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Band 1: Tod im Lokschuppen Ein grausamer Mord erschüttert Betzdorf, das kleine Städtchen am Rande des Westerwaldes. In den Ruinen des verfallenen Lokschuppens wird die verstümmelte Leiche eines ortsansässigen Geschäftsmannes gefunden. Ein heikler Fall für die junge Kommissarin Nina Moretti. Schnell wird klar, dass der Tote, der scheinbar ein Doppelleben führte, nicht nur Freunde in der Kleinstadt hatte. Als am nächsten Tag auch noch der Pfarrer erschossen vor dem Altar der Kirche liegt, wird der Fall immer undurchsichtiger. Führt die Spur ins Kölner Rotlichtmilieu? Liegt das Rätsel in der Vergangenheit der Opfer? Oder sind doch nur Hass und Eifersucht im Spiel? Ein spannender Krimi, nicht nur für Kenner der Schauplätze, der dem Leser auch einen Einblick in zwischenmenschliches Chaos und die Gefühle der Charaktere gibt. Band 2: Krähenblut Nina Morettis zweiter Fall. Der scheinbar natürliche Tod eines Betzdorfer Rentners wirft Fragen auf. Was hat die tote Krähe an der Volierentür im Garten des Mannes zu bedeuten? Ist es doch Mord? Nur Stunden später verschwindet ein Freund des Toten aus einem Altenheim. Eine Entführung? Als Angler am nächsten Morgen die Leiche eines jungen Mannes in einem Weiher im Westerwald finden, wird der Fall für Kommissarin Nina Moretti immer suspekter. Welches dunkle Geheimnis hüteten die beiden alten Männer? Und was hat ein zwielichtiger Siegener Kunsthändler mit all dem zu tun?
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Seitenzahl: 659
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Titelseite
Impressum
Über den Autor
Tod im Lokschuppen
Krähenblut
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek
Die Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im
Internet abrufbar über http://dnb.ddb.de
© 2013 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hameln
Auflage 2015
www.niemeyer-buch.de
Alle Rechte vorbehalten
Der Umschlag verwendet ein Motiv von shutterstock.com
eISBN: 978-3-8271-9889-1
EPub Produktion durch ANSENSO Publishing www.ansensopublishing.de
Die Romane spielen hauptsächlich in einer allseits bekannten Region im Westerwald, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.
Über den Autor:
Micha Krämer wurde 1970 in Kausen im Westerwald geboren. 1989 zog es ihn nach Betzdorf, wo er es ganze 15 Jahre aushielt, bevor das Heimweh ihn zurück nach Kausen führte. 2009 veröffentlichte der gelernte Elektroniker kurz nacheinander die beiden Kinderbücher „Willi und das Grab des Drachentöters” und „Willi und das verborgene Volk“. Der regionale Erfolg der beiden Bücher, die er eigentlich nur für seine eigenen beiden Kinder schrieb, war überwältigend und kam für ihn selbst total überraschend. Einmal Blut geleckt, musste im Jahre 2010 nun ein „richtiges Buch“ her. Im Juni erschien sein erster Roman für Erwachsene und zum Ende des Jahres 2010 sein erster Kriminalroman, der die Geschichte der jungen Kommissarin Nina Moretti erzählt. Neben seiner Familie, dem Beruf und dem Schreiben gehört die Musik zu einer seiner großen Leidenschaften.
Mehr über Micha Krämer erfahren Sie auf www.micha-kraemer.de
Micha Krämer
Titelseite
Prolog
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Kapitel 5
Kapitel 6
Kapitel 7
Kapitel 8
Kapitel 9
Kapitel 10
Kapitel 11
Kapitel 12
Kapitel 13
Kapitel 14
Kapitel 15
Kapitel 16
Kapitel 17
Kapitel 18
Kapitel 19
Epilog
Schlusswort
Sonntag, 5. Dezember 2010, 0:28 UhrBetzdorf / Bahnbrache
Es war kalt. Bitterkalt! Alexandra fror entsetzlich. Sie schmiegte sich enger an Ratte, der neben ihr im Schlafsack lag und schlief. Zitternd lauschte sie seinen gleichmäßigen Atemzügen.
Die einzige Lichtquelle in dem muffigen Kellerraum des alten Eisenbahngebäudes, das ihnen in dieser Nacht als Quartier diente, war ein Grablicht, von denen sie am Nachmittag einige auf dem städtischen Friedhof organisiert hatten. Die Flamme tänzelte unruhig in der durch sichtigen, roten Plastikhülle hin und her und malte dabei pausenlos abstrakte Schatten an die feuchten, mit Schimmel überzogenen Kellerwände.
Ohne Ratte, der im bürgerlichen Leben Kevin Raupach hieß und, wie sie selbst, von Zuhause abgehauen war, würde sie es in diesem unheimlichen Drecksloch keine fünf Minuten aushalten. Wie so oft in den letzten Tagen musste sie an zu Hause denken, an Mama, an ihre Schwester Sarah, an ihr Zimmer unter dem Dach.
Im Sommer, als sie Ratte vor dem Bahnhof in Koblenz kennengelernt hatte und mit ihm nach Berlin abgehauen war, war alles noch so einfach gewesen. Sie hatten nachts im Freien gepennt. Im Berliner Tiergarten, einfach mitten auf einer Wiese im duftenden Gras. Bei Regen hatten sie sich in der U-Bahn verkrochen oder gemeinsam mit Rattes Punkfreunden in einem Abbruchhaus gefeiert.
Ihr Zuhause und ihre Familie waren ihr damals vollkommen egal gewesen. Doch dann kam der Herbst. Die Nächte waren länger und kälter geworden.
Dazu kam, dass ihr morgens plötzlich immer so übel war. Dass sie ständig kotzen musste. Zuerst hatte sie geglaubt, es käme von dem ständigen Alkohol, den Saufgelagen. Dann war ihre Periode ausgeblieben. Fuck! Sie war doch gerade mal fünfzehn. Aber einen Menschen zu töten, auch wenn er noch gar keiner war, kam für sie nicht infrage.
Draußen donnerte ein Zug vorbei. Die Gleise waren keine fünfzig Meter von dem alten Lokschuppen entfernt, dessen Ruinen sich über ihrem Kellerloch befanden.
Vorsichtig zog sie ihr Handy aus dem Schlafsack und sah auf das zerkratzte Display. Gleich halb eins. Sie betätigte einige Tasten, um in den Ordner mit den eingegangenen Kurznachrichten zu gelangen. Auch heute Abend hatte Mama ihr wieder geschrieben, wie an fast jedem Tag, seitdem sie abgehauen war. Und wie jeden Tag hatte Alexandra ihr nicht geantwortet. Zuerst aus Trotz. Dann aus Feigheit und Scham. Und zuletzt, weil das Guthaben der Prepaid Card aufgebraucht war.
Tränen rollten über ihre Wangen. Aber solange Mama mit diesem Scheißkerl Günther zusammen war, würde sie nicht nach Hause gehen.
Plötzlich hörte sie über sich ein Geräusch. Schritte, Schleifgeräusche, ein entferntes Poltern. Dann glaubte sie Stimmen zu hören. Leise, flüsternd – weit entfernt und doch so nah. Das nächste bewohnte Haus war weit weg. Irgendwer musste da oben in den alten Ruinen sein.
Ihr Herz pochte wild. Sie setzte sich auf und rüttelte Ratte an der Schulter. Im Halbschlaf drehte der sich zu ihr um und blinzelte sie an. Wie immer schlug ihr ein Geruch aus kaltem Zigarettendunst und Bier entgegen, als er sie ansprach. Diesen Geruch nahm sie ständig wahr, seit sie selbst nicht mehr qualmte und nur noch gelegentlich einen Schluck trank.
„Was’n los?“, knurrte der Punk.
„Oben sind welche“, flüsterte sie.
Sofort war Ratte wach.
„Bullen?“, fragte er ängstlich.
Alex zuckte mit den Schultern.
„Weiß nicht.“
Ratte kroch aus dem Schlafsack, griff nach seinen Stiefeln und schlüpfte hinein. Einen Moment hielt er inne und lauschte. Deutlich waren über ihnen wieder Geräusche zu hören. Es klang, als würde irgendetwas Schweres über den mit Schutt übersäten Boden gezogen.
Während sie in die Dunkelheit lauschten, beobachtete sie Ratte. Deutlich konnte sie im Schein der Kerze seinen Atem sehen, der wie Rauch in der kalten Luft kondensierte.
„Du bleibst hier!“, zischte er ihr zu, als sie ebenfalls begann, ihre Stiefel anzuziehen.
