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Die hier zusammengefassten Geschichten sind hervorragend gezeichnete Schnappschüsse menschlicher Schicksale in einem der ersten modernen Kriege der Geschichte. Vor allem Bierce' Erzählung 'Vorfall auf der Owl-Creek Brücke' gehört zu den Klassikern der amerikanischen Literatur. Aber auch die bizarre Erzählung 'Chickamauga' - bis heute nur selten ins Deutsche übersetzt - den zu den Meisterleistungen des amerikanischen Kultautors gezählt werden.
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Inhaltsverzeichnis
Zeitzeugen I
Chickamauga
Zeitzeugen II
Eine Kriegslist
Zeitzeugen III
Der Himmelsreiter
Zeitzeugen IV
Vorfall auf der Owl-Creek-Brücke
Zeitzeugen V
Tod in Resaca
Zeitzeugen VI
Zwei standrechtliche Erschießungen
Zeitzeugen VII
Die Spottdrossel
Jeder einzelne wurde von Raserei ergriffen, so dass sie, ungeduldig mit ihren Vorderladern, den Toten die geladenen Gewehre entrissen und voller Angst mit rasender Geschwindigkeit feuerten, wobei sie mit den Kugeln auch die Ladestöcke verschossen um zwei Feinde gleichzeitig zu töten.
Unbekannter Soldat.
(Zitiert nach: 'Die Geschichte der Schlacht von Antietam')
Es war ein sonniger Herbstnachmittag, als das Kind von seinem Elternhaus fortlief, ein Elternhaus, in dem es nicht gerade liebevoll zuging. Es versteckte sich in einem Feld und tauchte dann unbeobachtet in dem daran angrenzenden Wald unter. Das Kind war glücklich, unbeobachtet zu sein und frei, glücklich darüber, die Welt erkunden, nach Abenteuern Ausschau halten zu dürfen. Schließlich wurde die Seele auch dieses Kindes über Tausende von Jahren hinweg – geprägt durch das Wesen unserer Vorfahren – darauf vorbereitet, seine Umgebung zu erkunden und zu erobern. Siege in Schlachten zu erringen, die Jahrhunderte dauerten und die ihren Ausdruck in Dörfern und Städten aus gehauenen Steinen fanden. Aus der Wiege der Menschheit heraus hat sich auch dieses Kind seinen Weg durch zwei Kontinente gebahnt und war, nachdem es einen großen See überquert hatte, in einen dritten Kontinent vorgedrungen, in sich das Erbe unserer Vorfahren, darunter Krieger und Herrscher.
Das Kind, um das es hier geht, war ein Junge von ungefähr sechs Jahren, der Sohn eines armen Pflanzers. Sein Vater war als junger Mann Soldat gewesen. Er hatte gegen nackte Wilde gekämpft und war der Fahne seines Landes in den Süden gefolgt, in die Hauptstadt einer zivilisierten Rasse. Doch das Feuer des Krieges loderte weiter, auch in dem friedfertigen Leben eines Pflanzers, das er dort begann. Einmal entfacht, war es nie wieder erloschen. Der Mann liebte Bücher über das Militär und entsprechende Bilder. Der Junge hatte genug verstanden, um sich ein hölzernes Schwert zu basteln, auch wenn selbst die Augen seines Vaters das Gebilde kaum als solches erkennen konnten. Diese Waffe trug der Junge nun tapfer bei sich, so als hätte er sich in den Nachfahren einer heldenhaften Rasse verwandelt. Hin und wieder legte er auf einer sonnigen Lichtung eine Rast ein. Dann ahmte er, etwas übertrieben, Angriffs- und Verteidigungsposen nach, so wie er sie auf kunstvollen Kupferstichen gesehen hatte. Übermütig geworden von der Leichtigkeit, mit der er unsichtbare Feinde überwunden hatte und in dem Versuch seinen imaginären Vorteil nicht zu verspielen, beging er den allgemein bekannten strategischen Fehler, zu weit zu gehen in der Verfolgung seines Gegners, bis er sich am Ufer eines breiten, aber seichten Baches wiederfand, dessen schnell fließendes Wasser seinen Vorstoß gegen die fliehenden Feinde versperrte, die dieses Hindernis, eigenartigerweise, mühelos überquert hatten. Doch sein kühner Sieg durfte nicht verschenkt werden. Der Geist seiner menschlichen Vorfahren, die über das große Meer gekommen waren, brannte unbesiegbar in der kleinen Brust und ließ sich nicht verleugnen. Der Junge fand eine Stelle, an der einige Steine im Bach lagen, nur einen Schritt oder einen Sprung voneinander entfernt. Er überquerte den Bach und stieß danach erneut auf die Nachhut seiner imaginären Feinde, die er mit seinem Schwert niedermachte. Jetzt, wo die Schlacht gewonnen war, gebot es die Vorsicht eigentlich, dass er sich auf seine Operationsbasis zurückzog. Doch - wie viele mächtige Eroberer, und als einer der mächtigsten von ihnen - konnte er weder seine Kriegslust zügeln, noch verstand er, dass ein herausgefordertes Schicksal auch den erhabensten Stern verlässt.
