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Auf Marlies Dorn wartet eine große Zukunft als Star-Geigerin. Doch die junge, ehrgeizige Musikerin befindet sich in einem künstlerischen Tief. Sie hat ihre Leichtigkeit und Spielfreude verloren. Ihre Sehnsucht nach einer Auszeit führt Marlies in eine kleine italienische Stadt, voller Flair und bezaubernder Menschen. Nur auf den Café-Besitzer Marco ist sie nicht vorbereitet.
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Seitenzahl: 148
Veröffentlichungsjahr: 2025
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Tiramisu der Liebe
Beta Rosa
Impressum
Texte: © Copyright by Benjamin Wehinger
Umschlaggestaltung: © Copyright by Benjamin Wehinger
Bild Umschlaggestaltung: Pixabay.com
Verlag:
Beta Rosa
Seb. Kneippstr. 28
A - 6800 Feldkirch
Druck und Vertrieb:
epubli - ein Service der neopubli GmbH, Berlin
Korrektorat: Dietmar Hofer ([email protected])
Herstellung: epubli - ein Service der neopubli GmbH, Köpenicker Straße 154a, 10997 Berlin
Kontaktadresse nach EU-Produktsicherheitsverordnung: [email protected]
Sämtliche Handlungen, Orte, Personen und Namen in diesem Roman sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder verstorbenen Personen sind rein zufällig.
Kapitel
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 1
Der Beifall des Publikums hallte noch in ihren Ohren, während sie mit steifem Rücken in den Spiegel starrte, der vor ihr über dem Tisch hing. Die Violine war wieder in ihrem Koffer verstaut und über ihrem rosa Kleid trug sie bereits den dünnen Mantel. Noch eine ganze Zeit lang saß sie alleine in ihrer Garderobe und starrte in ihr Spiegelbild. Ihre blauen Augen sahen müde aus, und ihr bleiches Gesicht zeugte von der körperlichen Anspannung und Konzentration, die sie eben hinter sich gebracht hatte. Ihr innerstes aber stand in ihrer Gedankenwelt noch immer neben dem Dirigenten auf der Bühne. Selbst ihre Finger zuckten weiter, und schienen die einzelnen, technisch äußerst virtuosen Abschnitte zu wiederholen und weiter perfektionieren zu wollen.
Beethovens Violin-Konzert, gespielt von einem fantastischen Orchester, mit Marlies Dorn als Solistin. Das klang doch gut, redete sie sich ein. Marlies Dorn - im weltberühmten Konzertsaal der Mailänder Scala. Eine steile Karriereleiter, die sie mit gerade einmal fünfundzwanzig Jahren erklomm. Plötzlich wurde sie aus ihrer Gedankenwelt gerissen. Ihr Handy klingelte. Etwas widerwillig drückte sie auf das grüne Symbol, als sie sah, dass die Nummer ihrem Vater gehörte.
»Na mein Kind? Wie ist es gelaufen?«, kam dieser gleich zur Sache.
»Eigentlich ganz gut, ich habe …«
»Die Stelle im ersten Satz, du weißt, welche ich meine, du hast die Passage gut gemeistert?«
»Technisch war sie einwandfrei«, sagte Marlies selbstsicher.
»Sehr schön. Ich bin stolz auf dich. Wir sehen uns morgen Nachmittag, ja? Du weißt, wir müssen für deine Mozart-Aufführungen noch einige Details herausarbeiten.«
»Ach weißt du …«, Marlies nahm allen Mut zusammen. »Vielleicht ist dein Plan für mich …«
»Na, na!«, unterbrach sie ihr Vater, »Du meinst unser Plan. Als dein Manager - und als dein Vater - weiß ich, was das Beste für dich ist. Glaub’ mir.Und du kennst die letzten Kritiken, die über dich geschrieben wurden.«
»Natürlich, du erinnerst mich ja ständig daran«, seufzte Marlies.
