Tod im Camper - Christiane Baumann - E-Book

Tod im Camper E-Book

Christiane Baumann

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Beschreibung

Kann Kommissarin Nora Graf sich ein Jahr nach dem Tod ihres Lebensgefährten auf eine neue Beziehung einlassen? Vorerst nimmt ein frischer Fall sie sehr in Anspruch: Ein Pizzafahrer liegt nachts tot auf einer Straße am Rande der Altstadt von Schwerin. Die Besteller der Pizzen bleiben hungrig. Was nach Verkehrsunfall mit Fahrerflucht aussieht, entpuppt sich als Mord durch ein ungewöhnliches Tatwerkzeug. Nora Graf und das Team um Chef Hansen glauben, das Motiv schnell gefunden zu haben. Sie fühlen sich bestätigt, als ein weiterer Mann ermordet wird, der sich vor Jahren an einer Frau vergehen wollte. Rächen sich jetzt Opfer von Sex-Tätern? Oder werden Männer umgebracht, einfach, weil sie Männer sind? Und wer steckte das Wohnmobil in Brand, mit dem ein Zeuge unterwegs war? Sollte auch er getötet werden?

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Impressum

Christiane Baumann

Tod im Camper

Nora Grafs vierter Fall. Der Schwerin-Krimi

ISBN 978-3-96521-833-8 (Buch)

ISBN 978-3-96521-834-5 (E-Book)

Umschlaggestaltung: Susanne Schiebler

Foto der Autorin: Olaf Scherer

Lektorat: Dr. Volkhard Peter

Ich danke Rechtsmedizinerin Dr. Verena Kolbe und Kriminalhauptkommissar Michael Schubbe für ihre Geduld, mit der sie meine Fragen beantwortet haben.

Dir, Jan, Dank für Deine Aufmunterung und die kritischen Hinweise.

Alle handelnden Personen und ihre Namen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind zufällig und nicht beabsichtigt.

Manche Örtlichkeiten und Gegebenheiten sind im Buch anders als in der Wirklichkeit.

Wie es begann

Den weißen Renault direkt vor dem Haus konnte die Frau mit dem Fahrrad vom Feldweg aus sehen. Das Auto war neuerer Bauart, und deshalb hielt sie sofort an. Henning rechnete mit seinem baldigen Ableben und sollte sich noch ein Auto gekauft haben? Nein, der Renault musste jemandem gehören, der unangemeldet bei Henning aufgetaucht war. Er hatte ihr versprochen, dass sie allein wären. Ein letztes Gespräch, bevor er sterben würde. Sie hatte seinem Drängen nachgegeben, jetzt bereute sie es fast. Sie wollte das Treffen schnellstmöglich hinter sich bringen. Henning Adieu sagen und nix wie weg. Doch nun musste sie warten, bis das Auto fortgefahren wurde.

Die Frau legte das Fahrrad hinter einer wild wuchernden Hecke ab und hockte sich leise fluchend daneben. Schon nach wenigen Minuten schliefen ihre Beine ein und die feuchte kalte Luft drang durch die Kleidung. Sie würde sich den Tod holen. Alles wegen Henning. Einem fast Fremden. Wenn sie ihm in all den Jahren irgendwo in Schwerin begegnet wäre, hätte sie ihn kaum erkannt.

Die Dämmerung senkte sich über die verlassene Landschaft. Ringsum war alles dem Verfall preisgegeben. Das Haus, die Scheune, selbst die Felder waren vernachlässigt und mit Gras und Unkraut überwachsen. Hier hatte seit Jahren kein Mensch mehr eine Hand gerührt. Wie konnte man in dieser Ödnis leben?

Endlich kam jemand aus dem Haus. Eine Frau. Was sollte das? Veranstaltete Henning heute ein allgemeines Abschiednehmen mit seinen Verflossenen? Am liebsten hätte sie kehrtgemacht. Sie beobachtete, wie die andere in den Renault stieg, ihn wendete und den schmalen Feldweg zur Hauptstraße zurück fuhr.

Dann spähte die Frau mit dem Fahrrad vorsichtig aus ihrem Versteck, vergewisserte sich noch einmal, dass niemand in der Nähe war. Niemand am Haus und niemand auf den umliegenden Feldern. In diesem alten Gemäuer war Henning aufgewachsen. Das Reetdach saß auf dem Haus wie ein Hut und schien es niederzudrücken. Bis hinein in die Erde. Hennings Eltern hatten es ihrem einzigen Sohn vererbt. An wen würde Henning, der lebenslange Einzelgänger, das Haus weitergeben? Würde überhaupt jemand solch eine Bruchbude haben wollen?

Nach allen Seiten Ausschau haltend, näherte sie sich. Behutsam drückte sie die Klinke runter. Die Tür war unverschlossen, eine Glocke schellte.

„Jördis? Hast du was vergessen?“ Ein Ruf aus den Tiefen des Hauses. Zweifellos Hennings Stimme, komisch, dass sie die wiedererkannte.

„Nein, ich bin‘s. Wir sind verabredet.“

Er schwieg, und sie hielt inne, bereit zur Umkehr. Dann erneut sein tiefer Bass. „Du, wie schön.“

Die Frau ging vom Flur in ein Zimmer mit niedriger Decke, das gut beheizt war. Henning lehnte in einem Sessel mit hoher Lehne, dessen Samtbezug durchscheinend geworden war. Der große kräftige Kerl, der Bauernsohn, war zu einem Schatten seiner selbst geworden. Sein genaues Alter war ihr zwar unbekannt, aber maximal war er fünf Jahre älter als sie. Also müsste er jetzt Ende vierzig sein. Zu jung zum Sterben.

Doch er sah aus wie in den Sechzigern, vorzeitig gealtert und ausgezehrt. In seinen Augen einst sprühende Lebensfreude, sie war erloschen. Über seinen dünnen Beinen eine Wolldecke. In Griffnähe beidseits je ein Tischchen. Auf dem rechten ein Handy und eine Unmenge Medikamente und Spritzen, auf dem linken eine Packung Taschentücher, eine Thermoskanne, eine bunte Keramiktasse mit dunkler Flüssigkeit und ein Glas Wasser. Kein Alkohol und keine Zigaretten mehr. Schräg vor ihm eine Stehlampe mit gelbem, in starre Falten gelegtem Schirm, die mattes Licht spendete. Hinter ihm massive Vitrinen, die bis zur Decke reichten. Gefüllt mit Geschirr, Kristallvasen und -gläsern. Er lebte mit den Möbeln und den Dingen seiner Großeltern.

Die Frau blieb im Türrahmen stehen. „Da bin ich.“

„Ich freue mich, dich zu sehen. Du bist kein Jahr älter geworden.“

„Du schon.“

Er nickte vorsichtig. „Entschuldige, dass ich nicht aufstehe, aber heute ist ein schlechter Tag für mich. Es gibt auch gute Tage, an denen ich rumhüpfe wie ein junger Spund.“ Er lachte kurz auf. „Wann war unsere letzte Begegnung?“

„Das weißt du genau.“

„Ja, meine Liebe. Ich erinnere mich.“ Er atmete schwer, und seine Stimme wurde spröder. „Wie bist du hergekommen?“

„Mit dem Fahrrad, wie du es wolltest.“

„Handy dabei?“

„Wieso fragst du?“

„Ja oder nein?“

„Nein.“

„Bist du Jördis begegnet?“

„Wenn das die Frau mit dem weißen Renault war, dann nein. Ich hab mich vor ihr versteckt. Wer ist sie?“

„Meine Schwester.“

„Du hast eine Schwester?“

„Zu meinem Glück, ja. Sie hilft mir. Nimm Platz, bitte.“

Mit dem Kopf wies er auf einen zweiten Sessel, kleiner und weniger schäbig.

Sie setzte sich, froh, dass sie ihm nicht die Hand schütteln musste. „Also, da bin ich, Henning. Was willst du von mir?“

„Direkt mit der Tür ins Haus. Das hat mir an dir gefallen. Seit sich meine vielen Krankheiten zu einer einzigen Katastrophe vereinigt haben, bin ich jetzt auch immer gleich bei der Sache. Keine Zeit fürs Palavern mehr.“

„Dann raus mit der Sprache. Was willst du? Warum musste ich unbedingt in diese Einöde kommen?“

„Weil wir hier absolut ungestört sind. Meist jedenfalls.“ Er versuchte zu lächeln, doch sein Gesicht verzerrte sich dabei zu einer Grimasse.

