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Sympathische Charaktere mit norddeutschem Flair. Spannend, vielschichtig und einfühlsam geschrieben. Im beschaulichen Küstenstädtchen Norden wird Ella Martens, die Chefsekretärin eines Bauamtleiters, tot aufgefunden. Schnell steht fest: Sie wurde vergiftet. Die Kommissare Onno Schoolmann und Martin Gerdes stellen Nachforschungen an und stoßen auf passwortgeschützte Dateien auf dem Laptop des Opfers. Wusste Ella zu viel über die Geschäfte ihres Arbeitgebers? Dann geschieht ein zweiter Mord, und den Ermittlern wird klar, dass es mehr als einen Täter zu entlarven gilt.
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Seitenzahl: 398
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Hripsime Rüstemyan hat in Hannover Medizin studiert und arbeitet als Chirurgin in Ostfriesland in der Stadt Norden/Norddeich. 1959 wurde sie in Istanbul geboren, ist armenischer Abstammung und wuchs als Christin in unterschiedlichen Kulturen dreisprachig auf. Mit sieben Jahren kam sie als Gastarbeiterkind der ersten Generation nach Ostfriesland, wo sie mittlerweile wieder lebt und jeden Winkel und Platz kennt.
Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.
© 2023 Emons Verlag GmbH
Alle Rechte vorbehalten
Umschlagmotiv: mauritius images/Klaus Neuner
Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzeptvon Leonardo Magrelli und Nina Schäfer
Umsetzung: Tobias Doetsch
Lektorat: Susann Säuberlich, Neubiberg
E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck
ISBN 978-3-98707-089-1
Küsten Krimi
Originalausgabe
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Der Briefträger Fokko Theilen klingelte mehrmals. Keine Reaktion. Sicher war Ella Martens hinten im Garten. Der warme Frühlingsmorgen lud förmlich zu einem Frühstück auf der Terrasse ein.
Fokko lief um das Haus herum, öffnete das Seitentor und betrat das Grundstück. Wie mit Ella Martens vereinbart, wollte er das Päckchen vor der Hintertür deponieren.
Der Robotermäher schnurrte wie eine Katze auf der perfekt geschnittenen Rasenfläche. Von Ella Martens war nichts zu sehen. Fokko ging auf die Terrasse und legte die Postsendung vor der gläsernen Tür zur Küche ab. Als er sich wieder aufrichtete, sah er in das Innere des Hauses – und erstarrte.
Drinnen lag ein weiblicher Körper auf dem Küchenboden. Der Kopf war zur Seite gedreht. Die Lider waren geöffnet, und die Augen, aus denen jeglicher Glanz entwichen war, stierten ihn an. Sie gehörten Ella Martens.
In halb gebückter Position stand Fokko da und traute sich nicht, sich zu bewegen. Erst nach einer gefühlten Ewigkeit riss er sich los, holte zitternd sein Handy aus der Jackentasche und wählte den Notruf.
Martin Gerdes wollte ausschlafen, aber das Telefon weckte ihn mit einem schrillen Klingeln. Mit geschlossenen Lidern tastete er nach dem Hörer.
Der diensthabende Einsatzleiter seines Reviers in Aurich meldete sich.
»Gordi? Hier ist Tammo. Tut mir leid, dass ich dich wecke.«
»Was gibt es?«
»Einsatz in Norden. Eine Frau wurde tot in ihrem Haus aufgefunden. Berni von der Spurensicherung ist schon vor Ort. Er hat dich und Onno angefordert, sonst hätte ich dich nicht an deinem freien Wochenende gestört. Onno habe ich bereits verständigt. Er wird im Norder Revier auf dich treffen.«
Gordi, der von allen Freunden und Kollegen so genannt wurde, notierte sich die Einsatzadresse, legte mit einem Stöhnen auf, sprang schnell unter die Dusche und rasierte sich. Onno wohnte sechzig Kilometer entfernt in Leer und würde nicht vor ihm in Norden eintreffen. Auf einen Kaffee verzichtete Gordi und verließ die Wohnung.
Vor dem Haus stieg er in seinen Oldtimer, einen Citroën DS, Baujahr 59.
Auf dem Deich nutzten sowohl Einheimische als auch Touristen den warmen Frühlingstag, um ihre Drachen steigen zu lassen. Bald schon würden Sommergäste in den kleinen Ort am Meer einfallen. Segen und Fluch zugleich. Der Tourismus brachte Geld für die Gemeinden, aber viele Ostfriesen, die ihre Abgeschiedenheit liebten, fühlten sich von den Menschenmassen gestört. Nur im Winter, mit Ausnahme der Weihnachts- und Silvestertage, gehörte die Küste den Einheimischen allein.
Gordi fuhr die Norddeicher Straße Richtung Norden landeinwärts und parkte vor dem Polizeikommissariat am Marktplatz gegenüber der Ludgeri-Kirche im Herzen der Stadt. Er stieg aus, lehnte sich gegen seinen Wagen und schaute dem bunten Treiben auf dem Samstagsmarkt zu.
»Komm her, mien Jung! Hier kriegst du den besten Fangfisch, heute Morgen frisch eingetroffen!«, rief ein Händler an seinem Stand einem potenziellen Kunden zu.
Gordi liebte diese ostfriesischen Märkte, auf denen es regionale Produkte gab.
Kurze Zeit später hielt ein BMWZ4 in Silbermetallic neben ihm. Sein Kollege Onno Schoolmann saß hinter dem Steuer.
»Wartest du schon lange?«, fragte er, nachdem er den Wagen verlassen hatte.
»Erst zehn Minuten. Du bist wie immer gerast.«
»Nein, bin ich nicht.«
Gordi verdrehte die Augen.
»Ich schwör’s«, sagte Onno grinsend. »Weißt du, warum sie uns aus dem freien Wochenende holen? Muss doch einen Grund haben.«
»Mir konnte der Diensthabende keine genauen Informationen geben. Berni wird uns unterrichten, komm.«
Onno stieg zu Gordi in den Citroën, den sie, obwohl er seine besten Tage schon hinter sich hatte, für ihre Einsätze nutzten.
»Es ist nicht weit«, sagte Gordi und fuhr los.
***
Rot-weiße Bänder sperrten das Haus in der Baumstraße 150 ab. Kirschbäume, deren Kronen zusammengewachsen waren und ein Dach aus rosa Blüten formten, säumten die Allee. Nur wenige Wochen zwischen April und Mai währte die Pracht, um am Ende schneeflockenartig auf die Gehwege herunterzurieseln.
Zwei Polizeibeamte in Uniform nahmen die Personalien der Herumstehenden auf. Nachbarn hielten sich voller Neugier auf dem Weg auf und tuschelten miteinander. Samstags war fast niemand bei der Arbeit. Die Einkäufe für das Wochenende waren erledigt, und die Mittagszeit verbot laute Tätigkeiten im Garten.
Gordi fuhr an die Absperrung heran und parkte am Straßenrand. Die beiden verließen den Wagen und gingen auf die Kollegen zu. Onno hatte Mühe, Gordi zu folgen, der ihn um eine Kopflänge überragte und mit schlaksigen, ausladenden Schritten vorausmarschierte.
Gordi wandte sich an den älteren. »Grüß dich, Lars.«
Der Beamte in den Mittfünfzigern mit schütterem grauen Haar nickte. »Ein viel zu schöner Tag für einen so traurigen Anlass. Es hat sich herumgesprochen, dass ihr beide diesem Fall zugeteilt worden seid.«
»Du hast einen neuen Kollegen. Wo hast du Manfred gelassen?« Onno deutete auf den jungen Beamten, der in Sichtweite stand.
»Den haben wir vor ein paar Wochen mit großem Brimborium auf der Wache und abends mit einer Feier unter Kollegen verabschiedet. Er hat es in die Rente geschafft. Ihr solltet häufiger bei uns in Norden auftauchen, anstatt in der Zentrale rumzusitzen, dann wärt ihr auf dem Laufenden. Mir hat man den Frischling da zugeteilt. Er heißt Michael de Vries.«
»Grüß Manfred von uns, wenn du ihn siehst«, sagte Gordi.
