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Nina Morettis dritter Fall Schnell wird klar, woran Natascha Watzlaw gestorben ist, deren gefrorene Leiche an einem kalten Februarmorgen in der Betzdorfer Innenstadt gefunden wird.KROK! Eine Designerdroge aus Russland, die ihre Konsumenten bei lebendigem Leib verfaulen lässt. Doch wer rammte der jungen Frau die Nadel mit der tödlichen Injektion in den Nacken? Was geschah in dieser Nacht am Elefantenklo, wie die Einheimischen den kreisförmigen Aufgang in der Fußgängerzone nennen? Und wie gelangten die russischen Drogen in den Westerwald? Richtig knifflig wird es für Kommissarin Nina Moretti jedoch erst, als der Lebensgefährte einer neuen Kollegin tot aufgefunden wird. Die vier Kugeln, die den Kopf des Mannes durchschlugen, stammen eindeutig aus einer Dienstwaffe.
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Seitenzahl: 321
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Titelseite
Impressum
Über den Autor
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Kapitel 20
Epilog
Nachwort
Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
www.niemeyer-buch.de
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Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com,
Medical syringes DVARG 2012
eISBN: 978-3-8271-9834-1
ePub Produktion durch INTEC/ANSENSO
www.inteconline.com
Der Roman spielt hauptsächlich in einer allseits bekannten Region im Westerwald, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über den Autor:
Micha Krämer wurde 1970 in Kausen im Westerwald geboren. 1989 zog es ihn nach Betzdorf, wo er es ganze 15 Jahre aushielt, bevor das Heimweh ihn zurück nach Kausen führte. 2009 veröffentlichte der gelernte Elektroniker kurz nacheinander die beiden Kinderbücher „Willi und das Grab des Drachentöters” und „Willi und das verborgene Volk”. Der regionale Erfolg der beiden Bücher, die er eigentlich nur für seine eigenen beiden Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste im Jahre 2010 nun ein „richtiges Buch“ her. Im Juni erschien sein erster Roman für Erwachsene und zum Ende des Jahres 2010 sein erster Kriminalroman, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.
Mehr über Micha Krämer erfahren Sie auf www.micha-kraemer.de
War es Tag oder Nacht? Warum war sie hier? Warum nur tat er ihr das an. Weshalb konnte sie nicht einfach die Augen schließen, ein letztes Mal atmen und dann sterben. Sie würde nicht mehr frieren und nicht mehr spüren, wie der Schweiß über ihr Gesicht rann. Aller Schmerz wäre vorbei. War es denn wirklich zu viel verlangt, wenn man einfach nur sterben wollte? Ihre Zähne schlugen wild und unkontrollierbar aufeinander. Sie zitterte am ganzen Leib. Es tat so weh. So beschissen weh.
*
Regungslos sah er auf das zitternde Mädchen hinab. Der Geruch von Erbrochenem lag schwer in der Luft. Er ging in die Hocke und strich ihr eine Haarsträhne aus dem schweißnassen Gesicht. Von ihrer Schönheit, die er so bewundert hatte, war nicht viel geblieben. Wieder einmal musste er mit ansehen, wie vergänglich alles im Leben ist. Insbesondere die Jugend und die damit unmittelbar einhergehende Schönheit. Sorgfältig desinfizierte er die Stelle, an der er die Spritze set zten würde. Obwohl sie zitterte und vollkommen außer Kontrolle schien, begann sie sich zu winden, sich zu wehren. Hastig setzte er sich rittlings auf sie und fixierte mit seinen Knien ihre Arme. Dann griff er nach der Spritze, stach zu und drückte die Flüssigkeit in ihre Vene. Es dauerte nur Sekunden, bis der Körper unter ihm schlaff wurde und alle Spannung verlor. Ihr Atmen wurde flacher und auch das Klappern der Zähne ebbte ab. „Jetzt schlaf schön, mein Schatz. Alles wird gut“, flüsterte er, obwohl er wusste, dass sie ihn da, wo sie nun war, nicht mehr hören würde.
