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Andreas M. Sturm

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Beschreibung

Dresden, März 1984. Die Ermordung einer ihrer Mitarbeiter lässt bei der Staatssicherheit Panik aufkommen. Da die Möglichkeit besteht, dass eigene Leute in das Verbrechen involviert sind, wird Oberleutnant der Volkspolizei Uwe Friedrich als externer Ermittler verpflichtet. Äußerst widerwillig kommt er dem Befehl nach. Weiß er doch genau, dass die Ermittlungen nicht nur ihn, sondern auch seine Freundin Sabine in Gefahr bringen können.

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Andreas M. Sturm

Tod eines Spitzels

Kriminalroman

1

16. November 1983

Der blonde dreizehnjährige Junge stampfte wütend auf. Heute war aber auch ein blöder Tag! Zuerst verlor seine Mannschaft das Fußballspiel gegen die Nichtskönner der Parallelklasse, dann fuhr ihm der Bus vor der Nase weg und zum Überfluss fing es auch noch an zu regnen. Er überlegte kurz. Einen reichlichen Kilometer müsste er querfeldein von der Radeburger Straße bis nach Hause laufen. Eigentlich ein Katzensprung. Doch seine Füße waren müde vom Spiel, dazu kam das Sauwetter.

Kurzentschlossen verzog er sich in das Wartehäuschen. Gern tat er das nicht; da drin stank es nach Urin. Misstrauisch schnüffelnd sah er sich um, er musste höllisch aufpassen, in nichts Ekelhaftes zu treten. Um die zwanzig Minuten bis zur Ankunft des nächsten Busses totzuschlagen, übte er im Kopf die Vokabeln der letzten Russischstunde. Spaß machte das keinen. Er kam mit der Sprache nicht klar. Jedes einzelne Wort war eine Herausforderung.

Ein weiß-roter Wartburg 311, der vor dem Häuschen stoppte, bot eine willkommene Abwechslung. Verwundert musterte er den Wagen. Warum hielt der hier?

Der Fahrer beugte sich zur Seite und drehte die Scheibe des Beifahrerfensters runter. »Hallo, mein Junge, wo soll’s denn hingehen?«

»Wilschdorf«, entfuhr es ihm unwillkürlich. Gleich darauf fuhr er zusammen und bereute es, sein Ziel genannt zu haben. Mutter und Vater hatten ihm oft genug eingebläut, nicht mit Fremden zu sprechen.

»Da fahre ich auch hin. Wenn du möchtest, nehme ich dich mit.« Er öffnete einladend die Autotür.

»Nee. Ich warte lieber auf den Bus.«

»Auf den kannst du lange warten. Hab ihn gerade überholt. Steht mit einem Platten am Straßenrand. Wann der nächste kommt …?« Der Mann zwinkerte ihm freundlich zu.

Das Angebot klang verlockend, zumal es inzwischen wie aus Kannen schüttete und der Regen von einem heftigen Wind bis ins Wartehäuschen gepeitscht wurde. Nach Hause laufen war bei dem Mistwetter keine gute Idee. Im Nu wäre er klatschnass. Doch die Ermahnungen der Eltern hallten in seinem Kopf nach. Resigniert schüttelte er den Kopf.

»Recht hast du.« Der Mann nickte verständnisvoll. »Kennst mich ja nicht. Wird sich aber bald ändern. Du gehst doch auch auf die POS Bruno Kühn?«

Widerwillig nickte der Junge.

»Ab dem nächsten Schuljahr unterrichte ich hier. Mathe und Sport.«

Gemischte Gefühle stiegen in dem Jungen auf. Ein Lehrer ist ja kein Fremder, zudem wäre er eventuell beleidigt, wenn er weiter stur blieb. Verscherzen wollte er es sich nicht mit ihm. »Wohnen Sie hier in Hellerau?«

»Nein, bin vorige Woche von Dresden nach Wilschdorf gezogen. Vielleicht wohnen wir ganz nah beieinander.«

Wie ein alter Anorak fielen sämtliche Vorbehalte von dem Jungen ab. Erst vor zwei Tagen hatte Vater erzählt, dass eine Familie ins Nachbarhaus gezogen war.

Jetzt gab es kein Halten mehr. Flink huschte er auf den Beifahrersitz. Interessiert sah er den neuen Lehrer an. Schlank war er und wirkte sportlich. Der Unterricht bei ihm würde bestimmt spitze werden. Zudem hatte er ein nettes Lächeln, was man allerdings kaum sah, da ein dichter Schnurrbart auf seiner Oberlippe wucherte. Dafür blitzten die Augen hinter den Gläsern seiner Brille umso verschmitzter. »Wie heißen Sie?«, rutschte es ihm heraus.

Der Mann lachte auf. »Hermann, außerhalb der Schule kannst du Jochen sagen. Und du?«

»Kai Werner.«

Jochen streckte ihm die Hand hin und Kai schlug begeistert ein. Fest fühlte sich der Händedruck an. Kräftig und vertrauenerweckend.

Jochen startete den Wartburg, setzte den Blinker und rollte auf die Straße. »Da du einen Ball bei dir trägst, vermute ich mal, dass du eine Sportskanone bist.« Er legte eine bedeutungsvolle Pause ein. »Wie steht’s mit Mathe? Bist du da ebenfalls eine Kanone?«

»Eher ein Luftgewehr.« Die Antwort klang eindeutig kläglich.

Der Lehrer brummte vergnügt. »Das sollten wir zusammen hinkriegen. Ich helfe dir bei Mathe, dafür erzählst du mir den ganzen Tratsch über die Nachbarn. Einverstanden?«

Kai nickte begeistert. Jochen war richtig nett. Sie würden todsicher eine Menge Spaß zusammen haben.

»Macht es dir was aus, wenn wir einen kleinen Umweg fahren? Der Förster hat einen schönen Wurzelstock für mich zurechtgelegt. Aus dem will ich einen Biertisch für den Keller zimmern.«

Grinsend schüttelte Kai den Kopf.

»Fein. Du siehst kräftig aus. Vielleicht kannst du mit anpacken, zusammen können wir die Wurzel leichter im Kofferraum verstauen.«

»Klar.« Für ein Abenteuer war Kai immer zu haben. Zufrieden wühlte er seinen Rücken tiefer in den Sitz. So ein Wartburg war eindeutig bequemer als der Trabbi seiner Eltern. Bloß gut, dass Herr Hermann ihn aufgelesen hatte. Wenigstens der Rest des Tages würde schön werden.

2

Vier Monate später

Mit einem dumpfen Klappern fiel die große, schwere Tür der Christuskirche hinter ihm ins Schloss. Hauptmann Michael Reinhardt vom Ministerium für Staatssicherheit schritt die wenigen Stufen bis zu dem asphaltierten Weg hinab. Es ist kälter geworden, stellte er fest. Fröstelnd streifte er seine Handschuhe über. Danach blickte er nach oben und sah selbstvergessen den schweren Schneeflocken zu, die vom Himmel herabtrudelten. Bedauern stieg in ihm auf, weil er seine Malutensilien nicht dabeihatte. Die Kirche von Strehlen im Winter war ein schönes Motiv. Vielleicht hatte er Glück und es würde an den kommenden Tagen ebenfalls schneien. Morgen wäre gut, da hätte er frei.

Er drückte sich selbst die Daumen, dann schnaufte er erleichtert durch. Für heute hatte er es überstanden. Die Treffen der Kirchengruppen waren stets eine Herausforderung für seine Nerven. Stundenlang musste er sich anhören, welche Hürden Ausreiseantragsteller aus dem Weg räumen mussten, ehe ihrem Antrag stattgegeben wurde.

Manchmal fiel es ihm schon schwer, ein Grinsen zu unterdrücken. Doch die langen Jahre in seinem Beruf hatten ihm die erforderliche Kaltblütigkeit verliehen. Ohne diese Distanziertheit gegenüber fremdem Leid hätte er nie erfolgreich in seinem Metier arbeiten können.

Mühelos hatte er auch heute seine Gefühle hinter der bewährten Maske aus Betroffenheit und Mitgefühl versteckt. Hatte Verständnis geheuchelt, Trost gespendet und ergrimmt die Fäuste geballt, wenn die Berichte über die Nachstellungen der Stasi die anderen Mitglieder der Kirchengruppe aufwühlten.

»Verbrecher«, flüsterte er in solchen Situationen gern. Laut genug, damit jeder in der Runde von seinem Grimm gegen den Unterdrückungsapparat erfuhr. Dabei musste er höllisch aufpassen, dass er es nicht übertrieb. Ein Verdacht war schnell geweckt.