»In nächster Zeit wird das schwierig. Mani hat seinen Traum in die Tat umgesetzt und eine alte Harley restauriert. Jetzt tourt er durch die Lande. Dein Schätzchen da drüben hätte es ebenso verdient. Etwas Lack würde dem Wagen nicht schaden.« Lars zeigte auf den Citroën.
»Siehst du?«, sagte Onno. »Was predige ich dir immer? Wenn du den Wagen nicht bald sanierst, bricht er uns unter dem Hintern weg. Das ganze Revier lacht sich schlapp über die Schrottkarre.«
»Ja, schon gut.«
Onno schaute zum Haus hinüber. »Wie lange sind die Beamten der Spurensicherung schon da?«
»Sie sind vor zwei Stunden eingetroffen.«
»Dann gehen wir mal hinein.«
Sie nahmen den seitlichen gepflasterten Gehweg, um hinter das Haus zu gelangen.
»Du könntest wenigstens die Farbe umlackieren lassen. Die Kollegen tuscheln, dass wir in einer Tussikarre sitzen«, lamentierte Onno, während er sich bemühte, mit Gordi Schritt zu halten.
»Was hast du gegen Tussis?«, fragte dieser.
»Nichts, gar nichts, aber ich schäme mich, in einem quietschgelben Auto zu sitzen.«
»Dann solltest du mit deinem Wagen fahren.«
»Gern, wenn du dich nicht weigern würdest, in meinen BMW zu steigen.«
»Mein Wagen ist ein Klassiker, und er hat Stil.«
»Er ist eine lahme Rostlaube, und alle Welt lacht, wenn wir damit auftauchen.«
Lars Tammen und sein jüngerer Kollege Michael schauten ihnen mit offenen Mündern hinterher.
»Was waren das denn für Clowns?«, witzelte Michael und schüttelte den Kopf.
»Schnack nicht so viel. Du bist erst vier Wochen im Dienst. Wenn du länger dabeibleiben willst, musst du eines lernen«, erwiderte Lars. »Respekt. Die beiden ›Clowns‹, wie du sie nennst, sind die Besten des Reviers.«
»Okay«, beschwichtigte Michael. »Wie viel Zeit wird unser Einsatz in Anspruch nehmen? Was meinst du?« Er trat von einem Fuß auf den anderen.
»Das weiß man nie. Das hier ist dein erster Todesfall. Die wichtigste Regel in unserem Beruf lautet: Geduld. Regelmäßig bauen wir Absperrungen auf, halten Neugierige fern, nehmen Personalien auf und harren aus. Wir warten auf die Spurensicherung, auf die Mordermittler und auf den Abtransport der Leiche. Ich sage dir was, Grünschnabel, wir sind die Ersten, die kommen, und die Letzten, die gehen. Das Beste ist, von Anfang an Geduld zu lernen, Kollege.«
Michael grinste.
»Wat is?«
»Du hast mich zum ersten Mal Kollege genannt.«
»Lass dir das bloß nicht zu Kopf steigen«, sagte Lars streng, aber er lächelte dabei.
Hinter dem Haus erstreckte sich ein großzügiger Garten, dessen Pracht man von der Straße aus nicht vermutete.
Gordi sah sich um. Das Grundstück wurde zu beiden Seiten durch akkurat würfelförmig geschnittene Buchsbaumhecken begrenzt. Die Rhododendronbüsche am hinteren Ende der Rasenfläche hatten erste Knospen gebildet und warteten darauf, in den kommenden Maitagen zu erblühen. Sie erinnerten Gordi an den Garten seines Elternhauses, aber hier war der Rasen perfekt geschnitten.
Der Robotermäher summte monoton über die grüne Fläche. Er hatte seinen eigenen Rhythmus, es kümmerte ihn nicht, was hier an diesem Morgen geschehen war. Ein achteckiger Pavillon am rechten Ende des Grundstücks lud zum Verweilen ein. Der Blick über dieses Kleinod beruhigte Augen und Gemüt. Doch die Besitzerin würde dies alles nie wieder sehen.
»Komm!«, rief Onno, der schon auf der Terrasse stand.
Gordi riss sich von dem Anblick des zarten Grüns der Blätter und des Rasens los und folgte seinem Kollegen durch eine große Glasschiebetür in die Küche, in der unter einer schwarzen Plane ein menschlicher Körper am Boden lag. Die Sonnenstrahlen ließen die Folie glänzen. Beamte durchwühlten die Küchenschränke. Es herrschte geschäftiges Treiben.
»Wollen wir mal sehen, wo Berni ist«, sagte Onno.
In diesem Augenblick kam ein rundgesichtiger Mann herein. Er war die Treppe aus dem oberen Stockwerk heruntergelaufen und sichtlich außer Atem. »Ich freue mich, euch zu sehen, Jungs. Hab deine Zitrone oben aus dem Fenster erkannt, Gordi, als ich dabei war, das Badezimmer zu durchsuchen.«
»Wie immer schon fleißig vor Ort, Berni. Was gibt’s?«, fragte Onno.
»Eine alleinstehende Frau wurde tot aufgefunden.« Er deutete auf die schwarze Plane.
»Von wem?«, fragte Gordi.
»Von Fokko Theilen, dem Briefträger. Er hat den Notruf ausgelöst, der die Polizei benachrichtigte. Er stand auf der Terrasse, als wir eintrafen, und war nicht dazu zu bewegen, auf euch zu warten. Ich habe seinen Bericht aufgenommen und ihn gehen lassen.«
»Was hat er ausgesagt?«
»Er trägt die Post seit zehn Jahren in diesem Viertel aus. Die Tote, Ella Martens, war berufstätig und pflegte ihre Samstage vormittags zu Hause zu verbringen. Sie hatten vereinbart, Paketsendungen auf der Terrasse abzulegen, wenn sie nicht daheim sein sollte. Dabei hat er sie heute gefunden. Alle Fenster und Außentüren waren verschlossen und sind unversehrt. Es gibt keine Hinweise auf einen Einbruch. Nichts ist durchwühlt worden. Ich habe teuren Schmuck und Bargeld gefunden, alles scheint am richtigen Ort zu sein. Bei der ersten oberflächlichen Untersuchung der Toten habe ich keine Verletzungen festgestellt. Die Extremitäten sind frei von Einstichen. Es gibt keine Quetschungen am Hals oder Prellmarken. Falls die Frau eines natürlichen Todes gestorben ist, seid ihr schon wieder raus aus der Sache. Wenn ihr nichts dagegen habt, gebe ich die Leiche zum Abtransport frei.«
»Von unserer Seite ist es okay«, sagte Gordi.
Bernhard Holling gab zwei Männern, die auf der Terrasse warteten, einen Wink. Sofort traten sie ein, schoben die Abdeckplane beiseite, legten die Tote in den mitgebrachten Leichensack und hoben ihn gemeinsam auf die Rolltrage.
Gordi hinderte sie daran, den Reißverschluss hochzuziehen, um sich die Frau anzusehen. Sie hatte kurz geschnittene ergraute Haare. Tiefe Furchen in ihrer Stirn und Augenfältchen ließen ihr Alter erahnen. Sie wirkte friedlich, wie im Schlaf.
Gordi überließ das Opfer den Trägern. Die Männer verschlossen den Leichensack und schoben ihn hinaus.
»Und warum holst du uns aus unserem wohlverdienten Wochenende?«, fragte Gordi an Berni gewandt. »Du hast selbst gesagt, dass es keine Anzeichen für Fremdeinwirkung gibt.«
»Ich glaube nicht, dass wir den Fall nach der Obduktion abschließen werden.« Der übergewichtige Leiter der Spurensicherung mit rosigem Gesicht und Doppelkinn war ein begabter Kriminaltechniker – einer der Beamten, denen ihre Arbeit wichtig war, die jede Kleinigkeit katalogisierten. Gordi arbeitete gern mit ihm.