Polizeimeisterin Katrin Rutzenmeyer beobachtete aufmerksam den fließenden Verkehr in der um diese Uhrzeit viel befahrenen Kölner Straße. „Warum sogts ihr eigentlich immer Kolonie zu derer Gegend?“, fragte sie in ihrem urbayrischen Dialekt den Kollegen Jürgen Wacker, der neben ihr auf dem Beifahrersitz des Streifenwagens döste. „Das heißt in der Gegend. Nicht in derer“, verbesserte er sie gelangweilt. „Du bist hier schließlich nicht mehr in deinem Freistaat, sondern im richtigen Deutschland. Und Kolonie heißt die Gegend schon immer.“ Katrin verdrehte die Augen und sah wieder hinaus zu den vorbeifahrenden Fahrzeugen. Sie hasste diese dummdämlichen Sprüche ihrer neuen Kollegen. Seit ihrem Dienstantritt vor drei Tagen hatte sie den Wechsel aus Bayern in die rheinland-pfälzische Provinz schon mindestens hundertmal verflucht. Der Gedanke, besser in Bad Tölz geblieben zu sein, war während der Arbeit ständig präsent. Andererseits war Oliver, mit dem sie seit knapp einer Woche zusammenlebte, ihre große Liebe und sie genoss die Zeit, die sie miteinander verbrachten, in vollen Zügen. Sie hatten sich beim Skifahren kennengelernt. Die drei Jahre Fernbeziehung, die sie seitdem geführt hatten, waren nicht immer leicht gewesen. Oliver war selbstständig und beschäftigte in seinem Betrieb rund zwanzig Mitarbeiter. Für ihn war es unmöglich gewesen, alles aufzugeben und zu ihr nach Bayern zu ziehen. Also hatte Katrin die Initiative ergriffen und den Versetzungsantrag nach Betzdorf gestellt.
Ein hellblauer Volkswagen erregte ihre Aufmerksamkeit. Der Käfer raste mit deutlich überhöhter Geschwindigkeit an ihrem Streifenwagen vorbei in Richtung Ortsmitte. Der Fahrer war nicht zu erkennen, da das Gefährt komplett, inklusive aller Scheiben, von einer dicken Eisschicht bedeckt war. Lediglich auf der Windschutzscheibe befand sich ein frei gekratztes Guckloch von der Größe eines Tennisballs. „Ja sakra, wo gibt‘s denn so was!“, schimpfte sie und startete den Motor. „Was is denn los?“, erkundigte sich Wacker, der den kleinen blauen Käfer im Blindflug scheinbar nicht bemerkt hatte. Katrin gab derweil Gas. Zum Glück war die Lücke zwischen dem VW und dem nächsten Auto so groß, dass sie sich problemlos in den Verkehr einfädeln konnte. „Der Wahnsinnige da voraus fährt total blind“, erklärte sie dem Kollegen aufgebracht und zeigte auf den kleinen Wagen. Deutlich waren an dem Käfer nun die dünnen aufgetauten Streifen entlang der Heckscheibenheizung zu erkennen. Unerhört, wie faul manche Leute doch waren. Dabei weiß doch jeder Verkehrsteilnehmer, wie wichtig eine gute Rundumsicht gerade in der kalten und dunklen Jahreszeit ist. Sie fuhr dichter auf, schaltete das Blaulicht und die Signalschrift „HALT POLIZEI“ an und hoffte inständig, dass der Fahrer des vereisten Pkws dies registrierte. Tatsächlich wurde der Buckelporsche langsamer und hielt schließlich rechts am Fahrbahnrand direkt in Höhe der örtlichen McDonald’s- Filiale. Katrin stoppte unmittelbar hinter ihm. Sie schnappte sich ihre Schirmmütze vom Armaturenbrett, setzte sie auf und stieg aus. „Willst du auch einen Kaffee?“, rief Wacker, der ebenfalls den Streifenwagen verließ, ihr über das Wagendach zu. Katrin glaubte zuerst sich verhört zu haben, doch der Kollege ging bereits, ohne ihre Antwort abzuwarten, auf das Schnellrestaurant zu. „Du kannst doch nicht einfach abhauen!