischlerin auf Wanderschaft. Sie arbeitet jetzt bei Papa und er hat ihr unsere Gästewohnung angeboten.«

»Ach, wie schön. Gut, dass dein Vater ein bisschen mehr Unterstützung hat. Er und Hannes kommen ja kaum hinterher im Moment«, sagt Irma und lehnt sich entspannt zurück.

»Ja, ich weiß. Papa muss wirklich aufpassen, dass er sich nicht übernimmt«, bemerkt Nina mit einem Anflug von Sorge. Denn Edgar ist auch nicht mehr der Jüngste. Und die Krebserkrankung ihrer Mutter hat auch ihn altern lassen. Die vielen Sorgen und die Angst, sie könnte es nicht schaffen. Dann der Hof und die Tischlerei.

Fast ein Wunder, dass alles so gutgegangen ist.

Ninas Gedanken schweifen kurz zu Carmen ab. Fast alles ist gut. Aber darüber möchte sie nun nicht grübeln. Lieber möchte sie noch eine Runde schwimmen, ehe sie Jonathan aus der Kita holt.

•••

Beim Abendbrot sieht Nina Carmen heute zum ersten Mal. Die Stimmung ist stimmungslos. Oberflächliche Gespräche zeugen von genereller Wortlosigkeit, und wenn Luzie nicht ausführlich von ihren Abenteuern am See berichten würde, wäre es ziemlich still.

Nach dem Essen verschwindet Carmen mit den Worten »Ich habe noch zu tun« wieder ins Büro und das Küchenchaos bleibt, wie immer, an Nina hängen.

Die Kinder toben wie die Irren durchs Haus, und als Jonathan anfängt zu schreien, weil er gegen den Türrahmen geknallt ist, als er um die Ecke raste, brüllt Nina: »Jetzt ist wirklich Schluss. Es ist ja kaum zum Aushalten! Kann ich nicht einmal aufräumen, ohne dass ihr Blödsinn macht, sich einer verletzt oder ihr irgendeinen anderen Quatsch anstellt?«

Sie nimmt Jonathan auf den Arm, schiebt ihm einen Schnuller zwischen die Zähne und kühlt seine Stirn mit einem Kühlpack.

Als er sich beruhigt hat, schaut er Nina mit ein paar letzten Tränen in den Augen an. »Ist besser, Mama«, murmelt er mit Schnuller im Mund. Dann rutscht er von ihrem Schoß hinunter und fragt: »Jetzt fernsehgucken?«

Nina blickt zu ihren Kindern, die flehend vor ihr stehen. Dann in die Küche, wo noch ein Haufen Geschirr darauf wartet, in die Spülmaschine geräumt zu werden.

»Aber nur eine halbe Stunde. Dann gehen wir zusammen die Tiere füttern, und Smilla muss auch noch mal raus. Klar?«

Luzie und Jonathan nicken eifrig und hüpfen auf das Sofa.

Nina setzt sich kurz zwischen die beiden und nimmt die kleinen Hände in ihre. Bevor sie den Fernseher anstellt, sagt sie: »Ich wollte eben nicht so schimpfen. Es tut mir ehrlich leid.«

Luzie gibt ihrer Mama einen Kuss auf die Wange und sagt so verständnisvoll, wie eine Achtjährige nur sein kann: »Ach Mama, das ist schon okay. Wir sind manchmal wirklich ganz schön stressig.«

Nina lacht und zieht ihre beiden Kinder fest an sich. Ja, stressig sind sie. Aber mindestens auch genauso wunderbar.

Dann läuft eine Kinderserie, die die kleinen Monster vorübergehend ruhigstellt.

Nina widmet sich der Küche und seufzt. Ein kleiner Gedanke wandert zu Ari. Was sie wohl gerade macht?

•••

»Jonathan, nicht so viel!«, sagt Nina, als ihr Spross die Hühner etwas zu großzügig füttert.