»Auch wenn ich die Kritiken nicht geschrieben habe, und sie vielleicht etwas streng ausfielen, so muss ich ihnen doch beipflichten. Aber ich bin mir sicher, dass du heute all diese arroganten Wichtigtuer zum Verstummen gebracht hast. Auch wenn es mir heute leider nicht möglich war dein Konzert mitzuerleben, so bin ich dennoch davon überzeugt, dass du alles so umgesetzt hast, wie wir es zusammen erarbeitet haben. Das hast du doch, oder?«
Marlies zögerte: »Ich - ja, ich denke schon.«
»Ganz sicher sogar. Du wärst nicht meine Tochter, wenn du nicht schnell wieder zu deiner alten Stärke zurückfinden würdest. Ach, was sage ich - wenn du nicht noch besser wirst!«
Wortlos ließ sich Marlies in den Sessel zurückfallen.
»Ruh dich jetzt erstmal aus, meine Kleine. Das Hotel, das ich für dich ausgesucht habe, entspricht doch hoffentlich all deinen Wünschen?«
»Ein einfacheres Hotel hätte es auch getan«, meinte Marlies leise. Obwohl sie noch gar keine Zeit fand einzuchecken und das protzige Fünf-Sterne-Hotel lediglich von außen sah.
»Für die Tochter von Michael Dorn nur das Beste«, erwiderte er. »Wir sehen uns dann morgen.«
»Gute Nacht«, quälte sie sich zu diesen letzten Worten, legte auf, und ließ das Handy auf den Tisch fallen. In diesem Augenblick klopfte es an ihrer Tür. Rasch rieb sie sich mit einem Handtuch über ihr Gesicht, um etwas Röte hineinzubringen, strich ihre blonden, bis zu den Schultern fallenden Haare zurecht und bat die Person mit angestrengt freundlichem Ton herein.
»Bravo, Signorina!«, kam ihr der Intendant des Opernhauses entgegen und klatschte dabei in seine Handflächen. »Ein wunderbares Konzert. Darf ich Ihnen vielleicht noch etwas bringen? Benötigen Sie noch irgendwas?«
»Nein, vielen herzlichen Dank. Das heißt, Sie könnten mir bitte ein Taxi rufen, das mich in mein Hotel bringt.«
»Sie wollen schon gehen?«, fragte der Intendant verwundert. »Ihre Kollegen - der Maestro und das komplette Orchester - sie warten im Foyer auf Sie. Der letzte Abend einer so erfolgreichen Aufführungsreihe muss doch gebührend gefeiert werden?«
»Bitte richten Sie ihnen doch meine besten Grüße aus. Es war mir eine Ehre mit Ihnen auf der Bühne gestanden zu haben. Doch ich bin müde, und auf mich wartet eine anstrengende Woche.«
»Selbstverständlich. Ich rufe sofort ein Taxi für Sie.« Er nickte und verließ das Zimmer.
Marlies griff nach ihrem Geigenkoffer und lief mit ihren langen Beinen im energischen Schritt den Gang entlang. Sie beschloss den Hinterausgang zu nehmen, um sich den Weg durch das Foyer und die dortige Verabschiedung zu ersparen. Für Erklärungen und Rechtfertigungen für ihr frühes Verschwinden fühlte sie sich in diesem Augenblick außerstande. Sie wollte nur noch weg und diesen Abend hinter sich lassen. Gerade als sie hinter die Bühne zum Ausgang lief, vernahm sie die Stimme des Dirigenten, der sich mit dem ersten Geiger des Orchesters unterhielt. Marlies hatte ihre Hand schon auf der Türfalle, als sie hörte, wie im Gespräch ihr Name fiel. Sie blieb stehen und lauschte.