„Spinnst du?“, zischte sie zurück. „Keine Sekunde bleib’ ich in dem Loch hier allein!“
Er nickte, während Alexandra zitternd die Bänder ihres Schuhwerks schnürte. Gemeinsam krochen sie über einen Schuttberg am Fuße der Treppe ins Freie und kauerten sich hinter einen Mauerrest. Keine fünfzig Meter von ihnen entfernt, am anderen Ende des ehemaligen Lokschuppens, bewegte sich der Kegel einer Lampe.
Geduckt schlichen sie näher. Alex’ Herzschlag raste, sie hatte entsetzliche Angst. Vom Himmel fielen nun dicke Flocken und bedeckten den Boden um sie herum. Erneut duckten sie sich hinter einer Backsteinmauer und spähten durch eine Fensteröffnung in die halb verfallene Werkstatt. Es handelte sich um eine Stirnlampe, deren Kegel nun das Gesicht eines Mannes keine fünf Meter von ihr anleuchtete. Das Gesicht des Trägers konnte sie, im Gegensatz zu dem des anderen, der recht grimmig dreinschaute, nicht erkennen. Der Typ erinnerte sie stark an den Lebensgefährten ihrer Mutter, der ihr, Sarah und Mama das Leben zur Hölle machte. Besonders dann, wenn er wieder einmal besoffen war und seine Wut an ihnen ausließ.
Plötzlich leuchtete die Lampe in ihre Richtung. Alexandra duckte sich und kauerte sich neben Ratte, der eben falls in Deckung gegangen war, auf den Boden. Schritte näherten sich. Sie hielt den Atem an und drückte sich noch fester an die kalten, nassen Steine. Sie hörte die Schritte direkt neben sich. Spürte die Anwesenheit der beiden und nahm den starken, ekelhaft süßlichen Geruch eines Männerparfüms wahr. Dann entfernten sich die Schritte in Richtung der Gleise.
Sie blieben noch eine kleine Ewigkeit zusammengekauert auf dem Boden liegen, bis nichts mehr zu hören war. Alexandras Gedanken schlugen wahre Purzelbäume. Die beiden Typen waren keinen Meter an ihnen vorbeigelaufen. Was wäre gewesen, wenn der mit der Lampe zur Seite gesehen hätte? Er hätte sie unweigerlich entdeckt.
Ratte erhob sich als Erster und stolperte in den Werk stattraum, aus dem die Fremden zuvor gekommen waren. Alexandra folgte ihm mit immer noch weichen Knien.
„Würde mich mal interessieren, was die beiden hier getrieben haben“, hörte sie den Punk vor ihr flüstern.
Ein Feuerzeug flackerte auf. Ratte holte eines der Grablichter aus seiner Lederjacke und zündete es an. Dann sahen sie es. Alex wollte schreien, doch ihre Stimme versagte. Sie sah noch, wie Ratte die Kerze fallen ließ und wie die Flamme beim Aufprall auf den Boden erlosch. Dann wurde alles um sie herum dunkel.
Montag, 6. Dezember 2010, 7:58 UhrBetzdorf / Kolonie
Mit quietschenden Reifen bog der marineblaue VW Käfer in die Kölner Straße ein.
„Verflucht!“, schrie Nina und trat das Gaspedal des Oldies erneut bis zum Anschlag durch. Der vierunddreißig PS starke Boxermotor im Heck heulte laut auf und der Volkswagen beschleunigte. Zitternd bewegte sich der Zeiger des Tachometers auf rasante achtzig Stundenkilometer.
Doch nach nicht einmal hundert Metern musste sie bereits wieder derart heftig bremsen, dass sich der Sicherheitsgurt schmerzhaft an ihre Brust drückte und sie sich um ein Haar die Nase an der flachen Frontscheibe des kleinen Wagens gestoßen hätte.
„Idiot, nun fahr doch!“, brüllte sie den Wagen vor sich an, einen dunklen 3er-BMW neueren Baujahrs mit breiten Reifen und getönten Scheiben, dessen Stoßstange sie nun verdächtig nahegekommen war.
Natürlich würde der Fahrer oder die Fahrerin sie nicht hören können, deshalb betätigte sie kurzerhand die Licht hupe. Die Person am Steuer des BMW schien diese Geste jedoch gänzlich kalt zu lassen. Der Wagen wurde sogar noch langsamer und fuhr nun nicht einmal mehr die erlaubten fünfzig.
Nina schlussfolgerte, dass es sich eindeutig um einen Mann handeln musste. Eine Frau würde anders reagieren, da war sie sich ganz sicher. Abgesehen davon konnte so eine Proll-Karre auch nur einem dieser verklemmten Kerle mit zu kurz geratenem Schwanz gehören, die mit solchen Wagen versuchten, ihre mangelnde Potenz zu über spielen.
Sie sah auf ihre Armbanduhr. Zwei Minuten vor acht.
Verflixt, sie hatte nur noch zwei Minuten.
Heute war ihr erster Arbeitstag in der neuen Dienststelle und sie würde sich verspäten. Und schuld war dieser Depp vor ihr in seinem Hassanmobil. Seinetwegen und wegen diesen anderen Vollpfosten, die morgens die Straßen mit ihren dicken, prolligen Benzinkutschen blockierten, kam sie zu spät.
Ein kurzer Blick an dem Wagen vorbei. Kein Gegenverkehr zu sehen. Sie schaltete zurück, trat das Gaspedal erneut durch und zog hinter dem schleichenden BMW heraus auf die Gegenfahrbahn. Der Motor röhrte heftig, während sich der Buckelporsche langsam an der schwarzen Limousine vorbeischob.
Trotz der Konzentration, die das Überholmanöver ihr abverlangte, konnte Nina nicht widerstehen kurz zur Seite zu sehen, um einen Blick auf den Fahrer zu erhaschen. Es war tatsächlich ein Kerl. Obwohl sie das Gesicht des Mannes nicht erkennen konnte, so hatte sie doch den Eindruck, dass der Idiot auch noch grinste und den Kopf schüttelte. Eine Geste, die Nina nur noch zorniger machte.
Sie setzte den Blinker und scherte nur wenige Meter vor dem BMW ein. Dann hob sie den Mittelfinger vor ihren Rückspiegel und schrie die Frontscheibe des Käfers erneut an.
„Fick dich selbst, du Arschloch!“ Im Spiegel erkannte sie, wie der Abstand zu dem Wagen größer wurde. Dann blitzte es rot. Im Augenwinkel erhaschte sie noch einen flüchtigen Blick auf das dreibeinige Stativ der mobilen Geschwindigkeitsmessanlage, die, geschickt getarnt, neben der Einfahrt zu einem der örtlichen Möbelhäuser stand. So ein verfluchter Mist. Langsam, wie in Zeitlupe, senkte sie ihren Mittelfinger, der noch immer zu einer imaginären Fliege am Wagenhimmel deutete. Heute lief wirklich alles schief. Erst hatte sie verschlafen, weil dieser blöde Designerradiowecker von Tchibo sie nicht weckte. Okay, sie hätte ihn gestern Abend anschalten müssen.
Dass sie es nicht getan hatte, war aber eindeutig die Schuld von Robert, ihrem Ex. Dem sie gestern den Laufpass gegeben hatte, nachdem sie erfahren hatte, dass er sie mit Lara, Ninas angeblich bester Freundin und Mitbewohnerin in der Kölner WG, betrogen hatte. Wie sich im Laufe des Telefonats, bei dem sie Robert zur Rede stellte, ergab, lief die Affäre zwischen den beiden schon seit fast drei Monaten. Also so ziemlich exakt ab dem Zeitpunkt, an dem sie beschlossen hatte Köln zu verlassen und zurück in ihre Heimatstadt Betzdorf zu ziehen. Sie blöde Kuh hatte wie immer nichts von alledem gemerkt.
Nina und Lara kannten sich schon aus der Schule. Schon damals war Lara wie eine giftige Natter gewesen.
Sie hatten beide gemeinsam Abitur gemacht. Während Lara Betriebswirtschaft in Köln studierte, um später einmal eine der Firmen ihres Vaters zu übernehmen, war Nina zur Polizei gegangen. Dank ihres Abis die verkürzte Ausbildung in Brühl. Bereits nach einem halben Jahr Streifendienst in Köln erhielt sie die Zusage für das Studium zum Kommissar, Fachrichtung Kriminalpolizei, das sie glänzend abschloss und auf Anhieb den Sprung als Kommissarin zum KK 11 in Köln schaffte. Schon als Kind war es ihr Traum gewesen, zur Polizei zu gehen.
