Tod im Chiemgau - Mathias Lehmann - E-Book

Tod im Chiemgau E-Book

Mathias Lehmann

0,0

Beschreibung

Ein packender Kriminalroman voller Intrigen und Rätsel: Zehn Jahre ist es her, dass Hans, der beste Freund von Bergführer Toni Hauser, beim Sturz in eine Schlucht tödlich verunglückte. Damals hat Toni seinen Heimatort Reit im Winkl verlassen, nun kehrt er zurück. Doch die Vergangenheit ruht nicht, im Gegenteil: Jemand scheint Toni nach dem Leben zu trachten. Er überlebt nur knapp einen Mordanschlag. Mit Hilfe von Kommissarin Roxana Mayrhofer versucht Toni, die Fäden zu entwirren und die Frage zu beantworten, die ihn seit Jahren umtreibt: War Hans' Tod wirklich ein Unfall, oder sollte damals womöglich er selbst sterben?

Sie lesen das E-Book in den Legimi-Apps auf:

Android
iOS
von Legimi
zertifizierten E-Readern
Kindle™-E-Readern
(für ausgewählte Pakete)

Seitenzahl: 352

Das E-Book (TTS) können Sie hören im Abo „Legimi Premium” in Legimi-Apps auf:

Android
iOS
Bewertungen
0,0
0
0
0
0
0
Mehr Informationen
Mehr Informationen
Legimi prüft nicht, ob Rezensionen von Nutzern stammen, die den betreffenden Titel tatsächlich gekauft oder gelesen/gehört haben. Wir entfernen aber gefälschte Rezensionen.

Beliebtheit




Mathias Lehmann wurde 1968 in Berlin geboren und wuchs in Lübben im Spreewald auf. Nach Ausbildung, Abitur und Studium lebt er heute als selbstständiger Tragwerksplaner mit Familie, Hund und Katze in einem Vorort von Magdeburg. Bücher waren schon als Kind sein liebstes Hobby, das Schreiben spannender Geschichten ist inzwischen seine Leidenschaft. Als Liebhaber der Berge verbringt er jedes Jahr mehrere Urlaubswochen in den Alpen und hat auch die Handlungen seines Kriminalromans in dieser Gegend angesiedelt.

Dieses Buch ist ein Roman. Handlungen und Personen sind frei erfunden. Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen sind nicht gewollt und rein zufällig.

© 2024 Emons Verlag GmbH

Alle Rechte vorbehalten

Umschlagmotiv: mauritius images/Wolfgang Diederich/Alamy/Alamy Stock Photos

Umschlaggestaltung: Nina Schäfer, nach einem Konzept von Leonardo Magrelli und Nina Schäfer

Umsetzung: Tobias Doetsch

Lektorat: Julia Lorenzer

E-Book-Erstellung: CPI books GmbH, Leck

ISBN 978-3-98707-170-6

Originalausgabe

Unser Newsletter informiert Sie

regelmäßig über Neues von emons:

Kostenlos bestellen unter

www.emons-verlag.de

Dieser Roman wurde vermittelt durch die Literaturagentur Buchplanung Berlin – Nina Wegscheider.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

Schließlich verschmelzen alle Dinge zu einem, und aus der Mitte entspringt ein Fluss. Der Fluss entstand durch die große Weltenflut, und er fließt über Felsen aus dem Urgrund der Zeit. Auf manchen Felsen sind zeitlose Regentropfen. Unter den Felsen sind die Worte, und manche der Worte sind bei den Felsen.

Ich werde von Wassern verfolgt.

Norman Maclean, »Aus der Mitte entspringt ein Fluss«

PROLOG

Der Morgen war wunderschön. Die Sonne ließ sich zu dieser Jahreszeit schon etwas länger Zeit, doch wenn sie schließlich verschlafen zwischen den Gipfeln der Chiemgauer Alpen auftauchte, sorgte sie für dieses gedämpfte Flair, das Toni am Spätsommer so mochte. Alles wurde stiller, und obwohl man ihn nicht sehen konnte, spürte man bereits den Herbst, der sich anschickte, den Farben der Natur ihre sommerliche Kraft zu nehmen. Toni liebte den morgendlichen Nebel über den Wiesen, der sich in dunstigen Schwaden in die Höhe zog, den Schnee auf den Bergen am Horizont ebenso wie die winzigen Flugzeuge am wolkenlosen Himmel, die weiße Streifen malten.

Die asphaltierte Straße wurde ein Stück hinter den letzten Häusern des Ortes zu einem steilen, nach ein paar Kilometern jedoch wieder seichter verlaufenden unbefestigten Weg. Kraftvoll arbeitete sich der allradgetriebene Suzuki Jimny die kurvenreiche Strecke entlang, bis hin zu einem kleinen Plateau, von dem nur noch ein Wanderpfad weiter den Berg hinaufführte. Toni stellte den Motor ab und schaute auf die Uhr. Wie immer war er früh dran, zehn Minuten vor der vereinbarten Zeit. Er hatte kein Problem damit, auf andere zu warten, aber er hasste es, wenn er selbst sich verspätete. Diesmal war es zwar nur sein bester Freund Hans, mit dem er sich zu dieser Tour zum Gipfel des Dürrnbachhorns verabredet hatte, doch das änderte nichts an seinem Hang zur Pünktlichkeit. Hans würde wahrscheinlich zehn Minuten zu spät hier auftauchen. Auch wie immer.

Toni stieg aus dem Fahrzeug, ging an den Rand des Plateaus und streckte seine Glieder. Ein Käuzchen grüßte aus der Ferne, ein Specht hämmerte in der Nähe. Die Luft war von kühler Frische, und der Blick über das spätsommerliche Tal entschädigte ihn für die kurze Nacht. Im Morgengrauen zu gehen war einfach am schönsten, man war fast immer allein und der Tag noch jung und unverbraucht. Viele Wanderer würden sowieso nicht unterwegs sein, es war Nachsaison, die Sommerferien waren zu Ende und die meisten Urlauber aus Reit im Winkl wieder abgereist. Der kleine Ort im Chiemgau an der Grenze zu Österreich mit seinen zweieinhalbtausend Einwohnern würde für kurze Zeit zur Ruhe kommen, bevor die Wintersaison ihm wieder Leben einhauchte.

Toni ließ den Blick die Bergstraße entlangschweifen, Hans war noch nicht zu sehen. Er ging zurück zum Auto, holte seinen Rucksack und überprüfte noch einmal dessen Inhalt. Verpflegung, ein Erste-Hilfe-Set, eine wetterfeste Jacke – alles dabei. Die Route zum Dürrnbachhorn galt zwar als schwierige Wandertour, großartig klettern würden sie aber nicht müssen. Daher hatte er seine Kletterausrüstung zu Hause gelassen und lediglich ein Seil für den Notfall eingepackt, denn in den Bergen wusste man nie, was einen erwartete. Das hatte Toni in den bisherigen dreiundzwanzig Jahren seines Lebens, in denen er in dem Bergtour-Unternehmen seiner Eltern fast täglich mit dem Wandern und Klettern konfrontiert war, verinnerlicht.