»… Kaum zu glauben. Ich weiß beim besten Willen nicht, wann mich eine Solistin, mit solch einem Talent wir Marlies Dorn, das letzte Mal derart enttäuscht hat. Wo ist bloß ihr brillantes Gespür für die Gestaltung des Tempos, die Agogik, geblieben? Ihre unverkennbare Anmut? Ihre Energie? Ich fürchte, ihre Karriere wird noch schneller fallen, wie sie gestiegen ist …«
Fluchtartig stieß Marlies die Tür auf und rannte, so gut es ihr Kleid und ihre Schuhe zuließen, nach draußen, wo ihr ein kräftiger Wind entgegenblies. Ein Sommergewitter stand kurz davor, sich zu entladen. Unter den Rundbögen des Haupteingangs blieb sie schließlich stehen und sehnte dem Taxi entgegen, während die ersten dicken Regentropfen von den Pflastersteinen auf ihre schwarz lackierten Schuhe spritzten. Gerade rechtzeitig vor dem kräftigen Wolkenbruch blieb ein weißer Wagen mit gelbem Taxischild direkt vor ihr stehen. Sie öffnete die Tür und streckte dem Fahrer die Visitenkarte des Hotels entgegen. Sie fürchtete, ihre Stimme würde beim ersten Wort augenblicklich versagen, so einen Kloß steckte ihr im Hals. Die Musikerin setzte sich mit ihrem Geigenkoffer auf dem Schoß auf die Rückbank. Ihr Atem zitterte, während sie einmal tief Luft holte. Sie blickte hinaus in die schwarze Nacht und beobachtete im Rückspiegel die verschwommenen Lichtpunkte der Mailänder Scala, ehe diese immer kleiner wurden und schließlich gänzlich verschwanden. Die Anspannung, der Druck und der Stress der letzten Tage jedoch wollten nicht von ihr weichen und lastete weiterhin hartnäckig auf ihren Schultern. Mit festem Griff klammerte sie sich an ihren Instrumentenkoffer und kämpfte gegen ihre Tränen an. Wieder und wieder ging sie im Geiste ihren Auftritt durch. Ihr Spiel war fehlerfrei. Und auch technisch gab es wohl kaum etwas auszusetzen. Aber das musikalische Gesamtpaket war auf diesem hohen Niveau bestenfalls Durchschnitt und genügte keinesfalls den Ansprüchen. Weder denen des Intendanten noch denen des Dirigenten. Ganz bestimmt auch nicht ihrem Vater, und am wenigsten wurde sie ihrer eigenen Erwartung gerecht. Wenn der Abend auch nicht in einem Debakel endete, so war sie von ihrem eigenen Anspruch an sich selbst seit Monaten meilenweit entfernt. Je mehr sie sich bemühte und sich anstrenge perfekt zu sein, desto mehr entfernte sie sich von der Musik. Noch nie war ihr Herz so weit von der Musik distanziert wie an diesem Abend.
Der Wagen bog zum Hotel ein.
»Danke«, sagte Marlies knapp, während sie dem Fahrer das Kleingeld in die Hand drückte. Der Regen peitschte gegen die Scheibe, durch die sie einen Mann erblickte, der mit weißen Handschuhen und einem Regenschirm in der Hand auf sie zueilte. Nachdem Marlies die Autotür geöffnet hatte, begleitete der Mann sie erst vom Taxi zu ihrem Wagen, wo sie noch ihre Reisetasche holen musste, und schließlich bis zum Hoteleingang. Kaum in der Lobby angekommen, trat ein vornehm gekleideter Herr mittleren Alters an Marlies heran.
»Fräulein Dorn?«
Marlies blieb stehen und bemühte sich ein freundliches Gesicht aufzusetzen. Sie war fest der Annahme, dass sie von einem Musikliebhaber erkannt worden ist.
»Ich habe ihr heutiges Konzert besucht«, begann der Mann mit seltsamen Grinsen im Gesicht. »So, wie auch ihre letzten glanzlosen Konzerte davor.« Nach diesen Worten brauchte sich der Mann nicht mehr vorzustellen, und Marlies lief es eiskalt den Rücken runter. Ein Kritiker. Vielleicht der Kritiker, der sie seit Wochen öffentlich brüskierte. »War heute wieder ein interessanter Auftritt von Ihnen.«
»Interessant?«, fragte Marlies mit hochgezogener Augenbraue und versuchte sich an ihm vorbeizustehlen.