Roberts Träume dagegen lagen wohl eher in dem Begatten der Firmenerbin und Oberschlampe Lara Schmitz. Schon während ihrer Schulzeit war dieses Miststück mit jedem Kerl ins Bett gestiegen, der ihr über den Weg lief. Es gab sogar Gerüchte, dass sie ihre Abiturnoten auf dem Rücksitz des Daimlers von Oberstudienrat Kanthofer aufgebessert hatte.
Nach dem Studium hatte sie gemeinsam mit Lara sogar eine Wohnung gemietet. Es grenzte an ein Wunder, dass ihre WG ganze sieben Jahre überlebt hatte. Klar, es hatte auch schon hin und wieder einmal richtig geknallt. Aber nur mäßiger Zickenkrieg, der meist schnell wieder vorbei war. Die Tatsache, dass sie beide nur selten zu Hause waren, war für das Zusammenleben in der Wohngemeinschaft eher von Vorteil gewesen.
Wegen Kerlen hatte es niemals Stress gegeben. Ihr Beuteschema bei Männern unterschied sich erheblich. Während Nina eher auf „normal tickende Männer“ stand, wie sie diese gern selbst bezeichnete, zog es Lara meist zu irgendwelchen schrägen Möchtegern-Yuppies. Angeber im rosa Seidenhemd, weißem Sakko und einem von Papa gesponserten Porsche.
Zumindest hatte sie das bis gestern geglaubt. Und nun spannte die ihr Robert glatt aus. Aber diesmal war das Maß voll. Zum letzten Mal war sie auf das Flittchen hereingefallen. Robert war ein Depp und es ärgerte sie nun maßlos, dass sie das nicht früher bemerkt hatte. Spätestens, wenn Lara mit ihm fertig war, wenn er sie langweilte, würde sie ihn auch wieder eiskalt abservieren. Ihn das Klo herunterspülen und dann irgendwann vor Ninas Tür auftauchen und auf reuige Sünderin machen, da sie außer ihr nie andere richtige Freundinnen hatte. Natürlich, alle anderen erkannten eben sofort, was Lara für eine Schlange war. Aber nein, diesmal war Schluss.
Nina schüttelte bei dem Gedanken daran immer wieder ungläubig den Kopf. Jahrelang hatte sie dummes Stück wirklich geglaubt, Lara wäre ihre Freundin. Pah, schöne Freundin! Wäre sie nicht schon vor zwei Wochen aus der WG ausgezogen, um nach Betzdorf zurückzugehen, hätte sie es spätestens jetzt getan. Sollten die beiden doch in dieser verfluchten Kölner Mansardenwohnung glücklich werden. Sie war nun fort und von ihr aus konnten die beiden sich von morgens bis abends durch jedes der vier geräumigen Zimmer vögeln.
Ihr Augenmerk fiel auf einen großen, freien Platz rechts der Straße, wo mehrere Skulpturen aus gebogenem Betonstahl auf großen Schutthügeln standen. Kunst war ganz und gar nicht ihr Ding und würde es auch wohl niemals werden. In ihrer Jugend hatte es an dieser Stelle ein Kaufhaus gegeben, durch das sie nach der Schule mit ihren Freundinnen gezogen war. Gekauft hatte sie im Gegensatz zu ihrer Freundin Lara nur selten etwas. Hin und wieder mal einen Stift oder ein Heft für die Schule. Manchmal auch etwas Süßes zum Naschen. Ninas Eltern waren im Gegensatz zu den Schmitz nicht reich. Im Gegenteil. Ihr Papa war sein Leben lang nur ein einfacher Arbeiter am Fließband eines örtlichen Rasenmäher-Herstellers gewesen. Aber Ninas Kindheit war glücklich verlaufen, auch ohne viel Geld.
Sie fuhr über die Brücke, die an dieser Stelle die Eisenbahn und die Sieg überspannte, und ordnete sich in den Kreisverkehr ein. Bereits Sekunden später konnte sie rechts das Amtsgericht und dahinter die Polizeiinspektion erkennen. Sie hatte Glück und fand direkt vor dem alten Gebäude, in dem sich ihre neue Dienststelle befand, einen freien Parkplatz. Nina blinkte rechts und huschte mit Schwung in die Lücke.
Sie raffte ihre Handtasche, ein, wie sie glaubte, gelungenes Plagiat einer Nobelmarke, aus dem Fußraum vor dem Beifahrersitz und angelte nach ihrer Dienstwaffe. Es handelte sich um eine Pistole des Typs Sig Sauer P226, die zwischen etlichen leeren Plastik-Getränkeflaschen und anderem Verpackungsmüll unter den Sitz gerutscht war.
Ihr Blick fiel auf eine halb volle Coca-Cola-Flasche, deren bräunlicher Inhalt zu einem Klumpen gefroren war. Scham überkam sie beim Anblick des Chaos im Wageninneren. Gut, dass ihr Papa das nicht mehr sehen musste.
„Maggiolino, ich versprech’ es, am Wochenende räum’ ich dich auf und wasch’ dich“, flüsterte sie leise und strich sanft über das Armaturenbrett.
Der Käfer war, solange sie denken konnte, das Heiligtum ihres Papas gewesen und kam in der Rangordnung direkt hinter Nina und ihrer Mama. Sein erstes und einziges Auto. Maggiolino: Maikäfer hatte ihr Papa Marcello Moretti ihn immer liebevoll genannt. Und jedem, der es hören wollte, erzählte er, wie hart er, der als italienischer Gastarbeiter nach Deutschland gekommen war, für dieses Auto hatte arbeiten müssen. „Ein gutes deutsches Auto“, hatte er immer gesagt. Ein Auto, um das die Familie in Italien ihn beneiden würde.
Leider hatte die Familie den kleinen Wagen zu seinen Lebzeiten nie zu Gesicht bekommen. Aus Gründen, die Nina nicht kannte, hatte ihr Vater den Kontakt nach Italien immer gescheut. Als gerade Zwanzigjähriger war er als Gastarbeiter nach Deutschland gegangen. Dort lernte er Inge, Ninas Mama, kennen und lieben. All die Jahre schwärmte er immer wieder von seinem Bella Italia. Aber niemals kehrte er dorthin zurück. „Ich kann nicht zurück, es geht nicht“, sagte er immer nur, wenn sie oder Mama ihn auf eine Urlaubsreise nach Italien ansprachen. Erst als es bereits zu spät war, auf dem Sterbebett, bat er Nina dann, ihn nach seinem Tod in Neapel beizusetzen. In seinem Bella Italia, das er bei Nacht und Nebel verlassen hatte. Sie musste es ihm versprechen, unter Tränen. „Nimm meinen Maggiolino und bring’ mich heim“, hatte er gesagt. Knapp eine Woche, nachdem der Krebs gesiegt hatte, war sie gemeinsam mit ihrer Mama in dem kleinen blauen Wagen nach Italien gefahren. Auf dem Rücksitz die Urne mit der Asche. Nina hatte gehofft, in Italien etwas über die Beweggründe für die Flucht ihres Papas nach Deutschland zu erfahren. Aber so freundlich, wie die Familie Moretti sie und ihre Mama in Neapel empfangen hatte, so eisig wurde die Stimmung, wenn sie versuchte, das Weggehen ihres Vaters vor über dreißig Jahren anzusprechen.
Seit dem Tod ihres Papas waren nun drei Monate vergangen und noch auf der Rückreise aus Italien beschloss sie, zurück nach Betzdorf zu gehen. Um ihrer Mama beizustehen, die nun allein in dem großen Haus lebte, das Papa mit seinen eigenen Händen für sie und Nina gebaut hatte.
Sie verstaute ihre Pistole zusammen mit den Wagenschlüsseln in der Handtasche, warf dann noch einen schnellen Blick in den Spiegel und versuchte halbherzig ein wenig Ordnung in ihre verstrubbelte dunkle Lockenpracht zu bringen. Ohne Erfolg. „Scheiße, Nina, du siehst aus, als hättest du die ganze Nacht gesoffen“, fluchte sie leise. Dann stieg sie aus. Ein eiskalter, feuchter Wind schlug ihr entgegen. Vereinzelt tanzten Schneeflocken durch die Luft. Schon in drei Wochen war Weihnachten.
Sie drückte den Knopf der Türverriegelung nach unten und warf die Tür des Käfers zu. Hastig rannte sie die Stufen zu der schweren Eichentür hinauf, drückte sie auf und trat in den kleinen Vorraum ein.