»Was vermutest du?«, fragte er.
Selbstsicher tippte Berni sich mit dem Zeigefinger an die Nase. »Der habt ihr eure Anwesenheit zu verdanken. Nur vierzig Prozent der Menschen können den Geruch von Blausäure wahrnehmen. Und zu denen gehöre ich.«
»Hast du nie erwähnt.«
»Ihr müsst nicht alles wissen. Es ist gut, wenn ich ab und an mit einer Überraschung aufwarten kann.« Berni grinste.
»Die da wäre?«, fragte nun Onno.
»Der Fall sah nach einem schnellen Routineeinsatz mit ungeklärter, aber wahrscheinlich natürlicher Todesursache aus. Bis ich mich über die Tote gebeugt habe. Da habe ich einen Hauch von Bittermandel wahrgenommen. Nirgendwo sind Reste von Blausäure zu finden. Gläser und Tassen stehen sauber und ordentlich in den Schränken. Ich konnte kein benutztes Geschirr finden. Die Spülmaschine ist leer.«
Gordi hatte sich in der Küche umgesehen, während er Bernis Ausführungen zugehört hatte. »Hast du schon Hinweise auf Angehörige der Toten gefunden?«, fragte er.
»Bisher nicht, aber ich habe ihren Schreibtisch noch nicht durchsucht. In ihrem Portemonnaie habe ich ihren Ausweis und ihren Führerschein entdeckt. Ella Martens hat nach unseren ersten Befragungen der Nachbarn äußerst zurückgezogen gelebt. Niemand kannte ihre Herkunft, obwohl sie seit Jahren hier gewohnt hat. Das ist untypisch. Hier leben die Menschen freundschaftlich, fast familiär miteinander.«
»Na, so familiär auch wieder nicht, wenn eine Tote unbemerkt in ihrer Wohnung liegt und erst der Postbote sie findet.«
»Onno, hör auf.« Gordi versuchte seinen Kollegen zu bremsen. Er kannte seine barsche Art.
»Was denn? Dieses scheinheilige Getue. Nachbarn grüßen sich lächelnd und ziehen dann übereinander her, sobald sie sich den Rücken zugekehrt haben. Wenn einer seine Hecke einen Zentimeter zu weit auf dem anliegenden Grundstück anpflanzt, gibt es Krieg. So sind die Menschen, die meisten taugen nicht viel, da sind die Ostfriesen keine Ausnahme.«
»Wohnst du deshalb in einer Eigentumswohnung?«, fragte Berni.
»Du hast es erfasst. Außerdem bin ich nicht gerade sesshaft.«
»Weil du kein Ostfriese bist. Wird noch kommen. Aber jetzt weiter zu Ella Martens. Die Frau liegt noch nicht lange hier, maximal zwei Stunden.« Berni hielt eine Plastiktüte mit Tabletten in die Höhe. »In ihrer Nachttischschublade habe ich eine Packung verschreibungspflichtiger Antidepressiva gefunden. Sie wurde noch nicht angebrochen.«
Gordi ließ die beiden in der Küche zurück und lief einen ungewöhnlich breiten Flur entlang zum vorderen Teil des Hauses. An den Wänden hingen kostbar eingerahmte Bilder. Er entdeckte Werke von Malern wie Rizzi und Keith Haring. Allesamt limitierte und handsignierte Ausgaben moderner Künstler, die Tausende von Euros gekostet haben mussten. Während seiner Schulzeit hatte sich Gordi mehrere Jahre in der internationalen Norder Sommerakademie eingeschrieben und Kurse in Landschaftsmalerei belegt. Aus ganz Deutschland kamen jährlich ambitionierte Künstler dorthin, um zwei Wochen lang daran teilzunehmen. Und hier sah er jetzt Rizzis Bild »The Gates of Central Parks Heaven« mit der Originalunterschrift des Künstlers!
Er riss sich los und betrat linker Hand ein Zimmer, dessen Wände von Bücherregalen aus Mahagoni bedeckt waren. Durch das Fenster konnte er die Passanten beobachten, die um Lars herumstanden und sich mit ihm unterhielten. Die ersten Kirschblütenblätter rieselten auf die Gehwege. Die Bäume waren alt und verliehen dem Viertel einen altehrwürdigen Charme.
Ella Martens hatte von ihrem Schreibtisch aus die beste Sicht nach draußen gehabt. Gordi nahm auf ihrem Stuhl Platz und ließ seinen Blick durch den Raum wandern. In den Bücherregalen waren Sachbücher, klassische Literatur, aber auch leichte Kost gut sortiert. Alles in diesem Zimmer war teuer. Allein das antike Möbelstück, an dem er saß, war für einen Normalverdiener unbezahlbar.
Gordi strich über das polierte Holz des Schreibtischs. Ein Bild in einem silbernen Rahmen stand zu seiner Rechten und zeigte einen sitzenden Mann im Anzug mit grauen Haaren. Die Ähnlichkeit mit dem Opfer war nicht zu übersehen. Vermutlich war es Ella Martens’ Vater.
Gordi öffnete die rechte Schublade. Edles Briefpapier mit eingeprägten Initialen lag darin. Dies war eindeutig das Arbeitszimmer einer gebildeten und wohlhabenden Frau. Gordi betrachtete den Füllfederhalter am Kopfende des Tisches, ohne ihn zu berühren. Ella Martens’ Name war darauf eingraviert.
Er öffnete die linke Schublade. Ein Laptop und ein dickes Fotoalbum kamen zum Vorschein. Gordi nahm beides heraus. Den Laptop steckte er in eine mitgebrachte Plastikfolie, legte ihn zur Seite und betrachtete danach das Album. Wie vieles im Haus war es sehr alt. Den Einband zierten Intarsien aus Silber.
Gordi schlug es auf und sah sich die Fotos an. Unter jedem Bild waren die Namen der Personen, deren Verwandtschaftsverhältnisse und das Aufnahmedatum mit geschwungener Handschrift notiert. Gordi bemerkte, dass Ella Martens auch die Geburts- und Sterbedaten aufgeschrieben hatte. Sie hatte eine große Familie gehabt. Eltern, Onkel und Tanten waren liebevoll in diesem Buch verwahrt worden.
Sie alle haben eines gemeinsam, sie sind tot, dachte Gordi.
Auf einigen Fotografien konnte man Ella Martens als junges Mädchen sehen. Die Mandelaugen und das fröhliche Gesicht hatte sie im Alter nicht verloren. Wie war dieses freudestrahlende Mädchen zu den Antidepressiva gekommen, die Berni gefunden hatte?
»Wer bist du, Ella Martens?«, murmelte Gordi, stand auf und wollte das Zimmer verlassen, als er den Aktenordner im Regal bemerkte. Er zog ihn heraus, öffnete ihn und blätterte die Seiten im Stehen durch. Dann holte er den Laptop und ging zu seinen Kollegen, die immer noch in der Küche standen und sich unterhielten.
»Hast du etwas gefunden?«, fragte Berni.
»Ella Martens’ Laptop.« Gordi gab ihm die Beweismitteltüte. »Und das hier.« Er deutete auf den Ordner mit der Aufschrift »Bank und Versicherungen«. »Die Dame ist reich gewesen. Sie hat einen Teil ihres Vermögens in Immobilien- und Rentenfonds angelegt. Außerdem hat sie drei Sparbücher, und ihr Girokonto weist fünfzigtausend Euro auf. Das Haus ist voller Kostbarkeiten. Diese Frau hatte es nicht nötig, für Geld zu arbeiten. Wie lange wird die Hausdurchsuchung dauern?«
»Wir haben noch einige Räume vor uns«, sagte Berni.
»Okay, wir befragen in der Zwischenzeit weitere Anwohner und stoßen danach wieder zu dir.«
Onno und Gordi verließen das Haus über die Terrassentür und gelangten auf demselben Weg, über den sie gekommen waren, durch den Garten auf die Straße.