„Ich möchte dir zum Abschied ein Geschenk anbieten, meine Liebe.“

„Oh danke, das Haus mit all dem Plunder kannst du mit ins Grab nehmen. Ich verzichte.“

„Alles, was mir gehört, geht an Jördis. Sie kann damit machen, was sie will, es ist mir egal.“ Er unterbrach sich. „Ich will dir helfen, deinen Herzenswunsch zu erfüllen. Mit anderen Worten“, er schien einen plötzlichen Schmerz zu verspüren und hielt kurz inne, „ich will dir anbieten, dein Mittäter zu werden. Ein Mittäter, der dich niemals verraten kann. Sozusagen todsicher.“ Er grinste diabolisch. „Erinnerst du dich an unser Telefonat, auch wenn es schon länger her ist? Ich habe es nie vergessen und musste oft dran denken. Du?“

Sie schüttelte unmerklich den Kopf. Ein Zittern überfiel sie unwillkürlich, und sie bemühte sich, es zu unterdrücken.

Eine Bestätigung für ihn, dass auch sie dieses besondere Gespräch nie vergessen hatte. „Du wolltest Rache. Lass mich dir helfen. Meine letzte Bitte. In ein, zwei oder drei Wochen bin ich tot, oder auch früher. Jördis wird mich begraben.“

„Ich komme nicht zu deiner Beerdigung.“

„Ich bitte sehr darum. Dieses kleine Rendezvous ist unser letztes. Das Handy, mit dem ich dich angerufen habe, ist vernichtet. Keine Rückverfolgung möglich. Sei unbesorgt. Niemand weiß von uns. Die Fotos von euch habe ich längst verbrannt. Kommenden Montag in einer Woche wird mein Auto verschrottet. Es steht fahrbereit in der Scheune und wartet auf dich. Das Kennzeichen habe ich vor Jahren durch ein gestohlenes ersetzt.“ Das lange Reden hatte ihn angestrengt. Er fischte eine übergroße Tablette aus einer Schachtel und schluckte sie mit Wasser hinunter. Fragend sah er sie an. „Ich weiß, eine Woche ist knapp. Reicht dir das trotzdem?“

Die Frau starrte zurück. Was, wenn das alles eine Finte war? Wenn hinter Hennings Sessel ein Aufnahmegerät lief und er darauf lauerte, dass sie Ja sagte? Ja, ich will töten! Doch im nächsten Moment war sie über sich selbst verwundert. Wieso dieses Misstrauen? Henning würde schon bald tot sein, und er war kein hinterhältiger Mensch. Er würde sein Wort halten.

Um zu erfahren, was sie dachte, fragte er: „Du willst dich doch noch rächen? Oder soll der Mistkerl davonkommen? Ich habe mich über ihn informiert. Zeit habe ich ja genug, und in der Zeitung stand neulich dieser widerliche Artikel über ihn. Ich weiß, was er treibt, wo er arbeitet. Du sicher auch. Es dürfte nicht schwer sein, ihn abzupassen.“

Sie konnte keinen klaren Gedanken mehr fassen. Auf einmal war alles wieder da. Ihre Wut, ihre Angst, ihre Verzweiflung. Und der Wunsch nach Rache. Aber würde sie das wirklich schaffen?

„Mit wem hast du über mich geredet?“

„Mit niemandem.“

„Deine Schwester?“

„Sie hat absolut keine Ahnung.“ Er beugte sich im Sessel vor und versuchte, ihren Blick einzufangen und festzuhalten. „Es ist deine Entscheidung. Es würde mich jedenfalls freuen, wenn ich dir einmal in meinem Leben nützlich sein könnte. Mein Tod hätte einen Sinn.“

„Du bist verrückt.“

„Nie war ich klarer im Kopf. Und glaube mir, dies ist keine spontane Idee. Ich habe lange über alles nachgedacht. Doch nun hat es Eile. Nimm das Auto. Ich bitte dich sehr, nimm es.“

Blindlings rannte sie in den Flur hinaus. Doch als er sie bei dem Kosenamen rief, den er ihr damals gegeben hatte, stoppte sie. Direkt vor ihrer Nase eine kleine Hakenleiste an der Wand. Daran der Autoschlüssel. Wie ferngesteuert, streckte sie die Hand danach aus.

Kapitel 1

Als es gegen halb elf Uhr abends bei Jenny Wagner klingelte, hätte sie sich am liebsten taub gestellt. Gerade las sie einen Krimi, und dabei ließ sie sich ungern stören. Und wer sollte auch um diese Zeit zu ihr wollen? Mit ihren Freunden war sie für morgen, Freitag, verabredet. Vielleicht war es ein Klingelspaß, wie es öfter im Haus vorkam?

Es klingelte erneut; diesmal länger und scheinbar lauter. Jenny schlich auf Socken zur Wohnungstür und lugte durch den Spion. Sarah!Jenny öffnete und lächelte die Freundin an. „Das ist ja eine Überraschung.“

Sarah stürmte grußlos an Jenny vorbei in den Flur, heftig atmend, als wäre sie eine längere Strecke gerannt. Ihre Wangen waren rotgefärbt, und zwischen den Atemzügen stieß sie hastig hervor: „Entschuldige, dass ich dich überfalle, Jenny. Aber ich muss das unbedingt loswerden. Ich bin so was von geladen!“ Sie lief weiter ins Zimmer und ließ im Gehen den Mantel zu Boden fallen. Jenny hängte ihn auf und folgte ihr verwundert. Sarah war wie verwandelt. Sonst die Ruhe selbst, war sie total neben sich. Irgendwie aufgelöst, dachte Jenny. War selten, dass Sarah allein bei ihr auftauchte. Gewöhnlich trafen sie sich zu dritt, Dörte, Sarah und Jenny. Aber wenn Sarah etwas auf dem Herzen hatte, dann war sie, Jenny, die erste Anlaufstelle.

Sarah ließ sich auf die Couch fallen. „Wenn ich jetzt allein wäre, würde ich vor Wut platzen! Die muss aus mir raus, diese Wut. Verstehst du? Oder störe ich dich?“

Jenny ahnte, dass der Krimi würde warten müssen. Sie klappte das Buch zu und legte es beiseite. „Nein, nein, keineswegs. Ich hol was zu trinken, ja?“

Sarah schnappte sich ein Sofakissen und schlug mit einer Hand drauf ein. „Dieser Scheißkerl!“

„Wen meinst du?“

„Arne! Arne Witte! Kennst du den?“

„Nein.“

„Glück gehabt.“ Sarah verstummte und stierte vor sich hin.

Nachdem Jenny eine Flasche Weißwein geöffnet und zwei Gläser gefüllt hatte, setzte sie sich neben Sarah. „Erzähl. Was ist mit diesem Arne?“

Sarah nahm einen großen Schluck, bevor sie antwortete. „Ist eine alte Geschichte. Ich dachte ja, der lebt inzwischen woanders, tief im goldenen Westen, und ich seh den Scheißkerl nie wieder. Und jetzt treff‘ ich den in der Straßenbahn, und er tut, als ob er mich nicht kennen würde!“

„Ein Ex von dir?“

Entrüstet fauchte Sarah Jenny an. „Spinnst du! Ich und dieser Idiot? Ich hasse den!“ Sie wandte ihr Gesicht Jenny direkt zu. „Sag mal, habe ich mich in den letzten Jahren stark verändert?“

Klar, dachte Jenny, du bist älter geworden und ein wenig fülliger, deine langen blonden Haare sind der Schere zum Opfer gefallen und aus einer Laune heraus hellgrau gefärbt, und an den Augen zeigen sich erste klitzekleine Fältchen. „Wann habt ihr euch denn das letzte Mal gesehen?“, wollte Jenny wissen.