»Hühner Hunger, Mama. Sonst keine Eier. Hat Opa sagt«, erklärt er und kippt den Eimer aus. Die Hühner rennen gackernd auf den kleinen blonden Jungen zu, der noch immer im Körnerhaufen steht und sich nicht vom Fleck bewegt.

»Jonathan, geh da weg, sonst denken die Hühner, deine Füße sind was zu essen«, ruft Nina, die gerade die anderen Futterplätze mit Körnern auffüllt.

»Hey, kann ich euch irgendwie helfen?«, hört Nina plötzlich eine Stimme, in der ganz klar ein freches Grinsen liegt.

Sie dreht sich um und blickt in Aris grüne Augen. Ihre glatten braunen Haare sind asymmetrisch geschnitten und bis knapp über den Ohren abrasiert. Ari frisiert sie auf die linke Seite, und sie umspielen keck ihr hübsches Gesicht.

Nina versucht gerade zu schätzen, wie alt Ari sein könnte, da zieht Ari eine Augenbraue fragend hoch.

»Ähm, ja . . . Du kannst . . .«, stottert Nina.

Im selben Moment rennt Luzie auf Ari zu und plappert drauflos. »Hey Ari, du wolltest doch mit uns schwimmen. Wo warst du? Ich habe dich den ganzen Tag gar nicht gesehen. Und was machst du jetzt? Möchtest du mit uns und Smilla spazieren gehen? Wir wollen zum See. Aber nicht mehr zum Baden. Obwohl . . . Smilla geht bestimmt schwimmen. Und jagt Enten. Sie jagt so gern Enten. Aber eigentlich darf sie das nicht . . .«

Luzie muss endlich Luft holen, da nutzt Nina die Gelegenheit und greift ein. »Luzie. Ist gut. Ari kann ja gar nicht so viel antworten, wie du fragst.«

»Wetten doch?«, fragt Ari grinsend, sieht Luzie keck an und antwortet genauso schnell, wie Luzie geplappert hat: »Ich konnte nicht mit schwimmen, weil ich mit deinem Opa auf einer Baustelle war, um zu arbeiten. Darum hast du mich nicht gesehen. Jetzt gerade stehe ich hier und rede mit dir und ich würde mich freuen, wenn ich euch auf dem Spaziergang begleiten darf. Dann lerne ich den Hof kennen und verlaufe mich nicht mehr. Sonst muss deine Mama mich wieder einsammeln und mitbringen.« Sie macht eine kurze Pause und zwinkert Nina zu. »Ich bin gespannt, ob Smilla baden geht und Enten jagt, auch wenn sie das eigentlich nicht darf. Also? Wann wollen wir los? Wo ist Smilla eigentlich und kann ich vorher noch etwas helfen?«

Luzie grinst Ari an. Dann grinst sie Nina an und stellt fest: »Mama, Ari ist so cool, oder?«

»Na, wenn du das sagst . . .«, erwidert Nina schmunzelnd und lässt Wasser in die Tränken der Hühner.

Währenddessen wird das Gegacker auf der anderen Seite des Geheges immer lauter. Nina dreht sich um. »Luzie, hol doch schon mal Smilla raus und bring den Ball mit. Dann können wir unten auf der Obstwiese noch ein bisschen spielen«, sagt sie und rettet Jonathan vor den wildgewordenen Hühnern.

»Na, hier ist ja was los«, kommentiert Ari und betrachtet Nina eindringlich, ohne dass die es bemerkt. Sie ist zu sehr damit beschäftigt, Jonathan die Körner aus der Hand zu pulen, die er sich für unterwegs mitnehmen wollte.

Ari gefällt, was sie sieht. Ninas Haare haben sich teilweise aus dem Dutt gelöst und hängen ihr ins Gesicht. Sie trägt eine weite Yoga-Hose und ein enges Top, das ihr Bikinioberteil durchblitzen lässt. Die klobigen Arbeitsschuhe sprengen das Gesamtbild auf eine sympathische Weise, und Ari kann sich ein verschmitztes Lächeln nicht verkneifen, während sie Nina folgt und ihr auf den wohlgeformten Hintern schaut.