»Technisch brillant - wie immer.«
»Sie entschuldigen mich«, winkte Marlies ab. »Ich hatte einen anstrengenden Tag.«
»Soll ich das in meiner Kritik als Begründung für Ihr emotionsloses Spiel schreiben? Dass sie müde waren? Und deshalb neuerdings wie eine Maschine ohne Gefühle die Noten regelrecht runter schmettern?« Seine Dreistigkeit verstand der Mann sogar noch zu steigern: »Ich könnte Ihnen auch einen Gefallen tun und schreiben, Sie wären sterbenskrank. Ihre Zuhörer wären nach ihren letzten Auftritten wohl kaum überrascht über diese Nachricht.«
Marlies erstarrte. »Warum tun sie das?«, fragte sie schließlich mit gebrechlicher Stimme.
»Bitte?«
»Wieso machen sie das? Macht es ihnen Freude, anderer Menschen ihr Leben zur Hölle zu machen?«
»Aber Fräulein Dorn, als Musikerin, als Profi wissen Sie das doch besser: Für ihre Kritiken tragen Sie ganz alleine selbst die Verantwortung. Meine verantwortungsvolle Aufgabe hingegen ist es, das musikbegeisterte Publikum vor ihren ausdruckslosen Auftritten zu warnen - oder sagen wir besser - zu beschützen.« Der Mann setzte seinen schwarzen Hut auf, wünschte mit seinem zynischen Ton einen schönen Samstagabend, und ließ die Violinistin in der Hotellobby zurück.
Mit zittrigen Händen sah Marlies dem Kritiker nach, wie er das Hotel verließ. Nur der Rezeptionist, der hinter der Empfangstheke des Hotelempfangs stand, und mit einem leicht verlegenen Räuspern seine Diskretion zum Ausdruck brachte, war Zeuge ihrer Vernichtung geworden. Bestimmt hätte sie sich umgehend den Zimmerschlüssel geben lassen, wäre auf direktem Weg zum Lift gestürmt, und damit in den obersten Stock in ihre Suite geflohen, wäre der Weg nach draußen zum Parkplatz, wo ihr Auto stand, nicht der Schnellere gewesen. So entschied sie sich kurzerhand im strömenden Regen zum Parkplatz zu laufen und sich in ihren Wagen zu verkriechen. Sie schleuderte ihre Tasche auf die Rückbank und verstaute den Geigenkoffer neben sich auf den Beifahrersitz. Nun konnte sie das Weinen nicht mehr unterdrücken. Ihr Körper begann regelrecht zu beben, während sich ihre Finger verkrampft in das Lenkrad krallten.
Sie erstickte fast beim Gedanken daran, morgen früh nach Hause zu fahren. Wie sollte sie ihr Spiel bis zum nächsten Konzert, das bereits in einer Woche in Salzburg über die Bühne gehen sollte, bloß entscheidend verändern?Sie teilte die Meinung ihres Vaters nicht. Seiner Meinung nach benötigte es lediglich noch mehr Fleiß und die Umsetzung seiner Instruktionen, um zurück in die Erfolgsspur zu finden. Doch wie konnte sie einem Mann, wie es ihr Vater war, widersprechen? Wie sehr wünschte sie sich zu dieser Stunde ihre Mutter, um ihr Herz bei ihr auszuschütten. Verständnisvolle Worte, eine tröstende Umarmung. In diesem Augenblick vermisste sie ihre Mutter mehr denn je. Sie griff an ihren Hals und berührte ihre zarte Halskette. Sie nahm den goldenen Violinschlüssel zwischen die Finger und schloss traurig ihre Augen. Der Anhänger war ein Erbe ihrer Mutter und seit sie denken konnte, ihr stetiger Glücksbringer und Wegbegleiter.