„Ziemlich lange her. Acht Jahre.“

„Na ja, da waren wir alle jünger.“ Sie hoffte, Sarah würde lächeln, umsonst. „Vielleicht lag es an deinen Haaren. Immerhin, grau.“

„Du hast gesagt, dass es mir steht.“

„Tut es doch. Das war die Wahrheit. Aber den Kerl hat es garantiert verunsichert.“

Sarah lachte hart auf. „Verunsichert war ich auch. Die Straßenbahn war leer. Arne hätte sich zehnmal woanders hinpflanzen können. Und welchen Platz wählt er? Ausgerechnet den mir gegenüber! Das war Absicht, oder? Und als Krönung schielt er die ganze Zeit an mir vorbei, als ob ich Luft wäre! Scheißkerl, verdammter! Ich könnte den umbringen!“

„Weil er an dir vorbeigeguckt hat?“

„Quatsch! Weil er mich vergewaltigen wollte!“

Erschrocken schoss Jenny in die Höhe. „Vorhin in der Straßenbahn?!“

„Vor acht Jahren!“ Sarah zog Jenny zurück auf die Couch. Das Kissen gegen ihren Bauch gedrückt, erzählte sie. „Ich hatte heute einen schönen Abend mit meiner Schulfreundin Margarete, die in Lankow wohnt. Wir schwelgten in Erinnerungen. Alte Fotos, alte Dates und so. Die Stimmung war super. Dann fuhr ich mit der Straßenbahn nach Hause. Mir fiel unser morgiges Treffen ein, und ich überlegte gerade, ob ich mehr Bier besorgen sollte. Neuerdings saufen ja Männer mit. Da passiert es. Am Platz der Freiheit steigt Arne ein. Dieses Gespenst aus der Vergangenheit. Und obwohl acht Jahre vergangen sind, dieses Gesicht würde ich unter Millionen erkennen. Prompt kommt diese Geschichte wieder hoch, die ich längst vergessen hatte. Jedenfalls habe ich das geglaubt. Es waren damals die schlimmsten Minuten meines Lebens. Ich habe mich gewehrt, habe mit Arne gekämpft, der war viel stärker als ich. War pures Glück, dass ich mich von ihm losreißen und retten konnte.“

„Das ist ja furchtbar“, sagte Jenny mitfühlend. „Wo ist das geschehen?“

Sarah hieb auf das Sofakissen ein. „Lassen wir die Einzelheiten. Das alles soll möglichst schnell wieder verschwinden. Hab auch bisher nie darüber geredet. Sag niemandem was davon, Jenny, versprochen?“

„Du hättest ihn anzeigen können, nein, du hättest ihn anzeigen müssen!“

Sarah sah sie erstaunt an. „Anzeigen?“

„Eine versuchte Vergewaltigung …“

„Wie hätte ich das beweisen sollen? Ich hatte getrunken, Arne war betrunken, und es gab keine Zeugen. Nee, das kam nicht infrage, den Stress habe ich mir erspart. Aussage gegen Aussage, du verstehst.“

„Trotzdem …“

„Nein! Ich habe dir das im Vertrauen erzählt, Jenny. Weil ich aufgeregt bin und reden muss. Das rumort in mir wie verrückt und ohne zu reden würde ich die ganze Nacht wach liegen. Deshalb bin ich zu dir.“ Sie senkte die Stimme. „Es weiß sonst niemand von Arne. Das alles bleibt unter uns, ja? Kann ich mich drauf verlassen?“

Jenny nickte und schenkte Wein nach. Sie verstand Sarah nur halb. Wieso bestand die so energisch darauf, dass keiner davon erfuhr? Jeder und jede sollte wissen, was dieser Mistkerl Arne ihr angetan hatte! Wenn ihr, Jenny, so was passiert wäre, hätte sie jedenfalls dafür gesorgt.

Sarah unterbrach die Stille. „Warum ist Arne wohl zurück in der Stadt? Wenn ich dem nun öfter begegne?“

„Dann kannst du ihm wenigstens mal ins Gesicht sagen, was für ein Arschloch er ist.“

„Oder ich bringe ihn um.“

Jenny lachte. „Ich helfe dir.“

„Wir drehen ihm den Hals um“, schlug Sarah vor.

„Nee, wenn schon, dann musst du dem den Schwanz abschneiden.“

„Schön wär‘s. Bin aber leider nicht als Rächerin geboren“, seufzte Sarah.

Sie schwiegen, tranken ab und zu einen Schluck und hingen ihren Gedanken nach. Jenny fühlte sich Sarah heute besonders verbunden. Es war das erste Mal, dass Sarah ihr ein sehr persönliches Geheimnis anvertraut hatte, obwohl sie sich seit Jahren kannten. Sie waren fast gleichaltrig, Sarah achtundzwanzig und sie dreißig. Was Männer betraf, lebten sie beide seit einiger Zeit allein, und wie sie schien Sarah keine übertriebenen Anstrengungen zu unternehmen, diese Situation zu ändern. Der einzige Unterschied war Tomas, Sarahs sechsjähriger Sohn. Na ja, und dass Sarah eine Ehe hinter sich hatte.

„Ist dir auch mal was passiert?“, fragte Sarah unvermittelt.

Ohne nachzudenken, wollte Jenny nein sagen. Doch plötzlich erinnerte sie sich. „Als ich vierzehn war, da hat mal ein Fremder seinen Schwanz vor mir entblößt. Er setzte sich mir gegenüber und holte ein Taschentuch für sein Sperma raus. Und ich doofe Pute hab erst im letzten Moment geschnallt, was vor sich ging.“ Jenny grinste leicht. „Es war auch in der Straßenbahn. Sie war fast leer.“

„Echt? Und was hast du gemacht?“

Jenny zuckte mit den Achseln. „Ich habe ihn finster angestarrt und bin an der nächsten Station ausgestiegen. Er war bestimmt sehr enttäuscht.“

„Und? Angezeigt?“

„Nee, leider. Ging ja alles so schnell. Und irgendwie war es mir peinlich.“

„Na super, wir beiden Feiglinge“, sagte Sarah.

„Am besten, man geht den Kerlen aus dem Weg“, resümierte Jenny.

„Ja, darin bist du fast perfekt. Wie galant du Malte auf Abstand hältst, ist schon gekonnt.“

„Malte?“ Jenny, leicht angetrunken, wandte sich aus ihrer halb liegenden Position hoch. „Ist was mit dem?“

„Mensch, Jenny, der ist total verknallt in dich.“

Jenny hatte durchaus bemerkt, dass Malte sich ihr gegenüber neuerdings viel aufmerksamer verhielt und ihre Nähe suchte. Er rief sie oft unter scheinheiligen Vorwänden an und schickte ihr Nachrichten aufs Handy. Ob sie Lust auf Kino hätte und dergleichen. Aber sie hatte das ignoriert.

„Mehr als verknallt“, verbesserte Sarah sich, „es hat ihn voll erwischt. Und wie findest du ihn?“

„Du übertreibst“, versuchte Jenny die Sache runterzuspielen. „Das geht vorbei, er wird sich wieder einkriegen.“

„Ich denke, er meint es ernst. Hat er nie was gesagt?“

„Lassen wir das Thema, ja?“

„Oh, ich schütte dir hier mein Herz aus, und du hüllst dich vornehm in Schweigen? Also, wie lange ist es her mit dem letzten Mann in deinem Leben?“ Herausfordernd stupste sie Jenny an.

„Hm“, machte die, „jedenfalls keine Ewigkeit.“

„Auf Dauer ist Single sein keine Lösung. Gib Malte eine Chance.“

„Okay, wenn du deinem Ex auch eine Chance gibst“, sagte Jenny lax dahin.

„Du wirst lachen, das habe ich vor. Für Tomas wäre es super, wenn wir wieder zusammenkämen.“

Es war nach Mitternacht, als Sarah sich von Jenny verabschiedete. „Danke, dass du für mich da warst. Und zu niemandem ein Wort über … du weißt schon.“

„Ich schweige wie ein Grab. Versprochen. Hoch und heilig!“

Kaum hatte sie hinter Sarah die Wohnungstür abgeschlossen, fuhr Jenny den Laptop hoch. Sie klickte auf die Datei mit dem Namen Mein Tagebuch, eine etwas hochtrabende Bezeichnung für die wenigen Worte, die das Besondere des Tages zusammenfassen sollten. Die Zeile für den Donnerstag war noch leer. Jenny schrieb: Sarah meint, Malte ist in mich verliebt. Lustige Vorstellung.

Kapitel 2

Berthold Hansen legte das Handy zielsicher auf der Stelle auf dem Nachttischchen ab, wo es vor dem Anruf gelegen hatte. Dafür konnte er beinahe unbeweglich auf dem Rücken liegen bleiben. Er spürte das Gewicht von Annes Kopf auf dem linken Arm und verwünschte seine Arbeit. Was, zum Teufel, gingen ihn die Toten an, jetzt, wo er sich lebendig fühlte wie selten zuvor in seinem Leben? Er seufzte. Das Wochenende fing beschissen an. „Ich muss los“, sagte er leise.