»Guck, Ari. Hier sind unsere vielen, vielen Obstbäume. Birnen, Äpfel und Pflaumen. Wir haben dahinten Kirschen und ganz viele Beerenbüsche. Wir haben auch einen Naschgarten. Da dürfen wir alles pflücken und essen, was reif ist. Weil, hier dürfen wir das nicht. Das wird alles verkauft«, erklärt Luzie, während die vier mit Smilla die Obstwiese überqueren.

»Ihr baut also Obst im großen Stil an?«, erkundigt sich Ari bei Nina.

»Na ja, groß ist relativ. Es ist ein überschaubarer Ertrag. Aber wir können damit einige Wochenmärkte bedienen und auch die Supermärkte im Umkreis. Meinen Eltern war immer viel daran gelegen, dass alte und vor allen Dingen heimische Obstsorten angebaut werden. Solche, die lange Zeit aus der Mode waren und nun, durch das Umdenken in der Gesellschaft, was Ernährung und Nachhaltigkeit angeht, wieder voll im Trend liegen. Als hätten sie es geahnt. Jedenfalls gibt es auch in Berlin einige Biomärkte, die unser Obst verkaufen.«

»Und damit könnt ihr den gesamten Hof über Wasser halten?«

»Na ja, wir haben dann ja noch die dreihundert Hühner, die uns dank Jonathans großzügiger Fütterung jede Menge Eier legen«, lacht Nina. »Und wir produzieren seit fünf Jahren Strom auf einem Solarfeld. Auch da ist mein Vater auf einen Zug aufgesprungen, der gerade erst ins Rollen gekommen ist. Eine hohe staatliche Förderung und die Zusammenarbeit mit den angrenzenden Gemeinden schafft ein ziemlich sicheres Einkommen. Also alles in allem läuft es. Aber mehr weiß ich auch nicht, wenn ich ehrlich bin.« Nina lässt ihren Blick in die Ferne schweifen.

»Ist alles in Ordnung?«, fragt Ari, die bemerkt hat, dass Ninas Stimmung etwas gekippt ist.

»Die ausführliche Antwort auf diese Frage wäre etwas zu viel für deinen ersten Tag hier«, antwortet Nina lächelnd. »Es läuft. Bergauf und bergab. So wie überall, wahrscheinlich. Und viel Zeit zum Nachdenken und Grübeln habe ich eh nicht, weil . . .«, sie unterbricht ihren Satz und deutet auf die Kinder, »weil diese kleinen Bratzen nur Blödsinn im Kopf haben, wenn man einmal nicht hinschaut.« Mit diesen Worten sprintet sie los und kann Jonathan gerade noch von Luzies Rücken herunterholen, ehe er kopfüber auf der Wiese landet.

»Was soll das denn werden, wenn es fertig ist?«, fragt sie die Kinder, die die Aufregung gar nicht verstehen können.

»Da oben ist eine reife Kirsche. Die wollte Jonathan haben, und ich bin die Räuberleiter«, erklärt Luzie.

Ari lacht. »Da hast du ja wirklich zwei ganz aufgeweckte Zwerge, die dich auf Trab halten.«

»Oh ja, und das jeden Tag. Und nun sind auch noch Ferien«, stellt Nina zähneknirschend fest.

»Darf ich?«, fragt Ari und deutet auf die Kirschen, die reif am Baum hängen.

»Klar«, sagt Nina und beobachtet Ari, die auf die Kinder unter dem Kirschbaum zugeht und dann eins nach dem anderen hochhebt, damit sie die Kirschen ernten können.

Nina atmet tief ein und schließt die Augen für einen Moment. Denn gerade sind die Kinder ja in Sicherheit.

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