“, schrie sie ihm erbost hinterher. Wacker drehte sich um und grinste. „Das schaffst du schon allein. Käferfahrer sind nette Menschen. Die beißen nicht.“ Katrin war fassungslos. In ihrer ganzen Laufbahn war ihr noch nie eine solche Ignoranz begegnet. Wütend stapfte sie zu dem Volkswagen, dessen Fahrertür sich just in diesem Moment öffnete. Instinktiv glitt ihre rechte Hand zu ihrer Dienstwaffe. Man konnte nie wissen, mit wem man es zu tun bekam. Langsam beugte sich der Kopf einer Frau aus dem Inneren des kleinen Autos. Katrin holte tief Luft. „Guten Morgen, Gnädigste. Sie wissen schon, dass des gefährlich ist, was Sie da so im Straßenverkehr treiben?“ Die Frau, eine Dunkelhaarige Mitte dreißig mit südländischen Zügen, musterte Katrin argwöhnisch. Ihre Augen verbargen sich hinter einer dunklen Sonnenbrille. Auch das noch! Katrin rang nach Fassung. Scheiben nicht frei gekratzt und auch noch eine Sonnenbrille. „Sie wissen schon, dass Sie die Scheiben Ihres Fahrzeuges vor Beginn der Fahrt komplett freikratzen müssen? Sie gefährden damit ja nicht nur sich selbst, sondern auch andere Verkehrsteilnehmer“, fuhr sie fort, während sich das Gesicht der Dunkelhaarigen noch mehr verfinsterte. „Sonst noch was?“, knurrte die zugegebenermaßen gut aussehende Frau und wollte bereits die Tür des Volkswagens wieder schließen. Katrin verschlug es fast die Sprache. So etwas Freches hatte sie lange nicht erlebt. Schnell griff sie die Wagentür und zog sie wieder auf. „Ja, da wär noch was“, keifte sie bissig. „Ich hätte dann gerne mal Ihren Führerschein und die Fahrzeugpapiere.“ Hektisch sah sie zu Wacker, der am Drive-in-Schalter des Restaurants stand und lachend mit der Bedienung sprach. Die Frau sah sie entgeistert an. „Was glauben Sie eigentlich, wen Sie vor sich haben?“, schnaubte die Schöne und machte keinerlei Anstalten, die Papiere zu suchen. Wieder schielte Katrin zu dem Kollegen. Eine schöne Scheiße war das. Immer mehr bekam sie das Gefühl, dass diese Angelegenheit aus dem Ruder laufen würde. Katrin trat einen Schritt zurück und legte erneut ihre Hand auf ihre Pistole. „Würden Sie mir bittschön jetzt Ihre Papiere aushändigen?“, forderte sie die Frau nun sehr eindringlich auf. Doch die machte immer noch keine Anstalten sich zu rühren. Ihr Blick ruhte nun auf Katrins Dienstwaffe. Dann schnaufte sie. „Okay, wenn es unbedingt sein muss.“ Die Dunkelhaarige drehte sich um, griff ihre Handtasche vom Beifahrersitz und begann, darin herumzuwühlen. Im Bruchteil einer Sekunde erkannte Katrin den schwarzen Griff einer Pistole, der zwischen etlichem Krempel in der Tasche der Fremden zum Vorschein kam. Sie riss ihre Waffe aus dem Holster, zielte auf die Frau und schrie: „Hände hoch! Keine Bewegung und raus aus dem Wagen!“ Die Schöne sah sie lässig an. „Was nu? Nicht bewegen oder aussteigen. Sie müssen sich schon entscheiden.“ „Verorschen ko i mir selber“, keifte Katrin panisch. „Und jetzt aussteige und Händ auf des Wagedach.