Anne räkelte sich. „Wieso immer du?“

„Ich bin nun mal der Chef.“ Die Kollegen hatten ihn über einen Unfall mit Fahrerflucht und einem Toten informiert. Gleichzeitig erfuhr er, dass Noras Handy ausgeschaltet war. Seit dem Tod von Thomas Weller, ihrem Lebensgefährten, hockte Nora nachts oft stundenlang im Auto vor Toms ehemaliger Wohnung auf dem Großen Dreesch. Heute auch? Bei allem Verständnis für sie, nach einem Jahr sollte die größte Trauer überwunden sein. Hansen nahm sich zum wiederholten Mal vor, ihr ins Gewissen zu reden.

Er schob Anne sacht, aber entschlossen von sich. Anne murrte etwas Unverständliches. Hansen richtete sich schwungvoll auf, knipste die Nachttischlampe an und blinzelte mit den Augen. Er genoss den Anblick: Eine Frau in seinem Bett. Eine, die er liebte und die seine Gefühle erwiderte. Wenn ihm jemand vor Wochen prophezeit hätte, dass er und Anne ein Paar würden, dass er, ein geschiedener Mann Anfang fünfzig, der jahrelang solo gewesen war, sich erneut verlieben würde … er hätte den Propheten für verrückt erklärt. Aber es war geschehen, und er wollte alles tun, damit es funktionierte und sie zusammenblieben.

Er strich Anne eine Haarsträhne aus dem Gesicht und drückte einen Kuss auf ihre Lippen. „Schlaf schön, Liebes. Es wird eventuell die Nacht über dauern. Also warte nicht auf mich.“

Er nahm ein frisches Hemd aus dem Schrank, Wäsche aus einer Kommode, schaltete das Licht aus und schloss behutsam die Schlafzimmertür hinter sich.

Mit Blaulicht wurde Hansen zur Stauffenbergstraße auf dem Großen Dreesch gefahren. Der Streifenwagen hielt hinter einem roten Mitsubishi, der in zweiter Reihe parkte. Hansen stieg aus und wechselte ins vordere Auto. Kaum saß er, blaffte er los: „Nora, was, zum Teufel, soll das? Willst du wieder die ganze Nacht hier rumsitzen? Das ergibt keinen Sinn. Wenn du es nicht schaffst, mit Toms Tod klarzukommen, dann nimm dir eine Auszeit, mach eine Therapie oder lass dich krankschreiben. Bei der Arbeit jedenfalls brauche ich dich ausgeruht und konzentriert. Das sage ich dir als dein Chef in aller Deutlichkeit! Lebe endlich wieder! Das hätte Tom auch gewollt.“

Jedem anderen als Hansen hätte Nora diese harschen Worte übelgenommen. Doch Hansen und sie waren Cousin und Kusine und standen einander nahe. Sie wusste, dass er recht hatte. Lebe wieder, Nora, nur wie?

„Lass Tom bitte außen vor, Berthold. Also, ich bin ganz Ohr. Was ist?“

„Verkehrsunfall mit Fahrerflucht und einem Toten.“

„Okay. Ich dachte schon, dieser überambitionierte Polizist wittert wieder einen Mord. Wie letzte Woche beim Treppensturz.Wie hieß er? Igor Heft?“

„Igor Diesterheft. Mir ist jedenfalls ein aufmerksamer Kollege lieber als einer, der nur auf seine Uhr schielt und den Feierabend herbeisehnt. Fahr los, Wittenburger Straße, Höhe Johannesstraße und Tempo.“

„Das ist kein Dienstwagen mit Sonderrechten.“ Trotzdem trat Nora aufs Gaspedal, die Straßen waren zu dieser nächtlichen Stunde eh fast leer.

„Wer hat den Unfall gemeldet?“, fragte sie.

„Womöglich ein Ausländer, war schwer zu verstehen.“

„Wer ist das Unfallopfer?“

„Es handelt sich um einen Pizzaboten.“

„Der Pizzas auslieferte?“

„Ja, mit dem Moped. Er wurde offensichtlich von einem anderen Fahrzeug angefahren.“

„Du meinst überfahren?“

„Nein, wenn ich die Kollegin richtig verstanden habe, ist der Mopedfahrer gestürzt, ohne überrollt zu werden. Das werden wir gleich selbst sehen.“

Nora wunderte sich zum wiederholten Male über den glatzköpfigen Mann neben ihr. Ihr Chef, fünf Jahre älter als sie. Nach seinem Herzinfarkt war er ein anderer geworden. Früher hatte er jede körperliche Anstrengung vermieden und in schwierigen Situationen den Beistand von Alkohol gesucht. Diese Zeiten waren vorbei. Heute war Hansen um etliche Kilo leichter, passte locker in seine Anzüge und wirkte frisch und energiegeladen. Er verzichtete komplett auf Alkohol und knabberte fast ständig an Mohrrüben, Salat und Äpfeln. In der Reha waren ihm die Grundregeln einer gesunden Lebensweise sicherlich eingehämmert worden, aber dass er sie so konsequent durchzog, imponierte Nora.

Kurz vor Mitternacht hielten sie am Unfallort in der Wittenburger Straße. Vor sich die übliche Ansammlung von Rettungswagen und Polizeiaufgebot. Absperrungen hielten Unbefugte und Gaffer fern. Hansen stieg aus und sprach mit Kollegen vom Kriminaldauerdienst, die den Erstangriff vorgenommen hatten und bereits über Informationen verfügten. Nora streifte sich Schutzhandschuhe über. Am Himmel sah sie tiefhängende blauschwarze Wolken, die neuen Regen ankündigten. Die Straßen waren noch nass von den Regenschauern, die vor wenigen Stunden über die Stadt hinweggefegt waren. Kräftiger Wind blies Nora ins Gesicht. Um ihr Haar zu bändigen, steckte sie es an der Stirn mit kleinen Klemmen fest.

Dort, wo die Johannesstraße und die Wittenburger Straße aufeinander trafen, war eine Sichtschutzwand um die Unfallstelle aufgebaut. Nora grüßte Kollegen von der Streife und betrat den abgesperrten Bereich. Kriminaltechniker sicherten Spuren, damit der Unfall rekonstruiert werden konnte.

Das umgestürzte Moped war dank der Transportbox und der Aufschrift ‚Pizza free‘ eindeutig als Pizzagefährt auszumachen. Schon beim ersten Hinsehen waren massive Schäden an der Hinterfront zu erkennen. Die mussten bei einem heftigen Aufprall entstanden sein. Neben dem Moped waren drei Pizzakartons und deren Inhalt verstreut, die beim Sturz aus der Box gefallen sein mussten.

Knapp eine Körperlänge vom Moped entfernt befand sich das Opfer, der Pizzafahrer. Der Mann war groß, kräftig gebaut und offenbar ein älterer Jahrgang. „Wie hat man ihn vorgefunden?“, fragte Nora Hansen, der zu ihr gekommen war.

„Bauchlage. Der Notarzt hat ihn umgedreht und den Helm abgenommen. Nach seinen Worten haben wir es mit einem nicht natürlichen Todesfall zu tun. Todesursache ist unklar. Der Unfall selbst hatte allem Anschein nach keine tödlichen Verletzungen zur Folge. Die Rechtsmedizinerin konnte auch keine mutmaßliche Todesursache nennen. Vielleicht hat sein Tod was mit diesem Ding hier zu tun.“ Er hielt Nora eine durchsichtige Beweismitteltüte hin. „Diesen leeren Insulin-Pen hat die Spusi schräg gegenüber in einem Müllkübel gefunden. Das Ding kann natürlich aus verschiedenen Gründen dort gelandet sein.“

„Aber es könnte mit dem Tatgeschehen zu tun haben. Hat die Rechtsmedizinerin etwas in der Richtung vermutet?“

„Der Pen wurde gefunden, als sie schon weg war. Wir haben von ihr die Aussage, dass der Tod zwischen neun und elf Uhr eingetreten ist. Der Notruf ging bei uns um 23. 13 Uhr ein. Deshalb nehme ich mal an, dass der Unfall nach zehn passierte.“

Nora richtete sich auf. „Reichlich spät für eine Pizza-Lieferung, oder?“

„Ist eine neue Firma“, meinte Hansen. „Die liefern sogar bis Mitternacht. Hatte kürzlich einen Werbeflyer von denen im Briefkasten.“

„Und vom Unfallgegner keine Spur?“

„So ist es. Leider bisher auch keine Zeugen zum Tatgeschehen. Vermutlich befuhr das Moped die Wittenburger runter Richtung Marienplatz und wollte links in die Johannesstraße abbiegen. Dabei kam es zum Zusammenstoß.“

„Wissen wir, wer das Opfer ist?“, erkundigte sich Nora.

