Tod und Schatten - Ole R. Börgdahl - E-Book

Tod und Schatten E-Book

Ole R. Börgdahl

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Beschreibung

Samstagabend. Ein unbekannter Toter und eine schwerverletzte Frau in einem Reisebüro in Berlin-Friedenau. Auftragskiller oder Beziehungsdrama? Spurensicherung und Gerichtsmedizin liefern keine plausiblen Ergebnisse. Warum kann sich die einzige Zeugin an nichts erinnern? Warum verstrickt sie sich in Widersprüche? Dem unerfahrenen Kriminalkommissar Marek Quint sitzt die Zeit im Nacken. Er braucht schnelle Ergebnisse, damit ihm der neue Mordfall nicht wieder entzogen wird. Und er muss seinen Kollegen Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner mitreißen, der längst keine Chance mehr für ihr ungleiches Ermittlerteam sieht. Doch die beiden Kommissare finden wieder zueinander, als der Fall eine ungeahnte Wendung nimmt.

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Ole R. Börgdahl

Tod und Schatten

Der erste Fall für Quint und Leidtner

 

 

 

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Inhaltsverzeichnis

Titel

Das Buch

Samstag

Sonntag

Montag

Dienstag

Mittwoch

Donnerstag

Epilog

Leseprobe

Impressum neobooks

Das Buch

Samstagabend. Ein unbekannter Toter und eine schwerverletzte Frau in einem Reisebüro in Berlin-Friedenau. Auftragskiller oder Beziehungsdrama? Spurensicherung und Gerichtsmedizin liefern keine plausiblen Ergebnisse. Warum kann sich die einzige Zeugin an nichts erinnern? Warum verstrickt sie sich in Widersprüche?

Dem unerfahrenen Kriminalkommissar Marek Quint sitzt die Zeit im Nacken. Er braucht schnelle Ergebnisse, damit ihm der neue Mordfall nicht wieder entzogen wird. Und er muss seinen Kollegen Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner mitreißen, der längst keine Chance mehr für ihr ungleiches Ermittlerteam sieht. Doch die beiden Kommissare finden wieder zueinander, als der Fall eine ungeahnte Wendung nimmt.

Weitere Romane von Ole R. Börgdahl:

Blindgänger (2024) - 978-3-7565-9085-8Dein Tod ist mein Leben (2023) - 978-3-7565-6082-0

Die Falk-Hanson-Reihe (Historische Romane):

Band 1: Unter Musketenfeuer (2019) - 978-3-7485-9758-2

Band 2: Der Kaiser von Elba (2020) - 978-3-7502-3242-6

Band 3: Kanonen für Saint Helena (2022) - 978-3-7502-3242-6

Band 4: Colonel Muiron (2023) - 978-3-7549-9391-0

Die Tillman-Halls-Reihe (Krimireihe):

Alles in Blut - Halls erster Fall (2011) - 978-3-8476-3400-3

Morgentod - Halls zweiter Fall (2012) - 978-3-8476-3727-1

Pyjamamord - Halls dritter Fall (2013) - 978-3-8476-3816-2

Die Schlangentrommel - Halls vierter Fall (2014) - 978-3-8476-1371-8

Leiche an Bord - Halls fünfter Fall (2015) – 978-3-7380-4434-8

Die Fälschung-Trilogie:

Fälschung (2007) - 978-3-8476-2037-2

Ströme meines Ozeans (2008) - 978-3-8476-2105-8

Zwischen meinen Inseln (2010) - 978-3-8476-2104-1

Historische Romane (Sonstiges)

Faro (2011) - 978-3-8476-2103-4

Die Marek-Quint-Trilogie (Krimireihe):

Tod und Schatten - Erster Fall (2016) - 978-3-7380-9059-8

Blut und Scherben - Zweiter Fall (2017) - 978-3-7427-3866-0

Kowalskis Mörder - Dritter Fall (2018) - 978-3-7427-3865-3

Samstag

»Hallo, bist du noch dran, Mia? Hallo?«

Es blieb einige Sekunden stumm. Marek hielt sich das Telefon dichter ans Ohr. Er hörte Schritte und dann wie eine Tasse oder ein Becher neben dem Telefon abgestellt wurden.

Mia schluckte herunter. »Entschuldige«, sagte sie mit belegter Stimme. »Ich habe mir meinen Kaffee aus der Küche geholt, bevor er ganz kalt wird.«

»Du trinkst jetzt noch Kaffee?«, fragte Marek und sein Ton klang beinahe vorwurfsvoll.

»Ja, das tue ich«, entgegnete sie energisch und kam gleich wieder auf das Thema zurück, über das sie noch vor zwei Minuten gesprochen hatten. »Und du weißt genau, dass die Stelle bei dir in Berlin eine höhere Eingruppierung hat?«

»Auf jeden Fall. Was hast du jetzt an der Hochschule, Entgeltgruppe 7? Die Stelle beim LKA hat die Eingruppierung 8 oder sogar 9a.«

Mia überlegte. »Die Frage ist nur, ob sie mich nehmen.«

Marek hörte, wie sie noch einen Schluck Kaffee trank. »Verwaltung ist Verwaltung«, sagte er. »Du hast natürlich einen anderen Verantwortungsbereich. Da gibt es schon Unterschiede, ob man beim Landeskriminalamt oder bei einer Schule arbeitet.«

»Mehr Verantwortung?«, wiederholte Mia.

»Nicht so wie du denkst. Die Aufgaben sind hoheitlicher. Die Arbeit ist nicht schwieriger, nur wichtiger«, versuchte Marek zu erklären.