“ Die Dunkelhaarige schüttelte den Kopf und stieg dann aus. Sie war gut und gerne einen Kopf größer als Katrin, trug eine enge blaue Jeans und eine am Kragen mit Fell besetzte Wildlederjacke. Ihre langen dunklen, lockigen, Haare glänzten, als wären sie noch nass. Während sie ausstieg und genervt die Hände hob, sah Katrin zu Wacker, der endlich mit einem Papptablett in den Händen zurück zum Wagen kam. „Jürgen?“, rief die Fremde dem Kollegen plötzlich zu, „hättest du mal die Güte, deiner kleinen Kollegin zu erklären, wen sie gerade verhaftet.“ Katrin wurde unsicher. Irritiert wechselte ihr Blick immer wieder zwischen der Frau und dem Kollegen hin und her. Wacker schien sich köstlich zu amüsieren. Er kam auf Katrin zu und hielt ihr das Tablett mit dem Kaffee hin. „Bitte schön, ein großer Kaffee mit Milch und Zucker und für die Kollegin Oberkommissarin Moretti einen Latte Macchiato mit extra viel Milch.“ Langsam ließ Katrin die Waffe sinken, während die Fremde sich umdrehte und nach dem Pappbecher griff, den Wacker ihr reichte. Ungläubig sah sie die Frau an. Oberkommissarin Moretti hatte Wacker gesagt. Der Name war ihr geläufig. Sie hatte ihn in den letzten Tagen mehrfach gehört. Sie merkte, wie sie errötete. Oh Gott, wie peinlich. Sie hatte eine Oberkommissarin aus der eigenen Dienststelle mit der Waffe bedroht. Am liebsten würde sie im Boden versinken. „Darf ich jetzt weiterfahren oder bin ich verhaftet, Frau...“, fragte die Schöne, immer noch recht gereizt. „Rutzenmeyer! Katrin Rutzenmeyer. Und natürlich könnens weiterfahren. Des heißt, sobald Sie Ihre Scheiben vom Eis befreit haben“, hörte Katrin sich sagen. Die Oberkommissarin sah erst sie und dann Wacker gereizt an. „Habt ihr am frühen Morgen nix besseres zu tun, als Kollegen zu nerven?“ Katrin zuckte bei den Worten zusammen. Bevor sie weiterschimpfen konnte, lenkte das Klingeln ihres Handys die Oberkommissarin ab. Der Klingelton des Gerätes war eines dieser fürchterlichen Faschingslieder. Katrin hasste Fasching. Während die Schöne das Telefon aus der Jackentasche zog, ertönte grell und laut: „Mir lossen de Dom in Kölle.“ Die Oberkommissarin blickte kurz auf das Display und nahm das Gespräch entgegen. „Was gibt‘s?“, knurrte sie unhöflich und hörte dann lange zu. „Okay. Thomas, bin unterwegs“, erklärte sie schließlich etwas freundlicher und stieg dann in den Käfer. Bevor sie die Tür schloss, streckte sie noch einmal den Kopf aus dem Auto. „Ach, Jürgen! Danke für den Kaffee. Ich muss los. Thomas hat angerufen. Wir haben eine Leiche am Elefantenklo.“ Dann fiel die Tür ins Schloss. Mit einem lauten Heulen erwachte der Motor des Käfers zu neuem Leben. Sekunden später schlitterte der Wagen mit durchdrehenden Hinterrädern, und immer noch vereisten Scheiben, auf die Straße und preschte in Richtung Stadtmitte. Katrin sah ihm sprachlos hinterher. Erst jetzt bemerkte sie die Dienstwaffe, die sie noch immer zum Boden gerichtet in der Hand hielt. Sie blickte zu Jürgen, der ihr sacht auf die Schulter tippte. „Des is ja eine unmögliche Person“, stammelte sie. Wacker begann zu lachen. „Das täuscht, Katrin. Wenn Nina ausgeschlafen ist, kann sie richtig nett sein. War halt Pech, dass du sie vor ihrer ersten Tasse Kaffee erwischt hast.“ Katrin steckte die Pistole ins Holster und schüttelte den Kopf. Auf ein erneutes Treffen mit dieser eingebildeten Kuh konnte sie gut verzichten.