Seitdem aufgrund seiner Berichte mehrere junge Leute von den Genossen verhaftet worden waren, hatte sich das Misstrauen, einem bösartigen Grippevirus gleich, in der Gruppe festgesetzt. Reinhardt musste äußerst behutsam vorgehen. Denn Angst, verbunden mit angestauter Wut, konnte schnell zum Ausbruch gewalttätiger Aggressionen führen. Mit siebenunddreißig Jahren fühlte sich Reinhardt zu jung, um zum Krüppel geschlagen oder gar umgebracht zu werden. Eventuell sollte er seinen Vorgesetzten bitten, ihm einen anderen Aufgabenbereich zuzuteilen. Aber das waren Träume. Im Grunde seines Herzens wusste er, dass ihm dieses gefährliche Leben im Schatten erhalten bleiben würde. Trotz seines hohen Dienstgrades setzten ihn seine Vorgesetzten fast ausschließlich für spezielle Beobachtungen sowie Infiltrationen von oppositionellen Gruppen ein.

Obwohl er im Stillen oft darüber lamentierte, war der Hauptmann ungeheuer stolz auf seine Fähigkeiten und Erfolge. Einen Spezialisten, der ihm das Wasser reichen konnte, gab es beim MfS-Dresden nicht. Vermutlich auch nicht in den anderen vierzehn Bezirken der DDR.

Immer wenn Reinhardts Gedanken dieses Thema streiften, leuchtete ein stiller, zufriedener Schein in seinem Gesicht auf. Bereits in seinen Kindertagen hatte es ihn erregt, andere Menschen auszuspähen. Voller Lust genoss er die Befriedigung, Geheimnisse zu lüften, die sie in ihrem Inneren verbargen. Der Eintritt ins MfS war da nur folgerichtig gewesen. Keine andere Arbeitsstelle hätte ihm diesen Genuss verschafft. Wenn er ehrlich zu sich selbst war, musste er zugeben, dass ein Leben ohne dieses Fieber, ohne den Rausch, den einzig die Jagd auf Menschen hervorrief, für ihn unvorstellbar war.

Reinhardts Lippen verzogen sich zu einem zufriedenen Lächeln. Sein Leben war gut so, wie es war.

Eilig lief er los, zwei Straßen entfernt wartete sein Wartburg auf ihn. Das Auto war ein Sinnbild seiner außergewöhnlichen Leistungen. Er hatte ihn sich gekauft, nachdem er zum Hauptmann befördert worden war.

Der Wagen würde ihn zu der gemütlichen Zweiraumwohnung bringen, in der er allein wohnte. Ein weiterer Vorteil, den die Tätigkeit beim MfS ihm beschert hatte. Zusätzlich ermöglichte ihm sein Sold, den Hauptteil seiner Lebensmittel im Deli zu kaufen. Was nicht zu verachten war.

Der Abriss seines Lebens vertrieb die Kälte aus seinen Gliedern. Ja, das Schicksal hatte es gut mit ihm gemeint. Er hatte seine Leidenschaft zum Beruf machen dürfen und wurde dafür besser entlohnt als die Masse der Werktätigen.

Natürlich stand ihm das zu. Immerhin arbeitete er hart für die Sicherheit des sozialistischen Staates.

Inzwischen war er die ovale Straße an der Christuskirche herumgelaufen und bei seinem Wartburg angelangt. Er fingerte den Autoschlüssel aus der Tasche seines Parkas, was durch die Handschuhe ein wenig beschwerlich war, und hatte Mühe, ihn ins Türschloss zu stecken.

Abgelenkt hörte er den Klang der hastigen Schritte zu spät. Alarmiert wollte Reinhardt herumfahren, doch bevor seine Muskeln dem Befehl seines Gehirns folgen konnten, traf ihn ein Schlag seitlich am Kopf. Ein furchtbarer Schmerz lähmte ihn. Mit vor Entsetzen weit aufgerissenen Augen kippte er stocksteif nach vorn. Er spürte bereits nicht mehr, dass sein Körper auf den Fußweg knallte.

3

»Huch«, kreischte Connie. Schwankend blieb sie stehen. Eine freche Schneeflocke war auf ihrer Nase gelandet. Lachend rümpfte sie ihr Stupsnäschen und wollte sie wegpusten. Doch der zarte Eiskristall blieb verbissen auf seinem Platz. Sie streifte ihren rechten Handschuh ab, um das zarte Gebilde wegzuschnippen.

Barbara, ihre Begleiterin, begeisterte der Anblick ungemein. Sie wieherte los, konnte sich gar nicht wieder einkriegen. Japsend ihren Bauch haltend, verkündete sie schließlich: »Deine Anziehungskraft ist eben unwiderstehlich. Wie machst ’n das bloß?« Sie hickste nachdrücklich.

»Mit viel Charme«, kam Connies gelallte Antwort.

»Aha, deshalb hast de heute dn Chef abgeknutscht.«

»Bist ja bloß neidisch.« Energisch stiefelte Connie weiter.

Barbara sah zu, dass sie den Anschluss nicht verlor. Kameradschaftlich henkelte sie sich bei ihrer Kollegin ein. »Is wirklich schade, dass de Feier schon su Ende is. War grad so schön.«

»Hast recht. Auch der Kreuz des Südens war ’n Gedicht.« Connie verdrehte verzückt die Augen.

»Müsste öfter Frauentag sein. Einmal im Jahr is viel su selten. Hast de schon dei Geschenk angeguckt?«

»Freilich, ’ne Flasche Murfatlar habsch gekriegt. Und du?«

»Ooch Schlübberstürmer. Wenn de den glei mit ’n Chef gezischt hättst, hätt dor dich noch of dor Feier rangenomm.«

Beide blieben stehen, quietschend vor Lachen.

»Hast du ooch so ’n Durscht?«, meldete sich Connie, nachdem der Lachanfall verebbt war.

Barbara schaute ihre Begleiterin aus glasigen Augen tieftraurig an. »Durscht wie ’ne Ziege. Und hier gibt’s weit und breit nischt su saufn.«

»Weste was, wir gehn su mir, da nehm ma noch een zur Brust.« Kurzentschlossen schnappte sich Connie ihre durstige Kameradin und zog sie in die andere Richtung.

Ohne Widerrede ließ Barbara sich abschleppen. Einträchtig schlingerten die Frauen in Richtung Kirche.

An dem mächtigen Bauwerk angekommen, stellte Barbara endlich die Frage, die schon seit dem Aufbruch ihre Seele belastete. »Wie küsst ’n dor Chef? Gut?«

»Ni berühmt. War Perlen vor de Säue werfen.«

Irgendwie beruhigt nickte Barbara tiefsinnig. Schaute nach oben und grinste erfreut, als die Schneeflocken auf ihr Gesicht fielen. Dabei achtete sie nicht auf den Weg. So entging ihr das auf dem Fußweg liegende Hindernis. Wenn Connie sie nicht mit aller Kraft festgehalten hätte, wäre sie lang hingeschlagen.

»Guck ma, da liegt ä Besoffner«, stellte Connie verblüfft fest. »Kommt bestimmt ooch von ’ner Frauentagsfeier. Was mach morn mit dem? Liegen lassn könn mern ja nich.«

Barbara ergriff eine Welle purer Heiterkeit. »Zeig ’m doch deine Titten. Da wird jeder Kerl wach.« Vor Vergnügen kreischend, warf sie den Kopf in den Nacken.

»Meenste?« Connie war sich unsicher. »Wenn nu eener kommt?«

»Scheißegal, wir müssn den Kerl wachkriegen.«

Vorsichtig drehte Connie eine Pirouette, vergewisserte sich, dass kein Mensch in der Nähe war, und knöpfte ihre Jacke auf. Ein kurzer Moment des Zögerns, dann beugte sie sich zu dem Mann hinunter, zog ihren Pullover hoch und ließ ihre Brüste schwingen.

Still blieb der Mann liegen.

»Der zuckt ni mit dor Wimper.« Die Enttäuschung in Connies Stimme war förmlich greifbar. Flink ordnete sie ihre Kleidung.

Barbara beugte sich zu dem Bündel Mensch, ängstlich stupste sie es an. Als keine Reaktion kam, wurde ihr mulmig. »Du, ich gloobe der is dod.«

4

Der Anruf der DHG erreichte Oberleutnant Uwe Friedrich in einem ungünstigen Moment. Alle seine Pläne wurden von dem ausgelösten Alarm über den Haufen geworfen. Er wollte gerade in die Äußere Neustadt fahren, um bei seiner Freundin Sabine zu übernachten. Aber natürlich ging der Dienst vor. Er seufzte schwer. Wieder einmal zwang ihn sein Beruf, sämtliche Privatangelegenheiten für unbestimmte Zeit auf Eis zu legen.