Während der Junge sich vom Ufer des Baches entfernte, tauchte plötzlich ein neuer, noch entsetzlicherer Feind auf: Vor ihm saß kerzengerade, mit steifen Ohren und angehobenen Pfoten ein Hase! Mit einem Schrei des Entsetzens drehte sich das Kind um und floh. Es achtete nicht auf die Richtung, die es einschlug. Mit kaum verständlicher Stimme rief es nach seiner Mutter, es weinte, stolperte, zerkratzte sich die Haut am Gestrüpp. Das kleine Herz schlug heftig vor Schreck. Atemlos. Von Tränen blind. Verloren in diesem Wald. Anschließend irrte der Junge mehr als eine Stunde lang durch das dichte Unterholz, bis ihn schließlich die Müdigkeit überkam. Er legte sich in einen schmalen Spalt zwischen zwei Felsblöcken, nur ein paar Yards entfernt von dem Bach. Während er schluchzend einschlief, hielt er das Schwert, das nun keine Waffe mehr war, sondern ein Freund, fest umklammert. Heiter zwitscherten die Waldvögel hoch über ihm. Die Eichhörnchen wedelten mit ihrem prächtigen Schwanz und rannen keckernd von Baum zu Baum, ohne Mitleid mit dem Kleinen zu haben, und irgendwo, weit entfernt, war ein merkwürdig hallender Donner zu hören, so als würden die Rebhühner, trommelschlagend den Sieg der Natur über einen der Söhne ihrer ewigen Unterjocher feiern. Und ein Stück entfernt, auf einer kleinen Plantage, wo weiße und schwarze Männer fieberhaft und voller Furcht die Hecken und Felder absuchten, brach Stück für Stück das Herz einer Mutter bei dem Gedanken an ihr verlorenes Kind. Stunden vergingen. Dann erhob sich der kleine Junge. Die Kühle des Abends hing ihm noch in den Gliedern, die Angst vor der Dunkelheit hatte sich in seinem Herzen festgesetzt. Doch er war nun ausgeruht und er weinte nicht mehr. Mit blindem Instinkt, der ihn dazu brachte weiterzugehen, kämpfte er sich durch das Unterholz, das ihn umgab, bis er ein weniger bewachsenes Stück des Waldes erreichte. Rechts von ihm zog sich der Bach hin, links erhob sich eine sanfte Böschung, auf der vereinzelt Bäume standen – alles war eingehüllt in das Halbdunkel der Dämmerung. Dünner, geisterhafter Nebel erhob sich entlang des Baches. Der Nebel erschreckte ihn und ließ ihn zurückweichen. Anstatt den Bach zu überqueren, um in die Richtung zurückzulaufen, aus der er gekommen war, wandte er dem Bach den Rücken zu und ging tiefer in den dunklen Wald hinein.