Wieder ein Blick auf die Uhr, Hans müsste bald auftauchen. Und tatsächlich, aus der Ferne näherte sich das Geräusch eines Fahrzeugs, das Toni nur allzu gut kannte. Es war mehr ein raues Rattern als ein vertrauenswürdiges Motorbrummen, und er war sicher, dass die betagte Karre in absehbarer Zeit den Geist aufgeben würde. Kurz tauchte der silberfarbene Subaru Forester in seinem Blickfeld auf, bevor er wieder hinter einer Biegung verschwand. Toni lächelte, während er den Rucksack zuzog. Hans war heute in der Tat pünktlicher als üblich.

Das Motorgeräusch kam näher, und der Subaru war hin und wieder zwischen den Bäumen zu sehen. Toni runzelte die Stirn. Hans war zwar ein Draufgänger, aber unvorsichtig war er noch nie gewesen. Also sollte er auf dem abschüssigen Straßenstück, auf dem er sich gerade befand, besser ein bisschen vom Gas gehen. Er wusste doch, dass die Abhänge am Rand der Bergstraße steil und tief waren. Sekunden später erschien der Subaru hinter der letzten Biegung, und Toni hielt die Luft an. Das Fahrzeug schleuderte mehr um die Kurve, als dass es rollte. Loses Gestein spritzte zur Seite, der Motor röhrte unnatürlich. Verdammt, Hans musste doch klar sein, dass die Fliehkräfte bei dieser Geschwindigkeit viel zu groß für diese enge Kurve waren.

»Du bist zu schnell!«, schrie Toni und lief seinem Freund entgegen. Der Berghang war bereits gefährlich nahe, und er konnte erkennen, wie Hans verzweifelt am Lenkrad riss, um den Subaru zurück in die Spur zu bringen. Die Blicke der Freunde trafen sich, und Toni nahm Todesangst in Hans’ Gesicht wahr. Im nächsten Moment brach das Heck des Autos aus, und die Hinterräder rutschten über die Kante. Erbarmungslos wurde das Fahrzeug in den Abhang gedrückt, Gestein löste sich und fiel hinunter. Das Auto neigte sich mehr und mehr, und für Sekundenbruchteile sahen sich Toni und Hans in die Augen. Dann verloren die Räder den letzten Halt, der Subaru wurde von seinem eigenen Gewicht in die Tiefe gerissen.

Wie gelähmt starrte Toni auf die Stelle, an der das Auto eben noch mit dem Berg gekämpft hatte. Grelle Bilder schossen in kurzen Abständen durch seinen Kopf. Er und Hans, wie sie sich vor vielen Jahren kennenlernten und nicht mochten. Er und Hans, wie sie allen Widerständen zum Trotz vor fünf Jahren Freunde wurden. Er und Hans, wie sie große Pläne schmiedeten.

Mit einem furchtbaren Krachen schlug der Subaru auf und holte Toni in die Realität zurück. Er sackte auf die Knie und kroch an den Rand des Steilhangs. Staubschwaden umgaben das zerbeulte Fahrzeug, das sich dreißig Meter unter ihm zwischen zwei Bäumen verkeilt hatte. Flammen loderten aus dem offenen Motorraum, und schwarzer Rauch zog zu ihm herauf.

»Mein Gott«, flüsterte Toni, gleichzeitig zwang er sich, rational zu denken. Irgendwie musste er da hinunter, solange noch ein Funken Hoffnung bestand, dass sein Freund lebte. Das Seil in seinem Rucksack kam ihm in den Sinn, und wenig später hatte er es um einen einsamen Baum auf der anderen Seite der Straße geschlungen. Da zerriss eine Explosion die Luft, Toni fuhr herum und kroch voller Panik zurück zum Abhang. Der Subaru stand jetzt vollkommen in Flammen. Aber wie konnte das sein, Autos explodierten doch nur im Film! Dann fiel ihm die Propangasflasche ein, die er gestern für seinen Gasgrill gekauft hatte und die sich noch in dem Auto befand.

Auf dem Boden kniend schlug Toni die Hände vor das Gesicht, legte den Kopf in den Nacken, und seiner Kehle entwich ein Schrei, der so voller Schmerz war, dass es ihm beinahe den Brustkorb zerriss. Verbissen weigerte er sich, das Offensichtliche zu akzeptieren, aber er wusste es: Hans war tot. Voller Resignation schüttelte er den Kopf. Hätten wir doch bloß nicht die Autos getauscht.

Die Verzweiflung sog sämtliche Kraft aus Tonis Muskeln, und während sein Kinn auf die Brust sackte, schlich sich eine Ahnung in seinen Kopf. In diesem Moment wusste er nicht, ob es nur ein Bauchgefühl war oder Instinkt, womöglich Intuition. Was es auch war, es blieb eine Frage: War es wirklich ein Unfall gewesen?

1

Zehn Jahre später

Es war Dienstagnachmittag Ende August, als der RE5 von München nach Salzburg in den Traunsteiner Bahnhof einfuhr. Nur wenige Fahrgäste stiegen aus, die meisten waren unterwegs nach Salzburg, wo die alljährlichen Mozart-Festspiele in vollem Gange waren. Der Zug fuhr weiter, und Toni stellte seinen prall gefüllten Wanderrucksack auf eine Bank, um seine Schuhe zu schnüren. Die hatte er irgendwann auf seiner Reise von Füssen nach Traunstein ausgezogen, um es sich auf den Sitzen bequem zu machen. Er war eingenickt und verdankte es nur der Aufmerksamkeit einer älteren Dame, der er von seinem Reiseziel erzählt hatte, dass er im letzten Moment in die Schuhe hinein- und aus dem Zug hinausspringen konnte.

Mit zwanzigtausend Einwohnern war Traunstein ein überschaubares Städtchen am Rand der Alpen. Zehn Jahre Abwesenheit war zwar eine beträchtliche Zeit, jedoch nicht lang genug, um den Weg vom Bahnhof zum Klinikum zu vergessen. An einem Kiosk kaufte Toni noch einen Strauß Blumen, um nicht mit gänzlich leeren Händen am Krankenbett seines Vaters zu erscheinen.

Der Anruf seiner Mutter Greta war vor einer Woche gekommen. Sie meinte, der Krebs habe sich bei Frank nicht angekündigt. Jäh und heftig sei er auf einmal da gewesen. Die Ärzte hielten sich bedeckt, was nicht unbedingt Gutes bedeute. Auch wenn Toni und sein Vater vor vielen Jahren im Streit auseinandergegangen waren, so hoffte er ehrlichen Herzens, dass der Krebs im Kampf um das Leben den Kürzeren ziehen würde.