»Der Mord muss mit Ella Martens’ Geld zusammenhängen«, sagte Gordi, der wie immer vorauseilte.
»Oder Bernis Riechorgan hat ihn im Stich gelassen. Und zum tausendsten Mal: Lauf nicht so schnell!«
Niemandem waren häufige Besuche bei der Verstorbenen aufgefallen.
»Die direkten Nachbarn des Opfers haben von einer Anneliese Brauer berichtet. Sie sei die Einzige gewesen, die Ella Martens näher gekannt habe. Sie bewohnt das Haus direkt gegenüber«, sagte Lars.
Onno und Gordi bedankten sich und überquerten die Straße. Das Haus von Anneliese Brauer war ein kleiner Rotklinkerbau mit Butzenfenstern. Das Dach war in die Jahre gekommen. Aber der Vorgarten war gepflegt und liebevoll mit frischen Frühlingsblumen bepflanzt.
»Schau dir nur diesen Kitsch an.« Onno deutete auf die bunten Gartenzwerge, die in den Beeten verteilt standen.
Kaum dass Gordi die Klingel betätigt hatte, wurde die Tür schwungvoll geöffnet.
Eine stämmige Frau mit streng nach hinten gekämmten Haaren und einem Dutt im Nacken stand im Türrahmen. Über ihrem braun karierten, knielangen Kleid trug sie eine Küchenschürze. »Wie kann ich Ihnen helfen?« Der Versuch, zu schmunzeln, zauberte der Frau, die kaum größer als einen Meter fünfzig war, zwei Grübchen in die Mundwinkel.
»Sind Sie Anneliese Brauer?«, fragte Gordi.
»Natürlich. Wer sollte Ihnen sonst die Haustür öffnen?«
Die Kommissare beugten sich etwas hinunter, als sie sich vorstellten.
»Frau Brauer, mein Name ist Martin Gerdes, und das ist mein Kollege Onno Schoolmann. Wir sind von der Kripo Aurich. Es geht um Ella Martens, Ihre Nachbarin. Wir hätten gern –«
Anneliese Brauer kam ihm zuvor. »Sie haben Fragen. Verständlich bei einem so plötzlichen Tod, obwohl es ab einem gewissen Alter nicht ungewöhnlich erscheint. Seit Stunden herrscht hier ein Riesentohuwabohu auf der Straße. Es hat sich in Windeseile herumgesprochen, dass der Postbote sie gefunden hat.«
»Sie haben recht. Wir haben Fragen und hoffen, Sie können uns Auskunft geben«, sagte Gordi höflich.
»Vor ein paar Tagen habe ich Ella putzmunter getroffen. Es fehlte ihr nichts. Sie war zwar permanent überarbeitet, aber nicht krank. Das hätte ich gemerkt.« Das Lächeln und die Grübchen waren aus ihrem Gesicht gewichen. »Bitte kommen Sie herein. Es ist nicht nötig, sich an der Tür zu unterhalten.«
Anneliese Brauer führte sie in ihr Wohnzimmer. Das Haus roch nach frisch Gebackenem.
»Nehmen Sie bitte Platz. Ich brühe uns einen Tee auf.« Ohne eine Antwort abzuwarten, ging sie hinaus.
Dieses Haus bot einen völlig anderen Anblick als das von Ella Martens. Überall zierten gehäkelte Deckchen, auf denen Porzellanfigürchen platziert waren, Tische und Kommoden.
»Das toppt sogar die Gartenzwerge«, murmelte Onno. Als er sich in den Sessel setzte, versank er förmlich darin.
»Hier ist es anders als gegenüber, aber gemütlich.« Gordi ging zur Anrichte an der Wand und deutete auf die eingerahmten Bilder, die dort in Reih und Glied standen. »Die Fotos sind zeitlich chronologisch geordnet.«
Die erste schwarz-weiße Aufnahme zeigte zwei junge Menschen, die sich freudig umarmten. Daneben sah man sie als Hochzeitspärchen. So folgte ein Foto dem anderen. Aus Schwarz-Weiß wurde Farbig, während das Paar Falten bekam. Die Frau wurde grau, der Mann entwickelte eine Glatze, jedoch hielten sich die beiden stets umarmt und sahen glücklich in die Kamera – bis auf das letzte Foto. Hier war die Frau allein zu sehen. Ihre Lippen waren schmal geworden und wirkten streng. Der Glanz in ihren Augen und die Grübchen waren verschwunden. Sie war schwarz gekleidet. Anneliese Brauer, wie sie heute aussah.
»Diese Bilder zeigen ein Leben im Zeitraffer. Ich vermute, Anneliese Brauer lebt von einer kleinen Witwenrente. Die Straße zwischen den beiden Häusern trennt Welten.«
»Aber in einem gleichen die beiden Frauen sich«, erwiderte Onno.
»Worin?«
»Sie sind allein.«
Die Gastgeberin kam mit einem Tablett herein, das sie bedächtig auf dem Tisch abstellte. Dann legte sie je zwei kleine Kandisstücke in die flachen Tässchen mit dem Design der Ostfriesischen Rose und schenkte Tee ein, sodass die Zuckerkristalle in der heißen Flüssigkeit knisterten. Mit einem silbernen Löffel schöpfte sie Sahne aus einem Schälchen und ließ sie geschickt in die Tassen gleiten. Die weißen Wölkchen breiteten sich allmählich in der kupferroten Flüssigkeit aus.
»Man darf sie nicht einfach hineinschütten«, erklärte Anneliese Brauer und setzte sich zufrieden auf das Sofa. »Ein guter Tee hilft in jeder Lebenslage, und der ostfriesische ist der beste.«
Gordi setzte sich zu ihr.
»Allerdings schmeckt er in guter Gesellschaft umso besser.« Sie reichte etwas Gebäck herum. Der Geruch des dampfenden Tees durchströmte das Zimmer. »Schießen Sie los«, sagte sie schließlich.
»Einige Ihrer Nachbarn haben uns erzählt, dass Sie Ella Martens näher gekannt haben«, begann Onno das Gespräch.
»Was man so ›näher kennen‹ nennt«, erwiderte Anneliese Brauer. »Die Arbeit war Ellas Leben. Nichts war ihr wichtiger. Sie war immer beschäftigt. Ab und an habe ich für sie mit eingekauft, wenn sie es nicht geschafft hat. Dann haben wir uns unterhalten. Manchmal haben wir uns gegenseitig besucht. Bei ihr gab es Kaffee und hier Tee. Wir haben eine gute Nachbarschaft gepflegt, aber eine engere Freundschaft konnte ich nicht zu ihr aufbauen. Dafür waren wir zu verschieden.«
»Inwiefern?«, fragte Gordi.
»Sie haben ihr Haus gesehen. Ich habe sie nicht beneidet. Sie führte ein abgeschiedenes Dasein, in das niemand hineingelassen wurde. Sie hat ihre Nachbarn lediglich gegrüßt, höflich und zuvorkommend, nicht mehr. Ich war die Einzige, mit der sie manchmal einige Worte gewechselt hat.« Versunken betrachtete Anneliese Brauer ihre Tasse, in der immer noch kleine Sahnewölkchen mit dem Tee verschmolzen. Auf einmal sah sie ertappt auf und räusperte sich. »Verwandte hatte Ella meines Wissens nicht. Sie war in Aurich für den Landkreis tätig.«
»In welcher Abteilung?«, fragte Gordi.