»Ich weiß nicht, dass macht mir immer etwas Angst. Ich habe es ja eigentlich gut, da wo ich bin.«

»Wie oft hast du dich über deinen Chef beschwert«, warf Marek ein. »Und immer dieser Kleinkram. Klausurnoten in Tabellen eintragen, Formulare ausfüllen, nur damit immer genug Kreide in den Klassenzimmern bereitliegt.«

»Ich habe noch nie Kreide bestellt. Außerdem geht er doch nächstes Jahr in Rente.«

»Wer?«, fragte Marek.

»Na der Alte.«

»Siehst du, da haben wir es doch, der Alte. Und über deine Kolleginnen hast du doch auch immer so oft geflucht und außerdem ...«

»Und was außerdem?« Jetzt wurde es Mia wieder bewusst, warum Marek sie angerufen hatte.

Marek stutzte. Er überlegte, um die richtigen Worte zu finden, aber er fand sie nicht. Er räusperte sich. »Schau mal, ich bin seit einem halben Jahr wieder in Berlin. Wir hatten doch gar nicht ...«

»Doch, das hatten wir«, unterbrach Mia ihn, »und du weißt genau, dass das nicht an Berlin liegt und daran, dass ich in Münster geblieben bin.«

»So habe ich das doch nicht gemeint«, beschwichtigte Marek. »Ich dachte nur, wenn wir ... du musst schon verstehen, dass ich nicht jedes Wochenende nach Münster fahren konnte. Ich muss manchmal auch samstags und sonntags arbeiten, in Bereitschaft sein, so ist der Job eben.«

»Marek! Hallo! Versuchst du dich jetzt zu rechtfertigen? Das brauchst du nicht.« Mia machte eine Pause, holte bedächtig Luft. »Wir sind nicht mehr zusammen, hörst du. Wir waren uns doch einig. Natürlich würde mich Berlin reizen, aber du darfst doch nicht glauben, dass ich deinetwegen nach Berlin komme, wenn ich es überhaupt mache, das mit der Stelle, meine ich. Natürlich ist es schön, dass du dort bist, aber doch auf eine andere Art.«

»Entschuldige Mia, ich wollte nicht ... Ich weiß das ja auch alles. Es ist nur ... Wir hätten das damals anders machen sollen. Ich wusste doch, dass ich nur ein Jahr in Münster sein würde. Ich hätte mir dort etwas suchen müssen. Oder in München. Du weißt doch noch, dass die mich damals in München haben wollten, auch ohne Master. Und du wärst näher bei deiner Mutter gewesen.«

»Ja Marek, das weiß ich«, sagte Mia jetzt ernst, »aber auch München hätte nichts geändert. Wir hatten schöne Monate, aber jetzt ist es Vergangenheit. Es ist aus und das ist eben so, das passiert, es hat halt nicht mehr gepasst. Das hast du doch auch verstanden.«

»Aber mal ganz unabhängig davon, der Job beim LKA würde dich schon interessieren, oder was meinst du?« Marek versuchte das Gespräch jetzt wieder in eine andere Richtung zu lenken.

»Vielleicht«, antwortet Mia zögerlich. Sie holte noch einmal tief Luft. »Schau mal Marek, es ist doch schon nach neun. Wir haben Samstagabend. Ich werde gleich abgeholt. Hast du denn nichts mehr vor, heute Abend? Ich überlege es mir. Entgeltgruppe 9a sagtest du, das klingt doch nicht schlecht. Ich überlege es mir wirklich.«

»Das ist gut«, sagte Marek sofort. »So machst du es. Es ist deine Entscheidung und du hast recht, es hat nichts mit mir zu tun. Ich würde mich nur freuen, wenn du ... aber das ist jetzt ganz egal. Ich lege auf. Soll ich jetzt auflegen?«

»Ja!«

»Dann lege ich jetzt auf, Mia.«

»Ja, bitte, Marek, ich werde gleich abgeholt.«

»Dann wünsche ich dir einen schönen Abend.«

Mia seufzte. »Unternimmst du nichts mehr?«

»Doch, doch«, erwiderte Marek wenig überzeugend.

»Dann leg doch jetzt auf, bitte.«

»Mia?«

»Ja?«

»Ich lege jetzt auf.«

Marek drückte die Taste, starrte aber noch einige Sekunden auf das Smartphone. Er stellte den Fernseher wieder auf laut. Der Naturfilm über die Küsten Grönlands lag in den letzten Zügen. Er zappte in den Programmen zurück. In einer amerikanischen Krimiserie wurden die Bösen gerade von einer Meute Polizeiwagen verfolgt. Beim nächsten Klick erschien ein Stand-Up-Comedian, der das Publikum mit seinen Pointen belustigte. Auf dem Ersten schließlich lief eine der Samstag-Abend-Unterhaltungs-Shows. Das Frühlings-Sommer-Herbst-Fest der Volksmusik oder so ähnlich. Marek drückte schnell hintereinander zwei Programmtasten. Eine Casting-Show, in dem sich ein Nerd gerade vor der gestylten Jury und dem deutschen Fernsehpublikum blamierte. Es war zumindest so amüsant, dass Marek einige Minuten auf dem Kanal blieb und auch nicht umschaltete, als die Werbung begann. Ein Kaugummi, das das Zähneputzen ersetzen sollte. Marek prüfte instinktiv seinen eigenen Atem, konnte aber nichts Auffälliges feststellen. Es folgte eine Bierwerbung. Es sah einladend aus, aber Marek wusste, dass er kein Bier im Hause hatte, nicht im Keller und schon gar nicht im Kühlschrank.