Am Telefon hatte seine Mutter ihn gebeten, sofort zu kommen, doch Tonis Arbeitsvertrag als Bergführer bei einem Urlaubshotel in Füssen war noch eine knappe Woche gelaufen. Seit zehn Jahren hangelte er sich mehr schlecht als recht mit Gelegenheitsjobs dieser Art durchs Leben und konnte es sich nicht leisten, vorzeitig zu kündigen. Natürlich hatte er nach dem Anruf darüber nachgedacht, letztlich aber entschieden, die paar Tage noch zu warten.

Als Toni mit seinem Rucksack auf dem Rücken und dem Blumenstrauß in der Hand die Krankenhauskapelle der Klinik passierte, warf er einen Blick durch die offene Tür. Er konnte den Altar mit der Jesusfigur erkennen und zwei Personen, die auf einer Bank davor saßen. Die beiden, ein Mann und eine Frau, hatten ihm den Rücken zugewandt, doch Toni verlangsamte seinen Schritt. Einen unschlüssigen Moment zögerte er, dann trat er ein. Das Paar drehte die Köpfe in seine Richtung, und obwohl Toni es schon geahnt hatte, stockte ihm der Atem. Er starrte in die von Kummer gezeichneten Gesichter seiner Mutter und seines acht Jahre jüngeren Bruders Florian. Der Blumenstrauß entglitt seiner Hand und landete mit einem leisen Rascheln auf dem Steinboden. Flo erhob sich und kam ihm entgegen. Greta sah ihm nur mit steinerner Miene in die Augen.

»Was ist passiert?«, flüsterte Toni, nachdem Flo ihn flüchtig umarmt hatte. Natürlich konnte er sich die Antwort denken.

Flo seufzte. »Er ist heute Morgen nicht mehr aufgewacht.«

Toni schloss die Augen. »So schnell? Wie kann das sein?« Er hatte immer gehofft, sich mit seinem Vater irgendwann aussprechen zu können, schließlich war er damals nicht aus freien Stücken gegangen. Nun war es zu spät. War dieser blöde Arbeitsvertrag in Füssen wirklich so wichtig gewesen? Sein Blick glitt zu seiner Mutter, die jetzt mit langsamen Schritten zu ihm herüberkam.

Greta Hauser war eine schlanke Frau Ende fünfzig, aber man sah ihr das Alter kaum an. Das brünette Haar war mittlerweile von grauen Strähnen durchzogen, trotzdem trug sie es lang und lockig, und es stand ihr. Sicher, ein paar Falten im Gesicht waren dazugekommen, und sie versprühte eine Aura, die ihre Reife erahnen ließ, aber das war es auch schon. Sie umarmte ihren Sohn nur kurz. »Er hat sich so sehr gewünscht, noch einmal mit dir reden zu können«, sagte sie mit brüchiger Stimme.

Deutlich hörte Toni den Vorwurf darin und schluckte. »Mein Job …«

»Ist mir vollkommen egal«, unterbrach ihn seine Mutter. »Dein Vater war todkrank, und du versteckst dich hinter einem Gelegenheitsjob.«

Toni wollte sich nicht streiten, schon gar nicht an diesem Ort und in solch einer Situation. »Es tut mir leid«, sagte er.

»Du hast uns damals im Stich gelassen, Toni«, erwiderte Greta leise. »Und jetzt war dir selbst die Erkrankung deines Vaters egal.«

»Das ist nicht fair«, entgegnete Toni.

Greta schüttelte den Kopf. »Du hättest zumindest gleich kommen können, als ich dich vor einer Woche über seinen Zustand informiert habe. Die Beisetzung ist am Donnerstag, vielleicht schaffst du es ja diesmal, anwesend zu sein.«

»Das ist ja schon übermorgen«, wunderte sich Toni.

»Bei Erdbestattungen geht es eben schnell«, erwiderte Greta trocken. »Dein Vater wollte es so, und die Ärzte und Behörden haben grünes Licht gegeben. Um elf auf dem Friedhof in Reit im Winkl.« Sie fasste Florians Handgelenk. »Komm, wir fahren nach Hause. Dein Bruder wird schon irgendwo eine Bleibe finden.«

Flo zuckte mit den Schultern und hakte seine Mutter unter. »Bis dann«, raunte er Toni zu. Es war offensichtlich, dass er sich trotz des traurigen Anlasses freute, ihn zu sehen.

Als Toni allein war, ließ er sich auf einen der Plätze neben dem Gang sinken. Das war soeben eine eindeutige Aufforderung gewesen, sich nicht zu Hause blicken zu lassen. Aber was hatte er erwartet, nachdem er es zehn Jahre lang so gehalten hatte? Sein Blick schweifte zum Altar, und Tränen bahnten sich den Weg an die Oberfläche. Der plötzliche Tod seines Vaters machte ihm zu schaffen, aber auch die Worte seiner Mutter. Hatte sie womöglich recht mit dem, was sie ihm vorwarf? Hatte er seine Familie im Stich gelassen? Tonis Problem war, dass er die Fragen nicht reinen Gewissens mit Nein beantworten konnte. Doch er verdrängte das Nachdenken darüber, wie er es immer tat, seit er die Gegend verlassen hatte.

Toni wusste nicht, wie lange er in der Kapelle gesessen hatte, aber irgendwann – seine Tränen waren bereits getrocknet – machte er sich auf die Suche nach einer Bushaltestelle. Schließlich wollte er heute noch Reit im Winkl, eine Zweitausendfünfhundert-Seelen-Gemeinde im Süden des Chiemgaus an der Grenze zu Österreich, erreichen.

»Tut mir leid, Leute!«, rief der Busfahrer, ein kleiner Typ mit dickem Bauch und Zwirbelschnauzer, durch das Fahrzeug. »Der Motor streikt, heute ist in Oberwössen Endstation. Wer weiterwill, muss sich ein Taxi nehmen oder auf den nächsten Bus warten. Der kommt in einer Stunde.«

Einige Fahrgäste des spärlich besetzten Busses murmelten so etwas wie »typisch öffentliche Verkehrsmittel« und »Geld zurück«, trollten sich dann aber nach draußen.

Toni hatte es nicht eilig. Er lümmelte gelangweilt auf der letzten Bank und kaute an einem Apfel.

»Was ist los?«, brummte der Fahrer mürrisch. »Extraeinladung gefällig?«

»Ich warte die Stunde hier drinnen. Draußen schaut es nach Regen aus.«

»Dann stell dich irgendwo unter, hier kannst du jedenfalls nicht bleiben. Das ist kein Asyl für Obdachlose.«

Toni schob die Unterlippe ein Stück nach vorn und ließ den Blick an sich hinabschweifen. Gut, er hatte keinen Anzug an, seine Jeans war ausgewaschen und das Shirt nicht gebügelt. Seine mittelblonden Haare lagen etwas wild, waren vielleicht ein bisschen zu lang, und rasieren müsste er sich auch mal wieder. Aber obdachlos? Er hob den Arm und roch an seiner Achsel. Er stank auch nicht, doch er hatte keine Lust auf Diskussionen. Seufzend stand er auf, klemmte sich den Apfel zwischen die Zähne, schnappte seinen zerschlissenen Wanderrucksack und schob sich an dem Dicken vorbei.