»Im Bauamt. Als Sekretärin des Leiters hat sie oft Überstunden gemacht.« Anneliese Brauer beugte sich leicht zu Gordi hin und sprach mit gedämpfter Stimme weiter. »Wenn ich abends hier auf dem Sofa beim Fernsehen saß, habe ich sie oft im Dunkeln nach Hause kommen sehen. Sie hatte immer ihre Aktentasche dabei. In den letzten Monaten wirkte sie müde und abgespannt. Immer wieder habe ich sie ermahnt, etwas kürzerzutreten und sich zu schonen. Ein Kurzurlaub hätte ihr gutgetan. Sie hätte es sich leisten können, aber das hat sie strikt abgelehnt.«
»Hat es einen Mann in Ella Martens’ Leben gegeben?«
»Nein, sicher nicht. Sie war eine dieser Frauen, die nie einen Partner an sich heranlassen.« Anneliese Brauer sah zu den Bildern auf der Kommode. »Ich bin Witwe und war mit einem faszinierenden Mann verheiratet. Ansgar, die Tage werden länger. Gott sei Dank«, sagte sie nachdenklich, ehe sie sich wieder besann und fortfuhr. »Ansgar ist mein Mann gewesen. Denken Sie ruhig, dass ich verrückt bin, weil ich mit einem Toten spreche. Aber nach vierzig Jahren Ehe ist er von heute auf morgen von mir gegangen. Daran kann ich mich schwer gewöhnen.« Gequält zwang sie sich zu einem Lächeln und nahm einen Schluck Tee.
»Sie haben eine Ambition«, stellte Gordi fest.
»Welche Ambition sollte eine alte Frau wie ich schon haben?«
Er deutete auf ein schlichtes Bücherbord an der Wand, das mit Kriminalromanen vollgestellt war, und stand auf. Hercule Poirot, Miss Marple, Sherlock Holmes – ausnahmslos, was Rang und Namen in der Welt der fiktiven Ermittler hatte, war vertreten.
»Hobbydetektivin?«
»Mit Leidenschaft! Ich bekenne mich schuldig, Herr Kommissar.« Der Anflug von Traurigkeit in Anneliese Brauers Ausdruck war so schnell verflogen, wie er gekommen war. »Kriminalromane und mein Garten beschäftigen mich zur Gänze.«
»Hatte Frau Martens Hobbys?«
»Sie hat klassische Musik gehört und liebte Kunst. Neben ihrer Arbeit sammelte sie Bilder.« Anneliese Brauer schmunzelte. »Die gute Ella hat es geschafft, mich für manche Kunstwerke zu begeistern.«
»Haben Sie je bemerkt, dass sie Depressionen hatte?«
»Wer hat die nicht? Manche nennen es Depression, andere Kummer. Für jeden von uns gibt es glückliche und traurige Tage. Da ging es Ella nicht anders. Aber so was wie Depressionen wäre mir aufgefallen.«
»Woran?«
»Aus eigener Erfahrung. Nach dem Tod meines Mannes ging es mir miserabel. Ich bin in ein tiefes Loch gefallen. Es fiel mir schwer, morgens aus dem Bett zu kommen oder das Haus zu verlassen. Ohne meinen Ansgar wollte ich nicht mehr weitermachen. Wir waren Seelenverwandte, und ohne ihn war alles sinnlos geworden. Es hat eine Weile gedauert, bis ich mich an den Alltag ohne ihn gewöhnt habe. Aber ich habe mich zusammengerissen.« Sie lächelte, und ihre Grübchen erschienen wieder. »Damals habe ich angefangen, leichte Krimikost zu lesen, um mich abzulenken. Miss Marple und ihre Gleichgesinnten haben mir enorm dabei geholfen. Man muss sich an Menschen festhalten, auch wenn es nur fiktive sind. Aber Ella und Depressionen? Das glaube ich nicht. Sie war die aktivste Person, die ich kannte. Immerzu war sie beschäftigt, und man musste sie zügeln, damit sie zur Ruhe kam.«
»Wissen Sie etwas über ihre Familie?«
»Nein. Sie hat viele Erinnerungsfotos in ihrem Haus, aber nie hat sie ein Wort über ihre Herkunft verloren. Ich hoffte immer, sie möge von selbst etwas über ihre Lieben mitteilen, aber das tat sie nicht, und ich habe sie nicht taktlos ausgehorcht. Vielleicht gab es etwas in ihrer Vergangenheit, das sie ruhen lassen wollte.«
Onno stemmte sich mit beiden Händen auf den Lehnen mühsam aus dem weichen Sessel. »Dann wollen wir Sie nicht länger aufhalten.«
Auch Gordi stand auf, irritiert von Onnos raschem Aufbruch. Er hätte gern noch mit Anneliese Brauer weitergeredet. »Wir bedanken uns für Ihre Gastfreundschaft und die Auskunft. Der Tee war vorzüglich.«
»Gern geschehen. Kommen Sie jederzeit wieder. Außer zum Einkaufen gehe ich nie aus. Sie sind willkommen.« Anneliese Brauer begleitete sie zur Tür und verabschiedete sich.
»Warum hattest du es auf einmal so eilig?«, fragte Gordi, als sie auf der Straße waren.
»Ich finde dieses Haus gruselig. Keine Minute länger hätte ich es dadrin ausgehalten. In diesem Refugium mit Unmengen an Nippes, in dem seit Jahrzehnten nichts von seinem Platz gerückt wurde, in dem nie etwas entsorgt wird und es vor Kitsch trieft. Und bei einer Frau, die fachmännisch erkennt, ob jemand Depressionen hat. Nach dem nächsten Keks wäre selbst ich trübsinnig geworden.«
»Immerhin liest sie gute Krimis«, bemerkte Gordi.
»Komm schon«, sagte Onno, und diesmal lief er voraus.
Im Haus gegenüber packten die Kollegen gerade ihre Arbeitsutensilien ein, akribisch von Berni überwacht. Er pflegte stets, zum Schluss die Räumlichkeiten abzugehen, und befahl dann den Abmarsch.
Bernis Magen knurrte. Seit dem Obstmüsli am Morgen hatte er nichts mehr gegessen. Vor sechs Monaten hatte er einen kleinen Herzinfarkt erlitten, und der Arzt hatte ihm dringend angeraten, abzunehmen. Seine Frau hatte einen Diätplan für ihn aufgestellt, an den er sich penibel zu halten hatte, und sie kontrollierte ihn ständig. Bisher hatte er jeden Kampf gegen die Pfunde verloren. Seine Tage im Segelverein, an denen er noch ein schmaler Teenager gewesen war, der mit der Jolle an Wettbewerben teilgenommen hatte, lagen lange zurück. Es war eine unbeschwerte Zeit gewesen. Das Segeln hatte er vor Jahren aufgegeben.
Heute suchte er an Tatorten nach Spuren und Beweisen, die der Aufklärung dienlich waren. Eine Berufung, für die er dankbar war. Nicht jeder konnte behaupten, dass er mit seinem Hobby Geld verdiente.
Als Onno und Gordi wieder durch die Terrassentür eintraten, winkte er ihnen zu. »Habt ihr etwas erfahren?«
»Hauptsächlich, dass die Nachbarschaft ostfriesischen Tee brüht und das Gebäck vorzüglich schmeckt«, sagte Onno.
»Du kannst wohl nie ernst bleiben.« Berni wandte sich fragend an Gordi.
»Er hat leider recht. Ella Martens hatte kaum Kontakt zu den Nachbarn. Ab und an ist sie zu Frau Brauer gegenüber gegangen, um Tee zu trinken. Wir haben nichts herausgefunden, was von Wert ist, und es bringt nichts, zu diesem Zeitpunkt tiefer zu bohren. Wir werden auf den Obduktionsbericht warten müssen.«
»Ich verlasse mich hundertprozentig auf meine Nase«, sagte Berni grinsend.