Direkt vor ihr befand sich eine weitere Tür mit der Aufschrift ‚Anmeldung. Bitte klingeln‘, darunter ein Pfeil, der nach links deutete, wo hinter einer schusssicheren Scheibe ein junger Uniformierter an einem Schreibtisch hockte.
Klingeln brauchte sie nicht, der Beamte hatte sie bereits gesehen und betätigte die Taste der Gegensprechanlage, die vor ihm auf dem Schreibtisch stand.
„Guten Morgen, Sie wünschen?“, klang seine Stimme scheppernd, aber freundlich, aus einem kreisrunden Lautsprecher unterhalb der Scheibe.
Nina kramte ihren Ausweis aus der Tasche und hielt ihn an die Scheibe, ihr Blick fiel auf eine Uhr, die hinter dem jungen Mann an der Wand hing. Drei Minuten nach acht. Sie hasste Unpünktlichkeit, dennoch passierte es ihr immer wieder, dass sie zu Terminen zu spät kam, um sich dann, wie auch diesmal, über sich selbst zu ärgern.
„Nina Moretti, ich möchte gerne zu Kriminalrat Schneider.“
Der Beamte nickte freundlich und betätigte erneut den Knopf der Gegensprechanlage.
„Herzlich willkommen, Frau Moretti. Zimmer 217. Durch die Tür, Treppe hoch, zweite Etage rechts“, dann deutete er auf die Tür vor ihr, wo in diesem Moment ein Türöffner summte.
Als sie eintrat, saß Kriminalrat Schneider über eine Akte gebeugt hinter seinem Schreibtisch mit dem Rücken zum Fenster. Der Mann war, wie Nina schätzte, nicht mehr weit von seiner Pensionierung entfernt. Das graue, dünne Haar war sorgfältig zur Seite gekämmt. Das Gesicht glatt rasiert. Die braune Hornbrille des Beamten entsprach, genau wie seine sorgfältig geknotete Krawatte, sicherlich nicht der neuesten Mode.
Bekanntlich entscheiden die ersten sieben Sekunden beim Zusammentreffen von Menschen, ob das Gegenüber einem sympathisch oder ganz und gar unsympathisch ist. Sieben Sekunden. Sieben Sekunden, in denen unser Unterbewusstsein über gut und böse, Freund oder Feind, entscheidet. Der erste Eindruck ist wichtig und bewahrheitet sich laut einer Studie, die sie in irgendeiner Zeitschrift gelesen hatte, zu über 90 Prozent. Schneider fiel in die Kategorie „sehr sympathisch“. Bei dienstlichen Bekanntschaften lag ihre persönliche Trefferquote bezüglich Menschenkenntnis sicherlich sogar über dem Satz der Studie. Bei privaten Männerbekanntschaften dagegen war die Quote annähernd gleich Null. Bisher hatte sich noch jeder tolle Kerl als echte Flasche herausgestellt.
Schneider erhob sich, kam hinter dem unmodernen Eichenholz-Schreibtisch hervor, streckte ihr die Hand entgegen und packte sie mit festem Griff.
„Guten Morgen, Frau Moretti, herzlich willkommen in Betzdorf.“
Die dunklen Augen des Grauhaarigen musterten sie interessiert, während er ihr einen Platz auf einem der beiden Cocktailsessel vor dem Schreibtisch anbot. Dann setzte er sich wieder auf seinen Bürostuhl, schloss hastig die Akte, die noch immer aufgeschlagen auf dem Schreibtisch lag, und legte sie beiseite.
Eine weitere von Ninas Stärken war es, ihr Umfeld in Sekunden förmlich zu scannen. Dabei rasten ihre Augen innerhalb von Sekundenbruchteilen umher, um alle Informationen gierig aufzunehmen. Schon als Schneider aufgestanden war, um sie zu begrüßen, hatte sie die Akte bereits als ihre eigene Personalakte erkannt.
„Tja, Frau Moretti, wie gesagt, ich darf Sie noch einmal herzlich in Ihrer neuen Dienststelle begrüßen.“
Nina nickte und bedankte sich freundlich, wartete aber dann innerlich misstrauisch ab.
„Erlauben Sie, wenn ich Sie etwas frage, Frau Moretti? Der Wechsel von der Kriminalinspektion Köln zu uns in die Provinz muss Ihnen doch schwergefallen sein? Sicherlich kein leichter Schritt?“
Nina lächelte. Jetzt war es also heraus. Schneider wollte ihre wahren Beweggründe für den Wechsel wissen.
„Ich wollte nach dem Tod meines Vaters zurück nach Hause, Herr Kriminalrat. Meine Mutter wird nicht mehr jünger und lebt seit Papas Tod recht zurückgezogen. Ich bin ein Einzelkind. Wer außer mir sollte sich um sie kümmern?“, antwortete sie, wie sie glaubte, ehrlich.
Sicher war sie sich nicht, ob es wirklich das Ableben ihres Vaters und die Einsamkeit ihrer Mutter gewesen waren, die sie zurück in die Kleinstadt an der Sieg getrieben hatten. Sicher, es war der Auslöser gewesen. Doch die Gedanken über eine Rückkehr keimten schon länger in ihr. Natürlich, Köln war eine tolle Stadt. Die Kollegen waren überwiegend nett gewesen. Idioten gab es überall; in jeder Dienststelle fanden sich Kollegen, mit denen man gut, und andere, mit denen man weniger gut zurande kam.
Da ihr Wechsel nach Rheinland-Pfalz länderübergreifend war, hatte sich auch erst ein Tauschpartner finden müssen, der für sie zur Polizei nach NRW ging. Der junge Polizist, der von der Großstadt Köln träumte, war auch recht schnell gefunden worden. Für Nina war Köln in den fast acht Jahren, die sie dort mit Lara in der WG gewohnt hatte, nie „ihre“ Stadt gewesen. Die Anonymität in Köln ängstigte sie. Betzdorf war ländlicher. In Betzdorf kannte man sich noch. Fast täglich wurden in Deutschlands Großstädten Menschen gefunden, die bereits seit Wochen, Monaten oder in seltenen Fällen Jahren tot in ihrer Wohnung lagen. Hier auf dem Land, in der Provinz, so glaubte sie zumindest, war das noch anders. Die Chance, im Supermarkt um die Ecke ein bekanntes Gesicht, einen ehemaligen Schulfreund, Lehrer oder Nachbarn zu treffen, war groß. In Köln war man oft allein und sie hasste es, allein zu sein.
„Und das waren die einzigen Gründe?“, riss Schneider sie aus ihren Gedanken.
Sie nickte und deutete auf die Akte.
„So steht es doch auch dort.“
Der Kriminalrat hob abwehrend die Hände.
„Entschuldigen Sie meine direkte Art, Frau Moretti. Ich wollte Ihnen nicht zu nahe treten. Aber verstehen Sie. Ich habe schon eine Menge Dinge in solchen Dokumenten gelesen, die, wie sich im Nachhinein herausstellte, nicht ganz den Tatsachen entsprachen. Da wurden Akten geschönt, Kollegen weggelobt, teilweise auf höhere Ämter befördert, obwohl sie so viel Dreck am Stecken hatten, dass sie eigentlich für den Polizeidienst ganz und gar nicht mehr tragbar waren.“
Erneut hob er panisch die Hände.
„Um Gottes willen, Frau Moretti, verstehen Sie das jetzt nicht falsch. Ich wollte Ihre Redlichkeit nicht infrage stellen.“
Sie lächelte ihn an.
„Keine Angst, Herr Kriminalrat, ich habe es schon richtig verstanden. Aber Sie können unbesorgt sein, da gibt es nichts in meiner Vergangenheit, das ich verschweigen müsste.“
Schneider schwieg und nickte mehrmals erleichtert. Dann erhob er sich, nahm sein Jackett von der Stuhllehne und zog es an.
„Dann mal auf in den Kampf, Frau Moretti. Da werde ich Sie am besten gleich mal mit Ihrem neuen Kollegen bekannt machen.“
Nina folgte Schneider aus dem Büro. Sie gingen quer über den Korridor und direkt durch die gegenüberliegende Tür. Das Büro, das sie nun betraten, war recht eng und wirkte durch die Dachschrägen, unter denen zwei L-förmige Schreibtische Kopf an Kopf standen, erdrückend. Es roch widerlich nach kaltem Zigarettenrauch. Der eine der beiden Arbeitsplätze war bedeckt mit großen Aktenstapeln, diversen Schmierzetteln, zwei verschmutzten Kaffeebechern, einem überquellenden Aschenbecher und undefinierbarem Krimskrams. Unter einigen Akten lugte ein altmodisches Telefon hervor. Der zweite Arbeitsplatz dagegen war, bis auf eine Schreibtischauflage aus grünem Kunststoff, dem Monitor eines Computers und der dazu gehörigen Tastatur sowie dem gleichen altbackenen Telefon, leer.