*
Nina bog aus dem großen Kreisverkehr in Richtung Bahnhof ab und fuhr dann schnurgerade in die Fußgängerzone. Noch immer ärgerte sie sich über diese blöde Landpomeranze Katrin Rutzen... dingsda. Natürlich! Sie hätte die Scheibe freikratzen können. Doch leider war ihr schon beim Freimachen des kleinen Gucklochs der Plastikdeckel der alten Musikkassettenhülle zerbrochen. Einen Eiskratzer besaß sie irgendwie nicht mehr. Diese blöden Mistdinger verschwanden jahrein, jahraus jeden Sommer spurlos. Vermutlich waren diese Kratzdinger so gebaut, dass sie sich automatisch, wenn es wärmer wurde, in Luft auflösten, damit die Leute jeden Herbst einen neuen kaufen mussten. Eigentlich brauchte Nina so etwas auch gar nicht, da Maggiolino, wie sie ihren kleinen blauen Käfer nannte, normalerweise immer in der Garage übernachtete. Dass er letzte Nacht draußen schlafen musste, lag einzig und allein daran, dass Nina gestern Abend auf dem Altweiberball total versackt war. Erst um drei Uhr morgens waren sie und ihr Lebensgefährte Klaus mit dem Taxi recht angeschlagen nach Hause gekommen. Dementsprechend dröhnte jetzt ihr Schädel. An die roten Karnickelaugen hinter den dunklen Gläsern der Sonnenbrille wollte sie gar nicht erst denken.
Sie stoppte den Wagen mitten in der Fußgängerzone vor dem ehemaligen Sparkassengebäude, stellte den Motor ab und stieg aus. Heute war Freitag. Jeden Dienstag und Freitag fand hier der Wochenmarkt statt. Entsprechend viel Betrieb herrschte an diesem Morgen, trotz der Kälte in der Innenstadt. Nina schob sich durch die Menschenmenge, die sich vor dem Rampenwendel versammelte, der hinauf in die erste Etage der belebten Einkaufsstraße führte. Rampenwendel war die offizielle Bezeichnung des Aufgangs mit dem Brunnen in der Mitte, der bei den Einheimischen nur Elefantenklo hieß. Sie schlüpfte unter der Polizeiabsperrung aus rot-weißem Absperrband hindurch, die Thomas Kübler ihr bereits elegant hochhielt. „Morgen, Nina. Schön, dass du schon da bist“, begrüßte er sie gut gelaunt. „Hätte gar nicht gedacht, dass du um die Zeit schon wieder fit bist.“ Nina hielt inne und sah Thomas über den Rand der Sonnenbrille an. „Wie meinste denn das?“ Thomas grinste. „Na, als ich und Alexandra heute Nacht gegen eins vom Ball nach Hause sind, warst du schon arg angezählt.“ Nina ignorierte die Bemerkung und wurde sachlich. „Was haben wir denn?“ Thomas zog einen Notizblock hervor. „Weibliche Leiche. Alter sechsundzwanzig. Name: Natascha Watzlaw. Studentin an der Uni in Siegen. Sie hat einen polnischen Ausweis.“ „Doktor Wagner schon da?“, fragte Nina während sie Thomas in das Innere des Bauwerks folgte. „Nee, Wagner und die Kollegen von der Spurensicherung sind unterwegs. Aber Thiel ist schon bei der Leiche.“ Nina blieb abrupt stehen und packte ihn am Ärmel seiner Jacke. „Sag mal, spinnst du? Warum lässt du Thiel zu der Leiche? Der ist im Ruhestand. Ein Zivilist. Der hat hier nichts verloren.“ Erbost schob sie Thomas zur Seite und stapfte weiter. Wie befürchtet traf sie den Oberkommissar a.D. Hans Peter Thiel unterhalb des gewundenen Gehwegs.