»Hast du zusätzliche Informationen für uns?«
»Ich habe einen Terminkalender gefunden.« Berni nahm mit behandschuhten Händen ein kleines Büchlein vom Küchentisch. Daneben lagen ein feiner Pinsel und ein Döschen mit Pulver. Er schlug den Kalender auf. »Routinemäßig habe ich die Fingerabdrücke genommen. In der letzten Woche vor ihrem Tod hat Ella Martens drei Termine festgehalten. Vor fünf Tagen ist sie bei einem Treffen des Kinderschutzbunds in Norden gewesen, und für vorgestern ist ein Friseurtermin eingetragen. Jetzt passt auf. Hier!« Er wies auf eine Zeile, datiert auf den 7. Mai. »Da ist eine Verabredung mit einer Maike, ›Carolinenhof, Luigis Restaurant‹, notiert.«
»Das ist in vier Tagen.«
»Vor Wochen hat sie Kontakt zu besagter Maike aufgenommen. Danach gab es mehrere Telefonate. Sie hat jedes Treffen und jedes Gespräch mit Datum und Vornamen aufgeschrieben. Vor drei Tagen habe ich die letzte Eintragung gefunden. Da hat sie den Termin mit ihr vereinbart, am Ende mit drei Ausrufezeichen. Leider steht die Nummer nirgendwo. Das ist merkwürdig. Sie ist weder auf ihrem Handy noch im Festnetztelefon gespeichert.« Berni klappte das Büchlein zu und steckte es in eine Schutzfolie. »Maike ist ein Allerweltsname.«
»Dann bleibt uns nur eines zu tun: Wir werden den Termin in vier Tagen einhalten«, entgegnete Gordi.
»Ich habe noch ein letztes Indiz für euch«, sagte Berni, während er mit der flachen Hand wie mit einem Fächer vor Onnos und Gordis Nasen wedelte. Dabei vibrierte sein Doppelkinn über dem zu engen Hemdkragen. »Riecht ihr das nicht? Kommt schon, Jungs, der einmalige, würzig-holzige Duft mit einem Hauch von Bergamotte, wie ein Aphrodisiakum.«
Onno und Gordi sahen sich verständnislos an.
»Sag, was du meinst, Riechgenie. Hast du ein neues Eau de Toilette?«, fragte Onno.
»›Azzaro‹! Einer der bekanntesten Herrendüfte der Welt.« Berni rollte mit den Augen. »Wundert mich nicht, dass ihr keine Frauen habt.«
Onno kam näher heran und schnupperte an Bernis Hals. »Riecht gar nicht so schlecht.«
»Ein Weihnachtsgeschenk meiner Schwägerin. Ich habe ein Fläschchen davon in Folie verpackt im Badezimmer gefunden. Ein Dankeskärtchen hing daran. Die Schriftzüge sind die gleichen wie in Ella Martens’ Kalender, aber ein genauer Handschriftenabgleich im Präsidium muss das noch bestätigen.«
»Ein Herrenduft ist ein persönliches Präsent. Für wen hat Ella Martens das gekauft? Für einen Freund?«, fragte Gordi.
»Vielleicht für einen Geliebten. So zurückgezogen hat sie dann wohl doch nicht gelebt. Wer weiß schon, wie sie hinter ihrer biederen Fassade wirklich gewesen ist.«
Gordi ließ Onnos sarkastische Bemerkung unkommentiert. »Nach der Obduktion werden wir sehen, wie verlässlich dein Riechorgan ist«, sagte er an Berni gewandt.
Das Spurensicherungsteam war bereits mit den relevanten Gegenständen auf dem Weg zum Labor, um sie auf Fingerabdrücke und DNA-Spuren untersuchen zu lassen. Gordi, Onno und Berni verließen als Letzte gemeinsam das Haus in der Baumstraße.
Berni schloss die Haustür ab und versiegelte sie. Sie verabschiedeten sich von Lars Tammen und Michael de Vries und gingen auseinander.
Die neugierigen Passanten waren verschwunden. Zum Schluss bauten die Streifenpolizisten die Absperrung ab und fuhren davon. Wie eine unheilbringende Warnung senkte sich die Stille auf Ella Martens’ Haus. Nur der Robotermäher zog leise vor sich hin summend seine einsamen Bahnen durch den Garten.
Gordi setzte Onno am Norder Revier ab. Der Marktplatz war wie leer gefegt, nichts erinnerte mehr an das Treiben vom Vormittag. Anschließend fuhr er die Norddeicher Straße, die Norden mit dem Küstenort Norddeich verband, in Richtung Hafenanleger entlang.
Er hing seinen Gedanken nach. Wenn sich Bernis Verdacht auf Blausäurevergiftung bestätigen sollte, würde er zusammen mit seinen Teamkollegen ermitteln. Wenn nicht, handelte es sich nur um den Todesfall einer einsamen Frau in ihrem Haus, tragisch, aber natürlich und kein Ausnahmefall.
Gordis knurrender Magen holte ihn in die Wirklichkeit zurück. Außer den Keksen bei Anneliese Brauer hatte er nichts zu sich genommen. Gleich würde er an »Gitti’s Grill« vorbeifahren, einer preisgünstigen Alternative zu den überteuerten Restaurants. Er überlegte, ob er einen Burger oder ein Grillhähnchen mitnehmen sollte, verwarf den Gedanken aber wieder und fuhr an dem Imbiss vorbei.
Je näher er der Küste kam, desto mehr Lokalitäten säumten zu beiden Seiten die Straße, an der sich in der Hochsaison die Besucher tummelten. Die Querstraßen führten zu Pensionen und Ferienwohnungen.
In Norddeich bog Gordi vor der Auffahrt zum Fähranleger links ab und parkte vor einem Haus hinter dem Deich. Im dritten Stock hatte er eine Wohnung gemietet. Die drei Zimmer mit einem Hundertachtzig-Grad-Panoramablick auf das Meer waren der größte Posten in seinen sonst bescheidenen monatlichen Ausgaben. Diesen Traum seiner Kindertage hatte er sich nach dem Amtsantritt in der Mordkommission Ostfriesland erfüllt.
Zu seinen Mitbewohnern im Haus pflegte Gordi ein freundliches Verhältnis. Im Erdgeschoss wohnte ein Paar, das aus Nordrhein-Westfalen zugezogen war. Jahrelang hatte die Frau an Asthma gelitten, bis ihr Ehemann sie an die Nordsee gebracht hatte. Hier konnte sie endlich wieder frei atmen. Im ersten Stock lebte ein junger Lehrer, der am Ulrichsgymnasium in Norden seine Referendarzeit absolvierte.
Oben angekommen, lief Gordi geradewegs in die Küche, schmierte sich ein Schinkensandwich, nahm sich eine Flasche Jever aus dem Kühlschrank und setzte sich auf den Balkon. Solange die Obduktion von Ella Martens keinen Fall ergab, machte es keinen Sinn, über ihren Tod nachzudenken. Aber er hatte eine Ahnung, dass das Kapitel noch nicht abgeschlossen war.
Der Himmel war voller grauer Wolken, die am Horizont das Meer berührten. Schemenhaft war Norderney zu erkennen. An klaren Tagen konnte Gordi sogar den Wasserturm auf der Insel ausmachen. Nur die Wellen der Nordsee und der Wind waren zu hören. Er musste nicht jeden Sommer nach Spanien und im Winter in den Skiurlaub fahren. Die Nordsee, die niemals eintönig wurde, genügte ihm vollends. Er betrachtete es als Privileg, hier zu leben.
***
Mitten in der Nacht auf Montag klingelte schrill das Telefon. Mit geschlossenen Augen griff Gordi zum Hörer.
»Gerdes hier.«
Der Nachtdienstleiter aus Norden meldete sich am anderen Ende der Leitung. In das Haus von Ella Martens war eingebrochen worden. »Da ihr den Fall bearbeitet, rufe ich an.«
Im Nu war Gordi hellwach. »Wer hat den Einbruch gemeldet?«, fragte er.
»Eine Nachbarin, die gegenüber wohnt. Sie hat etwas im Haus bemerkt und angerufen. Sie glaubt, mehrere Männer gesehen zu haben. Als die Streife eintraf, waren die Kerle schon wieder weg.«
»Ich fahre hin. Danke für den Anruf.«
»Du bist näher dran. Deshalb habe ich zuerst bei dir angerufen. Soll ich Onno informieren?«
»Lass ihn schlafen. Es bringt nichts, wenn er mitten in der Nacht aus Leer herfährt.«
Gordi beendete das Gespräch und sprang aus dem Bett. Der Wecker auf seinem Nachttisch zeigte ein Uhr dreißig an. Eilig zog er sich an und fuhr los.