Er dachte an Kaffee. Mia trank abends nur Kaffee, wenn sie glaubte, dass es eine lange Nacht werden würde. Disco, Geburtstag einer guten Freundin, Konzert oder irgendeine andere Feier. Marek starrte noch einmal auf sein Smartphone. Ein, zwei Sekunden, dann zuckte er zusammen. Es klingelte. Hatte seine Beschwörung funktioniert? War doch niemand gekommen, um Mia für den Samstagabend abzuholen? Hatte sie es sich anders überlegt? Marek zögerte, wollte den Moment, wollte die Gedanken nicht zerstören. Dann griff er zu. Der erste Blick auf die angezeigte Telefonnummer war keine wirkliche Enttäuschung. Er hatte nicht damit gerechnet, dass sie tatsächlich noch einmal zurückrufen würde, nicht am Samstagabend, nicht, wenn sie eine Verabredung hatte. Marek nahm das Gespräch an.

»Kriminalkommissar Quint«, meldete er sich vorschriftsmäßig.

*

Auf dem Weg nach Friedenau musste Kriminalkommissar Marek Quint tanken. Dann benötigte er immer noch gut eine halbe Stunde von Frohnau zum Friedrich-Wilhelm-Platz. Er fuhr zweimal an der neogotischen Kirche vorbei, bis er die richtige Straße fand. Einer der beiden Streifenwagen vor dem Gebäude hatte das Blaulicht eingeschaltet gelassen. Marek Quint parkte neben einem dunkelgrünen Mercedes Sprinter des Tatorterkennungsdienstes. Auf dem Bürgersteig stand zudem noch ein weißer Hyundai H-1 der Charité Mitte. Die Gerichtsmedizin war also auch schneller vor Ort, als der Ermittler des Berliner Landeskriminalamtes. Marek Quint stieg aus, hob das rotweiße Absperrband an und betrachtete sich die beiden Eingänge. Neben einem großen Schaufenster führte eine Glastür direkt in das Ladenlokal. Die Leuchtreklame darüber war in gelb gehalten, passend zum Namen des Geschäftes. Sonnenklar Reisen. So simpel wie vielsagend. Das Schaufenster und die Eingangstür waren aber verhangen. An einigen Stellen am Rand der dunklen Tücher bahnte sich das gleißende Licht von Halogenstrahlern den Weg auf die Straße. Mareks Schatten wurde gegen den geschlossenen Kasten des Hyundais geworfen.

Er versuchte gar nicht erst, die Ladentür zu öffnen, sondern wandte sich gleich ein paar Meter weiter dem Hauseingang zu. Das große Klingelschild verwies im ersten Stock auf eine Anwaltskanzlei. Stolle & Partner, Rechtsanwalt. Über dem Messingschild mit schwarz eingelassener Schrift, war ein weiterer, eher schmuckloser Klingelknopf montiert. Marek musste sich vorbeugen, um den Namen hinter der verkratzen Plastikabdeckung lesen zu können, aber es gab nichts zu lesen. Wenn es jemals einen Namen gegeben hatte, war dieser in dem blauen Rand der durchsichtigen Abdeckung verlaufen. Er holte sein Notizbuch hervor, um wenigstens den Namen der Kanzlei zu notieren. Er musste kurz überlegen, wie die Straße hieß, in der er sich befand. Lediglich die Hausnummer hatte er im Kopf behalten. Nach einem letzten Versuch, doch noch die ehemals blaue Schrift des schäbigen Klingelknopfes zu entziffern, drückte er die Türklinke und trat in einen langen Flur, an dessen Ende ein Streifenpolizist auf ihn aufmerksam wurde. Dann wurde unmittelbar neben dem Mann eine Tür geöffnet. Der Beamte stand kurz im hellen Licht, bis sich ein grober Schatten in den Flur schob.

»Da prescht die Einheit Kowalski wieder vor«, donnerte es leicht gedämpft durch den Hausflur.

Kriminalhauptkommissar Ulrich Roose zog sich den Mundschutz unters Kinn, ging durch den Flur und trieb Marek durch die Eingangstür zurück auf die Straße. Draußen ging Roose voran und zum Fahrzeug des Tatorterkennungsdienstes. Er öffnete die große Schiebetür und stieg in den dunkelgrünen Transporter ein. Ein paar Handgriffe und er reichte Marek einen Overall, Einmalgamaschen, Mundschutz, einen Satz Latexhandschuhe und sogar eine kleine Taschenlampe.

»Die Klamotten aber bitte erst im Haus anziehen«, wies Ulrich Roose an.

Marek nickte. »Weiß ich doch.«

Ulrich Roose schaute ihn kommentarlos an, sprang dann aus dem Transporter und ließ die Schiebetür mit einem Dröhnen ins Schloss fallen. Mit leicht gesenktem Kopf folgte Marek dem breiten Kreuz des Kriminalhauptkommissars. Im Flur hatte sich der Streifenpolizist nicht vom Fleck gerührt. Er öffnete schon einmal die Tür, die ins Reisebüro führte. Marek blieb hinter Ulrich Roose stehen, zog sich den Overall, die Gamaschen und zuletzt die Handschuhe über. Die kleine Taschenlampe und den Mundschutz hatte er auf den Boden gelegt, nahm die Sachen jetzt wieder auf und steckte sie in eine Tasche des Overalls. Ulrich Roose drehte sich um und kontrollierte an seinem Gegenüber den Sitz der Schutzkleidung. Er deutete auf den Kopf.

»Die Kapuze nicht vergessen, und wenn Sie drin sind, bitte auch den Mundschutz vor. Wo haben Sie den Mundschutz?«

Marek tippte auf die Tasche des Overalls und machte sich dann an der Kapuze zu schaffen. »Können Sie mich kurz briefen?«, bat er, während er auch den Kragen des Schutzanzuges bis ans Kinn schloss.

»Briefen?«, wiederholte Ulrich Roose.