An dem überfüllten Schreibtisch hockte ein älterer Beamter und hackte mit dem bewährten Zweifingersuchsystem auf die vom Zigarettenrauch schon graugelbe Tastatur ein. Schneider räusperte sich leise, doch der Grauhaarige mit der wirren Frisur reagierte nicht.
„Kollege Thiel?“, versuchte es der Kriminalrat nun.
Der Mann unterbrach sein Tippen und drehte sich lässig auf seinem Bürostuhl um.
„Was gibt es denn, Herr …?“
Er brach den begonnenen Satz ab, als er erkannte, dass Schneider nicht alleine war.
„Kollege Thiel, darf ich Ihnen die neue Kollegin, Frau Kommissarin Nina Moretti, vorstellen? Frau Moretti, der Kollege, Oberkommissar Hans Peter Thiel.“
Nina trat an Schneider vorbei und streckte Thiel die Hand entgegen, der sie zögernd ergriff und Nina interessiert betrachtete. Ihre Blicke trafen sich. Erneut ging ihr die Sieben-Sekunden-Theorie durch den Kopf, die diesmal irgendwie ganz und gar nicht funktionieren wollte. Der Mann ihr gegenüber war nicht so einfach einzuschätzen. Er lächelte. Aber war dieses Lächeln eher hämisch, listig, freundlich oder einfach nur aufgesetzt? Sie konnte es nicht deuten.
„Herzlich willkommen, Frau Moretti.“
Thiel ließ ihre Hand los und deutete auf den zweiten, fast leeren Arbeitsplatz.
„Fühlen Sie sich wie zu Hause.“
Nina folgte der Handbewegung. Ihr Blick blieb an dem überquellenden Aschenbecher zwischen den Aktenbergen ihres neuen Kollegen hängen. Thiel schien ihre Gedanken zu erraten.
„Selbstverständlich kann ich auch draußen rauchen, wenn es Sie stört.“
„Nein, nein. Das macht mir nichts aus“, log sie und ärgerte sich sogleich über ihre eigenen Worte.
Zum Glück läutete das Telefon und unterbrach die Konversation, die, wie sie glaubte, auf dem besten Weg war, vollkommen aus dem Ruder zu laufen. Thiel nahm ab und meldete sich mit seinem Namen und Dienstgrad.
„Wir sind unterwegs“, sagte er nach einigen Sekunden und legte auf. Dann sah er Nina schelmisch lächelnd an.
„Tja, Frau Moretti, so kann es gehen. Sie sind noch keine fünf Minuten hier und schon haben wir die erste Leiche. Würde sagen, ein neuer Rekord.“
„Was ist passiert?“, fragte Schneider, während Thiel seinen Mantel vom Haken der Garderobe nahm.
„Männliche Leiche, drüben im alten Lokschuppen, vermutlich ein Obdachloser“, antwortete er knapp und legte sich seinen Schal um den Hals.
„Ähm, Frau Moretti“, meldete sich Schneider an Nina gewandt, „ich denke, in Anbetracht der Umstände führen wir unsere kleine Kennenlernrunde ein andermal fort.“
Nina nickte knapp und folgte Thiel, der bereits draußen auf dem Gang war und in Richtung Treppenhaus hastete.
Montag, 6. Dezember 2010, 8:55 UhrBetzdorf / Friedrichstraße
„Schicken Wagen haben Sie“, meinte Nina, als sie wenige Minuten später, in Thiels schwarzem 3er-BMW sitzend, vom Parkplatz hinter dem Polizeirevier fuhren und sich in den fließenden Verkehr einordneten.
„Sie aber auch“, antwortete der Oberkommissar und grinste nun breit.
Nina wäre am liebsten vor Scham in dem Ledersitz versunken. So ein verfluchter Mist. Warum nur musste sie denn heute Morgen ausgerechnet den Wagen ihres neuen Kollegen so dreist überholen?
Sie kramte ihr Handy aus der Jackentasche und sah auf das Display. Die Uhr des Telefons zeigte bereits kurz vor neun. Keine neuen Nachrichten, keine Anrufe in Abwesenheit. Sie schaltete das Telefon von stumm auf Vibration, aktivierte die Tastensperre und steckte es zurück in ihre Jacke.
„Sie stammen von hier, Frau Moretti?“, fragte Thiel nun vollkommen ernst.
„Ja.“
Nina nickte.
„Bin eine gebürtige Betzdorferin.“
Thiel sah starr nach vorne auf den Verkehr.
„Dann kennen Sie das alte Bahngelände und den Lokschuppen?“
Wieder nickte sie. Welcher Jugendliche aus diesem Kaff kannte das verlassene Gelände nicht? Der Lokschuppen und das angrenzende Bahnbetriebswerk waren einst die Seele der aufstrebenden Kleinstadt gewesen. Betzdorf und seine Bewohner hatten fast ein Jahrhundert von der Eisen bahn und dem Aufschwung, der mit ihr kam, gelebt. Bevor die Eisenbahn durch das Siegtal gebaut worden war, hatte es hier nur einige kleinere Bauernhöfe gegeben. Doch auf dem Zenit, in den 1980er-Jahren, war das Aus gekommen. Die Bahn gab den Standort Betzdorf endgültig auf. Zwar gab es noch einen Bahnhof, an dem die Züge hielten, um dann in Richtung Köln oder Siegen weiterzufahren. Aber Lokomotiven wurden hier schon lange nicht mehr repariert. Die Werkstätten und Hallen wurden geräumt und sich selbst überlassen. Nach und nach holte sich die Natur nun alles wieder. Bäume wuchsen aus Mauernischen, Wände stürzten ein und wurden sogleich von Gestrüpp und Dornen überwuchert.
In ihrer Jugend war Nina oft mit Freunden am Lokschuppen gewesen, nach der Schule oder am Wochenende. Einsame, vergessene Orte, wie Fabrikhallen oder eben dieses alte Bahnbetriebswerk, übten auf Kinder und Jugendliche eine magische Anziehungskraft aus. Dort hatte sie ihre erste Zigarette geraucht und das erste Mal Alkohol in größeren Mengen getrunken. Mal war es teurer Whisky gewesen, den Lara aus der Hausbar ihres Vaters geklaut hatte. Mal war es billiger Rotwein oder Sekt aus irgendeiner anderen illegalen Quelle gewesen. Getrunken und geraucht hatten sie das, was gerade da war. Besoffen oder beschwipst, mit der Kippe in der Hand, fühlte man sich doch auch gleich ein Stück erwachsener.
Heute wusste sie, wie dämlich das damals gewesen war. Und auch viele der Jugendlichen, die heute, zwanzig Jahre nach ihr, an solchen Plätzen abhingen, würden irgendwann begreifen, wie dumm ihr Verhalten gewesen war. Dass Alkohol und Zigaretten einen auch nicht erwachsener machten. Andere wiederum, eine Minderheit, würden es nie verstehen. Sie würden ein Leben lang so weitermachen. Sich ihr Hirn wegsaufen, vielleicht irgendwann auf Drogen umsteigen, auf der Straße landen. Schlägereien, Diebstähle, sich prostituieren, das volle Programm.
In den Jahren als Polizistin in Köln war sie über viele dieser Existenzen gestolpert. Menschen, die die schwerste Phase im Leben, die Pubertät, einfach nicht schadlos überwunden hatten.
Besonders schmerzlich war es für Nina gewesen, vor einigen Tagen einen ihrer Freunde aus eben diesen alten Tagen vor einem Supermarkt in der Innenstadt zu treffen. Wie vor zwanzig Jahren hatte er dort mit Halbwüchsigen abgehangen. Sein Gesicht war verlebt und grau gewesen. In der Hand eine Flasche billigen Wodka aus eben diesem Supermarkt, in der anderen Hand eine selbst gedrehte Zigarette. Und obwohl er erst Anfang bis Mitte dreißig war, sah er aus, als wäre er bereits im Rentenalter. Irgendwann einmal hatte sie bei einem Klassentreffen gehört, er sei wieder einmal im Knast. Umso verwunderter war sie gewesen, ihn hier zu treffen, mit einer Schar Jugendlicher, die ihn wohl als eine Art Helden verehrten, einen Rebellen, der es all den Spießern in dieser Welt gezeigt hatte. Ein wahrlich schlechtes Vorbild. Irgendwann würden sie wie der zu einer Leiche gerufen werden, genau wie heute, und dann …?