„Diese Frage kann ich endlich mit ja beantworten. Wir haben Fahrerlaubnis und einen Perso. Niels Rohde, 53 Jahre alt, wohnhaft in Schwerin.“

„Verheiratet?“

„Bisher keine Info dazu.“ Hansen wies auf die rechte Hand des Toten. „Sieh hier die Abschürfungen. Er wollte sich abfangen. Ansonsten keine sichtbaren Verletzungen. Der Helm hat ihn geschützt.“

„Ja, aber tot ist er trotzdem“, bemerkte Nora.

Hansen prüfte den linken Arm. „Keine Uhr. Beim Sturz verloren? Ich lass noch mal alles absuchen. Sein Handy ist jedenfalls vorhanden und unbeschädigt.“

„Geldbörse?“

„Seine, ja. Die Einnahmen vom Verkauf, nein.“

„Also kommt Raub in Frage.“

Hansen schob skeptisch die Unterlippe vor. „So ein Theater wegen ein paar Euro? Kümmerst du dich um die Schaulustigen? Diesterheft kann dir helfen.“

„Vielen Dank für den Hinweis, Bert. Was wären wir ohne ihn.“

Noch während Nora die Handschuhe ablegte, kam Polizeikommissar Igor Diesterheft direkt auf sie zu. Ein kräftiger junger Kerl mit blondem Haar, groß und mit ausgeprägten Schultern. Er hatte ein breites Gesicht mit langer Nase und sinnlichen Lippen.

Diesterheft schritt aus, als hätte man ihn in eine Paradeuniform gesteckt. Vor Nora deutete er ein Kopfnicken an. „Guten Abend, Frau Hauptkommissarin. Haben Sie schon eine Theorie zum Unfallgeschehen?“

„Ich halte mich mit Theorien zurück, Kollege. Dafür wissen wir zu wenig.“

„Ich denke, hier könnte eine Tötungsabsicht vorliegen.“

„Oder es geschah ein Unfall, und der Verursacher ist in Panik geraten und deswegen geflohen“, entgegnete Nora, schon leicht von Igors Vorpreschen genervt.

„Haben Sie bemerkt, dass die Jacke des Toten oben am Hals aufgeknöpft war?“

„Wahrscheinlich, weil dem Fahrer zu warm war.“

Igor Diesterheft zeigte starke, gerade gewachsene Zähne, als er Nora breit anlächelte. Er setzte zu einer weiteren Erwiderung an, doch Nora fiel ihm ins Wort. „Wir kümmern uns um das Naheliegende, Kollege, die Befragung der Umstehenden. Hat jemand was beobachtet, warum ist er hier und so weiter. Sie kennen das. Ich möchte zuerst mit dem vermutlichen Ausländer sprechen, der den Notruf absetzte und den Unfall meldete.“

Igor Diesterheft wies auf einen Mann hinter der Absperrung, der sich etwas abseits hielt. „Der Schlanke dort im langen Mantel war es. Ist meiner Kenntnis nach ein astreiner Deutscher. Ich habe den Namen notiert, Stephan Pütz.“

„Danke.“ Sie wandte sich ab und fühlte sich plötzlich ungewohnt schlapp. Der Schlafmangel der vergangenen Tage rächte sich. Sie befürchtete einen Schwächeanfall, blieb stehen und atmete tief durch. Als es wieder besser war, steuerte sie auf den Anrufer zu. Bei ihrem Näherkommen nahm der Mann die Hände aus den Manteltaschen. Vor ihm stehend, schätzte sie ihn auf Ende vierzig und damit auf ihr Alter. Er war von schmaler Statur, aber nicht dünn. Sein Haar war wellig und grau, und eine längere Strähne wirbelte ihm ins Gesicht. Graublaue Augen schauten Nora argwöhnisch an.

Nora zeigte ihren Dienstausweis. „Kripo Schwerin, Nora Graf. Sie sind Stephan Pütz?“

„Ja, der bin ich.“

Kein Akzent, Pütz sprach Hochdeutsch. Wieso hatte die Kollegin in der Zentrale ihn für einen Ausländer gehalten? „Herr Pütz, Sie haben den Unfall gemeldet. Schildern Sie bitte, was Sie gesehen haben.“

„Gern. Ich sah dieses Moped umgestürzt auf der Straße, den unbeweglichen Mann am Boden und zwei Leute, die sich an ihm zu schaffen machten.“

Nora horchte auf. „Was genau taten diese Personen?“

„Sie hockten beim Unfallopfer mit dem Rücken zu mir. Ich habe laut gerufen ‚was ist los?‘, da rannten sie weg.“

„Wohin?“

„Diese Straße hier weiter hoch. Ich habe mich um den Verletzten gekümmert. War aber zu spät.“

„Sind Sie sich sicher, dass es zwei Personen waren?“

„Absolut. Eine Frau und ein Mann. Ich denke, es war ein junges Pärchen.“

„Wie kommen Sie darauf?“

Vergeblich versuchte er, mit einer Hand seine Haare zu bändigen. „In der Art wie sie aufsprangen und wie sie rennen konnten. Insgesamt, wie sie sich bewegten. Außerdem die Kleidung, Jeans, billige Kapuzenjacken in schwarz, alte Turnschuhe.“

„Gut beobachtet. Was ist mit den Gesichtern?“

„Fehlanzeige. Ging alles flott, und es war dunkel.“

„Haben Sie eventuell auch ein Fahrzeug bemerkt, das sich vom Unfallort entfernte?“

„Leider nein.“

„Darf ich um Ihren Ausweis bitten?“

„Ich habe ihn parat.“

Nora hielt das kleine Plastekärtchen in Richtung der aufgestellten Polizeilampen, um es lesen zu können. Stephan Pütz wurde am dritten März 1967 in Köln geboren. Also war er jetzt zweiundfünfzig; drei Jahre älter als sie selbst.

Sie gab ihm den Ausweis zurück. „Sie leben in Rösrath. Wo liegt das?“

„In der Nähe von Köln, Frau Graf. Ich habe auch eine Frage, wenn Sie erlauben. Sie sind von der Kripo. Wieso bearbeiten Sie einen Verkehrsunfall?“

„Es handelt sich um Fahrerflucht, und wir haben einen Toten. Ist normal, dass die Kripo übernimmt.“

„Ah, verstehe.“

Bisher hatte er sie ernst angesehen, jetzt lächelte er, und Nora lächelte spontan zurück. Doch gleich darauf besann sie sich und setzte eine strengere Miene auf. „Weshalb halten Sie sich in Schwerin auf?“

„Ich fahre als Tourist durch Ihr schönes Bundesland und bin vor zwei Tagen in Schwerin gelandet. Zum ersten Mal erlebe ich direkt solch einen tragischen Unfall. Ich bin schockiert.“

„Das tut mir leid. Sind Sie allein unterwegs?“

„Allerdings.“

„Wo kann ich Sie erreichen, wenn ich weitere Fragen habe? In welchem Hotel?“, fügte sie hinzu, denn sie fand ihn zu teuer angezogen, um in einer Pension abzusteigen.

„Kein Hotel. Mein Wohnmobil steht auf einem Platz, der an den Schloßgarten grenzt.“

Nora war erneut von dem Mann überrascht. Dieser fein angezogene Wessi drückte sich für einen Zeugen ungewöhnlich präzise aus. Und der zog mit einem Wohnmobil durch die Gegend?

„Und was wollten Sie in der Wittenburger Straße um diese späte Zeit?“

„So heißt diese Straße? Ja, was wollte ich? Schwer zu sagen. Ich wollte mich bewegen, vor dem Schlaf ein wenig Luft schnappen. Und ich schaue mir auch regelmäßig die Seitenstraßen an, da wo die Leute wohnen, nicht nur die herausgeputzten touristischen Attraktionen. Auf diese Weise lernt man eine Stadt besser kennen.“

„Schön. Das war‘s fürs Erste. Kommen Sie morgen bitte gegen neun in die Kriminalinspektion, damit wir Ihre Aussage aufnehmen können, Herr Pütz. Geht das in Ordnung?“ Nora gab ihm eine Karte mit ihren Kontaktdaten.