Missmutig fuhr er mit dem Aufzug die elf Stockwerke hinunter, lief in den Keller, wo sein grünes Fahrrad treu auf ihn gewartet hatte.

Vor dem Hochhaus im Stadtteil Prohlis schwang er sich in den Sattel, trat kräftig in die Pedale und erreichte nach einer Viertelstunde die Christuskirche in Strehlen.

Am Tatort herrschte bereits rege Betriebsamkeit. Die Genossen der Schutzpolizei hatten weiträumig abgesperrt, während die Tatortspezialisten eifrig dabei waren, verwertbare Spuren zu sichern. Im Zentrum dieses Gewusels stand sein Kollege Oberleutnant Ludwig Unger. Kaum dass er ihn entdeckt hatte, stürzte er aufgeregt auf ihn zu.

»Männlicher Toter, ohne Ausweispapiere. Circa Mitte dreißig. Vermutlich erschlagen«, sprudelte es aus ihm heraus. Nach diesen Worten fingerte er eine Zigarette aus der Schachtel und zündete sie an. Schon die ersten Züge verwandelten seine Erregung in kühle Gelassenheit. »Ich bin froh, dass du es einrichten konntest. Deine Kirsche hat dich wohl aufgehalten?«

Uwe hatte sich schon Sorgen gemacht, als zur Begrüßung die spitze Bemerkung ausgeblieben war. Wie üblich reagierte er nicht darauf. Seit Ludwig bei der letzten Weihnachtsfeier Sabine kennengelernt hatte, schwitzte er aus jeder Pore gelben Neid aus. Seine üblichen Sprüche von wegen: ›Erst ab dreißig sind Frauen richtig knackig‹ oder ›Warum soll ich eine Kuh kaufen, nur weil ich ab und zu ein Glas Milch trinken will?‹, waren von dem Zeitpunkt an ausgeblieben. Dass Ludwig sich keine Hoffnungen zu machen brauchte, hatte ihm Sabine deutlich klargemacht. Sein unter dem Tannenbaum gestarteter Flirtversuch war von ihr kategorisch abgeschmettert worden.

Die Erinnerung daran ließ ein Lächeln in Uwes Gesicht aufblitzen. Schnell drehte er sich weg und trat zu dem Toten.

Sein Grinsen brach zusammen, während er seine Blicke über das Opfer gleiten ließ. Gnädig hatte der fallende Schnee die Leiche zugedeckt. Das Bild wirkte friedlich, sauber, so als ob eine große Marzipanfigur, mit Puderzucker überstreut, auf kleine Naschkatzen warten würde. Nur das Blut, das aus einer großen Wunde an der Kopfseite über das Gesicht geströmt war und eine Lache auf dem Fußweg bildete, zeigte, dass hier ein Mensch auf brutale Weise aus dem Leben gerissen worden war.

Der junge Oberleutnant nahm sich Zeit. Lief um die Leiche herum, danach um die gesamte Kirche. Jede Einzelheit registrierend, versuchte er dem Tatort seine Geheimnisse zu entreißen. Oft gelang es ihm auf diese Weise Informationen über Opfer, Täter sowie den Tathergang zu erhalten.

Zurück bei dem Toten ging er in die Knie, dabei galt sein Hauptaugenmerk der Wunde. Das Opfer wurde überrascht, stellte er fest. Vermutlich hat der Mann etwas gehört, wollte herumfahren, da hat der Täter auch schon zugeschlagen. Die Wucht des Hiebes hat den Ermordeten zu Boden geschleudert.

Er ging näher an die Verletzung heran. Schläfen- und Scheitelbein waren zerschmettert, die Knochenbruchstücke tief ins Gehirn gedrückt. Das Ausmaß der Schädigung ließ Uwe vermuten, dass der Mann auf der Stelle bewusstlos oder sogar tot gewesen sein musste.

Hass oder Wut, vielleicht auch Angst, mussten der Auslöser für die Gewalttat gewesen sein. Er kam wieder in die Höhe und betrachtete den Toten aus größerer Distanz. Er lag auf dem Bauch, das zur Seite gedrehte Gesicht vom verkrusteten Blut fast unkenntlich.

Er war gerade im Begriff, zurück zu seinem Kollegen zu gehen, als er wie vom Donner gerührt erstarrte. »Ludwig«, brüllte er, hektisch winkend.

»Hast du was entdeckt?« Sein herbeigeeilter Kollege klang überrascht. Offenbar war es eine neue Erfahrung für ihn, Uwe so aufgewühlt zu erleben.

»Ist der Fotograf schon fertig? Hat ein Arzt den Totenschein ausgestellt?«

Ludwig warf ihm einen forschenden Blick zu. »Mhm, die sind beide durch.«

Uwe schnippte ungeduldig mit den Fingern. »Wir müssen ihn umdrehen.« Er war bereits in die Knie gegangen, hatte unter die Leiche gefasst und hob den Körper an. Ludwig griff mit zu und wenige Sekunden später lag der Mann auf dem Rücken. Seine grauen Augen, die Überraschung und Schmerz verrieten, starrten leblos in den Nachthimmel. Die bisher verborgene Gesichtshälfte lag nun frei.

Uwe zog zischend die Luft ein, schloss für einen Moment die Augen, um dann das Kommando an sich zu reißen. »Wir müssen sofort den Chef informieren.« Kaum hatten die Worte seinen Mund verlassen, strebte er zum nächsten Einsatzwagen.

Ludwig lief ihm nach. »Der Major wird sich schön bedanken, wenn wir ihn mitten in der Nacht anrufen. Hat das nicht noch die paar Stunden Zeit?«

»Wenn du wüsstest, wer da liegt, würdest du nicht fragen.«

5

Beim Aussteigen aus der Straßenbahn wäre Sabine Fuchs um ein Haar gestürzt. Sie schaffte es gerade so, ihr Gleichgewicht zu halten. Schwer atmend blieb sie auf dem Fußweg stehen. Das war knapp! Aus irgendeinem blöden Grund hatte sie die Höhe der letzten Stufe falsch eingeschätzt und war ins Straucheln geraten.

Dabei hatte sie sich heute Abend eisern zurückgehalten. Nur drei Gläser von Wallis Spezialmischung hatte sie getrunken. Das war nicht zu viel. So eine winzige Dosis steckte ihre Leber locker weg.

Waltraut, die Stationsschwester, hatte wie vor jeder Feier eine Literflasche reinsten Alkohols aus dem Lager stibitzt. Gemischt mit Cola oder Orangenperle ergab das die leckersten Drinks.

Walli und Sabine waren dicke Freundinnen. Sabine kannte die Stationsschwester schon aus der Zeit vor ihrem Studium, als sie selbst noch Krankenschwester am St. Joseph-Stift war. Sie hatte ihre Verbindung zum Krankenhaus nie abreißen lassen. In den Semesterferien arbeitete sie dort, um ihr Einkommen aufzubessern, zudem absolvierte sie sämtliche Praktika in den für sie heiligen Hallen. Natürlich wurde sie im Gegenzug zu den Weihnachts- und Frauentagsfeiern eingeladen.

Um ihre Angst über den Ausrutscher zu überwinden, schloss Sabine die Augen. Gleich darauf stellte sie erleichtert fest, dass sich die Welt hinter ihren Augen nicht drehte. Stolz auf ihre Enthaltsamkeit marschierte sie auf nicht mehr ganz sicheren Beinen los. Da ihr kalt war, versuchte sie ein ordentliches Tempo vorzulegen. Ein paar Stunden Schlaf wollte sie dem Rest der Nacht unbedingt abluchsen. Morgen musste sie geistig auf der Höhe sein. Eine Klausur in Politischer Ökonomie Kapitalismus stand an. Das Fach gehörte nicht unbedingt zu ihren Lieblingsgebieten. Sollte auf ihrem Zeugnis wenigstens eine Drei stehen, würde sie sich höllisch anstrengen müssen.

Schnell verdrängte sie die Gedanken an den politischen Unterricht. Viel lieber erinnerte sie sich an die Feier. Ein breites Grinsen wuchs auf ihrem Gesicht. Es war hoch hergegangen. Die meisten hatten zu viel getrunken, eng getanzt und die Finger nicht von ihren Tanzpartnern lassen können. Früher war sie auch keine Kostverächterin gewesen, aber seitdem sie mit Uwe zusammen war, beschränkte sie sich aufs Zuschauen. Ihr lieber, langer Lulatsch hatte es nicht verdient, dass sie ihn hinterging.

Wie von selbst verlangsamte Sabine ihre Schritte, als sie das verfallene Haus drei Blöcke entfernt von ihrer Wohnung erreichte. Sie zögerte, ob sie die Abkürzung über den Innenhof nehmen oder lieber die Straße weiterlaufen sollte. Dort standen wenigstens Laternen. Ein paar von denen funktionierten sogar und verbreiteten ein verwaschenes, gelbliches Licht.