Unterwegs kurbelte er das Seitenfenster herunter. Die kühle Nachtluft erfrischte ihn.
Die Straßen waren menschenleer, sodass er bereits nach fünfzehn Minuten in Norden ankam. Vor dem Haus in der Baumstraße 150 parkte ein Streifenwagen. Gordi stellte seinen Citroën dahinter ab.
Lars Tammen erwartete ihn am Weg, der zum Garten führte. »Grüß dich, Gordi. Ich hätte nicht erwartet, dass wir das Haus innerhalb weniger Stunden noch einmal betreten müssen. Sie sind hinten durch den Garten eingedrungen. Die Eingangstür zur Straße ist unbeschädigt.« Er lief voran und beleuchtete mit einer großen Taschenlampe den Weg.
Auf der Terrasse stand Michael de Vries. »Moin«, sagte er knapp.
»Moin«, grüßte Gordi zurück.
Die Einbrecher hatten mit einem Glasschneider ein Loch in die Scheibe der Küchentür geschnitten, um in das Haus zu gelangen. Das runde Stück Glas war professionell entfernt worden und lag auf dem Terrassenboden.
»Sie müssen von der Nachbarin aufgescheucht worden sein und sind abgehauen«, sagte Lars.
Gordi und er gingen ins Haus, während Michael auf der Terrasse zurückblieb.
»Wir haben nichts angefasst. Sobald es hell wird, kommt die Spurensicherung, aber ich glaube nicht, dass die Täter Spuren hinterlassen haben. So wie sie die Tür aufgebrochen haben, müssen es Profis sein. Sie sind äußerst leise vorgegangen. Außer der Alten gegenüber scheint keiner der Nachbarn etwas bemerkt zu haben. Jedenfalls ist sie die Einzige, die sich bei der Wache gemeldet hat«, sagte Lars.
Gordi betätigte den Lichtschalter, und sie sahen sich um. Die Küchenschränke waren geöffnet worden, und die Inhalte standen fein säuberlich auf den Ablagen herum. Jemand hatte hier nach etwas gesucht, aber brutal war er nicht vorgegangen. Auf den ersten Blick war nichts beschädigt worden.
Systematisch gingen Gordi und Lars das Haus ab. In jedem Raum herrschte ein Durcheinander, aber nichts war zerschlagen worden. Im Schlafzimmer lagen Kleider und Schuhe auf dem Boden. Sogar die Matratze war aus dem Bettkasten herausgerissen worden. Der einzige Raum, in dem nicht gewütet worden war, war das Arbeitszimmer. Nur die Schreibtischschubladen standen offen. Es schien, als hätten die Eindringlinge die Durchsuchung abgebrochen. Waren sie gestört worden?
»Berni hat gestern eine Bestandsaufnahme der Gegenstände gemacht. Wenn etwas fehlt, werden wir es erfahren. Wer auch immer hier eingebrochen ist, hat etwas Bestimmtes gesucht. Er kam nicht, um zu stehlen, sonst hätte er viele kostbare Dinge wie die Bilder oder die Stereoanlage eingesackt.« Gordi stellte sich ans Fenster. Im Haus von Anneliese Brauer brannte Licht.
»Sie wartet auf dich. Die alte Dame muss eine Heidenangst haben. Ich habe ihr gesagt, dass du sie noch aufsuchst. Wir sichern die Tür und fahren dann zum Revier zurück.«
»In Ordnung«, sagte Gordi.
Als er über die Straße lief, öffnete sich die Haustür. Im Morgenmantel, die Arme um den Körper geschlungen, stand Anneliese Brauer im Türrahmen. Zitternd bat sie Gordi herein.
»Sie brauchen sich nicht zu fürchten«, sagte er.
Anneliese Brauer führte ihn ins Wohnzimmer. »Ich habe seit Jahren Schlafstörungen und mache das Beste daraus. Deshalb saß ich gemütlich hier, aber in Gedanken bin ich mit Miss Marple in Paddington in den Zug gestiegen.« Sie deutete auf das Buch, das aufgeschlagen auf der Couch lag. »Von meiner Ecke aus kann ich Ellas Haus sehen. Die Straße lag im Dunkeln, aber dann habe ich einen flackernden Lichtschein hinter dem Fenster drüben wahrgenommen. Erst da ist mir das parkende Auto auf der Straße aufgefallen. Für einen Moment war ich zu Tode erschrocken. Dann habe ich mich zusammengerissen und zum Telefon gegriffen. Den Rest kennen Sie.«
»Als die Streife ankam, waren die Einbrecher weg«, stellte Gordi fest.
Anneliese Brauer zog die Schultern hoch. »Ich habe einen Fehler gemacht. Ich lese immer im Schein der kleinen Tischlampe. Nach dem Anruf bei der Polizei habe ich, ohne nachzudenken, die Deckenleuchte angeschaltet. Das müssen die Einbrecher bemerkt haben, weil sofort darauf das Licht drüben erlosch. Sie haben mich ebenso entdeckt wie ich sie. Ich habe mich hinter dem Vorhang versteckt und die Straße beobachtet. Drei Männer sind um das Haus herumgekommen, in den Wagen gestiegen und davongefahren.«
»Konnten Sie ihre Gesichter erkennen?«
»Nein. Aber den Wagen habe ich deutlich gesehen. Es war ein Transporter, wie ihn Handwerker benutzen. Nichts Spezielles. Aber eines ist mir doch aufgefallen: Der Seitenspiegel auf der Fahrerseite fehlte.«
Gordi machte sich Notizen. »Für den Rest der Nacht werde ich einen Streifenwagen vor Ihrer Haustür postieren«, sagte er schließlich.
»Das ist nicht nötig. Die werden sicher nicht wiederkommen. Und ich kann auf mich aufpassen«, sagte sie tapfer, aber Gordi bemerkte die Unsicherheit in ihrer Stimme. »Haben sie viel Schaden angerichtet?«, fragte sie.
»Nichts, was man nicht durch eine Aufräumaktion beheben könnte.«
Gordi verabschiedete sich und blieb vor dem Haus stehen, bis Anneliese Brauer die Tür geschlossen hatte. Er fühlte sich nicht wohl dabei, die alte Dame den Rest der Nacht allein zu lassen.
Es war Montagmorgen. Onno öffnete das Fenster. Am Wochenende war der Büroraum, den er sich mit Gordi teilte, nicht gelüftet worden. Er lehnte sich hinaus, atmete die kühle Morgenluft tief ein und rieb sich mit der rechten Hand den Nacken. Die Nacht war kurz gewesen, aber der Kaffee, den er zu Hause noch schnell getrunken hatte, entfaltete seine Wirkung. Er fühlte sich wach.
Als die Tür hinter ihm geöffnet wurde, straffte er die Schultern und wandte sich mit einem aufgesetzten Grinsen vom Fenster ab.
»Du siehst übernächtigt aus«, sagte Gordi trocken.
»Eine neue Bar hat in der Innenstadt geöffnet.« Onno hob die Arme. »Was soll ich sagen? Es gab Happy Hour bis Mitternacht.«
»Du solltest die Nächte zum Schlafen nutzen. Dann würdest du morgens nicht so miserabel aussehen.«
»Das Leben ist zu knapp bemessen, um es zu verschwenden. Meine neue Flamme hat eine Schwester, die genauso umwerfend aussieht. Ich mache dich mit ihr bekannt.«
Gordi winkte ab. »Nein, danke. Ich suche mir selbst eine Frau. Und ich habe dich letzte Nacht auch noch in Ruhe gelassen, damit du durchschlafen kannst.«
»Du warst nicht untätig, wie man hört. Im ganzen Revier ist der Einbruch Tagesgespräch. Ich habe die Fahndung nach drei Männern in einem Handwerkertransporter gesehen. Das ist lächerlich.«
»Mehr haben wir nicht. Mitten in der Nacht fahren normalerweise keine Handwerker durch die Wohnviertel. Vielleicht wurden sie um die Tatzeit in der Nähe gesehen. Wir können Anneliese Brauer dankbar sein, dass sie so schnell reagiert hat. Hat Jan etwas Neues für uns?«
Onno zuckte mit den Schultern. »Ich war noch nicht bei ihm.«
Gemeinsam verließen sie das Büro und liefen den Flur hinunter. In der EDV-Abteilung entdeckten sie den Leiter Jan Heinrich an seinem Schreibtisch. Die Fingerbeeren gegeneinandergepresst, starrte er auf den Bildschirm des Laptops vor ihm. Als die Kollegen eintraten, sah er auf und strich sich eine rotblonde Haarsträhne aus der Stirn.