»Ja, was erwartet mich hier?«

»Eine Leiche.«

»Das weiß ich ja bereits«, erwiderte Marek. »Was weiß ich noch nicht?«

Ulrich Roose zupfte an seinem Mundschutz, der noch über seinem Kinn hing. »Die Kollegen waren gegen 21:00 Uhr vor Ort. Ein Passant hatte Licht im Schaufenster des Reisebüros gesehen. Lichtkegel wie von Taschenlampen. Der Spaziergänger hat an einen Einbruch gedacht und die Polizei gerufen.«

»Wurden die Täter noch angetroffen?«

»Nein, niemand. Die Streife wollte auch schon wieder abziehen, weil in dem Reisebüro keinerlei Aktivitäten mehr zu sehen waren und nichts auf einen Einbruch hindeutete. Unser aufmerksamer Bürger hat aber darauf bestanden, dass er etwas gesehen habe. Die Kollegen sind dem dann doch nachgegangen. Die Eingangstür in den Hausflur war nicht verschlossen, genauso wie die Tür hier. Das war ja schon einmal verdächtig, haben sich die Kollegen gedacht. Womit sie nicht gerechnet haben, war der Leichenfund.«

»Wann waren Sie und Ihre Leute vor Ort?«

Ulrich Roose überlegte. »Gegen 21:30 Uhr. Meine Leute haben das aber genau protokolliert. Auf dem Weg hierher habe ich selbst noch einmal versucht Sie zu erreichen, nachdem mir die Zentrale gesagt hat, dass beim KK Marek Quint von der Einheit Kowalski das Telefon ständig besetzt ist.«

Marek zuckte halbherzig mit den Schultern. »Jetzt bin ich ja da. Was haben Sie sonst noch an Fakten? Wissen Sie schon etwas über die Leiche?«

Ulrich Roose nickte. »Männlich, Schussverletzungen, soweit ich gesehen habe. Identität unbekannt.«

»Keine Papiere?«, fragte Marek.

»Wir haben zumindest noch keine gefunden.«

»Wem gehört der Laden, kann es der Besitzer sein oder ein Angestellter?«

»Tja, das dürfen Sie mich nicht fragen, Herr Kriminalkommissar. Das ist ja wohl Ihr Fachgebiet. Ich liefere nur die Spuren ab.«

Marek nickte. »Konnte denn der Zeuge den Toten nicht identifizieren?«

»Der hat ihn gar nicht zu Gesicht bekommen. Die Streife hat hier gleich alles abgesperrt. Die haben nur die Personalien des Mannes aufgenommen und ihn gehen lassen.«

»Verstehe.« Marek holte sein Notizbuch hervor, klappte es auf und dann gleich wieder zu. »Adresse und Name des Zeugen wurden also protokolliert. Dann zeigen Sie mir mal Ihre Leiche.«

»Mit größtem Vergnügen, Herr Kollege«, sagte Ulrich Roose und lächelte. »Hier entlang.«

Ulrich Roose trat zur Seite und gab den Blick auf den Raum frei, ließ Marek durch den Lichtspot hindurch den Tatort betreten. Die Einrichtung des Reisebüros bestand aus zwei Schreibtischen mit je einem großformatigen Monitor und ergonomisch geformten Bürostühlen davor. Hinter den Schreibtischen befand sich ein großes Regal, in dem griffbereit diverse Reiseprospekte lagen. Jeweils zwei Besucherstühle vor den beiden Schreibtischen schlossen das Ensemble ab. Marek schaute einmal in die Runde. Die freien Wände waren mit Plakaten verziert. Palmenstrände, ein Bergpanorama und der Blick auf das Heck eines Kreuzfahrtschiffes, das in den Horizont und in eine untergehende Sonne hineinfuhr. Vor dem großen Schaufenster, das jetzt mit dunkelgrauen Tüchern verhangen war, standen weitere Besucherstühle um einen kleinen Tisch gruppiert, der ebenfalls reichlich mit Prospekten ausgestattet war. Die Kollegen des Tatorterkennungsdienstes waren bereits bei der Arbeit. Zwei weiße Schutzanzüge hatten sich über den Raum verteilt, eine weitere Person hockte am Boden.

»Und da ist sie schon, unsere Leiche«, verkündete Ulrich Roose, nachdem er Mareks Blicke durch den Raum geduldig gefolgt war.

Der am Boden hockende Schutzanzug drehte sich in die Richtung, aus der gesprochen wurde. Hinter dem Mundschutz und der Kapuze konnte Marek nur ein Paar braune Augen erkennen, was ihn an seinen eigenen Mundschutz erinnerte. Er holte ihn aus der Tasche des Overalls und setzte ihn über Nase und Mund. Dann heftete sich sein Blick auf den Körper, der vor ihm auf dem Boden lag. Das Hemd der Leiche war aufgeknöpft, das Unterhemd nach oben geschoben. Vereinzelte Blutflecke waren auf dem weißen Stoff zu sehen. Auf der linken Brustseite war eine scharfkantige kreisrunde Wunde zu erkennen. Als Marek sich leicht nach unten bückte, sah er in Höhe der Achsel eine weitere Schussverletzung. An dieser Stelle war das zurückgezogene Oberhemd blutdurchtränkt. Marek richtete sich wieder auf, machte vorsichtig einen Schritt zur Seite und stellte sich an das Kopfende der Leiche. Die Hose des Mannes saß locker über der Hüfte, die Gürtelschnalle war geöffnet.

»Sie brauchen hier nicht wie auf Eiern zu laufen«, dröhnte Ulrich Roose. »Mit diesem Bereich sind wir schon fertig, sonst hätten wir die Frau Doktor noch nicht rangelassen.«

Marek blickte auf und sah sich um. Hinter ihm stand Ulrich Roose und neben ihm die jetzt sehr zierlich wirkende Person im Schutzanzug, die eben noch vor der Leiche gehockt hatte. Marek blickte noch einmal in die braunen Augen, die plötzlich ganz anders auf ihn wirkten. Sie nickte und deutete zur Tür. Sie gingen die wenigen Schritte, gefolgt von Ulrich Roose, der sie wieder mit seinem riesigen Körper abschirmte.