Der Wagen stoppte am Ende der Moltkestraße hinter zwei Streifenwagen, die rechts an der Abbiegung zum Bahngelände standen. An einem der Wagen lehnte ein Uniformierter und telefonierte. Nina und Thiel stiegen aus und gingen auf den Beamten zu, der gerade sein Telefon in der Jackentasche verschwinden ließ.
„Morgen Jürgen“, meinte Thiel und schüttelte die Hand des Uniformierten, den sie auf um die vierzig schätzte.
„Ach, Morgen Hans Peter“, grüßte der zurück und sah mit fragendem Blick zu Nina.
„Darf ich vorstellen?“, ergriff Thiel das Wort. „Unsere neue Kollegin, Frau Moretti.“
Der Polizist lächelte sie an und reichte ihr ebenfalls zur Begrüßung die Hand.
„Sehr angenehm, Frau Moretti, Polizeihauptmeister Jürgen Wacker. Habe schon viel von Ihnen gehört.“
Nina staunte. Sie war noch nicht einmal eine Stunde im Dienst und der Kollege von der Schutzpolizei hatte bereits ‚viel von ihr gehört‘.
„Ich hoffe nur Gutes“, antwortete sie freundlich.
„Selbstverständlich, nur Gutes.“
Nina lächelte. Der Mann hatte soeben den Sieben-Sekunden-Sympathietest bestanden.
„Okay, Jürgen, was haben wir?“, unterbrach Thiel das Geplänkel.
Der Uniformierte räusperte sich.
„Also, wir haben einen unbekannten Toten im hinteren Bereich des Lokschuppens. Alter, Geschlecht, Hautfarbe, Todesursache und so weiter, alles unbekannt. Wurde heute Morgen gegen kurz vor acht von einem Spaziergänger gefunden.“
„Warum alles unbekannt?“, hakte Nina nach. „Sie sagten doch gerade: einen Toten. Das klingt nach einem Mann.“
Der Beamte nickte, während er Thiel folgte, der bereits die ersten Meter auf der schmalen, zugeschneiten Straße in Richtung des Bahngeländes ging. Sie folgte den beiden und ärgerte sich in diesem Moment maßlos über sich selbst, dass sie am Morgen das Haus in Halbschuhen, genauer gesagt, mit einem Paar Freizeitturnschuhen der Marke mit den drei Streifen verlassen hatte.
Sie spürte bereits, wie der knöcheltiefe Schnee sich den Weg in das Innere ihrer Schuhe suchte.
„Der oder die Tote trägt einen Herrenanzug“, antwortete der Beamte stockend. „Aber ich denke, Sie sollten sich lieber selbst ein Bild machen.“
Sie stapften weiter durch den Schnee. Bis zu dem alten Gebäude waren es gut und gern dreihundert Meter. Die Straße war nicht geräumt. Wozu auch? Hierher verirrten sich nur sehr selten Menschen.
Nina besah sich die Fußspuren vor ihnen in dem frischen, fast unberührten Pulverschnee. Vor Kurzem erst mussten hier vier Personen entlanggegangen sein. Alle in die gleiche Richtung nach unten zum Lokschuppen. In der letzten Nacht hatte es nur wenig Neuschnee gegeben. Das meiste der weißen Pracht war in der Nacht zum Sonntag sowie über den ganzen Sonntag verteilt gefallen, das wusste sie. Heute war Montag.
„Wie viele Personen sind unten?“, fragte sie den Polizeihauptmeister.
„Drei Kollegen und der Spaziergänger. Als wir eben ankamen, gab es nur die Spuren des Spaziergängers.“
Nina sah Wacker an und lächelte.
„Danke, das wäre meine nächste Frage gewesen.“
Nina wusste, dass es nur diesen einen befahrbaren Zugang zum Lokschuppen gab. Außer über diesen Weg konnte man nur noch über die Gleise dorthin gelangen.
„Verfluchte Scheiße“, schimpfte Thiel und blieb vor einer Schranke stehen.
Die Fußspuren führten durch eine Schneewehe rechts an dieser vorbei.
Erst jetzt bemerkte Nina, dass auch ihr neuer Kollege sich bei der Wahl des Schuhwerkes am Morgen ein wenig vergriffen hatte. Wie sie trug auch Thiel nur Halbschuhe, die bei jedem Schritt im Schnee verschwanden.
„Jürgen, geh zurück zum Wagen und ruf’ die Jungs vom städtischen Bauhof an. Die sollen sofort mit schwerem Gerät kommen und die verfluchte Zufahrt räumen. Schließlich müssen wir unseren Kunden da unten ja irgendwie von hier fortbringen.“ Wacker drehte sich auf dem Absatz um und ging schnellen Schrittes, soweit dies der Schnee zuließ, zurück.
„Und die sollen den Schlüssel für diese beschissene Schranke mitbringen“, brüllte Thiel ihm noch hinterher, bevor er durch die Schneewehe neben der Schranke stapfte.
Je näher sie dem verfallenen Gebäude kamen, umso mehr wuchs die Anspannung in Nina. Sie kannte das Gefühl. Es war immer das Gleiche. Seit ihrem ersten Fall kam es immer und immer wieder. Dort unten, irgendwo zwischen den halb verfallenen Mauern, erwartete sie ein toter Mensch.
Früher hatte sie noch geglaubt, dass man sich irgendwann an den Tod gewöhnte. Schließlich war er der ständige Begleiter eines Polizisten im Kriminaldienst bei der Mordkommission. In den ersten Monaten in Köln hatte sie noch die Leichen gezählt, zu denen sie und die Kollegen gerufen wurden. Doch irgendwann hatte sie damit abgeschlossen und aufgehört zu zählen. So ließ es sich auch besser vergessen. Und vergessen musste man die Toten. Man durfte sie nicht ständig mit sich herumschleppen. Sie hatte sich angewöhnt, sie als eine Sache zu betrachten. Wie hatte Thiel eben so treffend gesagt: „Unseren Kunden da unten“. Auch eine Art der Sichtweise. Leider funktionierte es nicht immer. Einige ihrer „Kunden“ verfolgten sie nach Hause und sogar nachts riefen sie ihr aus farblosen Mündern in ihren bleichen Gesichtern zu. Der Tod war nun ihr ständiger Begleiter, aber an ihn gewöhnen würde sie sich nie.
Sie erreichten den Lokschuppen. Nina war erschüttert über den Zustand des Gebäudes. Ihr letzter Besuch an diesem Ort musste locker fünfzehn Jahre zurückliegen. Es war erstaunlich, wie schnell die Natur sich ihr Terrain zu rückeroberte. Das Wirtschaftsgebäude, ein dreistöckiger Ziegelbau, war bis auf einen Anbau, der sich im hinteren Bereich befand, vollständig eingestürzt. Dort, wo es sich befunden hatte, lag nun, mit Schnee bedeckt, ein Berg Schutt. Dahinter erkannte sie die Reste einer Treppe, die, wie sie wusste, in die Kellerräume führte. Der an die Wirtschaftsgebäude angebaute halbkreisförmige Schuppen, der zu seinen besten Zeiten rund zwei Dutzend schweren Dampflokomotiven Platz geboten hatte, besaß kein Dach mehr. Es war fort. Einfach fort. Der Boden der großen Halle war von einer gleichmäßigen unberührten Schneeschicht bedeckt. Ebenso wie das Dach fehlten auch die riesigen schweren Tore und sämtliche Fensterscheiben. Das alte Gebäude war förmlich ausgeweidet worden. Nur das Gerippe aus Ziegelsteinmauern war noch übrig.
Direkt am Eingang zum Schuppen standen vier Personen. Ein Zivilist um die vierzig im blauen Anorak, zwei männliche Polizisten in Uniform, etwa im gleichen Alter wie der Zivilist, und eine ebenfalls uniformierte Kollegin.
Die junge Frau war Mitte zwanzig und trug ihre langen, blonden Haare zu einem Zopf geflochten. Ihr Gesicht wirkte blass und machte auf Nina einen kränklichen Eindruck.
„Ach, Morgen Hans Peter, da seid ihr ja“, begrüßte sie einer der Kollegen, ein Untersetzter mit hoher Stirn, und stapfte ihnen durch den Schnee entgegen.
„Wo ist die Leiche?“, fragte Thiel nur genervt zurück, ohne den Gruß des Mannes zu erwidern.
Nina hingegen nickte dem Kollegen freundlich zu, plapperte etwas, das wie „Guten Morgen“ klingen sollte, und folgte dann Thiel. Dieser stapfte bereits in die Richtung des ausgestreckten Zeigefingers des anderen Uniformierten.