Draußen entdeckte er auf der anderen Straßenseite einen kleinen Park mit Spielplatz. Toni ging hinüber, setzte sich auf eine Bank und beobachtete, wie zwei vielleicht zehnjährige Rotzlöffel einem jüngeren Mädchen gerade den Ball klauten und schadenfroh in seine Richtung flüchteten. Mit einem Grinsen im Gesicht warf er den Rest des Apfels in einen Mülleimer. Falsche Route, Leute. Dann stand er auf und packte die Knirpse am Kragen. »FBI, ihr seid verhaftet.«

Die Jungs starrten ihn an, als stünde Wyatt Earp persönlich vor ihnen. »War doch nur Spaß«, stammelte einer der beiden. Der andere schien kurz davor, sich in die Hose zu machen.

»Dann ist ja wohl alles nur ein Missverständnis«, beruhigte Toni die beiden, ehe die noch auf die Idee kamen, einen Anwalt zu fordern. »Gebt der Kleinen den Ball zurück, und ich lege keine Akte über euch an.«

Die Jungs schlugen die Hacken zusammen, taten wie befohlen und machten sich aus dem Staub.

»Danke«, sagte das Mädchen und schenkte Toni einen zaghaften Blick aus braunen Augen.

»Wie heißt du denn?«, fragte er.

»Edda.«

»Bist du allein hier, Edda?« Die Kleine war bestimmt noch keine zehn.

»Die Vroni passt auf mich auf, bis ich abgeholt werde«, sagte sie und zeigte zum Spielplatz hinüber, wo eine Teenagerin auf einer Bank in ein Buch vertieft war. Dann schwenkte ihr Arm zu einem Haus mit schickem Vorgarten, gleich neben der Bushaltestelle. »Dort habe ich Musikschule, die Vroni ist die Tochter meiner Lehrerin.«

Toni strich der Kleinen über die lockigen Haare. »Dann bleib besser in Vronis Nähe, damit sie beim nächsten Mal mitbekommt, wenn ihr Einsatz gefragt ist.«

Edda nickte und lief mit ihrem Ball zurück zum Spielplatz.

Toni schaute auf die Uhr. Noch eine Dreiviertelstunde, bis der Bus kommen würde. Kurz zog er in Erwägung, ein Taxi zu rufen, aber das Geld konnte er sich sparen. Bis nach Reit im Winkl waren es ungefähr acht Kilometer. Er hatte keine Eile, der Himmel sah wieder freundlicher aus, weshalb also nicht einen Abendspaziergang machen? Gedacht, getan. Er schulterte seinen Rucksack und winkte Edda zum Abschied zu. Sie grüßte zurück, während Vroni nach wie vor in ihr Buch versunken war.

Acht Kilometer. Wenn er gemütlich ging, bedeutete das zwei Stunden Fußmarsch entlang der B305. Dann wäre es halb sieben, er würde irgendwo etwas zu Abend essen und sich eine Unterkunft für die nächsten Tage suchen. Am Donnerstag würde er zur Beerdigung seines Vaters gehen und dann diesem Ort schleunigst wieder den Rücken kehren. Wie er es die vergangenen zehn Jahre gehalten hatte. Die Blessuren saßen noch immer tief, und es waren nicht nur die Wunden, die Hans’ Tod gerissen hatte.

2

Toni benötigte etwas länger als geschätzt. Schuld daran war ein heftiges Gewitter, das ihn zwang, sich in einer Schutzhütte unterzustellen. Während seiner Wanderung überlegte er, wo in Reit im Winkl er für ein paar Tage unterkommen könnte. Er entschied sich für den Schwarzen Adler, ein Wirtshaus im Ortskern, das seinen Namen dem Wappen von Reit im Winkl verdankte und das er früher hin und wieder besucht hatte. Im Obergeschoss des Hauses vermieteten die Wirtsleute ein paar Zimmer, und das Essen war genießbar, soweit sich Toni erinnerte.

In Reit im Winkl angekommen, stieg Toni die Stufen der Veranda des Adlers hinauf, schob sich an ein paar Tischen und Stühlen vorbei und betrat den Gastraum. Eine rustikale, von Bierdunst geschwängerte Atmosphäre empfing ihn. Eine dralle Kellnerin im Dirndl mit einer Ladung Bierkrügen vor der Brust kreuzte seinen Weg, aus einer Musikbox ertönte John Denvers »Take Me Home, Country Roads«. Die Gäste hatten sich aufgrund des Gewitters von der Veranda nach drinnen verzogen, und dementsprechend voll war es. Der Wirt polierte hinter dem Tresen Gläser und beachtete ihn nicht.

Toni startete direkt zu den Toiletten durch, wo er sein durchnässtes Shirt wechselte und sich notdürftig die Haare trocknete. Zurück im Gastraum, fand er einen freien Tisch in einer Nische nahe dem Tresen, wo sich soeben ein älteres Pärchen zum Aufbruch bereit machte. Die Kellnerin säuberte den Tisch fix mit einem Tuch, und Toni setzte sich so, dass er den Saal überblicken konnte. Er bestellte zwei Paar Wiener mit Brezen und Senf, dazu ein Weißbier. Ganz klassisch.

Während Toni wartete, checkte er auf dem Handy die Reaktionen auf seine Jobbewerbungen. Es gab keine, und er ließ auf der Suche nach einem Bekannten den Blick durch den Raum schweifen. Soweit er sich erinnerte, wurde der Schwarze Adler von Urlaubern und Einheimischen gleichermaßen besucht. Und tatsächlich, der Typ in der Zimmermannskluft ein paar Tische weiter, der sich intensiv mit seinem Abendessen, ebenfalls Wienern, beschäftigte, war das nicht sein alter Kumpel Christoph Steiner?

Die füllige Kellnerin brachte das Weißbier und lenkte ihn ab. Toni leerte das Glas bis zur Hälfte, da zog schallendes Gelächter seine Aufmerksamkeit auf sich. Hinter dem Tresen befand sich ein massiver Tisch aus dunklem Eichenholz, an dem ein paar Männer ihre Bierkrüge hoben und sich lautstark zuprosteten. Ein hölzernes Schild hing von den Deckenbalken. »Stammtisch«, las Toni. Sein Blick blieb an dem Kerl kleben, der an der Stirnseite saß und ihm den Rücken zuwandte. Er war der Lauteste von allen, und an seinen markanten Bass hatte Toni keine guten Erinnerungen. Er hatte gehofft, eine Begegnung mit dem Mann vermeiden zu können, aber die Chance bestand ja noch immer. Er klemmte fünfundzwanzig Euro für seine Bestellung unter das Bierglas, griff seinen Rucksack und war im Begriff, unauffällig die Kneipe zu verlassen, als vom Tresen her die kräftige Stimme des Wirtes durch den Gastraum hallte.