»Sander«, stellte sich die Ärztin vor, streifte ihre Latexhandschuhe ab, zog gleichzeitig ihren Mundschutz herunter und reichte Marek die Hand.

»Quint, LKA Berlin! Was haben Sie für mich?«, erwiderte Marek etwas steif und versuchte seine Überraschung einigermaßen zu verbergen.

Die Ärztin zögerte ein, zwei Sekunden, bis Marek begriff und ebenfalls seinen Mundschutz herunternahm. Sie nickte und ein kurzes Lächeln zog über ihren Mund. Ihr Gesicht war weiterhin von der Kapuze des Schutzanzuges umrahmt, so dass Marek ihre braunen Augen fixierte, als sie zu sprechen begann.

»Männliche Leiche, zwei Schussverletzungen im Torso, eine davon mit vermutlich unmittelbarer Todesfolge. Gemäß Rektaltemperatur und unter Berücksichtigung der Raumtemperatur am Leichenfundort, kann der Todeszeitpunkt derzeit auf 18:00 bis 20:00 Uhr eingrenzt werden. Nach einer ersten Leichenschau lassen sich vorläufig keine weiteren Verletzungen ausmachen.«

Schweigen. Marek nickte, er überlegte. »Wie alt schätzen Sie den Toten?« Es war die einzige Frage, die ihm einfiel. Die braunen Augen fixierten ihn, als wenn er einen Fehler gemacht hätte.

»Herr Kollege, die Frau Doktor Sander hatte gerade einmal zwanzig Minuten«, rief Ulrich Roose. »Sie müssen schon die Obduktion abwarten. Jedenfalls ist es kein natürlicher Todesfall, dass sollte Ihnen vorerst genügen.«

Dr. Kerstin Sander wandte ihren Blick von Marek ab und sah Ulrich Roose lächelnd an. »Da haben Sie recht, vor der Obduktion gebe ich immer nur ungern Prognosen ab.« Dann sah sie wieder zu Marek. »Er wird keine zwanzig mehr gewesen sein und auch noch nicht über fünfzig. Mehr kann ich leider nicht sagen.«

»Dann haben wir das ja geklärt«, ging Ulrich Roose erneut dazwischen. »Wir würden jetzt ganz gerne die Leiche loswerden, Frau Doktor Sander. Meine Leute haben noch einiges zu tun.«

Kerstin Sander nickte. »Ich warte nur noch auf den Transport zur Charité.« Sie sah noch einmal zu Marek und ging dann zurück zu dem Toten.

»Wo ist denn eigentlich ihr Kollege«, wandte sich Ulrich Roose wieder an Marek. »Kowalski hatte doch noch einen Ermittler in seiner Operativen Einheit.«

»Der kommt noch«, antwortete Marek. »Inzwischen müssen Sie mit mir vorliebnehmen.«

»Das mache ich ja schon die ganze Zeit«, lachte Ulrich Roose. »Aber hier sollten Sie sich bitte in der nächsten halben Stunde nicht herumtreiben. Wir müssen noch ein bisschen Gas geben.«

»Was ist mit dem Gebäude?«, fragte Marek. »Sind noch Personen im Haus? Was ist mit der Anwaltskanzlei und ganz oben gibt es doch eine Wohnung?«

»Niemand da, aber Sie können das gerne noch einmal überprüfen«, erklärte Ulrich Roose.

»Und was ist mit dem oder den Tätern, wie können die entkommen sein?«

»Durch den Flur.« Ulrich Roose zeigte auf die Tür. »Die sind aber vermutlich nicht vorne, sondern hinten raus. Da ist ein gepflasterter Hof, von dem aus man in eine der Seitenstraßen gelangt. Den Hof haben wir schon abgesucht, allerdings ohne Spurenbefund. Das Umfeld nehmen wir uns vor, wenn wir hier fertig sind.« Ulrich Roose überlegte. »Ach ja, hätte ich fast vergessen. In der Tür zum Hof steckte von innen ein Schlüssel, der auch zu den beiden Türen passt, durch die man ins Reisebüro kommt. Vielleicht hat den jemand stecken lassen.«

»Sehr unvorsichtig«, folgerte Marek. »Und was ist mit den oberen Stockwerken? Da haben Sie noch nichts gemacht?«

»Ich habe eine Begehung im Treppenhaus gemacht«, erklärte Ulrich Roose. »Es gibt aber keinen Hinweis, dass sich der Tatort auf den ersten und zweiten Stock des Gebäudes ausdehnt.«

»Ich kann aber doch noch einmal nachsehen?«, fragte Marek zögerlich.

»Sie dürfen natürlich alles, nur im Moment nicht hier im Wege stehen«, antwortete Ulrich Roose lachend. »Falls wiedererwarten da oben doch jemand ist, erschrecken sie niemanden mit ihrem Aufzug. Eine Leiche reicht uns für heute.«

Marek nickte. Er drehte sich um und ging durch die Tür zurück in den Flur. Der Beamte, der dort immer noch wartete, trat bei Seite, als Marek den Weg Richtung Hinterhof einschlug. Als Marek durch die Hintertür trat, schaltete der Polizist sogar das Licht ein, das auch draußen brannte. Der Hof war mit Waschbetonplatten gepflastert. Direkt dahinter gab es einen Querweg, der parallel zur Häuserzeile der Straße verlief. Links und rechts vom Hof waren die Grundstücke durch mannshohe Mauern abgetrennt. Marek ging bis zum Querweg und schaute sich zu beiden Seiten um. An einem Ende zog ein Paar Scheinwerfer durch die angrenzende Seitenstraße, gefolgt von einem dunklen Kombi, der vorbeifuhr. Am anderen Ende des Querwegs blieb es dunkel.