Insgeheim war sie gar nicht böse darum, dass diesmal die Begrüßungsrunde ausfiel. Im Übrigen war sie davon überzeugt, dass die Kollegen sowieso schon wussten, wer sie war. Betzdorf war klein. Da machte die Nachricht über einen Neuzugang im Kollegium schnell die Runde.
Sie gingen an der Front des halbkreisförmigen Schuppens entlang. Rechts, wo sich früher die Drehscheibe befunden hatte, wuchs ein Birkenwäldchen. Dahinter konnte Nina die Gleise der Bahn sehen, über die gerade ein Zug in Richtung Bahnhof donnerte. Als sich der Zug entfernte, wurde es wieder still. Das einzige Geräusch, das sie wahrnahm, war das Krächzen einiger Raben.
„Die Leiche liegt drüben am anderen Ende des Schuppens, in dem Nebengebäude“, erklärte der untersetzte Polizist hinter ihr.
Nina drehte sich zu ihm um und lächelte ihn an.
„Was war mit der jungen Kollegin, sie sah sehr abwesend und kränklich aus?“, fragte sie.
Der Untersetzte nickte, während er beim Gehen schnaufte wie ein Walross.
„Schauen Sie sich die Leiche an, dann wissen Sie es“, antwortete er knapp mit ernstem Blick.
Nina verstand. Obwohl sie so eine Antwort erwartet hatte, verspürte sie sogleich, wie sich eine unsichtbare Schlinge um ihren Hals legte und sich unerbittlich zuzog.
Sie betraten das Gebäude. Auch hier besaßen die Fenster keine Scheiben. Die Schreie der Krähen wurden lauter. Der Boden unter ihren Füßen war mit Schutt und Unrat übersät. Dann wäre sie fast mit Thiel zusammengestoßen, der abrupt stehen blieb und „Verfluchte Scheiße“ vor sich hinflüsterte. Und dann – dann sah sie den Toten. Ein Anblick, der ihr das Blut in den Adern gefrieren ließ. In der gegenüberliegenden Ecke des Raumes saß aufrecht, umringt von gut einem Dutzend Krähen, etwas, das entfernt an einen Menschen erinnerte. Immer wieder sprangen die Krähen auf den leblosen Körper und hackten in der blutigen Masse, die einmal der Hals und die Schultern eines Menschen gewesen sein mussten. Einen Kopf gab es dort nicht mehr. Die Vögel fraßen sich in den Körper förmlich hinein. Ebenso an den Stellen, wo sich einmal die Hände befunden hatten. Deutlich erkannte Nina die weißlichen Unterarmknochen, die aus einer breiigen, blutigen Masse hervorlugten. Sie drehte sich um und ging würgend den Weg zurück, den sie gekommen war. Hinter der nächsten Gebäudeecke blieb sie stehen und holte tief Luft.
Plötzlich hallte ein Schuss durch das Geschrei der Raben, das daraufhin noch mehr anschwoll. Nina zuckte instinktiv zusammen. Die schwarzen Vögel flatterten aus den glaslosen Fenstern und stiegen in die Luft.
Sie atmete noch einmal tief durch und ging dann zurück zu Thiel, der nun ebenfalls leichenblass an einem der Fenster des großen Raumes stand und gerade seine Pistole zurück in das Holster unter seiner Jacke steckte. Sie sah zu der Leiche. Die Vögel waren weg.
Langsam trat sie näher und besah sich den leblosen Körper. Verflucht, sie hatte in den letzten Jahren schon viel gesehen, aber das hier stellte doch alles in den Schatten.
Der Tote, sie war sich ziemlich sicher, dass es sich um einen Mann handelte, trug einen verschmutzten, aber teuren, dunkelgrauen Anzug. Darüber einen schwarzen Mantel, ebenfalls schmutzig und teuer. Das Gleiche galt für die schwarzen Lederschuhe. Wer immer der Mann hier gewesen war, er trug nicht die Kleidung eines Armen.
Sie fasste in ihre Jackentasche, zog eine Plastiktüte mit Einweglatexhandschuhen hervor und zog diese an. Ein kurzer Blick zu Thiel, der in einigen Metern Abstand telefonierte und vermutlich gerade Verstärkung anforderte. Ohne Zweifel handelte es sich hier nicht um einen erfrorenen Obdachlosen, sondern um das Opfer eines Gewaltverbrechens. Nun würde das ganz große Programm folgen. Gerichtsmedizin, Spurensicherung und Leichensuchhunde zum Auffinden der fehlenden Körperteile.
Vorsichtig und noch immer mit einer gehörigen Portion Ekel tastete sie die Taschen des Mantels ab. In der rechten Außentasche fand sie einen Schlüsselbund, an dem sich neben diversen Sicherheitsschlüsseln auch der Schlüssel eines Mercedes Benz befand. Sorgfältig steckte sie den Bund in einen Polybeutel und gab ihn dann dem untersetzten Uniformierten, der noch immer neben ihr stand und angewidert zusah. In der Innentasche des Mantels fand sie endlich, wonach sie gesucht hatte: eine braune Lederbrieftasche. Sie erhob sich aus der Hocke und ging zu Thiel hinüber, der immer noch telefonierte.
„Bleiben Sie kurz dran, Herr Schneider. Frau Moretti scheint die Brieftasche des Opfers gefunden zu haben.“
Er legte das Telefon in eine Fensternische und fingerte hastig ein Paar Einweghandschuhe aus seiner Jackentasche. Während Thiel die Handschuhe überzog, öffnete Nina bereits die Brieftasche. Im hinteren Teil fanden sich einige Geldscheine und Kaufbelege. Sie klappte den vorderen Teil auf, wo sich die Scheckkarten befanden, und zog die oberste Karte hinaus. Es war eine Visa-Karte. Sie las den Namen des Karteninhabers: Winfried Schmitz. Sie las ihn noch einmal. Kein Zweifel. Da stand tatsächlich Winfried Schmitz. Fast panisch durchsuchte sie die Brieftasche weiter, bis sie schließlich einen Personalausweis fand. Auch auf ihm stand der Name Winfried Schmitz. Das Foto zeigte Laras Vater.
Mit zitternden Händen reichte sie Thiel den Personalausweis. Der betrachtete ihn kurz, zog dann eine Grimasse und griff nach seinem Telefon.
„Chef, hören Sie? Laut den Ausweispapieren handelt es sich bei dem Toten um Winfried Schmitz.“
Er nickte mehrfach „Ja, Chef, genau der Schmitz. – Wie – ob wir uns sicher sind, dass er es wirklich ist? Wollen Sie mich veralbern, Chef? Der Typ hat keinen Kopf und keine Hände mehr. Wie um Himmels willen sollen wir uns da ohne DNA-Test sicher sein, dass er es wirklich ist?“
Sie wandte sich ab. Während ihr Kollege noch weiter mit Schneider diskutierte, steckte Nina die Brieftasche in einen der Plastikbeutel und verschloss ihn. Dann ging sie zurück zu dem Toten.
Sie hatte Laras Vater kaum gekannt. In all den Jahren hatte sie ihn maximal drei oder vier Mal, und dann auch nur kurz, getroffen. Auch wie und womit er genau sein Geld verdiente, mit dem er unter anderem sein Luxustöchterchen sponserte, wusste sie nicht. Es hatte sie auch nie wirklich interessiert. Seine Tochter im Übrigen auch nicht. Hauptsache, Papa bezahlte regelmäßig Taschengeld. Er besaß, oder vielmehr er hatte mehrere Firmen und Immobilien besessen. So viel wusste sie. Er war ein Investor, wie Lara ihn einmal nannte. Nina kannte den Begriff natürlich. Aber was so ein Investor wirklich tat, war ihr, nach genauerem Überlegen, doch nicht wirklich klar. Ihr eigener Papa war Arbeiter gewesen. Die Interpretation des Wortes Arbeiter war deutlich einfacher.
„Tja, Herr Schmitz“, sagte sie mehr zu sich selbst als zu dem Toten. „Wer hat Ihnen das angetan?“
Sie wusste nicht warum, aber als sie den kopflosen Leichnam so ansah, war sie sich auch ohne DNA-Test sicher, dass es sich um Winfried Schmitz handelte.
Vorsichtig ging sie rückwärts und stieß mit dem Fuß gegen ein rotes Plastik-Grablicht. Sie stutzte und betrachtete es näher. Die Kerze gehörte nicht hierher. Die Kunststoffummantelung war weder schmutzig noch verkratzt. Sie lag noch nicht lange hier. Seltsam.