*
Thiel stand in dem kleinen käfigartigen Raum, der, nur durch eine Gittertür abgetrennt, einige Stromverteilerkästen und die Pumpenanlage für den Brunnen beherbergte. Gerade untersuchte er den Inhalt einer kleinen weißen Handtasche, die vermutlich dem Opfer gehörte, das direkt vor seinen Füßen unter einer weißen Plastikplane lag. „Guten Morgen, Nina“, begrüßte er sie freundlich. „Sag mal, geht‘s noch?“, fauchte sie zurück, ohne die Begrüßung zu erwidern. Thiel sah sie fragend an. „Wieso?“ Nina hätte sich die Haare raufen können. „Das weißt du genau. Hans Peter, ich muss dich bitten, zu den anderen Passanten hinter die Absperrung zu gehen.“ Demonstrativ hielt sie dem ehemaligen Kollegen die Hand hin, damit er ihr die Handtasche aushändigte. Der zuckte nur mit den Schultern und gab ihr die Tasche. Dann beugte er sich zu der Leiche hinunter, die aufrecht an der Wand saß, und schlug die Plane ein Stück zur Seite. Ein hübsches, traurig wirkendes Gesicht, umrahmt von langen schwarzen Haaren, kam zum Vorschein. Die Augen der Toten waren geschlossen. Ein friedlicher Anblick. Wäre da nur nicht diese bläuliche Blässe gewesen. „Scheint schon länger hier zu sitzen. Die Leichenstarre ist bereits eingetreten. Auf den ersten Blick keinerlei Anzeichen von Gewalteinwirkung“, erklärte Thiel. Hilfe suchend sah Nina zu Thomas und dem uniformierten Kollegen, der hinter ihm stand. „Hans Peter!“ sagte sie jetzt eindringlicher. „Was machst du da?“ „Ähm, siehst du doch. Ich untersuche die Leiche“, antwortete er unbeirrt. Nina ging auf ihn zu, packte ihn an seinem Mantel und zog ihn von der Toten fort. „Jetzt reicht es. Entweder, du begibst dich sofort hinter die Absperrung oder ich lass dich festnehmen.“ Thiel rollte die Augen. Sie sah genau, dass er noch etwas sagen wollte. Doch scheinbar überlegte er es sich dann anders. Hastig zog er seine Gummihandschuhe aus, stopfte sie in die Tasche, drehte sich dann wortlos um und ging davon.
Nina atmete tief durch. Der Tag fing wirklich beschissen an. Irgendwie tat es ihr leid, dass sie Hans Peter derart heftig an seinen Ruhestand erinnern musste. Nur zu genau wusste sie, dass der ehemalige Oberkommissar mit dem plötzlichen „Nicht-mehrgebraucht-werden“ ein großes Problem hatte. Sie beugte sich zu der jungen Frau hinunter und betrachtete sie eine Weile. Eine merkwürdige Melancholie überkam sie. Wie abrupt und endgültig doch der Tod war. Obwohl sie schon viele Leichen gesehen hatte, würde sie sich an den Anblick niemals gewöhnen. Thiel hatte recht. Auf den ersten Blick war nicht zu erkennen, ob die junge Frau gewaltsam ums Leben gekommen war. Nina hielt es aber für wenig wahrscheinlich, dass ein junger, gesund aussehender Mensch sich in einer kalten Nacht zum Sterben hier unter eine Fußgängerbrücke zurückzog. Sie ging mit dem Gesicht näher an die Tote heran und nahm den leichten Duft von Parfüm war. Alkohol roch sie nicht. Sie hob die Plane weiter an und sah darunter. Die junge Frau war komplett und ordentlich bekleidet: Eine beige Jeans und ein fliederfarbener Anorak mit hellem Fellbesatz am Kragen. Ihr Blick wanderte umher zu den Stromkästen, von denen drei Kabel abgingen und lose vor den Füßen der Toten auf dem Pflaster lagen. Vorsichtig stellte sie die Handtasche ab. „Thomas, hast du Fotos von der Leiche und der Tasche gemacht, bevor Thiel sie aufgehoben hat?“ Der Kollege nickte. „Klar hab ich Fotos gemacht.