Vorsichtig spähte sie um die kleine Mauer. Der kürzere Weg lockte, doch er war zappenduster. Nachdenklich sah sie ihrem Atem nach, der in weißen Wölkchen in die Nacht schwebte, dann stiefelte sie entschlossen los. Hier war schon ewig nichts mehr passiert, also brauchte sie keine Angst zu haben.

Kaum hatte sie ein paar Schritte in dem Innenhof zurückgelegt, stolperte sie erneut. Vielleicht sollte sie eine Taschenlampe in ihrem Beutel deponieren. Bei den vielen finsteren Ecken in ihrem Viertel wäre das mit Sicherheit eine gute Idee. Der Lichtstrahl würde ihren Weg beleuchten, dadurch könnte sie heimtückische Stolperfallen beizeiten ausmachen. Zudem wäre so ein schweres Teil prima als Keule geeignet, falls doch mal ein Bösewicht in einer dunklen Ecke lauern sollte.

Ein starker Arm, der sich urplötzlich um ihren Hals legte und ihr die Luft abschnitt, würgte abrupt jede klare Erwägung in ihrem Kopf ab.

6

Geduldig wartete der Oberst des Ministeriums für Staats­sicherheit, Dr. Ernst Buchmann, ab, bis der Kriminaltechniker die Tür zu Reinhardts Wohnung für ihn öffnete. Er unterdrückte ein Gähnen. Offensichtliche Müdigkeit käme gegenüber einem Untergebenen nicht gut an. Ein hoher Offizier des MfS hatte rund um die Uhr zu hundert Prozent einsatzbereit zu sein. Der Klassenfeind schlief ja auch nicht.

Um gegen die Müdigkeit anzukämpfen, sortierte er in seinem Kopf noch einmal die Umstände, die ihn zu nachtschlafender Zeit in dieses freudlose Treppenhaus geführt hatten.

Vor einer Stunde war er von einem seiner Informanten aus dem Dresdner Polizeipräsidium aus dem Schlaf geklingelt worden. Buchmann brauchte ein paar Minuten, ehe ihm die Bedeutung von Reinhardts Ermordung dämmerte. Aufgrund seiner Einsatzfelder hatte der Hauptmann Kenntnisse über Vorgänge erlangt, die hochbrisant waren. Es würde den Oberst nicht wundern, wenn der kleine, umtriebige Wicht Beweise über Handlungen offizieller und inoffizieller Mit­arbeiter des MfS dokumentiert und irgendwo hinterlegt hatte. Zuzutrauen wäre es ihm.

Nach kurzem Überlegen löste die Konsequenz dieser Gedankengänge eine rege Betriebsamkeit bei ihm aus. Während er in Windeseile in seine Sachen schlüpfte, beorderte er einen Techniker des MfS zur Wohnung des Ermordeten. Er nahm seine Dienstwaffe aus dem Waffenschrank und überprüfte das Magazin. Außerdem packte er ein paar notwendige Dinge in eine große Tasche. Zum Schluss schrieb er für seine Frau einige erklärende Worte auf, um danach zu seinem Fahrzeug zu sprinten.

Normalerweise ließ der Oberst sich von seinem langjährigen Chauffeur abholen, doch heute verzichtete er darauf. Er konnte nicht abschätzen, ob an seinem Verdacht etwas dran war, deshalb wollte er den Personenkreis der Mitwisser so klein wie irgend möglich halten.

»Befehl ausgeführt, Genosse Oberst.« Die Stimme des Technikers holte Buchmann in den Hausflur des Neubaublocks in Dresden-Seidnitz zurück.

Er nickte dem jungen Unterleutnant dankend zu. Innerhalb weniger Minuten hatte er die Tür zu Reinhardts Wohnung für ihn geöffnet.

»Wenn bei dir nichts Besonderes anliegt, kannst du morgen zwei Stunden später zum Dienst kommen. Als Ausgleich für die unterbrochene Nachtruhe. Sollte einer deiner Vorgesetzten Späne machen, berufst du dich auf mich. Weggetreten!«

»Vielen Dank, Genosse Oberst«, stammelte der junge Mann überrascht und schob glücklich grinsend ab.

Oberst Buchmann verstand es, mit kleinen Gesten, die ihn nichts kosteten, die Loyalität seiner Untergebenen zu stärken. Er blieb abwartend im Treppenhaus stehen, bis die Haustür hinter dem Unterleutnant ins Schloss gefallen war. Danach holte er seine Dienstwaffe aus der Manteltasche und glitt in die Wohnung. Die Makarow im Anschlag, drückte er die Tür leise hinter sich zu. Bereit, sofort auf einen eventuellen Angriff zu reagieren, warf er einen Blick in sämtliche Räume. Als er davon überzeugt war, allein in der Wohnung zu sein, hängte er seinen Mantel an die Garderobe. Die große Tasche stellte er im Flur ab.

Sein erster Gang führte ihn in die Küche. Um seine Konzentration aus dem Halbschlaf zu holen, benötigte er dringend Koffein. In einem Hängeschrank fand er Mocca Fix Gold. Buchmann lächelte erfreut, die Sorte mochte er. Er setzte Wasser auf und gab reichlich Kaffeepulver auf das Filterpapier. Geduldig wartete er ab, bis das Wasser kochte.

Die Zeit, bis das heiße Wasser durch den Filter getröpfelt war, nutzte er, um sich ein Bild von Reinhardts Zuhause zu machen. Bereits bei seinem ersten Durchgang war ihm aufgefallen, dass die Räume peinlich sauber geputzt waren. Die Luft in der Wohnung roch frisch.

Das passte zu Reinhardt, dachte der Oberst. Gründlich und ordentlich, bis hin zur Pedanterie war er gewesen. Das musste man ihm lassen. Aber er fand das Heim des Hauptmanns seltsam traurig, zudem völlig fantasielos. Aus jeder Ecke schien ihn das Wort Einsamkeit förmlich anzuspringen. Sämtliche Möbel waren zweckdienlich. Perfekt spiegelten sie den Charakter des Hauptmanns wider. Privat hatte Buchmann ihn nicht gekannt. Er begriff, dass er in seinem Privatleben offensichtlich ebenso durchorganisiert gewesen war wie bei der Arbeit. Obwohl der Oberst eine zweite Runde drehte, konnte er keinerlei schmückende Nebensächlichkeiten entdecken. Alles in allem wirkte Reinhardts Heim so fröhlich wie ein Grabgewölbe.

Die Gemälde, die sämtliche Wände zierten, verstärkten diesen Eindruck. Buchmann fröstelte. Es war die sterile Atmosphäre eines Museums. Er wusste von Reinhardts Leidenschaft, den Pinsel zu schwingen und auch, dass er es gut konnte. Wunderschöne, romantische Ansichten von Dresden bestaunte er, zudem Porträts. Ihm blieb fast die Luft weg, als ihn sein eigenes Gesicht ernst von einer Wand des Wohnzimmers anschaute. Reinhardt musste es aus dem Gedächtnis gemalt haben.

Gerührt ging der Oberst in die Küche, goss Kaffee in eine Tasse und gab Milch dazu. Mit der Tasse in der Hand kehrte er zu seinem Porträt zurück. Inzwischen war der kurze Augenblick der Sentimentalität verschwunden. Kalte Überlegung trat an ihren Platz. Warum zum Teufel hatte der Hauptmann ihn gemalt? War es Verehrung? Oder gar Abneigung?

Lange stand er da und betrachtete sein eigenes Gesicht. Gut war er getroffen, perfekt eigentlich. Er konnte sogar die Andeutung eines Lächelns entdecken. Nein, widerwillig oder voll Hass hatte Reinhardt den Pinsel nicht geführt. Jedoch auch nicht voll Bewunderung für den Menschen, den er da porträtiert hatte. Es war das Gesicht eines Mannes, der ihm gleichgestellt war. Ein Kampfgefährte, schoss es Buchmann durch den Kopf. Das wäre stimmig. Immerhin kämpften sie für dieselbe Sache gegen einen gemeinsamen Feind.

Er zuckte die Schultern. Da er die Wahrheit niemals erfahren würde, beschloss er, bei dieser Version zu bleiben. Für immer.

Neugierig schritt er die Privatgalerie des Hauptmanns weiter ab. Mehrere der Genossen hingen an den Wänden, die meisten Gesichter waren ihm allerdings unbekannt. Vor dem Porträt einer jungen Frau blieb er stehen. Der Anblick des außergewöhnlich hübschen Mädchens bezauberte ihn. Ein kaum wahrnehmbarer Silberblick der graugrünen Augen, verlieh ihrem Blick eine ungeheure Anziehungskraft. Er konnte gut nachvollziehen, warum Reinhardt sie gemalt hatte.