Plötzlich sah der Junge ein Objekt vor sich, das sich eigenartig bewegte. Er hielt es für ein großes Tier, einen Hund vielleicht, oder ein Schwein. So genau wusste er es nicht. Vielleicht war es auch ein Bär. Er hatte schon Bilder von Bären gesehen und hatte nie etwas Nachteiliges über sie gehört, weshalb er sich durchaus vorstellen konnte, eines Tages einen zu treffen. Doch etwas an der Art und Weise, wie dieses Objekt sich bewegte, etwas an der unbeholfenen Art, mit der es näherkam, sagte ihm, dass es sich nicht um einen Bären handeln konnte, und so wurde seine Furcht bald von seiner Neugierde überlagert. Er stand wie versteinert, und je näher das Objekt kam, desto mutiger wurde er, denn er sah, dass es wenigstens keine langen, bedrohlichen Ohren hatte wie der Hase. Möglicherweise nahm sein leicht zu beeindruckendes Gemüt etwas allzu Bekanntes wahr, an der Art wie die Gestalt schwankte, an der Eigentümlichkeit ihres Ganges. Ehe die Gestalt nahe genug heran war, um seine Zweifel endgültig aufzulösen, tauchte eine weitere auf und es wurden mehr und mehr. Zu seiner Rechten und Linken waren sie nun ebenfalls zu sehen, der ganze lichte Wald um ihn herum war mit ihnen erfüllt, und sie alle wankten auf den Bach zu.
Es waren Männer. Sie krochen auf Händen und Knien. Sie nutzten die Hände, um ihre Beine Stück für Stück nach vorne zu ziehen oder bewegten sich ausschließlich auf den Knien weiter, während ihre Arme nutzlos an den Seiten baumelten. Sie versuchten aufzustehen und fielen der Länge nach wieder hin. Sie machten keine natürlichen Bewegungen, nichts, was dem auch nur nahe kam, ihr einziges Bestreben lag darin, Stück für Stück voranzukommen, und alle strebten in dieselbe Richtung. Einzeln, in Paaren und kleinen Gruppen kamen sie aus der Dämmerung. Einige blieben hin und wieder stehen, dann krochen andere an ihnen vorbei, ehe sie ihren Weg fortsetzten. Sie kamen zu Dutzenden, zu Hunderten, waren überall, soweit man in der immer dunkler werdenden Dämmerung sehen konnte. Der finstere Wald hinter ihnen schien unerschöpflich zu sein. Der Boden selbst schien sich auf den Bach hin zu bewegen. Es kam vor, dass einer der Männer, die erschöpft am Boden lagen, sich nicht wieder erhob, sondern bewegungslos liegen blieben. Tot. Einige, die eine Pause eingelegt hatten, machten merkwürdige Gesten mit ihren Händen, hoben ihre Arme und senkten sie wieder, schlugen sich gegen den Kopf, hoben die Handflächen gegen den Himmel, wie es Menschen manchmal tun, wenn sie öffentlich beten. Das Kind nahm nur einen Bruchteil davon wahr. All diese Einzelheiten hätte nur ein älterer Beobachter erfassen können. Der Junge sah nicht viel mehr, als dass es sich um Menschen handelte, auch wenn sie wie Babys krochen. Als Menschen waren sie ihm nicht unheimlich, wenn sie auch eigenartig gekleidet waren. Er bewegte sich unbekümmert zwischen ihnen, ging von einem zum anderen, und sah ihnen mit kindlicher Neugierde ins Gesicht. Ihre Gesichter waren ausschließlich weiß und viele davon waren mit roten Streifen und Punkten übersät. Etwas an ihnen – vielleicht auch etwas an ihren grotesken Haltungen und Bewegungen – erinnerte ihn an den angemalten Clown, den er letzten Sommer im Zirkus gesehen hatte, und er lachte, während er ihnen zusah. Sie krochen weiter, immer weiter, diese verstümmelten, blutenden Menschen. Sie waren sich des dramatischen Kontrastes zwischen seinem Lachen und der eigenen entsetzlichen Lage genauso wenig bewusst wie der Junge.