„Wenn ich helfen kann, sehr gern.“

Nora berichtete Hansen, was sie von Pütz erfahren hatte. „Wir müssen dringend dieses Pärchen ermitteln, Berthold. Hast du was Neues?“

„Die Lieferadresse für die letzte Fuhre vom Rohde. Eine Frau Sarah Jespe in der Johannesstraße hat kurz vor zehn fünf Pizzen bestellt. Es gab eine kleine Feier. Zwei aus der Runde hat Diesterheft gesprochen.“ Hansen deutete mit dem Kopf zu ihnen hinüber. „Die schwarz gekleidete Frau und ihr Begleiter dort gehörten zur Jespe-Fete, haben sich draußen die Beine vertreten, während sie ungeduldig auf die Pizzalieferung warteten. Vom Unfall selbst haben sie wohl kaum was mitbekommen. Sind zu morgen einbestellt.“

Nora blickte ebenfalls zu den beiden. Die Frau in Schwarz interessierte sich offensichtlich sehr für das Geschehen rund um den Unfallort. Der Mann wiederum hatte nur Augen für sie. Ab und zu richtete er ein Wort an seine Begleiterin, doch seine Bemühungen, ihre Aufmerksamkeit zu gewinnen, waren vergeblich.

Hansen klopfte Nora leicht an die Schulter. Ein Zeichen, dass er aufbrechen wollte. „Ich fahre zur Ehefrau Rohde, bevor sie aus dem Internet erfährt, dass ihr Mann tot ist. Ich nehme Diesterheft mit, du fährst nach Hause und legst dich ins Bett. Und das ist ein Befehl!“

Nora gab sich einsichtig. Sie wartete noch, bis alle notwendigen Arbeiten erledigt waren. Der Tote und sein Moped wurden abtransportiert, das Absperrband aufgerollt. Die Techniker packten ihre Utensilien zusammen, die Schaulustigen zerstreuten sich und mit ihnen verschwand auch der Zeuge Stephan Pütz. Nieselregen setzte ein, der Wind flaute ab. Nora entfernte die Klemmen aus ihrem Haar und ging zum Auto.

Kapitel 3

Jenny Wagner verfolgte, wie die herumliegenden Pizzakartons eingesammelt wurden. Der letzte Akt in dieser trostlos-traurigen Nacht, in der ein Mensch auf tragische Weise sein Leben verloren hatte. Noch dazu auf dem schmutzigen Asphalt. Von Leuten umgeben, denen sie im Grunde gleichgültig war, wollte Jenny nicht sterben, wenn es denn mal sein musste. Sie würde im warmen, weichen, sauberen Bett liegen, und jemand, der sie liebte, würde ihre Hand halten. Ihr Ehemann oder eins ihrer Kinder. Unbewusst seufzte Jenny auf. Wie kam sie denn auf einen Ehemann! Eine Freundin tat es auch. Die würde viel einfühlsamer sein. Männer wollten immer irgendetwas von einem. Wahrscheinlich auch, wenn man dabei war, diese Welt zu verlassen. Ein Schauer lief über Jennys Rücken. Der Tod hat uns berührt, dachte sie unwillkürlich. „Lass uns abhauen, Malte. Mir ist kalt.“ Schon lief sie los, ohne auf ihn zu achten. Malte hinterher: „Ich habe Hunger. Wollen wir zurück zu Sarah?“

„Nein. Ich habe doch mit ihr telefoniert. Dörte und Hans sind längst weg, Sarah wollte zu Bett gehen. Und ich habe jetzt auch keine Lust mehr auf Gequatsche. Bin müde. Zum Glück ist morgen Samstag, und ich kann ausschlafen.“

„Denkste! Wir müssen früh zur Kripo. Vergessen?“

„Weißt du, wo die sitzt?“

Malte passte sich Jennys Tempo an. „Hab das Kärtchen von dem Polizisten, da steht die Adresse drauf. Ist schon alles irre, oder?“ Er suchte Blickkontakt mit Jenny. Sie schüttelte sich, als würde sie furchtbar frieren. Malte legte einen Arm um sie. Jenny dachte an Sarahs Behauptung, dass Malte in sie verliebt sei.

Sie hatte Malte am Abend bei Sarah getestet und sich ihm gegenüber absichtlich spröde verhalten. Trotzdem war er beharrlich um sie herum geschlichen, hatte sie gemustert, wenn er dachte, sie würde es nicht merken. Er versuchte, ihre Wünsche zu erraten und hatte ihr Bier ausgetauscht, weil es ihr, frisch aus dem Kühlschrank, zu kalt war. Besonders war ihr aufgefallen, dass er verlegen wurde, wenn Kumpel Hans seine blöden Blondinen-Witze hinausposaunte. Er war ihr auf die Straße gefolgt, um gemeinsam mit ihr auf die Pizza-Lieferung zu warten. Er hatte sie gefragt, ob sie sich am Wochenende treffen könnten. Jenny war eine Antwort schuldig geblieben, aber nun würden sie notgedrungen Zeit miteinander verbringen. Bei der Kripo. Eventuell könnten sie danach irgendwo was essen, dachte Jenny, die seinen Arm eng an ihrem Körper fühlte. Es war ihr angenehm, wie sie überrascht feststellte. Sollte sie Malte eine Chance geben?

Sie überquerten den Marienplatz, liefen schweigend weiter die Helenenstraße runter und stoppten erst vor Jennys Haustür in der Schusterstraße. Sie kramte umständlich nach dem Schlüssel in der Handtasche und überlegte, wie sie es sagen sollte. Einfach fragen, ob er über Nacht bleiben wollte? Oder erst mal ein Bier anbieten? Ach, er war doch hungrig, und sie hatte tatsächlich Tiefkühlpizzen im Frostfach!

Jenny packte den Schlüssel und stellte sich vor Malte auf. „Und? Hast du Lust …“, begann sie, und als seine Augen funkelten, ergänzte sie: „… auf eine Pizza?“

„Keine Pizza. Da muss ich ja ständig an die Leiche denken. Aber eine Stulle wäre klasse.“

Malte aß zwei Scheiben Brot mit Jennys selbstgemachtem Apfel-Zwiebelschmalz und trank dazu ein Pils. Jenny nippte an einem Glas Weißwein und tippte ins Tagebuch: Freitag: Eine schreckliche Nacht. Habe zum ersten Mal einen Toten gesehen. Ausgerechnet den Fahrer, der uns Pizzas zu Sarah liefern sollte.

Sie blinzelte zu Malte hinüber. Er war groß und schlaksig. Seine braunen Haare waren von hinten ins Gesicht gestrichen, die Wangenknochen traten etwas hervor, Mund und Nase waren schmal. Mit seinen dreiunddreißig Jahren wirkte er immer noch sehr jugendlich, irgendwie unfertig, dachte sie. In seinen dunklen Augen hockte eine tiefe Unsicherheit. Aber seine Hände waren die eines Mannes, und Jenny stand auf Hände. Und eine Schulter zum Anlehnen bot er auch. Jenny war auf einmal froh, dass Malte bei ihr war. Sie fühlte seit langem wieder so etwas wie Sehnsucht und war erstaunt darüber. Sie schrieb: Bin froh, dass Malte bei mir ist, und ich will, dass er bleibt.

Jenny klappte den Laptop zu und setzte sich zu ihm. „Ich grusele mich, kann bestimmt nicht schlafen. Du?“

„Na ja, wenn du willst, bleib ich bei dir und übernachte auf der Couch. Du sollst keine Angst haben.“

Sie rückte an ihn ran. „Hast du früher schon mal eine Leiche gesehen?“

„Nein. Du?“

„Noch nie. Schrecklich, oder?“

„Hm.“ Er drehte die leere Bierdose zwischen den Fingern.

„Weißt du, was die meisten Menschen angeblich tun, wenn ihnen der Tod begegnet?“

Malte starrte konzentriert vor sich hin, als hätte er Angst, von ihr aufs Glatteis geführt zu werden.

Jenny schmiegte sich an ihn, dass er ihre Brüste spüren musste. „Sie retten sich in wilden Sex. Hab ich irgendwo gelesen. Wenn andere sterben, will man erfahren, dass man selbst am Leben ist.“

Nervös schielte Malte zu ihr, unfähig zu handeln.

Nach all den Monaten vergeblichen Werbens kann er nicht glauben, dass es so unkompliziert mit uns sein kann, wurde Jenny bewusst. Sie nahm ihm die Bierdose aus der Hand. „Malte. Ich muss jetzt dringend fühlen, dass ich lebe. Du auch?“

Kapitel 4

Nora wachte auf, es war Samstagmorgen. Ihr erster Blick fiel auf den kleinen Rosenquarz-Elefanten auf dem Nachttischchen. Ein Geschenk von Tom. Prompt stellte sich ein Schuldgefühl ein. Tom war ihretwegen gestorben. Weil sie sich blöd und unprofessionell verhalten hatte. Weil sie sich hatte wegschnappen und einsperren lassen. Und Tom sie ums Verrecken finden und befreien wollte. Man konnte es drehen und wenden, wie man wollte. Fest stand: Ohne sie und ihr dämliches Verhalten würde Tom leben.