Es fiel dem Oberst nicht leicht, sich von den Bildern zu lösen, doch er war nicht für eine Gemäldeschau hergekommen. Um die Müdigkeit aus seinem Kopf zu vertreiben, holte er sich eine zweite Tasse Kaffee. Er setzte sich in einen von Reinhardts Sesseln und während er trank, begriff er, was der Tod des Hauptmanns für ihn und das MfS bedeutete. Ersatz für ihn aufzutreiben, würde schwer werden. Reinhardt war Spezialist im Beschaffen von Informationen gewesen. Nicht nur, dass er der beste Mitarbeiter für Observierungen war, hatte er es doch wie kein Zweiter verstanden, feindliche Gruppierungen zu unterwandern. Um die Mitglieder oppositioneller Gruppen zu täuschen, war er mühelos in immer neue Rollen geschlüpft. Sein Feingefühl, mit dessen Hilfe er sofort Kontakt zu den Klassenfeinden herstellte, und jeden Verdacht im Nu zerstreute, war legendär.

Zorn loderte in Buchmann auf. Ihm war klar, dass nur ein westlicher Agent hinter Reinhardts Ermordung stecken konnte. Die Erfolge des Hauptmanns bei der Verteidigung des Sozialismus waren auf jeden Fall der Auslöser des heimtückischen Anschlags.

Eine weitere Woge Wut brandete in ihm auf. Ihn hielt es nicht in dem bequemen Polstersessel. Zwei Schritte brachten ihn ans Fenster. Er riss es auf und atmete gierig die kalte Nachtluft ein. Danach murmelte er einen Schwur in die Nacht: Egal, was es kostete, egal, wie lange es dauerte, er würde den Mörder zur Strecke bringen. Egal, unter welchem Stein der sich verkroch.

Er, Oberst Ernst Buchmann, würde ihn aufspüren und dann gnade ihm Gott. Das MfS würde keine gewähren.

Der Tod des Mörders war für ihn beschlossene Sache.

Er schluckte seinen Zorn herunter. Dafür war später Zeit. Der Kaffee hatte ihm frische Lebenskraft verliehen, jetzt konnte er sich konzentriert an die Durchsuchung der Wohnung machen.

Da das Wohnzimmer vermutlich die meiste Zeit beanspruchen würde, stellte er es erst einmal zurück. Die anderen Räume würden ihn nicht so lange aufhalten.

Auf dem Weg zum Schlafzimmer nahm er die mitgebrachte Stablampe aus seiner Tasche. Im Türrahmen blieb er stehen. Ließ seine Blicke durch den Raum wandern. Ihm gegenüber befand sich das Fenster. Eine Straßenlampe warf ihr kaltes Licht herein. Kein Wunder, dass Reinhardt dicke Vorhänge am Fenster angebracht hatte. Die Möblierung war spärlich, aber zweckmäßig. Ein Kleiderschrank, ein Bett, daneben ein Nachtschränkchen, mehr gab es nicht.

Der Oberst zog die Vorhänge zu und schaltete das Licht ein. Den Anfang machte er mit dem Bett. Griff die Kissen sowie die Schlafdecke ab und befühlte die Matratze. Der Blick unters Bettgestell schloss die Untersuchung ab. Nicht einmal eine verirrte Staubflocke trieb ihm entgegen. Es hätte ihn auch überrascht.

Als er fertig mit Reinhardts Ruhestätte war, ging er zum Nachtschrank. Darin fand er ein paar abgegriffene Ausgaben des Magazins. Buchmann grinste. Hier hatte Reinhardt also Entspannung gefunden.

Hinter der rechten Tür des Kleiderschranks verbargen sich, ordentlich auf Kante gestapelt, die Unter- sowie Nachtwäsche, außerdem die Socken des Hauptmanns. In den weiteren Fächern lagen Handtücher und Bettwäsche. Er öffnete die andere Schranktür. Säuberlich auf Bügel gehängte Hemden, Hosen und ein Bademantel boten sich seinen Blicken.

Buchmann räumte den Schrank komplett leer. Legte die Kleidung samt der Wäsche in der Reihenfolge, wie er sie entnommen hatte, aufs Bett. Anschließend widmete er sich den Holzplatten, aus denen der Schrank gefertigt war. Sorgfältig prüfte er, ob Reinhardt ein verborgenes Fach angelegt hatte. Als er nichts dergleichen fand, räumte er den Schrank wieder ein. Abschließend leuchtete er mit seiner Taschenlampe den Spalt zwischen Wand und Schrank aus. Danach verließ er den Raum.

Bad sowie Küche waren klein und verfügten nicht über Fenster. Er ging durch die Schränke, entdeckte jedoch nichts, was ihm verdächtig vorkam. Nachdem er fertig war, wandte er sich dem wuchtigen Einbauschrank im Korridor zu. Darin hatte Reinhardt seine Jacken und die Schuhe aufbewahrt. Der Oberst verfuhr genauso wie beim Schlafzimmerschrank. Das Ergebnis war dasselbe. Weder Unterlagen noch anderes verwertbares Material waren im Flurschrank versteckt.

Er schnaufte durch. Geschlagene zwei Stunden war er nun schon in den Räumen zugange. Bloß gut, dass Reinhardt nur in einer Zweizimmerwohnung gehaust hatte. Langsam musste er zusehen, dass er fertig wurde, denn er verspürte kein Interesse, den Frühschichtlern im Treppenhaus über den Weg zu laufen.

Das Wohnzimmer war der mit Abstand größte Raum. Reinhardt hatte ihn mithilfe einer flachen Kommode, auf der ein Fernseher thronte, in zwei Bereiche geteilt. Der erste wurde von einer bequemen Couch dominiert. Gleich daneben, in Reichweite, stand ein kleiner Tisch. Der Oberst nickte anerkennend. Die perfekte Fernsehecke. Er sah hinters Sofa, durchsuchte die Kommode, fand jedoch zu seinem Verdruss nichts, was ihn interessiert hätte.

Langsam wurde er ungeduldig, die Zeit lief ihm davon. Zudem blieb ihm immer noch der hintere Teil des Wohnzimmers. Den Esstisch und die zwei daran stehenden Stühle hatte Buchmann innerhalb weniger Augenblicke kontrolliert. Die danebenstehende Staffelei und die an der Wand lehnenden Bilder tat er mit einer Handbewegung ab. Einzig der stabile Schrank in der Ecke versprach noch Ergebnisse.

Er zögerte. Vielleicht lag er falsch und Reinhardt hatte keine Beweise über geheime Vorgänge gehortet. Insgeheim drückte sich der Oberst selbst die Daumen. Wenn dem so wäre, würde das die Ermittlungen ungemein erleichtern. Doch jetzt war er hier. Ohne seine Arbeit zu Ende zu bringen, würde er nicht gehen.

Er stellte sich vor den Schrank und atmete tief durch. Schwungvoll öffnete er beide Türen. Der Anblick traf ihn unvorbereitet. Niemals hätte er vermutet, dass der Hauptmann eine Leseratte gewesen war. Sämtliche Regalbretter bogen sich unter der Last der Bücher. Buchmann überflog die Titel. Dutzende Abenteuerromane, Krimis und Meyers Neues Lexikon in acht Bänden standen einträchtig nebeneinander.

Einer Eingebung folgend, nahm Dr. Buchmann die Lexika aus dem Fach. Als er die lange Reihe von Dokumentenordnern dahinter entdeckte, schnappte er nach Luft.

Also doch! Seine Ahnung hatte ihn nicht getrogen.

Von nervöser Unruhe getrieben, nahm er die Hefter aus dem Schrank und legte den Stapel auf den Esstisch. Er nahm sich nicht die Zeit, einen Stuhl heranzuziehen, gleich im Stehen schlug er die erste Mappe auf. Darin hatte Reinhardt akribisch die Schiebergeschäfte eines Mannes dokumentiert, der beim IFA-Vertrieb beschäftigt war. Gegen einen Aufpreis hatte der Kerl die begehrten Pkw ohne gültige Bestellung unter der Hand verkauft.

Mit fiebrig zitternden Fingern öffnete er den zweiten Ordner. Darin stieß er auf säuberlich in Klarsichthüllen archivierte Fotos. Als er sah, welche Personen auf dieser Bild­dokumentation agierten und vor allem wo, wurde ihm eiskalt. Reinhardts gesammeltes Material übertraf bei Weitem seine Befürchtungen. In den falschen Händen waren diese Unterlagen Sprengstoff.