»Da schau einer her! Ist das nicht der Hauser Anton?«

Toni verharrte in der Bewegung, seufzte und ließ sich auf seinen Platz zurücksinken. Das Geld steckte er wieder ein, nun konnte er auch noch auf sein Essen warten. Er wusste zwar nicht, was die nächsten Minuten bringen würden, doch provozieren lassen wollte er sich auf keinen Fall.

Der Kerl an der Stirnseite des Stammtisches wandte sich um und beseitigte damit Tonis letzte Zweifel. Er war es – Leopold Bräuning – Hans’ Vater, die einflussreichste Person des Ortes, Bergtour-Unternehmer und, wie Toni gehört hatte, inzwischen Bürgermeister. Doch vor allem war er eines: ein narzisstisches Arschloch.

Im Gastraum herrschte auf einmal gespenstische Ruhe. Spannung lag in der Luft. Leopold lachte nicht mehr, während er Toni mit Augen wie Speerspitzen fixierte. Sein Stuhl verursachte ein ratschendes Geräusch auf den Dielen, als er ihn ein Stück zurückschob. Es klang bedrohlich inmitten der Stille. Bedächtig erhob er sich von seinem Platz.

Der Mann neben Leopold Bräuning legte seine Hand auf dessen Schulter. »Lass endlich gut sein, es ist lange her«, versuchte er, ihn wieder zum Setzen zu bewegen.

Toni erkannte in dem Mann den Sägewerksbesitzer Franz Mooslechner, Leopolds Schwager und in Tonis Erinnerung ein ganz umgänglicher Typ. Die anderen beiden Männer am Stammtisch hatte er noch nie gesehen.

Ohne den Blick von Toni zu wenden, schob Leopold die Hand seines Schwagers beiseite. Hörbar, wie ein Stier in der Arena, atmete er durch die Nase ein, sodass sich sein Brustkorb unter dem Latz der Lederhose wölbte. Dann setzte er sich mit schlendernden Schritten in Bewegung.

Tonis Herz schlug bis zum Hals. Scheinbar gelangweilt nippte er an seinem Bier.

Die Bedienung kam mit den Würsten, doch Leopold schob sie grob beiseite. »Der bekommt hier nichts. Schlimm genug, dass du dem ein Bier gebracht hast.«

Ohne ein Wort brachte sich die Kellnerin hinter dem Tresen in Sicherheit.

Leopold wandte sich Toni zu. »Da schau her, der Hauser Anton. Was verschafft uns denn die Ehre?«

Toni stellte sein Glas auf den Tisch. »Ich reise übermorgen wieder ab, Leopold«, antwortete er. »Also entspann dich und lass mich einfach in Ruhe zu Abend essen.«

Leopold fuhr sich mit der Hand durch das dichte grau melierte Haar. »Ich soll ruhig bleiben, wenn der Mörder meines Sohnes hier auftaucht? Für wen hältst du dich, Hauser?«

»Für den Mörder von Hans jedenfalls nicht.«

Leopold lachte höhnisch auf, beugte sich zu Toni hinunter und stieß drohend den Zeigefinger gegen dessen Brust. »Du verschwindest aus diesem Lokal, Hauser Anton, und wenn du draußen bist, auch gleich aus dem Ort. War das deutlich genug?«

»Du hast sicher viele Anhänger in der Gemeinde, Leopold«, erwiderte Toni, um Gelassenheit bemüht. »Aus welchen Gründen, sei dahingestellt, doch mich des Ortes zu verweisen, das liegt nicht in deiner Macht.«

Leopold schnaufte. »So redest du Würstchen nicht mit dem Bürgermeister. Was ich für diesen Ort getan habe, wirst du in deinem gesamten ärmlichen Leben nicht zustande bringen. Was du bisher geleistet hast, ist, meinen Sohn zu töten und dich dann feige aus dem Staub zu machen.«

Nun wurde es Toni doch zu bunt, und er erhob sich, sodass sie sich direkt gegenüberstanden. Er überragte Leopold um einen halben Kopf. »Du weißt ja wohl am besten, dass das nicht stimmt.«

Leopold schniefte verächtlich, und sein Blick strotzte vor Hass.

»Hans war an dem Tag mit meinem Auto unterwegs, das ist richtig«, fuhr Toni fort. »Es ist auch korrekt, dass die Bremsen versagt haben, genauso wie es stimmt, dass Hans deswegen in den Tod gestürzt ist. Aber ich habe etliche Male betont, dass ich die Bremsen erst zwei Tage zuvor gecheckt hatte. Sogar die Bremsschläuche hatte ich ausgetauscht, weil sie porös waren.«

Leopold lachte hämisch auf. »Dumm nur, dass das Auto ausgebrannt ist und man deine Aussage nicht überprüfen konnte.«

»Weißt du was«, zischte Toni seinem Gegenüber ins Gesicht. »Die Bremsen waren neu, aber sie haben trotzdem versagt. Ich habe mich schon damals gefragt, weshalb. Niemand wusste, dass Hans an diesem Morgen das Fahrzeug fahren würde, das hatten wir beide erst am Vorabend beschlossen. Normalerweise hätte also ich in dem Auto gesessen. Und jetzt frage ich dich, Leopold, wer in diesem Ort hat schon immer alles darangesetzt, mir und meiner Familie zu schaden?«

Leopolds Augen wurden zu Schlitzen. »Was willst du damit andeuten?«

»Was ich schon damals der Polizei gesagt habe. Jemand hat die Bremsen manipuliert, mit dem Ziel, mich zu töten. Das Opfer sollte nicht Hans sein.«

Leopold drehte sich um und schlug sich lauthals lachend auf die Schenkel. »Habt ihr das gehört, Leute?«, brüllte er durch den Gastraum. »Der Mann, der meinen Sohn auf dem Gewissen hat, versucht hier gerade, die Opfer zu Tätern zu machen.« Er wandte sich wieder Toni zu, und sein Lachen war so plötzlich verschwunden, wie es gekommen war. »Natürlich, dann habe ich also die Bremsen von deiner Schrottkarre manipuliert und bin schuld an Hans’ Tod.«

»Schön, dass du dir die Jacke anziehst«, entfuhr es Toni, und im selben Moment wusste er, dass es ein Fehler gewesen war. Dennoch konnte er sich auch den nächsten Satz nicht verkneifen. »Das ist doch ein Schritt in die richtige Richtung.«

»Du mieses Stück Dreck!«, brüllte Leopold und stürzte sich auf Toni. Unter der Wucht von dessen untersetztem Körper taumelte der nach hinten und riss dabei seinen Stuhl um, der krachend auf dem Dielenboden aufschlug. Das Bierglas rutschte vom Tisch und zerschellte. Instinktiv schlang Toni einen Arm um den Hals seines Gegners, drückte ihn mit einer Körperdrehung zu Boden und nahm ihn in den Schwitzkasten. Leopold keuchte und schlug um sich, hatte jedoch gegen Tonis trainierten Körper keine Chance.