Ihr ständiges Schuldgefühl vermochte auch Hansens Einwand kaum zu lindern, dass Tom sich freiwillig und im Alleingang in eine unübersichtliche und gefährliche Situation begeben hatte. Als Polizist hätte er sich der Gefahr bewusst sein müssen.

Klugscheißer, dachte Nora verärgert und spulte ihre Morgenroutine ab. Die dienstfreien Wochenenden waren seit Toms Tod schwer zu ertragen. Oft hatte sie keinen Schimmer, was sie mit der vielen Zeit anfangen sollte. Doch heute hatten sie Gott sei Dank einen Fall und damit Arbeit.

Nora bereitete sich Rührei zu. Als es ausreichend stockte, schob sie es von der Pfanne auf einen Teller. Sie nahm Schwarzbrot aus der Folie, bestrich es mit Butter und goss sich Tee ein.

Ihre Gedanken wanderten zum nächtlichen Unfall. Einiges war offen: die Todesursache von Rohde, das junge Pärchen, das beim Leichnam gehockt haben sollte, der flüchtige Unfallgegner, der mögliche Diebstahl von Armbanduhr und Geldeinnahmen. Und die am Hals aufgeknöpfte Jacke von Rohde. Ohne Diesterheft wäre ihr dieses Detail beinahe entgangen. Bei passender Gelegenheit wollte sie Hansen ein bisschen über den jungen Kollegen ausquetschen. Igors hohe Wangenknochen, das breite Gesicht und sein Vor- und Zuname deuteten auf einen russisch-deutschen Hintergrund hin.

Aber Pütz, fiel Nora ein, war ja auch ein ziemlich ungewöhnlicher Name. Sie startete eine Internetabfrage. Der Mann war seit langem geschieden und Besitzer einer Bäckereikette. Offenbar gehörte Stephan Pütz in Köln zu den sogenannten oberen Zehntausend. Was wollte so einer in Schwerin? Tatsächlich im Osten Urlaub machen? Und das im Oktober und im Wohnmobil?

Noras Handy klingelte, Antje.

„Schon aus dem Bett gekrochen?“, frotzelte Nora.

„Moin, Nora. Ich hab vom Unfall mit Todesfolge gehört. Ihr wollt heute Befragungen durchführen?“

„Hansen und ich übernehmen die. Du kannst dich wieder hinlegen.“

„Och, ich schau‘ mal vorbei. Bis gleich.“

Wochenendarbeit war auch Antje willkommen. Die junge Kollegin war seit einiger Zeit Single. Im Grunde war sie das, seit Nora sie kennengelernt hatte. Doch Antje hatte sich in der Dienststelle auf ein Verhältnis mit dem verheirateten Holger Klein eingelassen und sich dadurch weniger allein gefühlt. Nun war die Beziehung beendet, Holger war mit Frau und Kindern berufsbedingt nach Lübeck gezogen, und Antje erholte sich langsam von dieser Affäre. Soweit Nora es beurteilen konnte, war bisher kein neuer Mann an Antjes Liebeshorizont aufgetaucht.

Im Büro fuhr Nora den Computer hoch und tippte den Namen Niels Rohde ins System. Es gab einen Treffer. Niels Rohde war vor drei Jahren wegen sexueller Belästigung von einer Emilia Mahnke angezeigt worden. Die siebzehnjährige Fahrschülerin hatte Niels Rohde vorgeworfen, sie im Auto während einer Fahrstunde auf einer kurvigen Landstraße plötzlich am Busen und danach im Schritt angefasst zu haben. Sie habe sich darüber so heftig erschrocken, dass sie das Lenkrad verrissen, die Kontrolle über das Fahrzeug verloren habe und es mit einem Baum kollidiert sei. Emilia erlitt Verletzungen an den Beinen, Rohde blieb unverletzt. Er nannte den sexuellen Übergriff eine reine Erfindung von Emilia. Nach seiner Darstellung wäre der Unfall geschehen, weil Emilia seine Anweisungen missachtete, viel zu schnell in eine Kurve fuhr, deswegen von der nassen Fahrbahn abkam und gegen einen Baum krachte. Er behauptete, keine Chance zum Eingreifen gehabt zu haben.

Aussage stand gegen Aussage, und die Staatsanwaltschaft stellte das Verfahren mangels Beweisen ein. Zurück blieben eine vom Rechtsstaat enttäuschte junge Frau und die ihr Nahestehenden.

Die Bürotür wurde aufgestoßen, und Antje stürmte gewohnt laut ins Zimmer.

„Hallo, Nora!“

„Guten Morgen, Antje.“

Nora hatte die junge Kollegin von Anfang an gern gemocht. Das lag zum Teil sicher daran, dass Antje sie an ihre Tochter Daphne erinnerte. Beide waren in den Zwanzigern, groß geraten, weiblich gebaut und temperamentvoll. Auch frisurmäßig glichen sie sich neuerdings. Seit Holger Klein sich aus Antjes Leben verdrückt hatte, war ihre lange Mähne ab. Daphne hatte sich bereits vor Jahren für einen Kurzhaarschnitt entschieden.

Doch auch ohne diese Ähnlichkeiten schätzte Nora Antje wegen ihrer offenen Art. So hatte sich zwischen ihnen trotz des beträchtlichen Altersunterschiedes ein freundschaftliches Verhältnis entwickelt.

Antje legte Mantel und Tasche auf ihrem Schreibtisch ab und ließ sich auf den Stuhl vor Noras Schreibtisch fallen. „Erzähl bitte. Wie ist der Stand?“

Nora hatte Antje gerade mit den wichtigsten Fakten vertraut gemacht, als es klopfte. Ein Beamter vom Empfang wollte Stephan Pütz zu ihnen bringen. Nora trat auf den Flur, begrüßte Pütz, bat um einen Moment Geduld und schloss die Tür wieder. Vergeblich versuchte sie, Hansen telefonisch zu erreichen. Sie ging zum Fenster und schaute auf den Parkplatz. Dort stand ein neu und teuer aussehender Camper mit Kölner Kennzeichen. Nora winkte Antje zu sich. „Damit ist Stefan Pütz unterwegs, unser wichtigster Zeuge.“

„Mann, echt“, staunte Antje, „ist der Krösus? Was das Teil wohl gekostet hat?“

„Keine Ahnung. Um die hunderttausend, denke ich. Fangen wir beide mit ihm an.“

„Ohne den Chef?“

„Ja“, entschied Nora. „Die anderen Zeugen werden auch bald hier aufschlagen. Notiere bitte die Fakten fürs Protokoll, Antje.“

Nachdem die Arbeitsteilung klar war, holte Nora Stephan Pütz herein. Er hatte eine schwarze Jeans an, einen dunkelbraunen, am Hals randlosen Pullover und braune Lederschuhe. Über dem Arm trug er einen dunklen Wollmantel. Er trat selbstbewusst auf und musterte neugierig das Zimmer.

Nora stellte Antje vor, und während sich beide die Hände gaben, hängte sie seinen Mantel an einen Haken. Dann bot sie Pütz den Platz vor ihrem Schreibtisch an. Nachdem die notwendigen Formalitäten erledigt waren, kam Nora zum Thema.

„Herr Pütz, können Sie heute das Pärchen konkreter beschreiben, das Sie gestern Nacht beim toten Mopedfahrer beobachtet haben?“

„Leider nein, Frau Graf. Ich kann keine neuen Details nennen.“

„Haben Sie den Mann angefasst?“

„Das musste ich ja. Ich habe seinen Puls gesucht.“

„Haben Sie dazu seine Jacke aufgeknöpft?“

Pütz überlegte und schüttelte den Kopf. „Daran habe ich keine Erinnerung.“

„Nachvollziehbar. Sie haben richtig gehandelt.“ Nora lächelte verhalten. „Dann fasse ich zusammen. Korrigieren Sie mich, wenn ich etwas falsch darstelle. Sie haben einen Abend-, äh Nachtspaziergang unternommen. Kurz vor dreiundzwanzig Uhr liefen Sie die Wittenburger Straße entlang, sahen von fern ein umgestürztes Moped und seinen Fahrer auf dem Asphalt, dazu zwei Personen, vermutlich ein junges Pärchen, das sich über den Fahrer beugte. Beide bekleidet mit Jeans, schwarzen Kapuzenjacken und abgetragenen Sportschuhen.“

„Korrekt“, warf Pütz ein.