Eine gute Stunde später wimmelte es auf dem Gelände von Polizisten. Der Schnee in der Zufahrt zum Schuppen war geräumt worden.
Nina lehnte an der Motorhaube eines Streifenwagens, der auf dem Vorplatz neben dem Schutthaufen des Wirtschaftsgebäudes parkte, und unterhielt sich mit Doktor Sebastian Wagner, dem Gerichtsmediziner. Ihre Füße waren mittlerweile Eisklötze und die Kälte kroch jede Sekunde Millimeter für Millimeter weiter an ihr hoch. Neben ihr hockte Thiel. Seinem Gesichtsausdruck nach zu urteilen ging es ihm nicht viel anders. Auch er fror, während er dem Bericht des Mediziners zuhörte.
„Und Sie meinen, er wurde nicht dort enthauptet, wo er nun liegt?“, fragte Nina.
„Auf keinen Fall. Die Art der Schnittwunden, wenn man überhaupt von Schnittwunden sprechen kann, lässt eher darauf schließen, dass der Kopf und die Hände abgequetscht wurden. Die Knochenenden sind total zersplittert und platt gedrückt.“
Nina deutete mit dem Kopf in Richtung der Gleise, wo gerade wieder ein Zug vorbeidonnerte.
„Wenn ich Sie richtig verstehe, meinen Sie, irgendetwas Schweres, Stumpfes könnte solche Wunden verursachen?“
Der Mediziner folgte ihrem Blick und nickte.
„Ja, das war auch mein erster Gedanke. Vermutlich hat man den Herrn mit Kopf und Händen auf die Gleise gelegt und einfach einen Zug darüberfahren lassen.“
Nina merkte, wie ihr Magen rumorte, als sie versuchte sich das Szenario vorzustellen.
„Was glauben Sie, war er bereits tot, als das geschah, oder könnte er sich sogar aus freien Stücken selbst auf die Gleise gelegt haben?“
Der Doktor hob die Schultern.
„Frau Moretti, das kann ich Ihnen leider nicht beantworten, da müssen Sie die Obduktion abwarten.“
„Sie glauben, er hat sich das selbst angetan?“, lachte Thiel, während er seine Hände rieb.
„Kann doch sein“, antwortete sie. „Zumindest würde ich die Möglichkeit nicht ausschließen.“
„Und nachdem er sich selbst durch einen Zug enthaupten ließ, ist er kopflos die zwanzig Meter durch das Birkenwäldchen gestolpert und hat sich da drüben in der Werkstatt in die Ecke gesetzt.“
Nina winkte genervt ab.
„Natürlich nicht. Es müssen mindestens zwei starke Personen gewesen sein, die ihn da abgelegt haben. Schmitz war ja kein Fliegengewicht.“
In diesem Moment kam ein junger Mann, sie schätzte ihn auf Anfang zwanzig, in einem weißen Einwegoverall aus dem Lokschuppen gestapft. Um seinen Hals baumelte eine teuer wirkende Spiegelreflexkamera, in der Hand trug er einen Aluminiumkoffer.
„Und, Thomas, wie sieht es aus?“, rief Thiel ihm entgegen.
„Wir sind erst mal so weit. Von uns aus könnt ihr ihn wegbringen lassen, bevor die Viecher ihn komplett auffressen.“
Nina sah nach oben, überall auf den Mauern hockten die schwarzen Rabenvögel. Es schienen immer mehr zu werden. Sie vermutete, dass die Tiere Leiche und Blut schon von Weitem rochen. Bei dem vielen Schnee würden sie nicht jeden Tag einen solch reich gedeckten Tisch vorfinden.
Sie sah zum Himmel auf, der sich genau wie am Vortag zuzog. Erste dicke Flocken fielen herab. Ihr Blick fiel auf die steil aufragenden Felsen hinter den Gebäuden, auf denen sie bereits einige Häuser des Ortsteils Bruche sehen konnte. Die Gärten der Anwesen lagen, nur getrennt durch Zäune, direkt an der Bruchkante. Der Lokschuppen stand mit der Rückseite am Fuß der Steilwand. Keinen Meter hinter der Rückwand ragten die Felsen gut und gern fünfzig Meter empor. Da die Form des Rundschuppens so genau an diese Örtlichkeit angepasst war, vermutete Nina, dass die Erbauer des Gebäudes vor rund hundert Jahren wohl mit einer größeren Menge Sprengstoff nachgeholfen hatten. Es lag in der Natur des Menschen, Dinge so zu verändern, wie man sie gerade brauchte, und sei es mit Gewalt.
Ihr Blick verharrte bei einem der Gärten oberhalb des Steilhangs. Dort oben standen zwei Männer. Nina hatte sie vorhin schon bemerkt, sich aber nichts weiter dabei gedacht. Es konnte sich um Anwohner handeln, die neugierig dem Treiben auf dem ansonsten verlassenen Gelände zusahen.
„Entschuldigung“, sagte sie zu dem Mann, den Thiel eben Thomas genannt hatte und der sich gerade anschickte, den Aluminiumkoffer im Heck des Wagens zu verstauen. Er schaute auf.
„Ja, bitte?“
„Verfügt Ihre Kamera über ein Teleobjektiv?“
Thomas grinste.
„Na klar. Ist ein Nikon siebzig bis dreihundert Zoomobjektiv. Da können Sie auf hundert Metern noch ‘ne Maus erwischen.“
Sie lächelte ihn an.
„Thomas, sehen Sie die beiden Typen hinter mir, oben, an der Abbruchkante?“
Er sah über ihre Schulter und nickte.
„Sie meinen die beiden Kerle in den schwarzen Mänteln?“
Nina nickte.
„Würden Sie von den beiden ein paar nette Fotos machen?“
„Klar doch, Frau Moretti.“
Er hob die Kamera, sah durch das Objektiv und drückte ab. Es klickte mehrmals. Sie sah hinauf. Zu dumm, es war einfach zu weit weg, um die beiden richtig zu erkennen.
„Die haben auch eine Kamera und fotografieren“, bemerkte Thomas, während er immer noch auf den Auslöser der Nikon drückte.
Thiel erhob sich von der Motorhaube des Wagens, an der er immer noch lehnte, und warf seine halb gerauchte Zigarette in den Schnee. Er ging zur offenen Fahrertür, ließ sich auf den Sitz fallen und griff nach dem Funkgerät des Wagens.
„Jürgen?“, fragte er und wartete auf eine Antwort.
„Ja?“, schepperte es, begleitet von lautem Rauschen.
„Ihr seid doch noch oben in der Moltkestraße?“
Erneut schepperte ein „Ja“ aus dem Gerät.
„Tut mir bitte den Gefallen und fahrt mal hoch in die Karl-Stangier-Straße und seht in den Gärten oberhalb des Lokschuppens nach zwei Männern. Ich hätte gerne die Personalien der beiden.“
„Sind unterwegs.“
„Die hauen ab!“, rief Thomas.
Nina fuhr herum. Tatsächlich, die Typen waren bereits verschwunden.
„Wann kann ich die Fotos haben, Thomas?“
Der junge Mann grinste sie an.
„Ich fahr’ jetzt rüber zur Wache und lad’ die Bilder hoch. Wenn Sie wollen, kann ich sie Ihnen dann sofort per Mail senden.“
„Tun Sie das, Thomas.“
Sie kramte einen Zettel aus der Tasche und kritzelte eine E-Mail-Adresse darauf.
„Hier, das ist die Adresse meines iPhones. Schicken Sie sie da hin.“
Er nahm die Karte und schaute skeptisch.
„Das ist eine private Adresse. Weiß nicht, ob ich das darf. Außerdem sind das viel zu viele Fotos, um sie auf ein Handy zu senden.“
„Thomas, du darfst“, mischte sich Thiel ein. „Schick ihr ein oder zwei Bilder, auf denen man die beiden Typen erkennen kann, und eins von der Leiche aufs Handy. Der Rest ist momentan nicht wichtig.“
Nina sah noch einmal hinauf zu den Felsen oberhalb des Schuppens. Dort, wo noch eben die beiden Fremden gewesen waren, stand nun ein uniformierter Polizist und winkte ihnen zu. Sie vermutete, dass es Jürgen war.
Montag, 6. Dezember 2010, 11:45 UhrBetzdorf / Bruche
Hans Peter Thiel stand mit seinem Wagen in der Einfahrt des schmucken Einfamilienhauses in der unteren Karl-Stangier-Straße und wechselte seine nassen Schuhe und Socken. Zum Glück hatte er für solche Fälle immer eine komplette Montur im Kofferraum.
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