Er ging zurück ins Gebäude. Er fand links vom Flur abgehend das Treppenhaus. Einen Fahrstuhl gab es nicht. Die Treppenstufen knarrten, es war ein steiler Aufstieg, wie in einem alten Haus nicht anders zu erwarten. Der Flur im ersten Stock war großzügig, die Wände weiß gestrichen. Auch hier verkündete ein Messingschild mit eingelassener schwarzer Schrift die Sozietät Stolle & Partner. Daneben die Eingangstür. Ein Türblatt aus Mahagoni mit Messingbeschlägen. In der Mitte eine große Aussparung, eine getönte Glasscheibe, durch die der Blick auf einen Empfangstresen fiel. Innen war der Fußboden des Vorraums schwarz gefliest. Über den Fliesen und dem Empfangstresen lag eine dünne Staubschicht. Der Empfangstresen war bis auf eine zusammengefaltete Plastiktüte akkurat abgeräumt. Marek zog am Griff der Tür. Es war verschlossen. Das ins Türblatt eingelassene Sicherheitsschloss sah massiv aus und war vor allem unbeschädigt.

Er nahm die Treppe in den zweiten Stock. Auf dem letzten Stück war der Handläufer locker, hielt aber gerade noch. Die Treppenstufen wirkten abgenutzt, das Knarren schien bedrohlicher geworden zu sein. Der Flur im zweiten Stock war etwas kleiner, die Wohnungstür weit weniger repräsentativ. Die Farbe auf dem braungestrichenen Türblatt löste sich an einigen Stellen bereits ab und offenbarte ein trockenes, rissiges Holz. Marek überprüfte das Schloss. Es war zerkratzt, zeigte aber ebenfalls keine Spuren einer gewaltsamen Öffnung. Die Wohnung war fest verschlossen. Der Klingelknopf rechts neben der Tür war ohne Namensschild ausgeführt. Marek ging mit dem linken Ohr näher an das Türblatt heran und drückte die Klingel. Ein Dreitongong erklang. Das Geräusch war überraschend. Es schien in der Wohnung zu verhallen, dann war es wieder still. Marek drückte ein zweites Mal und horchte erneut in die Stille, an der sich auch nach einer halben Minute nichts änderte. Er ging einen Schritt zurück und schaute über sich. In die hohe Decke des Flures war eine Bodenklappe eingelassen. Er streckte sich nach oben, stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte die Arretierung der Klappe zu erreichen, aber es fehlte gut ein halber Meter.

Er machte sich auf den Rückweg nach unten. Er kam an der messingbeschlagenen Eingangstür der Anwaltskanzlei vorbei, die in dem kahlen Treppenhaus wie das Tor zu einer anderen Welt wirkte. Er zögerte kurz, ging dann aber weiter. Ein Knarren der letzten Treppenstufe und Marek stand wieder unten im Flur. Das Licht war inzwischen ausgeschaltet, der Beamte hatte seinen Posten verlassen. Die Seitentür ins Reisebüro war verschlossen. Marek öffnete sie vorsichtig. Ein Sichtschutz war errichtet worden, dahinter erhellte das Blitzlicht von Kameras die Zimmerdecke. Er sah sich um. Auf der rechten Seite, im hinteren Bereich des Reisebüros gab es zwei weitere Türen.

Die eine führte in einen kleinen Sanitärraum mit Waschbecken, Toilette und sogar einer Dusche, bei der allerdings der Duschvorhang fehlte. Marek trug noch seine Schutzkleidung und öffnete daher auch die zweite Tür. Er betrat eine Küche. Es gab eine Kaffeemaschine, daneben eine Mikrowelle, ein Tisch, zwei Stühle, eine Geschirrspülmaschine in Sparversion. Alles war in einer schlicht weißen Küchenzeile integriert. Am hinteren Ende der Küche gab es einen geschlossenen, bodentiefen Schrank. Als Marek nähertrat stellte er allerdings fest, dass es sich nicht um einen Schrank handelte. Er drückte den schmalen Griff herunter und zog die vermeintliche Schranktür auf. Ein leichter Zug kühler Luft kam ihm entgegen, er nahm sofort den Geruch von Heizöl wahr. Das Licht aus der Küche fiel auf eine hölzerne Kellertreppe, die steil in die Tiefe führte.

Er suchte nach einem Lichtschalter. Außen gab es keinen. Er tastete die Innenseite neben der Türzarge ab, fand aber auch hier nichts. Er zog seine kleine Taschenlampe aus dem Overall und schaltete sie ein. Der Lichtstrahl warf einen Spot auf den Betonfußboden am unteren Ende der Kellertreppe. Er überlegte kurz ob der Bereich zunächst von Ulrich Rooses Leuten gesichert werden sollte. Er setzte einen Fuß auf die erste Treppenstufe und beugte sich vor. Der Lichtkegel seiner Taschenlampe huschte über ein grobes Tischbein und über das untere Brett eines an der Wand stehenden Regals. Pappkartons warfen Schatten auf den grauen Betonboden.