Die Situation war eskaliert, doch Toni hatte nicht vor, es auf die absolute Spitze zu treiben. Er gab Leopold frei und richtete sich auf.

Der benötigte ein paar Sekunden länger, doch als er wieder auf den Beinen war, hielt er das zerbrochene Bierglas in der Hand, dessen oberer Teil messerscharf gezackt war. »Du lernst mich noch kennen, Hauser Anton«, zischte er bösartig und stieß das Glas in Tonis Richtung, der daraufhin einen Schritt zurückwich.

»Leopold, es reicht!«, rief sein Schwager Franz.

»Es ist noch lange nicht genug«, keuchte Bräuning mit irrem Blick.

»Für heute schon«, hörte Toni unverhofft eine energische Frauenstimme sagen. »Legen Sie das Glas weg, Herr Bürgermeister, Sie tun sich damit keinen Gefallen.«

Leopold stutzte, kam dann aber offenbar wieder zu Sinnen. Bedächtig legte er das Glas auf den Tisch und wischte sich die von Bier und Schweiß feuchten Hände an seiner Lederhose ab. »Ah, die Frau Kommissarin stellt sich auf die Seite eines Verbrechers«, sagte er verächtlich. »Wenn ihr eure Arbeit immer so macht, ist es ja kein Wunder, dass der Kerl damals nicht verurteilt worden ist.«

»Ich bin hier, um eine Straftat zu verhindern«, entgegnete die Frau scharf. »Bei der übrigens Ihr politischer Kopf rollen würde, Herr Bürgermeister.«

Leopold sah sie an, als könnte er ihren Worten nicht ganz folgen.

Die Frau empfand das offenkundig ebenso. »Ich habe nicht gesehen, dass man Sie angegriffen hätte, Herr Bräuning«, erklärte sie. »Sehr wohl aber eine Tätlichkeit, die von Ihrer Person ausging.«

Irritiert ließ Leopold den Blick durch die Runde schweifen. Die meisten Gäste hatten sich von ihren Plätzen erhoben, um dem Schauspiel zu folgen. Der Wirt und die Kellnerin standen in sicherer Entfernung hinter dem Tresen. Noch einmal atmete Leopold tief durch, dann setzte er sein antrainiertes Politikerlächeln auf. »Eine Runde für alle!«, rief er. »Kleine Entschädigung für den Zwischenfall. Aber ein nicht verurteilter Straftäter verirrt sich nicht jeden Tag in unseren ruhigen Ort.« Dann schlang er den Arm um die Schultern seines Schwagers und ging mit den anderen Stammtischbrüdern zurück zu seinem Platz.

Die Frau wandte sich Toni zu. »Sie sollten von hier verschwinden, er ist unberechenbar.«

Toni sah das ebenso, schnappte seinen Rucksack, beglich am Tresen die Rechnung und stand kurz darauf mit der Frau auf der Veranda des Wirtshauses. »Danke für Ihre Hilfe«, sagte er. »Sie sind Kommissarin?«

Die Frau zeigte ein freudloses Lächeln, ohne Toni dabei anzuschauen. »Das ist richtig, und somit habe ich nichts weiter als meinen Job getan. Einen schönen Tag noch, Herr Hauser.« Mit diesen Worten ging sie davon.

Verdutzt starrte Toni der Frau hinterher, und als sie in ihren weißen Opel Astra stieg, der sich in einer Parknische unweit entfernt befand, bekam er einen Schreck. Erst jetzt bemerkte er die Brandnarben an ihrer linken Kopfseite, die sich vom Ohr über den hinteren Wangenbereich den Hals hinabzogen und von ihren schulterlangen braunen Haaren nur halbherzig verdeckt wurden. Schockiert ließ Toni seinen Rucksack fallen und setzte sich auf die Stufen der Veranda. Diese Narben hatten sich in seinen Kopf gebrannt.

Es war lange her, aber er wusste, woher sie stammten.

3

»Herzlich willkommen daheim«, sagte plötzlich jemand hinter Toni.

Erschrocken fuhr er herum, erkannte aber im nächsten Moment seinen alten Kumpel Christoph.

»Grüß dich Gott, Chris«, sagte er erfreut. »Ich habe dich schon drinnen gesehen, hatte dann aber mit dem Bräuning was zu klären.«

Tonis Verhältnis zu Christoph war zwar nie so intensiv gewesen wie seine Freundschaft zu Hans, doch sie hatten in ihrer Jugend eine Menge miteinander unternommen.

Christoph setzte sich neben Toni auf die Stufen. »Da hast du ja Glück gehabt, dass Roxy hin und wieder hier zu Abend isst«, sagte er.

Roxy? Stimmt, Roxana Mayrhofer, so hieß die Kommissarin. Toni erinnerte sich.

Christoph legte seinen Arm um Tonis Schultern. »Ist der verlorene Sohn zurück, oder ist dein Besuch in der Heimat nur ein kurzes Intermezzo?«

»Eher Zweiteres«, erwiderte Toni und berichtete ihm vom Tod seines Vaters.

Christoph war sichtlich schockiert, er kannte Frank gut, hatte bei ihm vor vielen Jahren das Alpinklettern gelernt.

»Die Beisetzung ist am Donnerstag«, sagte Toni. »Danach reise ich wieder ab.«

»Schade«, bedauerte Christoph. »Ich habe in den nächsten Tagen Urlaub und hatte eben den Gedanken, dass wir gemeinsam etwas unternehmen könnten. Wie früher, als das Leben noch mehr Spaß gemacht hat.«

Spontan kam Toni eine Idee. »Hast du Lust, morgen bei Sonnenaufgang mit mir auf das Fellhorn zu gehen? Wir könnten auf dem Weg ein bisschen reden, einen Abstecher zur Anna-Kapelle machen und dort eine Kerze für Hans anzünden.«

Christoph war begeistert. »Super Vorschlag. Brennende Kerzen sind dort aus Brandschutzgründen zwar untersagt, aber wir pusten sie einfach wieder aus, wenn wir gehen. – Ach, verdammt, Karina ist hochschwanger, und es kann jeden Tag so weit sein.«

Verwundert schaute Toni ihn von der Seite an. »Du redest aber nicht von Karina Gruber?«

»Doch«, sagte Christoph mit verschmitztem Unterton und grinste.