„Gesichter oder Haarfarbe konnten sie nicht erkennen. Oder?“

„Nur ungefähr, es war dunkel.“

„Sonst sahen Sie niemand Verdächtiges oder ein anderes Fahrzeug in der Nähe?“

„Nein.“

„Sie riefen das Pärchen an, woraufhin es flüchtete. Sie checkten, ob dem Pizzaboten zu helfen war und erkannten, dass er tot war. Wieso waren Sie sich in diesem Punkt sicher?“

„Ich mache alle zwei Jahre einen DRK-Kurs für Erste Hilfe. Natürlich bin ich kein Arzt, aber ich war überzeugt, dass jede Hilfe zu spät kommen würde.“

Nora dachte, dass Pütz sie veräppelte. Wer frischte schon alle zwei Jahre seine Erste-Hilfe-Kenntnisse auf? Sie schaute flüchtig zu Antje. Doch die zog anerkennend die Augenbrauen hoch.

Sei‘s drum, sagte sich Nora. „Als sie sich vergewissert hatten, dass der Fahrer tot war, riefen sie die 110 an. Das war um dreiundzwanzig Uhr dreizehn.“

„Wenn Sie es sagen. Ich habe nicht auf die Uhr geschaut.“

„Schön. Aber wieso hielt die Kollegin in der Zentrale Sie für einen Ausländer?“

Pütz lachte auf. „Wie bitte? Ich und Ausländer? Soll das ein Witz sein?“

„Haben Sie vielleicht absichtlich Ihre Stimme verstellt?“

„Wieso sollte ich?“ Pütz verstummte, sichtlich irritiert. Antje zog eine Miene, als wäre sie über Nora verärgert.

„Ach, jetzt weiß ich, Frau Kommissarin“, rief Pütz, „wenn ich sehr aufgeregt bin, und das war ich gestern Nacht über alle Maßen, dann falle ich schon mal ins Kölsche. Das versteht gewiss nicht jeder auf Anhieb.“ Auf Noras Blick hin fügte er hinzu: „Ich habe sicherlich Mundart gesprochen. Verstehen Sie die Texte von BAP oder die von den Höhnern?“

„Von wem?“, fragte Antje.

„Wolfgang Niedecken, Kölsch Rock, Verdammt lang her“, antwortete Nora leicht genervt.

Pütz grinste zustimmend. „Fast. Es heißt verdamp lang her. Und die Höhner?“

„Die Puhdys?“, versetzte Nora.

Pütz zog bedauernd die Schultern hoch.

„Fein, dann können wir das Musikgebiet verlassen. Sagt Ihnen der Name Niels Rohde etwas?“

„Nein. Ist das der Tote?“

„Ja. Haben Sie einen privaten Kontakt in Schwerin?“

„Leider, leider, niemand.“

Nora fragte ihn nach seiner Arbeit, obwohl sie laut Internet annehmen konnte, dass Stephan Pütz in keinem normalen Arbeitsverhältnis steckte.

Er wurde keineswegs verlegen. „Ich bin ein freier Mensch, in jeder Hinsicht. Ich bin …“, er wägte seine Worte ab, „nennen wir es selbstständig. Ein selbstständiger Handwerker.“

„Welche Sparte?“

„Bäckerei.“

„Sie sind Bäcker?“, fragte Antje erstaunt.

„Ich habe das Handwerk von der Pike auf gelernt, ja. Auf speziellen und ausdrücklichen Wunsch meines Vaters. Und ich habe es gehasst.“ Er unterbrach sich.

Nora dachte, er würde es bei diesem Einblick in sein Leben belassen, doch er sprach weiter.

„Mein Vater hat im Rheinland über Jahrzehnte eine große Bäckereikette aufgezogen. Ich war der einzige Sohn und sollte natürlich in seine Fußstapfen treten.“

„Was Sie getan haben“, warf Antje ein.

Er lächelte. „Ganz so konfliktfrei lief es nicht ab. Nach dem Abitur habe ich ein paar Semester Psychologie und Geschichte studiert. Na ja, wenn ich ehrlich bin, hat mich das Studentenleben mehr interessiert als alles andere. Ich habe mich in der Zeit selbst finanziert. Aber letztlich habe ich getan, was mein Vater von mir erwartete. Weil er erkrankte. Es war absehbar, dass er Unterstützung in der Geschäftsführung brauchen würde. Also habe ich das Handwerk gelernt und mich in die wirtschaftlichen Belange des Betriebes eingearbeitet.“ Etwas zögerlich fuhr er fort. „Mein Vater ist inzwischen verstorben, und ich sollte das Unternehmen weiter führen. Mit dem bedauerlichen Unfall hat das natürlich nichts zu tun.“

„So ist es“, sagte Nora. „Ich muss Sie bitten, sich zu unserer Verfügung zu halten und die Stadt vorerst nicht zu verlassen. Es könnten sich noch Fragen ergeben. Grad fällt mir eine ein. Sind Sie Diabetiker?“

„Komische Frage, aber nein. Und in der Stadt wollte ich sowieso ein Weilchen bleiben.“

„Fein. Warten Sie bitte draußen, dann können Sie gleich das Protokoll unterschreiben.“

Er stand auf und holte sich den Mantel. Bevor er den Raum verließ, nickte er Antje zu und suchte Blickkontakt mit Nora. „Auf Wiedersehen, Frau Graf.“

„Auf Wiedersehen.“

Kaum waren sie unter sich, sprudelte Antje drauf los. „Super Typ. Selbstsicher, intelligent, attraktiv, und das alles als Bäcker. Wenn er jünger wäre, könnte ich mich glatt in den verlieben.“

„Dann vergiss sein Alter und ran an den Mann. Er ist geschieden.“

„Reich und geschieden … Ich würd den trotzdem nehmen.“

„Der super Typ wartet auf das Protokoll, Antje.“

Inzwischen war Hansen eingetroffen und rief Nora zu sich ins Büro. Auch nach der kurzen Nacht wirkte er auf sie erstaunlich fit und war gut gelaunt. Er hörte sich an, was sie über Pütz berichten konnte.

„Er ist Inhaber einer Bäckereikette? Ein reicher Wessi-Schnösel? Will der hier etwa Geschäfte machen?“, argwöhnte er.

„Wenn seine Geschichte stimmt, ist er ein normaler Tourist. Vielleicht langweilt er sich in Köln, oder er will endlich den Osten entdecken. Den Einträgen im Internet zufolge ist er seit über zwei Jahrzehnten geschieden, hat eine erwachsene Tochter. Fotos zeigen ihn auf Partys mit Frauen. Na ja, das Übliche. Das Einzige, was mich an Pütz‘ Aussage etwas misstrauisch macht, ist das Pärchen, das an der Leiche hantiert haben soll. Das könnte eine Schutzbehauptung sein. Sollen wir ihn genauer überprüfen?“

„Wirbeln wir erst mal keinen Staub auf. Der Mann gehört wahrscheinlich zur Kölner Prominenz, ich will keinen Ärger seinetwegen. Oder siehst du das anders?“

„Nein. Wann rechnest du mit dem Obduktionsergebnis zu Rohde, Berthold?“

Hansen wurde etwas griesgrämig. „Schlechte Nachricht. Die Rechtsmedizinerin hat einen Trauerfall in der Familie, und der Ersatz kann erst morgen kommen. Also, die Todesursache kennen wir frühestens Montag.“

„So ein Mist! Kann denn niemand anderes diese Obduktion übernehmen? Diese Warterei ist ja zum Mäusemelken!“

„Leider nicht zu ändern. Die Anzeige gegen Rohde – du bist auf dem Laufenden?“

„Ja, schlimme Geschichte.“

„Sicher. Das meinte ich allerdings weniger. Der Tathergang …“

„Schon klar, Berthold. Ein Fahrlehrer, der eine Fahrschülerin sexuell belästigt hat, wird von einem Auto zu Fall gebracht. Ein erstklassiges Motiv für die Fahrschülerin. Aber ein wenig zu offensichtlich, oder?“

„Du könntest deine Wartezeit nutzen, um dich umfassender über den Missbrauchsvorwurf zu informieren. Immerhin ein Motiv. Und irgendwo müssen wir ja anfangen.“

„Okay, Chef. Und wie hat Ehefrau Rohde die Nachricht vom Tode ihres Mannes aufgenommen?“