Marek folgte dem Strahl seiner Taschenlampe. Die Treppenstufen waren schmal, aber aus massivem Holz. Er tauchte in den Keller ein. Die Luft wurde deutlich kühler, je tiefer er kam. In seinem Augenwinkel nahm er Leuchtdioden wahr. Der Strahl der Taschenlampe traf den Block einer Ölheizung, die Öltanks waren nicht zu sehen. Marek leuchtete einmal im Rund die Wände ab. Es gab keine Nische, keinen angrenzenden Raum, in dem die Tanks untergebracht waren. In seinem eigenen Haus hatte er vor ein paar Monaten die Ölheizung durch eine Gastherme ersetzen lassen. Die drei kleinen Öltanks waren zerlegt worden. Der gewonnene Platz im Keller stank noch immer nach Öl und war vorerst nicht zu gebrauchen. Die Heizung in dem Gebäude, in dem er sich jetzt befand, wurde offenbar von einem Außentank versorgt.

Er kehrte mit dem Strahl der Taschenlampe auf das hölzerne Regal zurück, dass er schon vom oberen Treppenabsatz aus gesehen hatte. Die unteren Böden waren durchgehend leer. Auf den Böden in Sichthöhe standen Kartons mit Reiseprospekten und Werbebannern. Einen der Kartons schaute er sich näher an. Er fand Dekorationsmaterial für das Schaufenster des Reisebüros, einen aufblasbaren Wasserball in dunkelblau mit weißer Werbeaufschrift, zwei Sonnenhüte und mehrere Einweckgläser mit feinkörnigem Sand. Er setzte seine Erkundung fort. Gleich neben dem Regal stand eine Werkbank. Eine massive Schraubzwinge, ein Becher mit Schraubendrehern, ein Farbtopf mit mattweißer Heizkörperfarbe. Er zog die beiden Schubladen der Werkbank auf, fand weiteres Werkzeug. Mehrere Sägen, einen Hammer, einen Satz Metallfeilen. In einem ausrangierten Besteckkasten lagen Schrauben und Nägel in verschiedenen Größen.

Die Abmaße des Kellerraums ließen darauf schließen, dass das Gebäude nur teilunterkellert war. Marek drehte sich wieder zur Treppe um. Er leuchtete einmal durch die offenen Stufen. Unter der Treppe waren weitere Kartons gelagert. Die Verpackung eines Fernsehers und eines Kugelgrills, wie die farbigen Abbildungen auf den Pappen erkennen ließen. Weiter hinten standen noch gewöhnliche Umzugskartons. Marek ging seitlich hinter die Treppe. Der Strahl der Taschenlampe reflektierte vom Boden. Ein roter Fleck auf dem Beton fiel ihm auf. Er leuchtete gezielt darauf. Es waren zwei, drei, fünf Flecken und ein weiterer, den er mit seinem rechten Schuh bereits verschmiert hatte. Er dachte nicht gleich an Blut, als er mit der Fingerspitze auf einen der intakten Flecken tippte und die haftengebliebene Substanz zwischen Zeigefinger und Daumen verrieb. Er roch an seinen Fingern und sofort spürte er den Geschmack von Eisen im Mund, der sicherlich durch die reine Einbildung noch verstärkt wurde.

Er benutzte wieder die Taschenlampe und sah erst jetzt, dass die Umzugskartons unter der Treppe wie eine Wand aus Pappe angeordnet waren. Er zog den untersten Karton etwas vor, der darüber geriet ins Wanken. Er fing ihn ab, zog dann beide Kartons unter der Treppe hervor. Die Taschenlampe erleuchtete den Hohlraum. Marek blickte auf einen gekrümmten Rücken, ein grünes Hemd oder eine Bluse, blaue Jeans. Die Beine waren angewinkelt. Die Person dort in der Nische hatte halblange, dunkelbraune Haare, die die Schulter bedeckten. Nach dem ersten Moment der Überraschung drückte er sich am Treppenholm zurück und richtete sich wieder auf. Er stellte sich vor die Treppe, blickte nach oben und rief. Er hörte selbst nicht, was er rief, er hoffte nur, dass man ihm die Panik in seiner Stimme nicht anmerkte. Irgendwann erschien die Gestalt von Ulrich Roose oben an der Treppe und verdunkelte den Lichtausschnitt.

*

Auf der Werkbank im Keller stand jetzt ein Halogenscheinwerfer, der auf einem Stativfuß befestigt war, und das ausleuchtete, was sich unter der hölzernen Kellertreppe abspielte. Ulrich Rooses Männer hatten die Kartons vorsichtig herausgezogen und in einer freien Ecke des Kellers gestapelt. Ulrich Roose selbst beugte sich unter die Treppe, um sich ein erstes Bild von der Spurenlage zu machen. Vorsichtig begann er den dort liegenden Körper abzutasten. Er zuckte plötzlich zurück und hätte sich beinahe den Kopf am Treppenholm gestoßen.

»Sie atmet«, rief er in Richtung von Dr. Kerstin Sander, die neben Marek stand. »Der Körper ist auch noch ganz warm.« Dann sah Ulrich Roose Marek an. »Haben Sie das denn nicht überprüft.«

»Ich ...« Marek zögerte.

Ulrich Roose gab ihm keine Gelegenheit, sich zu rechtfertigen. »Sie müssen doch prüfen, ob Sie eine Leiche oder eine verletzte Person vor sich haben.«

Marek blieb stumm. Im Falle eines Leichenfundes musste die Gerichtsmedizin warten, bis der Tatorterkennungsdienst alle Spuren aufgenommen hatte. Doch jetzt war Kerstin Sanders Einsatz als Ärztin gefragt. Ulrich Roose erhob sich und stellte sich zu seinen Leuten in eine Ecke des Kellers. Kerstin Sander nahm seinen Platz unter der Treppe ein. Gegen jede Regel der Spurensicherung bewegte sie den Körper, drehte die Frau auf den Rücken, beugte sich über sie. Marek war vorgetreten und beobachtete ihr Handeln. Er nahm den Halogenscheinwerfer von der Werkbank und folgte ihren Bewegungen. Sie nickte ihm kurz zu. Er hielt den Scheinwerfer noch ein Stück tiefer. Kerstin Sander verschaffte sich einen Eindruck von den Verletzungen der Frau. Sie nahm als erstes den Hals Puls, untersuchte dann mit routinierten Handgriffen den Kopf, die Schultern, den Rumpf und schließlich die Beine. Sie tastete die Knochen ab, um erste Hinweise auf Frakturen zu erhalten.