“ Nina stand auf und ging den Kabeln nach, die aus dem Unterstand hinausführten. An der Gittertür blieb sie stehen und besah sich das Schloss. Keine Beschädigungen. „Wer hat sie gefunden?“ Thomas deutete mit einer Kopfbewegung zu der Apotheke auf der anderen Straßenseite. „Der Apotheker. Ein gewisser Herr Klein.“ Nina kannte den Inhaber der Elefantenapotheke: Klaus Klein. Ein lustiger, umgänglicher Zeitgenosse. Er lief ihr nicht weg. Sie würde ihn später befragen. „War das Tor offen?“ Thomas nickte. „Ja, die vom städtischen Bauhof schließen abends vor den Markttagen immer auf, weil einige Stände ihren Strom von hier bekommen.“ „Habt ihr überprüft, wo die Kabel hinführen?“ „Ja. Haben wir. Die Kabel gehören zu dem Stand mit dem Obst, dem Fischverkäufer und der Markttante mit den Socken und Schlüpfern.“ Nina schüttelte den Kopf. „Da fällt mir nichts zu ein. Die bauen doch schon morgens vor sechs ihre Stände auf, stecken ihre Stromkabel zwei Meter neben einer Leiche ein und sagen nichts?“ Nina ging zu dem Marktstand mit den Socken und der Unterwäsche. Eine recht zierliche Frau in den Fünfzigern, extrem dick bekleidet und mit einer viel zu großen Hornbrille, stand hinter ihrem Verkaufsstand und wärmte sich an einem Gasstrahler. Nina sah zu einem handgemalten Werbeschild an der Rückwand des Verkaufsstandes. „Friert’s dich im Winter an der Muschi, kauf dir Schlüpper bei der Uschi“, stand da in großen roten Buchstaben geschrieben. Nina las den Satz ein weiteres Mal. „Is von mir“, erklärte die Marktfrau stolz, die Ninas fragenden Blick wohl bemerkt hatte. „Hab ich selbst gereimt.“ „Ah ja! Schön!“, erklärte Nina, obwohl sie das Sprüchlein in Wahrheit einfach nur dämlich fand. Sie zeigte der Frau ihren Dienstausweis. „Oberkommissarin Moretti von der Kripo Betzdorf. Frau ...?“ „Minzenberg! Ursula Minzenberg, Frau Oberkommissar. Aber alle sagen immer nur Schlüpper-Uschi“, beeilte sich die Dürre zu sagen und streckte Nina grinsend ihre behandschuhte Hand hin. Nina kürzte die Begrüßung ab, notierte den Namen auf ihrem Schreibblock und deutete auf das Stromkabel, das unter dem Tisch mit den Socken verschwand. „Haben Sie das Kabel heute Morgen an der Verteilung eingesteckt?“
Uschi nickte und sah beschämt auf den Boden. Nina fragte weiter. „Ist Ihnen irgendetwas aufgefallen in dem Verschlag bei dem Stromverteiler?“ Sie bemerkte, wie die Frau erst rot im Gesicht wurde und sich dann ihr Kopf leicht bewegte. „Ich hab die junge Frau da sitzen sehen“, flüsterte sie endlich leise. „Und Sie haben sich nichts dabei gedacht, dass da eine Tote sitzt?“ Uschi wiegte den Kopf hin und her. „Doch. Nee. Ja“, druckste sie herum. „Aber ich hab nicht geglaubt, dass sie tot ist. Die sah aus, als ob sie schläft. Hab gedacht, die hat bestimmt gestern Abend Altweiber gefeiert und sich dann besoffen da in die Ecke gesetzt.“ Nina war in Anbetracht von so viel dummer Ignoranz fassungslos. „Frau Minzenberg. Es ist fast zehn Grad unter null. Eine junge Frau sitzt schlafend oder bewusstlos in einer Fußgängerzone und Sie lassen sie da einfach sitzen?“ Nina bemerkte, wie Uschis Lippen zitterten. „Frau Minzenberg. Haben Sie schon einmal etwas vom Paragraf 323 gehört? Unterlassene Hilfeleistung? Das ist in Deutschland strafbar!“ „Aber ich hab doch Bescheid gesagt“, verteidigte sich Uschi. „Ich hab‘s dem Herrn Klein von der Apotheke gesagt. Der ist direkt hin und hat dann auch die Polizei gerufen.“ „Das war wann?“, fragte Nina. „Na, so gegen halb acht, als er hier vorbeikam und zur Apotheke ging.“ Nina nickte und notierte alles. „Wann bauen Sie denn für gewöhnlich Ihren Stand auf, Frau Minzenberg? Wann waren Sie drüben, um Ihr Stromkabel einzustecken?“ Die Marktfrau sah wieder zu Boden und flüsterte dann: „So gegen halb sechs.“