Es kostete Buchmann seine gesamte Selbstbeherrschung, die in ihm brodelnden Emotionen unter Kontrolle zu bringen. Bloß nichts überstürzen. In der gegebenen Situation durfte er keinen Fehler machen. Seine Schläfen massierend dachte er nach. Vor allem musste er Abstand gewinnen, danach mit kühler Überlegung die weiteren Schritte planen. Aber dafür war morgen Zeit, jetzt musste er hier fertig werden.

Ohne Verzug räumte er den Bücherschrank vollständig leer. Jedes einzelne Buch ging er durch, ob zwischen den Seiten Dokumente lagen. Als er nichts dergleichen fand, atmete er auf. Offenbar bargen die Ordner auf dem Tisch Reinhardts komplettes Archiv.

Zur Sicherheit überprüfte er den Schrank auf Geheimfächer. Aufspüren konnte er keine, worüber er heilfroh war. Anderenfalls wäre er gezwungen gewesen, einen Spezialisten mit einer intensiven Durchsuchung der Wohnung zu betrauen.

Jetzt musste er nur noch hinter sich sauber machen. Exakt so, wie er sie vorgefunden hatte, stellte Buchmann die Bücher zurück in den Schrank und schloss die Türen. Danach holte er seine Tasche aus dem Flur und packte Reinhardts Ordner hinein.

Auf dem Weg in die Küche kippte er ohne Appetit den inzwischen kalt gewordenen Kaffee hinter. Er spülte die Tasse und stellte das Kaffeepulver zurück in den Hängeschrank. Den Kaffeesatz warf er samt Filter in den Müll.

Er holte seine Tasche, lief in den Flur und zog seinen Mantel über. Seine rechte Hand lag bereits auf der Klinke, als ihm ein Gedanke durch den Kopf schoss. Spontan ging er ins Wohnzimmer und suchte aus dem Stapel der Gemälde eins heraus, das in etwa dieselbe Größe wie sein Porträt hatte. Er tauschte es mit dem Bild an der Wand.

Seine liebe Frau hatte in einer Woche Geburtstag, der Zufall hatte ihm das perfekte Geschenk für sie zugespielt. Ein fieses Grinsen zuckte über Buchmanns Gesicht. Er nahm die kleine Revanche als Ausgleich für die immense Mühe, die der Hauptmann ihm eingebrockt hatte. Außerdem würde der das Bild kaum vermissen.

Im Flur nahm er Reinhardts Zweitschlüssel von einem schlichten Wandbrettchen. Griff sich die Tasche und klemmte das Bild unter den Arm. Leise öffnete er die Tür, huschte ins Treppenhaus und drehte den Schlüssel zweimal im Schloss.

Der Oberst fuhr nicht auf direktem Weg nach Hause. Er legte einen Zwischenstopp an einer Telefonzelle ein. Von da rief er den Wachhabenden beim MfS an, um die Observierung von Reinhardts Wohnung zu beauftragen. Sollte der Hauptmann Opfer seiner eigenen Sammelwut geworden sein, lag es nahe, dass der Mörder auf den Gedanken kam, selbst nach dem Archiv zu suchen.

7

Vor Entsetzen förmlich gelähmt, war Sabine zu keiner Gegenwehr fähig. Bevor sie überhaupt realisierte, was mit ihr geschah, drängte sie ein großer Körper an die Wand des Abbruchhauses. Ihre Wange schabte über freiliegende Ziegelsteine, deren spitze Ecken ihre Haut aufrissen. Plötzlich lockerte sich der Druck auf ihren Hals. Erleichtert schnappte sie nach Luft.

Eine stoppelige Wange presste sich an ihr Gesicht. »Halt still, dann hast du auch was davon.«

Die rauen Worte ließen sie vor Angst fast wahnsinnig werden. Nur der Gestank nach Schweiß, Alkohol und Zwiebeln durchdrang den Nebel ihrer Panik. Kaum war die Wahrnehmung in ihr aufgestiegen, glitten auch schon harte Hände unter ihre Kleidung und quetschten schmerzhaft ihre Brüste. Todesangst schoss in ihr hoch. Ihre Knie begannen zu schlottern. Ihr Magen krampfte. Sekundenbruchteile später bahnte sich Wallis Spezialmischung zusammen mit dem Abendbrot den Weg durch ihre Speiseröhre ins Freie.

Sabines lautes Würgen ließ den Kerl innehalten. Er löste sich von ihr und sprang zurück.

Zu schwach, um sich allein zu halten, fiel sie nach vorn. Ein Schwall sauer riechender Flüssigkeit klatschte auf den Boden. Der Würgereiz schüttelte sie derart heftig, dass sie sich mit beiden Händen abstützen musste, wenn sie ihr Gleichgewicht wahren wollte.

Endlich klangen die Krämpfe ab. Sie berappelte sich und spuckte aus. Obwohl ihre Kehle wie Feuer brannte, schaffte sie es, laut um Hilfe zu brüllen.

»Halt dein Maul!« Im Nu war der Mann wieder über ihr und packte sie am Schlafittchen. Brutal zerrte er sie in die Senkrechte.

Sofort waren die Hände zurück und eine widerwärtige Zunge begann ihr Gesicht abzulecken.

Sabine wurde schlecht vor Ekel. Aber irgendwie gelang es einer Erinnerung, sich an die Oberfläche ihres Verstands zu kämpfen und Gehör zu finden. Es war Uwes Stimme, die sie auf einmal in ihrem Kopf vernahm:

Wenn du gezwungen bist, dich zu verteidigen, lass dich nicht von deiner Angst beherrschen! Blende unnötige Gefühle aus! Fokussiere dich auf dein Ziel! Sieger wird derjenige sein, der kaltblütig und entschlossen handelt.

Sabine holte tief Luft und blendete die Angst aus. Um ihren Gegner zu täuschen, gab sie scheinbar nach. Sie drückte sich an seinen Körper und stöhnte wollüstig auf. Augenblicklich zeigte ihr Manöver Erfolg. Der Kerl lockerte seinen Griff, gierig suchten seine Lippen ihren Mund.

So weit wollte sie es nun doch nicht kommen lassen! Alle Kraft aufbietend, entwand sie sich seinen Armen und fuhr blitzartig herum. Sie holte aus und drosch ihm ihre Faust mit aller Kraft auf die Nase. Sie hörte ein trockenes Knacken. Blut spritzte ihr entgegen. Aufjaulend presste er beide Hände vors Gesicht.

Der ist die nächsten Minuten beschäftigt, fuhr es ihr durch den Kopf. So schnell sie konnte, rannte sie los, laut »Hilfe, Hilfe« rufend.

Polternde Schritte und nuschelndes Fluchen ließen ihre Hoffnung zerplatzen. Sabine stockte fast der Atem, als ihr klar wurde, dass sie ihren Gegner unterschätzt hatte. Dem Geräusch seines Schnaufens nach holte er zusehends auf.

»Was is’n hier los?«, durchschnitt eine scharfe Frauenstimme, gefolgt von dem aufgeregten Bellen eines Hundes die Nacht.

Der Kerl hinter ihr machte sofort kehrt. Wenige Augenblicke später war er in den Schatten der Nacht verschwunden.

Tränen unendlicher Dankbarkeit schossen in Sabines Augen, als sie die stockschwingende Frau erkannte. Bevor sie sich einem erlösenden Heulkrampf überließ, huschte eine Erkenntnis durch ihren Kopf. In den Ausdünstungen des Mannes war noch ein weiterer Bestandteil gewesen. Nur konnte sie den im Moment nicht einordnen.

8

Sein Fahrrad durch den Innenhof des Polizeipräsidiums schiebend, warf Uwe der Raucherecke einen höhnischen Blick zu. Vor acht Monaten hatte Major Günzel ihm das Du angeboten. Fast im selben Atemzug hatte er erklärt, dass er ab sofort mit dem Qualmen aufhören würde. Zur grenzenlosen Freude des Oberleutnants war der passionierte Kettenraucher eisern geblieben. Dadurch hatte er Uwes Dasein eine völlig neue Qualität verliehen. Wie von Geisterhand beiseite gewischt war sein Martyrium, bei jeder Besprechung in einer graugelben Nebelwand ausharren zu müssen. Zusätzlich hatte der Chef kraft seines Dienstrangs für sein Büro sowie den Versammlungsraum ein absolutes Rauchverbot durchgesetzt. Diese Anordnung hatte einen weiteren Stern an Uwes Firmament aufleuchten lassen. Denn da Ludwigs Nerven es einfach nicht schafften, einen längeren Zeitraum ohne Nikotin durchzuhalten, verzichtete er auf seine weitschweifigen Berichte und fasste sich kurz.