Durch die vom Regen verschwommene Scheibe ihres Autos stach ihr in diesem Moment ein großes Werbeplakat ins Auge. Es hing unweit vom Parkplatz an einer Betonwand unter einer Straßenlaterne und lockte mit den Worten ‚AUSZEIT IN ROM‘. Wie eine Tasse heißer Tee strömten diese Worte geradezu wärmend durch ihr Gemüt. Die Vorstellung daran ließ ihre Schultern für einen Moment lang entspannt nach unten fallen. Weg! Einfach mal weg! Ihrem Leben entfliehen, wenn auch nur für ein paar Tage. Dieser Gedanke an Flucht, gegen den Sog ihres Lebens anzukämpfen, auszubrechen, und dabei jegliche Vernunft der Welt über Bord zu werfen, schien ihr einziger Rettungsring zu sein, um in ihrem tiefen Sumpf des Kummers nicht zu ertrinken.
So startete Marlies kurzentschlossen, mit dem Dickkopf ihres Vaters, den Wagen. Sie wischte sich energisch die letzten Tränen aus den Augen und stampfte regelrecht aufs Gaspedal. Ihr türkis-lackierter Oldtimer, ein wahres Schmuckstück den sie zum Abschluss ihres Musikstudiums von ihrem Vater geschenkt bekam, heulte laut knarrend auf, als ob er vom so plötzlichen Aufbruch gleichermaßen überrumpelt gewesen wäre, wie Marlies selbst.
Kapitel 2
Der Minutenzeiger sprang vor und leitete einen neuen Tag ein. Zu dieser Zeit, kurz nach Mitternacht, war der Verkehr angenehm ruhig. Trotz der späten Uhrzeit fühlte sie sich hellwach. Alles andere an ihr hingegen war schwer wie Blei. Sie war ausgelaugt, und immer wieder überkamen sie Zweifel an ihrer spontanen Handlung. Und doch war es ihr, als zöge sie ein unsichtbares Band immer weiter die Autostrada Richtung Bologna entlang.
Fast die ganze Fahrt über gehörten Marlies Gedanken ihrer viel zu früh verstorbenen Mutter. In ihrer Fantasie war sie in diesen Stunden stets gegenwärtig. Sie stellte sich vor, wie sie mit einem milden Lächeln im Gesicht neben ihr saß, und ihr zuhörte. Wohl wissend, wohin die Reise ihre Tochter führen würde. Und welch Freude und Tränen noch auf sie warten würden.
»Weißt du, Mama«, begann Marlies mit hörbarer Stimme, »ich habe es geschafft. Ich spielte gestern Abend in der Mailänder Scala. Und noch viele weitere, große Konzerte stehen an. Das war immer mein Ziel. Mein Traum. Du weißt es. Oft genug bin ich an deinem Grab gestanden und habe dir von meinem Bestreben erzählt, eine berühmte Geigerin zu werden.« Marlies blickte nach rechts auf den leeren Sitz, der lediglich von ihrem Geigenkoffer besetzt war. Sie rieb sich ihre nun doch allmählich müden Augen und schaltete den Regenwischer ab. Sie hatte gar nicht bemerkt, dass das Gewitter vorüberzog und die Straße mittlerweile trocken war. »Es hat mich nie gestört«, sprach sie dann mit leisem, aber bestimmtem Ton weiter, »dass ich für meinen Erfolg mehr kämpfen musste, als es vielleicht andere taten. Vater hat mir gezeigt, dass die Disziplin entscheidender ist als alles andere. Dieses Motto habe ich mein Leben lang beherzigt.«
Es folgte eine längere Pause, in der sie die richtigen Worte suchte. »Ich will mich nicht beklagen. Ich habe doch alles! Vater hat stets dafür gesorgt, dass es mir an nichts fehlt. Selbst seine eigene Karriere hat er für mich aufgegeben. Und ganz sicher war es für ihn nicht einfach, mich alleine großzuziehen …Aber … Ich weiß, wie unzufrieden er mit mir und meiner Leistung die letzten Monate ist. Wie sehr die schlechten Kritiken über mich ihm an die Nieren gehen. Und mir tut es unendlich leid, dass ich auch dich, Mama, nicht stolz machen kann.«