»Du hast dir Karina Gruber geangelt?«, staunte Toni. »Die Partymaus stand doch damals auf ganz andere Typen als uns biedere Bergsteiger.«

»Qualität setzt sich eben durch, mein Freund. Wir sind seit ein paar Jahren verheiratet, und jetzt kommt unser erstes Kind.«

»Da kann man dich ja nur beglückwünschen«, sagte Toni. »Ich gönne es dir von Herzen. Dann mache ich die Tour morgen früh allein.« Die Glocke des Kirchturms ließ acht Schläge hören. Toni stand auf und schulterte seinen Rucksack. »Es wird Zeit, dass ich mir eine Unterkunft suche, den Adler kann ich ja nach dem Zwischenfall vorhin vergessen.«

»Zu Hause übernachten willst du nicht?«

Toni dachte an den Streit mit seiner Mutter in der Klinikkapelle und zuckte mit den Schultern. »Es ist besser, wenn ich mir was anderes suche. Kannst du mir eine Pension ein Stück außerhalb des Ortes empfehlen?«

Christoph überlegte nur kurz. »Ich habe eine Idee«, sagte er. »Mein Auto steht dort drüben, der dunkelrote Passat, ich fahre dich hin.«

Auf dem Weg zum Auto kam ihnen eine zierliche Frau um die sechzig entgegen. Sie nickte Christoph zu und grüßte auch Toni mit einer leichten Kopfbewegung. Der benötigte ein paar Sekunden, dann wusste er, wer das war. Hans’ Mutter hatte zwar noch immer die schlanke Gestalt von früher, war allerdings im Gesicht merklich gealtert. Sie holt wohl ihren angetrunkenen Mann ab, dachte er beiläufig und stieg in den Passat.

»Das war Maria Bräuning«, sagte Christoph. »Ich glaube, sie hat dich erkannt.«

Toni nickte nur.

Sie verließen den Ortskern auf der B305Richtung Ruhpolding. »Deine Idee mit der Wanderung ist irgendwie cool«, sagte Christoph auf einmal. »Vielleicht kann ich ja doch mitkommen. Was hältst du davon, wenn wir versuchen, uns zwischen sieben und acht am Gipfelkreuz zu treffen? Sollte es bei mir klappen, können wir den Rückweg gemeinsam gehen und einen Abstecher zur Anna-Kapelle machen. Damit wir die Kerze noch anzünden können. Ich melde mich auf deinem Handy, vielleicht begegnen wir uns ja auch schon auf dem Hinweg. Sollte mit Karina etwas dazwischenkommen, gehst du die Tour eben allein.«

Toni war über Christophs Sinneswandel erfreut. »So machen wir es«, sagte er und gab ihm seine Nummer.

Etwa einen halben Kilometer hinter dem Ortskern bog Christoph auf die Blindauer Straße ein, überquerte die Lofer auf einer kleinen Holzbrücke, passierte noch ein paar Wohngrundstücke und steuerte den Passat eine Nebenstraße hinauf, die so schmal war, dass zwei Fahrzeuge kaum nebeneinander Platz hatten. Schließlich hielt er vor einem Pensionsgebäude, das malerisch von grünen Wiesen umgeben und in den Hang hineingebaut war. Erd- und Obergeschoss waren mit hellem Putz versehen, das Dachgeschoss mit dunklem Holz verkleidet. Große Dachüberstände und Holzbalkone mit prächtig blühenden Petunien verliehen dem Haus vor der untergehenden Abendsonne einen ganz besonderen Charme. Ein Schild neben dem Eingang wies darauf hin, dass noch Zimmer frei waren.

»Sieht schick aus«, sagte Toni, stieg aus dem Fahrzeug und holte seinen Rucksack aus dem Kofferraum. »Genau das, was ich gesucht habe. Danke fürs Herbringen, wir sehen uns dann hoffentlich morgen.«

»Das hoffe ich auch«, antwortete Christoph, startete den Motor und brauste davon.

Toni schaute ihm noch nach, bis der Passat seiner Sicht entschwunden war. Die Häuser im dämmrigen Tal und die umliegenden Berge als Kulisse im Hintergrund wirkten von hier oben betrachtet geradezu idyllisch. Er hatte in den letzten Jahren ganz vergessen, wie traumhaft schön seine Heimat mit dem knapp eintausendachthundert Meter hohen Dürrnbachhorn im Westen und den gigantischen Gebirgsmassiven des Wilden und Zahmen Kaisers im Süden war. Toni musste sich bemühen, die aufkeimende Melancholie zu verdrängen, ließ den Rucksack stehen und ging ein Stück die Straße zurück. Dort hatte er vorhin ein hölzernes Schild mit einer Inschrift bemerkt, womöglich waren darauf ja ein paar Informationen zu der Herberge, in die er gleich einchecken würde.

Frühstückspension Panoramablick – Inhaberin: Victoria Strasser

Tonis Augen wurden größer. Er ging näher und las die Inschrift mehrere Male. Sie blieb dieselbe. Er schluckte den Kloß hinunter, der sich in seiner Kehle gebildet hatte. Ihm war nicht klar, ob es Absicht oder ein Versehen gewesen war, aber Christoph hatte ihn soeben bei Hans’ damaliger Freundin abgesetzt.

4

Seit Hans’ Tod hatte Toni nicht mehr mit Victoria gesprochen. Direkt nach dem Unglück war ihrer beider Trauer zu groß gewesen, und danach war es nicht mehr möglich gewesen, da Toni buchstäblich über Nacht die Gegend verlassen hatte. Er war sich nicht sicher, ob ausgerechnet heute der richtige Zeitpunkt war, um Vicki zu treffen. Er hatte Sorge, dass ihm die Worte fehlen würden, wenn er ihr gegenüberstand. Da vernahm er ein Geräusch und entdeckte ein Stück neben der Pension einen größeren Holzschuppen, dessen Tor offen stand und aus dem soeben ein graubärtiger Mann kam.

»Wollen Sie ein Zimmer mieten?«, rief der Alte mit rauer Stimme und ging auf ihn zu.

Bis eben hatte Toni gehofft, dass es sich nur um eine Namensgleichheit handeln würde, nun war es Gewissheit. Er erkannte in dem Mann Vickis Großvater Max Walser, einen freundlichen Zeitgenossen, der schon damals mit jedem gut ausgekommen war. Hastig winkte er ab. »Ich habe mich bloß verirrt. Ich muss weiter.«

Max hatte Toni fast erreicht. »Wo wollen Sie denn hin?«, fragte er, und seine Augen wurden plötzlich groß. »Da brat mir doch einer einen Storch, wenn das nicht der Hauser Toni ist!«

Toni seufzte. »Grüß Gott, Herr Walser. Ich bin nur auf der Durchreise und möchte wirklich nicht stören.« Er wandte sich zum Gehen.