Ludwig, der im Dienstwagen schneller durch die Stadt gefahren war, erwartete ihn zusammen mit Major Günzel in dessen Büro. Demonstrativ schaute der Oberleutnant zur Uhr. »Wir warten seit zehn Minuten auf dich. Kannst du nicht wie jeder normale Mensch mit dem Auto fahren?«

Da sie seit Oktober letzten Jahres den gleichen Dienstrang innehatten, war Ludwig nicht mehr sein direkter Vorgesetzter. Und Uwe hatte die dummen Sprüche seines Kollegen inzwischen satt. Er verspürte keine Lust, sie sich weiterhin anzuhören. Gerade wollte er eine scharfe Entgegnung vom Stapel lassen, doch der Major kam ihm zuvor.

»Gut, dass du mich daran erinnerst, lieber Ludwig. Wenn ich mir dein Wohlstandsbäuchlein so betrachte, ist es höchste Zeit, dass du dich bei der Sportgruppe der VP einschreibst. Sag Anita Bescheid, dass sie dich anmeldet.«

Uwe konnte es Major Günzels Stimme anhören, dass der jedes einzelne Wort genossen hatte. Sein gemaßregelter Kollege dagegen fixierte ihn böse. Falls Blicke töten könnten, dann waren die seinen tödlicher als Projektile aus einer Makarow.

Uwe beachtete ihn nicht, sah stattdessen den Major fragend an. »Konntest du schon Kontakt zum MfS herstellen?«

Ein frustriertes Knurren leitete die Antwort ein. Sein gemurmeltes »Die Stasi hat übernommen. Der Fall geht uns nichts mehr an« klang frostig.

Uwe hatte nichts anderes erwartet und zuckte mit den Schultern. »Sehen wir’s positiv. Das erspart uns jede Menge Ärger und Arbeit.«

Günzels Frustration war einer ruhigen Gelassenheit gewichen. »Ist eigentlich nachvollziehbar. Einer ihrer Leute wurde ermordet, in so einem Fall würden wir uns auch nicht in die Ermittlungen pfuschen lassen. Natürlich erwarten die Herren einen Bericht. Dafür benötige ich noch ein paar Angaben. Wer hat den Toten gefunden?«

»Zwei Schnapsdrosseln«, kam Ludwigs mürrische Antwort. Offenbar war er immer noch eingeschnappt.

»Hast du in der Schule nicht gelernt, in ganzen Sätzen zu antworten?« Die Hand des Majors vollführte eine auffordernde Bewegung.

»Zwei Feinmechanikerinnen. Connie Hähnel und Barbara Geiger. Sie kamen beschwipst von der Frauentagsfeier. Laut ihrer Aussage entschieden sie sich am Wasaplatz spontan, in Frau Hähnels Wohnung zu marschieren, um dort weiterzufeiern. Dabei führte sie ihr Weg entlang der Christuskirche, wo sie fast über die Leiche des Hauptmanns gestolpert wären. Jedenfalls sind sie ziemlich schnell nüchtern geworden, als ihnen aufging, was sie da entdeckt hatten.«

»Geht doch«, stellte Günzel fest. »Genau so will ich es in deinem Bericht lesen. Habt ihr …?«

Das Klingeln des Telefons im Vorzimmer unterbrach ihn.

Perplex blickten die drei Polizisten sich an. »Wer ruft denn zu nachtschlafender Stunde hier an?«, fragte der Major, völlig aus dem Konzept gebracht.

»Bestimmt verwählt oder übrig gebliebene Damen auf dem Heimweg, die es für einen Riesenspaß halten, Telefonstreiche zu machen«, spekulierte Ludwig.

Günzel brummte zustimmend. »Möglich. Ein Notfall kann es ja nicht sein, der geht an die Zentrale.« Er kratzte sich am Kopf und versuchte, den entwischten Gedanken wieder einzufangen. »Zurück zu dem Mord. Habt ihr eine Fahndung eingeleitet?«

Ludwig hüstelte. »Da ich lange vor dem Herrn Oberleutnant am Tatort eingetroffen bin, war das meine Aufgabe.« Den Seitenhieb in Uwes Richtung konnte er sich einfach nicht verkneifen. »Die ersten Streifenwagen haben die umliegenden Stadtbezirke nach verdächtigen Personen durchkämmt, später wurde die Suche auf das gesamte Stadtgebiet ausgeweitet. Zusätzlich haben Polizeistreifen den öffentlichen Nahverkehr kontrolliert.« Er legte eine demonstrative Pause ein, als wären seine Ausführungen das Nonplusultra der Weisheit gewesen. Danach hob er bedauernd die Schultern. »Bis jetzt habe ich noch keine Rückmeldung.«

»Viel wird da auch nicht mehr kommen. Sollte wider Erwarten noch etwas Substanzielles eintrudeln, informierst du mich umgehend«, befahl Günzel, wollte etwas hinzufügen, da klingelt das Telefon erneut.

Der Major schnaufte verärgert, tat die Angelegenheit jedoch mit einer müden Handbewegung ab. »Spätestens heute Nachmittag kommen die Berichte der Kriminaltechnik rein. Dann ist alles komplett und ich schicke sämtliche Unterlagen zur Stasi.«

»Was ist mit dem Bericht des Rechtsmediziners?«, wollte Uwe wissen.

»Der geht direkt zur Bautzner Straße. Also meine Herren, 9 Uhr will ich die Berichte auf meinem Schreibtisch …«

Erneut unterbrach das klingelnde Telefon seine Ausführungen.

»Jetzt reichts!«, brüllte Günzel, sprang vom Stuhl und stürmte fluchend ins Vorzimmer.

Durch die offene Tür konnten seine Mitstreiter jedes Wort, das er in den Hörer schnauzte, verstehen.

»Deutsche Volkspolizei. Sollten Sie irgendwelchen Unfug veranstalten, sorge ich dafür, dass Sie bestraft werden. Was …?« Die Lautstärke seiner Stimme sank um mindestens 20 Dezibel. »Mit wem spreche ich überhaupt? Aha … Wie bitte …?« Es folgten mehrere Minuten völliger Stille, bis die Stimme des Majors wieder zu hören war. Inzwischen klang sie betroffen. »Moment, ich hole ihn.«

Völlig aufgelöst kam Günzel ins Büro zurück. »Uwe, für dich. Eine Frau Klügel. Es ist was mit Sabine passiert.«

Uwe flog förmlich ans Telefon. Da er leise sprach, konnten seine Kollegen nur Bruchstücke verstehen, die ihnen nichts über den Inhalt des Gesprächs verrieten.

Lange hielt der Major das nicht aus, neugierig spähte er ins Vorzimmer. Der Anblick seines wie versteinert dastehenden Kollegen, dessen Hände sich um die Tischkante krampften, ließ ihn das Schlimmste vermuten.

Nach einer Weile legte Uwe den Hörer auf die Gabel. Kreidebleich kam er zurück. »Ich muss los. Sabine ist überfallen worden …«

»Soll ich Verstärkung anfordern?«, unterbrach ihn der Major bestürzt.

»Nein. Soweit ich Frau Klügel verstanden habe, ist Sabine in ihrer Wohnung in Sicherheit. Ich …«

»Schon gut, mein Junge. Du kannst mir das alles später erzählen. Kümmere dich um deine Freundin.« Major Günzel nahm einen Autoschlüssel von seinem Schreibtisch. »Nimm den neuen Lada, damit bist du schneller … Vielleicht musst du Sabine fahren«, fügte er hinzu und umschiffte gekonnt die Wörter Arzt und Krankenhaus.

Gerührt nickte Uwe seinem Chef zu, hob die Hand in Ludwigs Richtung und spurtete aus dem Raum.

Günzel ihm nach. »Wenn du uns brauchst, ruf an! Und alles Gute für Sabine.« Sein kräftiges Organ hallte durch das gesamte Stockwerk.

9

Mein lieber Kai,

heute ist dein 14. Geburtstag. Mit Freude würde ich auf meine restliche Lebenszeit verzichten, könnte ich dir noch etwas wünschen. Dabei gibt es so viel, was man einem Jungen wie dir für sein kommendes Lebensjahr mit auf den Weg geben möchte: Spaß mit seinen Freunden, gute Leistungen in der Schule sowie Gesundheit. Obwohl die in deinem Alter eigentlich selbstverständlich sein sollte.

Das alles ist hinfällig geworden, denn ich habe die Wahrheit akzeptiert. Leicht ist es mir nicht gefallen. Letztendlich musste ich mich jedoch der Einsicht stellen, dass du tot bist. Die Logik ist gnadenlos. Einhundertvierzehn Tage ist es her, seitdem du verschwunden bist. Diese Zeitspanne ist zu lang, um einem naiven Optimismus nachzuhängen.