Marlies wischte mit ihrem Daumen eine Träne von ihrer Wange, versuchte den letzten Gedanken abzuschütteln und sprach weiter: »Früher spürte ich in meinem Spiel die Liebe zur Musik. In jeder einzelnen Note steckte so viel von ihr darin. Meine Spielfreude ließ die Leichtigkeit in ungeahnte Sphären schweben. Du ahnst ja gar nicht, wie weit ich heute von dieser Leichtigkeit entfernt bin.«
Marlies brauchte nicht lange nach einer Rechtfertigung zu suchen, und entschuldigte sich selbst aufmunternd: »Ich schätze, ich wurde einfach älter und erfahrener. Ich bin nicht mehr das junge, naive Mädchen von damals, das keine Ahnung davon hat, wie ernst ein Musikerleben in Wirklichkeit ist. Als Kind spielte ich ohne Sorgen, weil ich die Gefahren nicht kannte. So einfach ist das.« Sie blickte sich kurz im Rückspiegel an und nickte sich dabei selbst bestätigend zu. Auch wenn es ihr größter Wunsch war, dieses Spiel von damals zurückzugewinnen, so war sie sich nicht sicher, ob dies überhaupt je möglich sein würde. Und wie sie das schaffen konnte.
Ihre schmal gewordenen Augen warnten sie davor, noch länger weiterzufahren. Sie beschloss eine Pause einzulegen und steuerte die nächstbeste Raststätte an, die auch nicht lange auf sich warten ließ. Ein Cappuccino - danach sehnte sie sich jetzt. Nach wenigen Minuten betätigte sie den Blinker und nahm die Ausfahrt. Sie parkte ihren Oldtimer direkt unter einer hellen Laterne, möglichst nahe dem Treppenaufgang zum Eingang. Dennoch war ihr etwas mulmig beim Gedanken, ihre Geige im Auto zurückzulassen. Diese mitzunehmen, erschien ihr aber doch als das größere Risiko. Sie streckte sich nach hinten zur Rückbank, griff nach einer kleinen Wolldecke und verdeckte damit den Geigenkoffer. Während sie die Autotür absperrte, blickte sie sich mehrmals um, ob zu dieser späten Stunde nicht doch irgendwelche, suspekte Typen unterwegs waren. Da die Hauptsaison der Urlaubszeit noch nicht begonnen hatte, war es jedoch gespenstig ruhig auf dem Parkplatz. In fester Absicht, die Pause möglichst kurzzuhalten, näherte sie sich dem Eingang. Vielleicht würde sie auch nur einen Kaffee zum Mitnehmen holen, überlegte sie. Doch spätestens, als sie das Bistro betratund ihr der Geruch von geröstetem Kaffee und frischen Brötchen in die Nase drang, war diese Idee verflogen. Sie hatte das Bedürfnis nach Gesellschaft und setzte sich deshalb auf einen Barhocker direkt am Thekentisch. Zu ihrem Erstaunen war sie der einzige Gast. Lediglich die Toiletten und der Shop um die Ecke wurden gelegentlich von Reisenden benutzt. Von ihrem Platz aus hatte sie durch das große Fenster gute Sicht zu ihrem Wagen, den sie zunächst kaum aus den Augen ließ. Doch nach und nach wanderten ihre Blicke durch das einfache, aber gemütlich eingerichtete Bistro. Erst begutachtete sie die drei Cornetti, die in einer kleinen Vitrine neben ihr präsentiert lagen. Anschließend studierte sie die Getränke- und Speisekarte, die in gestochen scharfer Handschrift auf einer Kreidetafel über dem Tresen geschrieben stand.