»Da hat Berni mir ein Schatzkästchen gebracht, eine richtige Herausforderung!«, rief er.
»Bist du bei Morgengrauen aus dem Bett gefallen? Siehst fast so übernächtigt aus wie Onno«, sagte Gordi.
»Berni hat mir am Samstag eine Nachricht geschickt, dass er einen Laptop zur Recherche hereinreicht. Ich war neugierig und bin gestern für eine halbe Stunde ins Revier gekommen, um zu sehen, worum es geht.«
»Und dann konntest du die Finger nicht mehr davonlassen«, fügte Onno hinzu.
»Ich habe bis ein Uhr nachts daran gearbeitet. Einige Dateien sind passwortgeschützt.« Jan lehnte sich zurück. Deutlich sah man die stramme Muskulatur unter seinem T-Shirt. Trotz der sitzenden Tätigkeit hatte er nie ein Gramm Fett am Körper. Das war ihm in jungen Jahren zugutegekommen. Er war kein Kostverächter gewesen.
»Ich habe früher nichts anbrennen lassen. Keine Deern war vor mir sicher«, hatte er Onno einmal bei einer Betriebsfeier erzählt.
Mit fünfundvierzig und in dritter Ehe hatte sich das geändert. Heute verbrachte Jan die meiste Zeit am Computer, und jeder im Revier schätzte sein Können.
»Ich habe sämtliche persönliche Daten der Verstorbenen ausprobiert. Namen, Geburtsdatum et cetera.«
»Vielleicht können wir helfen.« Gordi nahm Ella Martens’ Terminkalender aus seiner Tasche und schlug ihn auf. »Versuch ›Carolinenhof‹.«
Jan tippte es ein. »Falsch.«
»›Luigis Restaurant‹.«
Jan tippte. »Falsch.«
»7. Mai, 13.30 Uhr, also ›0751330‹.«
»Falsch.«
Gordi blätterte ratlos in dem Heft herum, bis er abrupt aufhörte. »Hast du ›Baumstraße‹ schon probiert?«
»Ja, sicher, Adressen sind immer als Erstes dran.«
»Dann versuch ›Blütenstraße‹.«
»Aber das ist nicht ihre Adresse.«
»Nein, aber die Baumstraße ist im Frühling übersät mit Blüten, deshalb nennen viele sie so. Es gibt eine Baumschule in Leezdorf, einen Familienbetrieb, der seit Generationen von den Schittenhelms geführt wird. Der Großvater des jetzigen Besitzers hat die blühenden Bäume in der Baumstraße gepflanzt. Versuch es. Was haben wir schon zu verlieren?«
»Woher weiß du das?«, fragte Onno.
»Ich bin mit einem Schittenhelm zur Schule gegangen. Der war mächtig stolz auf seinen Großvater. Außerdem bin ich ein Ostfrees Jung.«
Jan tippte »Blütenstraße« ein, und sofort erklang Vivaldis »Vier Jahreszeiten«. Auf dem Bildschirm erschienen etliche Icons.
»Bingo!«, rief Jan. »Okay, Jungs. Vielen Dank. Jetzt stört mich nicht länger.«
»Wie? Wir haben es doch geschafft«, erwiderte Onno amüsiert.
»Wir haben das Passwort geknackt, aber jetzt brauche ich euch nicht mehr. Husch, husch, Vati muss nun in Ruhe werkeln, dabei seid ihr mir bloß im Weg.« Jan konzentrierte sich auf den Laptop. Nichts schien ihn mehr zu interessieren als die Geheimnisse des Computers auf seinem Schreibtisch.
»Lass uns verschwinden. Hier sind wir überflüssig«, sagte Onno.
Mit dem alten Citroën brachen sie nach Oldenburg auf. In der Regel warteten sie den schriftlichen Obduktionsbefund per E-Mail ab oder telefonierten mit der Rechtsmedizinerin. Aber übermorgen stand der rätselhafte Termin im »Carolinenhof« an, und bis dahin musste klar sein, ob sie ermitteln würden oder nicht.
Sie verließen Aurich und fuhren die Leerer Landstraße entlang. Onno saß auf dem Beifahrersitz und sah durchs Seitenfenster, ohne die grüne Landschaft, die an ihm vorüberzog, wahrzunehmen. Er hing seinen Gedanken nach. Immer wenn er die Augen schloss, erwachten die Bilder, die zu Hause auf dem Couchtisch ausgebreitet lagen und ihn das ganze Wochenende beschäftigt hatten, wieder zum Leben. Es hatte seinen Grund, warum er Angst vor dem Schlafen hatte.
Gordis Stimme schreckte ihn auf. »Woran denkst du?«
»An die Obduktion«, log er. »Ich bin gespannt, was Angelika uns berichten wird.«
»Dr. Schneider!« Gordi seufzte.
»Ja, das alte Mädchen kann einem schon Angst einjagen.«
»Aber dir nicht.«
»Nein.« Onno hatte sich von seinen trüben Gedanken losgerissen und lachte. Er hatte eine besondere Verbindung zu Angelika Schneider und freute sich, sie zu sehen. Als er aus Hamburg nach Ostfriesland versetzt worden war, hatte er sie durch seine Fälle in der Mordkommission kennengelernt. Die Chemie zwischen ihnen hatte gestimmt. Ihre auf andere burschikos wirkende Art fand Onno liebenswert. Angelika hatte einen Sohn, der in Berlin studierte und nur drei Jahre jünger war als er.
Nach knapp einer Stunde erreichten sie das rechtsmedizinische Institut in Oldenburg. Gordi steuerte den Wagen vor das Tor und hielt an. Onno reichte dem Pförtner, der aus seinem Häuschen gekommen war, durch das Seitenfenster ihre Dienstmarken. Dienstnummern und Uhrzeit wurden registriert, dann durften sie passieren.
Der mehrstöckige rote Klinkerbau aus den siebziger Jahren wirkte trist und unscheinbar. Sie ließen den Citroën direkt vor dem doppeltürigen Eingang stehen, stiegen aus und betraten das Gebäude.
Die langen, breiten Flure mit grauen Linoleumböden wirkten steril und wenig einladend. Ein strenger Geruch lag in der Luft.
»Jetzt weiß ich wieder, warum wir so selten hier sind«, sagte Gordi.
Sie erreichten den Obduktionssaal. Zu Onnos Freude lag auf keinem der Seziertische ein Leichnam.
Angelika Schneider stand an einem Pult und sprach in hohem Tempo etwas in das Diktiergerät, das sie in der Hand hielt.
Die stämmige Rechtsmedizinerin hatte ihre Doktorarbeit mit dreiundzwanzig Jahren begonnen, in der Regelstudienzeit ihre Approbation erhalten und zeitgleich ihren Doktortitel erlangt. Der strebsamen Frau waren die Erfolge im Leben zugefallen, bis ihre Ehe auseinandergebrochen war. Geblieben war die Liebe zu ihrem Beruf.
Als sie Onno und Gordi kommen sah, schaltete sie ihr Diktiergerät aus. »Ich habe euch schon erwartet. Ihr seid unpünktlich, und ich habe meine Zeit nicht gestohlen. Heute warten noch zehn weitere Obduktionen auf mich.«
»Tut mir leid, Doc«, sagte Onno im Näherkommen, »aber die alte Karre meines Kollegen ist nicht die schnellste.«