Im Gegensatz zu mir hat deine liebe Mutter die Hoffnung nicht aufgegeben. Verzweifelt klammert sie sich an die Wunschvorstellung, dich eines Tages wiederzusehen. Sie hat mir von ihrem Traum erzählt, dass du plötzlich in der Tür stehst. Dein schelmisches Grinsen im Gesicht. Strahlend vor Unbekümmertheit.

Insgeheim habe ich deine Mutter immer um ihre Zuversicht beneidet. Spielerisch hat sie es erreicht, ihre romantischen Vorstellungen vom Leben sicher durch den Strom der Jahre zu bringen.

Ich würde viel dafür geben, wenn es mir gelänge, die Welt ebenso freundlich zu betrachten. Aber du kennst deinen Vater, mein lieber Junge. Ich war schon immer ein Mann der knallharten wissenschaftlichen Fakten, die oft so unbarmherzig jegliche Illusion zerstören.

Doch ich will lieber von etwas Schönem schreiben, von deinem Geburtstag. Vierzehn Jahre alt wärst du heute geworden. Wir würden im kommenden Jahr deine Jugendweihe feiern. Du würdest deinen Personalausweis bekommen und in den Kreis der Erwachsenen aufgenommen werden.

Der erste Schultag nach meiner Jugendweihe steht mir immer noch deutlich vor Augen – und vor Ohren. Die Verblüffung, als Frau Rausch, unsere hübsche Klassenlehrerin, uns alle auf einmal siezte, werde ich nie vergessen. Ich brauchte mehrere Tage, bis ich mich an die neue Anrede gewöhnt hatte.

Es macht mich unendlich traurig, dass du all das nicht erleben darfst.

Weißt du noch, letztes Jahr zu deinem Geburtstag ging dein größter Wunsch in Erfüllung: ein Fußball aus Leder. Kein billiges Spielzeug aus Plaste. Ein richtiger Fußball, so wie ihn die Spieler von Dynamo übers Feld kicken. Wir zwei haben den neuen Ball natürlich sofort eingeweiht. Eine ganze Stunde hast du das Leder unermüdlich ins Tor gepfeffert, sodass es mir nur mit Mühe gelang, wenigstens zwei, drei deiner Schüsse zu halten. Erst das Machtwort deiner Mutter holte uns an die Kaffeetafel zurück.

Seit dem Tag, an dem du verschwunden bist, habe ich mir kein einziges Fußballspiel mehr angesehen. Ohne dich bereitet mir dieser Sport keine Freude mehr.

Doch nun will ich nicht länger um den heißen Brei herum schreiben und auf den Punkt kommen: Deine Mutter hat mich verlassen.

Sie sagte, sie bräuchte Abstand zu mir. Meinte, sie hätte es satt, sich von meinem Pessimismus runterziehen zu lassen. Sie saß bereits auf gepackten Koffern, als sie mich vor vollendete Tatsachen stellte. Ihre Worte hallten noch zwischen den Wänden, da fiel die Tür bereits hinter ihr ins Schloss.

Wenn du mich fragst, ich glaube, es war lediglich ein Vorwand. Sie wollte weg aus dem Dorf, raus aus unserem Haus. Sie hat es nicht geschafft, deine Abwesenheit zu ertragen.

Allein bin ich nicht geblieben. Kaum war deine Mutter fort, zog die Einsamkeit ein.

In den ersten Tagen habe ich versucht, mich durch Lesen abzulenken. Ich kann dir sagen, der Versuch ist gründlich nach hinten losgegangen. Ich saß im Sessel, ein Buch in der Hand, ohne den Inhalt zu erfassen. Ich schaffte es einfach nicht, mich zu konzentrieren. Meine Gedanken waren wie Vögel, sie flatterten ständig zu dir.

Um nicht in den Wahnsinn abzugleiten, fahre ich regelmäßig bei der Polizeiwache vorbei, um mich nach dem Stand der Ermittlungen zu erkundigen. Zuerst begegnete der Polizist mir mit Verständnis und Mitleid.

Als ob mir das weiterhelfen würde!

Nach mehreren Besuchen wandelte sich das Mitgefühl in Verärgerung. Ich solle ihn nicht bei der Arbeit stören, wenn es Neuigkeiten gibt, würde er mich schon informieren.

Na ja, du kennst ja deinen alten Herrn. Hartnäckigkeit ist eine meiner Tugenden. Natürlich hast du das anders gesehen. Vor allem bei meinen penetranten Fragen betreffs deiner Leistungen im Matheunterricht. Die genervte Miene des Polizisten erinnert mich sehr an deinen gequälten Gesichtsausdruck.

Zurück zur Arbeit unserer Sicherheitsorgane. Mit Ruhm bekleckert haben die Polizisten sich nicht gerade. Natürlich wurde eine Suchaktion durchgeführt. Drei Wochen lang hat man die Wälder mit Hundestaffeln durchkämmt. Jedes verlassene Haus, jede Kleingartenanlage, sämtliche Campingplätze sind nach dir abgesucht worden. Parallel zu diesen Aktionen erforschten Taucher alle Seen. Du weißt ja, davon gibt es eine Menge in unserer Gegend.

Zeitgleich klopften Kriminalpolizisten an sämtliche Türen unseres Dorfes und der umliegenden Gemeinden. Außerdem musste jeder bekannte Triebtäter im gesamten Bezirk Dresden sein Alibi für die Tatzeit nachweisen.

Sämtliche Maßnahmen blieben ohne Erfolg.

Die Ermittlungen begannen sich zunehmend im Kreis zu drehen und die Gesichter der Polizisten wurden von Tag zu Tag länger. Nichts entdeckten sie. Weder deine Leiche, noch bekamen sie einen Hinweis auf deinen Verbleib oder den Täter.

Nach und nach verringerte sich die Anzahl der Kriminalpolizisten. Vermutlich gab es Wichtigeres, als nach einem verschwundenen Dreizehnjährigen zu suchen. Zum Schluss blieb nur ein Oberleutnant aus Dresden übrig, der seine Zeit mit dem Lesen der Berichte zubrachte. Weitere vierzehn Tage später, verflüchtigte sich auch der.

Seit einer Woche ermittelt ausschließlich der für unsere Gemeinde zuständige Schutzpolizist in deinem Fall. Das ist der Bursche, dem ich alle zwei Tage gewaltig auf den Keks gehe.

Ich kann es spüren, wie er mich vertröstet und hinhält. Immer in der Hoffnung, ich würde bald Ruhe geben.

Vielleicht mache ich das, denn langsam bin ich es leid, ständig mit Lügen und Halbwahrheiten abgespeist zu werden. Die ganze Angelegenheit wird mir nämlich zunehmend suspekt. Dass die Polizei die Suche nach einem vermissten Jungen in relativ kurzer Zeit einstellt, ist nicht typisch für sie. Normalerweise verbeißen Kriminalisten sich in einen derartigen Fall, so lange bis sie den Täter gefasst haben.

In mir wächst der Verdacht, dass irgendjemand die Ermittlungen sabotiert. Diese Vermutung ist nicht konkret. Es ist nur ein vages Gefühl.

Bisher habe ich diesen Gedanken unterdrückt, da mir absolut kein Grund einfallen wollte, warum die Polizei von ihrem gewohnten Vorgehen abweichen sollte. Unsere Familie ist unbescholten. Weder haben wir einen Ausreiseantrag gestellt, noch engagieren deine Mutter oder ich mich in der Opposition.

Ich verspreche dir, mein lieber Kai, dass ich die Sache nicht auf sich beruhen lasse.

Wenn die Polizei nicht nach deinem Mörder sucht, werde ich es tun. Ich verfüge nicht über ihre materiellen und personellen Ressourcen, doch ich habe meine Möglichkeiten.

Sobald es etwas Neues gibt, schreibe ich dir.

Dein Papa, der dich ewig lieben wird

10

Ihren Plüschfuchs fest an die Brust gepresst, hockte Sabine in der hintersten Sofaecke und schaute Uwe aus verheulten Augen an. Zwei, drei Schritte seiner langen Beine brachten ihn zu ihr. Unbeachtet fiel das Plüschtier zu Boden. Wimmernd flüchtete sie sich in seine Arme. Sämtliche Dämme brachen und die ausgestandene Angst floss tränenreich von ihrer Seele.

Er ließ ihr die Zeit, die sie brauchte. Wiegte sie sanft und streichelte über ihr Haar.

Die Version der Nachbarin über die Geschehnisse kannte er bereits. Nicht wenig stolz auf ihre Leistung, einen Verbrecher in die Flucht geschlagen zu haben, hatte Herta Klügel ihn im Hausflur abgefangen und ausführlich berichtet.