»Du bleibst da, Bub«, sagte Max mit Nachdruck und hielt Toni am Arm. »Es ist spät, und in der Nacht ein Dach über dem Kopf zu haben, ist nie verkehrt. Vicki wird sich freuen, dich zu sehen.«

Skeptisch verzog Toni das Gesicht. »Da bin ich mir nicht so sicher.«

»Papperlapapp«, fuchtelte der Alte Tonis Zweifel beiseite. »Sie redet sogar hin und wieder von dir. Ich glaube, sie bedauert, dass ihr euch nach dem Unglück nicht ausgesprochen habt. Was hältst du von einem kleinen Begrüßungsschluck?«

Toni sah ein, dass er hier nicht so flink wegkommen würde, wie er gehofft hatte. »Warum nicht«, sagte er und folgte Max zu dem Schuppen. Beim Näherkommen entdeckte er einen feuerwehrroten VW T1 mit dunkelblauem Dach. »Ist das Ihr Bulli?«, fragte er. »Der ist doch bestimmt sechzig Jahre alt.«

»Perfekt geschätzt, Baujahr 1963«, sagte Max mit verträumter Miene. »Ist einer der letzten. Ich habe ihn mir zu meinem zweiundzwanzigsten Geburtstag gekauft. Da war er bereits fünf Jahre alt und von seinem Vorbesitzer ziemlich runtergewirtschaftet. Neu hätte ich ihn mir nicht leisten können.«

»Er sieht toll aus«, sagte Toni. »Fahren Sie noch damit?«

»Ich nicht mehr, aber Vicki. Der Bulli ist quasi das Maskottchen der Pension, doch es ist wie bei alten Menschen, manchmal kann er nicht mehr so, wie er soll. Dann nimmt Vicki meinen Golf. Der steht hinter dem Schuppen in einer kleinen Garage, ist zwar auch schon in die Jahre gekommen, fährt aber zuverlässig.«

Sie betraten den Schuppen, und Toni staunte erneut. Die Hälfte des Raumes war mit kunstvoll gefertigten Holzgegenständen vollgestellt: Blumenkästen, bepflanzbaren Schubkarren, Tierskulpturen, Vogelhäuschen und vielem mehr. »Wow, haben Sie das alles gemacht?«, fragte er.

Max nickte stolz und nahm aus einem Schränkchen über einer Werkbank zwei Gläser und eine Flasche Vogelbeerschnaps. »Mein Hobby war es schon immer, aber seitdem ich bei Vicki wohne, betreibe ich es noch intensiver. Tagsüber baue ich den Kram vor der Pension auf und versuche, die Sachen zu verkaufen. Das bringt ein bisschen zusätzliches Geld in die knappe Kasse. Der Schuppen hier ist Werkstatt und Lager zugleich. Ich war gerade mit dem Aufräumen fertig, als du gekommen bist.« Max füllte die Gläser und reichte Toni eines. »Das Sie lassen wir mal. Für dich bin ich ab jetzt der Max.« Er hob das Glas. »Prostata!«

Der Alkohol brannte angenehm in Tonis Kehle, und er spürte, dass er nach den aufreibenden letzten Stunden genau das gebraucht hatte. Er hielt Max das leere Glas hin. »Schenk nach.«

Max goss ein und musterte Toni aufmerksam. »Wenn mich meine Menschenkenntnis aus siebenundsiebzig Lebensjahren nicht täuscht, hast du ein paar Probleme, über die du vielleicht reden möchtest.«

Toni bewunderte den Scharfsinn des alten Mannes und kippte den Schnaps hinunter. Was soll’s, dann würde er eben hier übernachten. Und um das Wiedersehen mit Vicki hinauszuzögern, kam ihm das Gespräch mit Max gerade recht. »Seit wann betreibt Vicki den Panoramablick?«, fragte er und setzte sich auf einen Schemel, der neben der Werkbank stand.

Max überlegte. »Seit fünf Jahren. Sie hat eine Ausbildung im Hotelgewerbe gemacht, danach ein bisschen Berufserfahrung gesammelt und dann die Pension hier gekauft, als die früheren Betreiber sich in den Ruhestand verabschiedet haben.«

»Das war garantiert nicht billig«, sagte Toni.

Max seufzte bestätigend. »Meine Schwester ist ein paar Monate zuvor verstorben, Gott sei ihr gnädig. Kehlkopfkrebs. Ein Wunder, dass es nicht schon viel eher passiert ist, bei zwei Schachteln Zigaretten am Tag seit fünfzig Jahren. Aber sie war ein herzlicher Mensch, ich habe sie sehr geliebt. Was soll ich sagen, sie war nicht verheiratet, hatte keine Kinder und hat mich zum Erben ihrer Eigentumswohnung in München gemacht. Als eingefleischter Provinzler konnte ich damit natürlich nichts anfangen, also habe ich die Wohnung verkauft und Vicki das Geld gegeben. Unterstützt habe ich sie in der Pension schon immer, aber seit Heidi, meine Frau, vor zwei Jahren verstorben ist, wohne ich auch hier, und Vicki kümmert sich um mich. Das ist das Beste, was mir in meinem Alter passieren konnte.«

»Eine Hand wäscht die andere.«

Max nickte und strich sich über den fast kahlen Kopf. »Wir kommen gut miteinander aus.«

»Und Vickis Eltern?«

Der Alte machte eine abfällige Handbewegung. »Weggezogen, nach Mallorca. Die finden es dort schöner, kannst du dir das vorstellen?«

Toni grinste und schüttelte den Kopf. »Auf gar keinen Fall.«

Max schenkte nach. »Ich habe genug geredet, jetzt bist du an der Reihe.«

Toni zögerte einen Moment, doch er spürte, wie der Alkohol begann, seine Zunge zu lockern. Und so erzählte er dem alten Mann in der folgenden Stunde von den letzten zehn Jahren seines Lebens. Er legte seine Version von Hans’ Tod damals dar und erklärte, weshalb er kurz darauf Hals über Kopf seine Heimat verlassen hatte und dass er seitdem ohne viel Geld und festen Wohnsitz durch die Gegend streifte und sich mit saisonalen Gelegenheitsjobs, vorwiegend als Berg- und Wanderführer, bei verschiedenen Urlaubshotels mehr schlecht als recht über Wasser hielt. Natürlich ließ er auch den Tod seines Vaters nicht aus, der ihn nun für kurze Zeit wieder hierher zurückgeführt hatte.

Draußen war es bereits dunkel, und ihre gemütliche Ecke wurde nur zaghaft vom flackernden Schein einer Petroleumlampe auf der Werkbank erhellt, als Max die letzten Tropfen der Flasche in die Gläser goss. »Dann trinken wir jetzt auf deinen Vater und darauf, dass dir irgendwann Gerechtigkeit widerfährt«, sagte er mit schwerer Zunge.

»Prost, Max«, lallte Toni und hob das Glas, dass es schwappte.

»Aber danach ist Schluss mit der Sauferei, Gerechtigkeit hin oder her«, hörte er plötzlich jemanden sagen, und es war nicht die bedächtige, raue Stimme des alten Max.