Hans Peter Thiel war sauer. Stinksauer! Da bot man den Kollegen seine Hilfe an und bekam dafür noch einen Tritt in den Arsch. Und das ausgerechnet von Nina, seiner letzten Partnerin im Dienst vor dem Ruhestand und Tochter seiner neuen Lebensgefährtin Inge. Auch schon bevor er mit ihrer Mutter zusammen war, seit dem Tag, an dem er sie kennengelernt hatte, war Nina für ihn immer so etwas wie eine Tochter gewesen. Man musste sich das einmal vorstellen: Sie hatte ihm sogar gedroht ihn zu verhaften! Natürlich waren das nur hohle Floskeln gewesen. Aber allein die Drohung war eine Unverschämtheit. Wütend betrat er den Verkaufsraum der Elefantenapotheke. Rechts von ihm hinter der großen Schaufensterscheibe stand Klaus Klein, der Apotheker. „Mojen, Klaus“, knurrte Thiel. „Morgen, Hans Peter“, antwortete der, ohne seinen Blick von dem Geschehen in der Fußgängerzone rund um den Rampenwendel zu lösen. Hans Peter stellte sich neben ihn und sah ebenfalls hinaus. Nina sprach gerade mit einer der Verkäuferinnen an einem Stand für Socken und Unterwäsche. „Schlimme Sache“, sagte der Apotheker tonlos. Thiel nickte nur. „Hast du das Mädchen gekannt?“, fragte Thiel schließlich. Der Apotheker zuckte mit den Schultern. „Was heißt gekannt? Hab sie öfters mal gesehen. Sie wohnte ja da gegenüber, über dem ehemaligen Pelzgeschäft. Immer nett. Immer sehr freundlich.“ Hans Peter sah zu dem großen Haus, in dem sich heute die örtliche Filiale des Bertelsmann-Buchclubs und ein Laden für Lederwaren befanden. „Wohnte sie da allein?“ Der Apotheker schüttelte den Kopf. „Nee, ich glaub, die wohnt da mit einer Freundin oder so. Auch ein sehr hübsches Mädchen. Sahen sich sogar irgendwie ähnlich. Vielleicht Schwestern, oder so.“ Klaus Klein sah zu ihm hinüber und fragte dann verwundert: „Aber sag mal. Was hast du eigentlich hier zu tun? Bist du nicht Rentner?“ Thiel verdrehte die Augen. „Ja, Klaus. Und danke, dass du mich daran erinnerst. Sonst macht‘s ja keiner.“ Er kramte das Medikamentenrezept aus der Manteltasche und reichte es dem Apotheker. „Wollte eigentlich nur Inges Tabletten abholen.“ Klein nahm das Rezept und ging hinter den Tresen. Hans Peter folgte ihm und dachte über die junge Frau nach, die unweit von ihm tot unter dem Gehweg des Rampenwendels saß. Bis zu ihrer Wohnung waren es keine zwanzig Meter gewesen. Ob sie selbst in den Verschlag gegangen war? Oder hatte sie jemand dort abgelegt? Obwohl ihn das alles gar nichts mehr anging, machte er sich Gedanken darüber. Einmal Polizist, immer Polizist. Da war schon was dran. Er fuhr herum, als sich die Automatiktür der Apotheke öffnete. Nina betrat den Raum und sah ihn erstaunt an. Hans Peter drehte sich wieder um und beobachtete, wie der Apotheker die Packung mit Inges Tabletten an der Kasse scannte. Er merkte, wie sie neben ihn trat und ihm zuflüsterte: „Sorry, Hans Peter, war nicht so gemeint.“ Hans Peter schnaufte nur. Ihn erst blöd anmachen und sich dann wieder einschleimen wollen. Nee. Nicht mit ihm. Er zahlte die fünf Euro Rezeptgebühr, steckte die kostenlose Apothekenzeitung, die Klein ihm reichte, in seine Manteltasche, brummelte etwas wie, „auf Wiedersehen“, und verließ den Laden.
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