»Haben wir eine Decke?«, fragte Kerstin Sander. »Wir müssen sie auf eine Decke legen. Der Boden hier ist verdammt kalt. Und wir brauchen natürlich einen Krankentransport.«

Ulrich Roose stieß einen seiner Leute an. Der Mann ging zur Treppe, stieg mit vorsichtigen Schritten über die Szene hinweg nach oben. Kerstin Sander öffnete ihren Koffer. Sie hatte nicht viel für die Lebenden dabei, fand aber genug Verbandsmaterial für eine erste Wundversorgung. Während ihres Handelns sah sie einmal kurz in die fragenden Gesichter von Ulrich Roose und Marek.

»Offensichtlich eine Schussverletzung an der Hüfte, auf der rechten Seite. Nicht unerheblicher Blutverlust.« Sie deutete in die hinterste Ecke unter der Kellertreppe. »Hier ist ziemlich viel Blut, sie hat aber noch einen recht guten Puls.« Kerstin Sander machte eine Pause, als sie eine Kompresse auf die Wunde an der entblößten Hüfte der Frau drückte. »Dann hat sie noch Abschürfungen an den Händen und Prellungen am Rumpf und vermutlich auch an den Beinen. Knochenbrüche konnte ich keine feststellen. Wo bleibt die Decke?«

Aus der Küche über ihnen waren eilige Schritte zu hören. Ulrich Roose trat unten an die Treppe und blickte hinauf. Er hob die Hände und fing nacheinander zwei Wolldecken auf.

»Krankenwagen ist unterwegs«, kam es von oben. »Ich warte draußen auf der Straße.«

»In Ordnung«, sagte Ulrich Roose und reichte Kerstin Sander die Decken.

»Danke, hier muss mal jemand mit anpacken.«

Marek hielt noch immer den Scheinwerfer. Ulrich Roose gab dem anderen Techniker Zeichen. Kerstin Sander rutschte auf Knien zur Seite, nachdem sie die Decken ausgebreitet hatte. Ulrich Roose trat hinter die Frau, griff ihr vorsichtig unter die Arme. Auf der anderen Seite wurden die Beine der Frau angehoben.

»Wenn sie auf der Decke liegt, müsst ihr die Zipfel eindrehen und ihren Körper hochnehmen«, dirigierte Kerstin Sander die beiden Männer vom Tatorterkennungsdienst. »Wir sollten sie schon einmal nach oben bringen.«

Ulrich Roose nickte.

*

Eine Viertel Stunde später war wieder Ruhe eingekehrt. Nach der Erstversorgung wurde die verletzte Frau aus dem Keller in den mittlerweile bereitstehenden Krankenwagen geladen, der dann mit Blaulicht, aber ohne Sirene abgefahren war. Zeitgleich war auch der Leichenwagen eingetroffen. Dr. Kerstin Sander hatte ihre Arbeit beendet und sich bei Ulrich Roose und seinen Leuten verabschiedet. Marek hatte sich bereits zurückgezogen. Er saß alleine in der kleinen Küche. Er hatte sich auf einen der Küchenstühle gesetzt und hielt einen Personalausweis in Händen. Ulrich Roose hatte unter der Kellertreppe eine Damenhandtasche gefunden, darin nur eine Geldbörse, ein Paket Papiertaschentücher und ein blauer Baumwollschal. Der Ausweis stecke in der Geldbörse zusammen mit siebzig Euro in Scheinen und einem Euro siebenunddreißig in Münzen. Sonst befand sich nichts in der Geldbörse, kein Führerschein, keine EC- oder Kreditkarte, nichts.

Die Frau hieß Claudia Witte. Marek wendete den Personalausweis. Es war noch das alte, etwas größere Format. Ulrich Roose hatte die Straßenanschrift bereits überprüft. Claudia Witte kam aus dem Bezirk Pankow, wohnte dort im Stadtteil Prenzlauer Berg. Auf dem kleinen Zettel, den Ulrich Roose aufgeschrieben hatte, stand auch eine Telefonnummer. Marek zog sein Handy hervor, wählte aber zunächst eine Nummer aus seinem Telefonverzeichnis. Bevor er die Telefontaste drückte, schaute er auf seine Armbanduhr.

Es war kurz nach halb elf, Samstagabend. Vielleicht war Kriminaloberkommissar Thomas Leidtner auch nicht zu erreichen, vielleicht hatte er sein Telefon ausgeschaltet. Gut, sie hatten Bereitschaft, aber es war Samstagabend. Was machte Leidtner am Samstagabend. Marek wusste es nicht. Über Privates hatten sie seit Wochen nicht gesprochen und in der Zeit vor Kowalskis Weggang kannten sie sich noch nicht so gut. Marek war der Neue. Er hatte zusammen mit einem anderen Neuen bei Kriminalhauptkommissar Jürgen Kowalski angefangen, aber der andere Neue hatte nach wenigen Tagen die Operative Einheit innerhalb des LKA 1 gewechselt, Personalmangel. Und dann kam die Sache mit Kowalski. Irgendjemand im Präsidium hatte gleich gemeint, dass Kowalski so schnell nicht wiederkommen würde.

In den ersten Wochen hatten sie auch ohne Führung genug zu tun. Die Abarbeitung der alten Fälle, die Unterstützung anderer Teams bei ein paar größeren Operationen. Mit der Zeit war aber dann doch zu spüren, welchen Stellenwert ihre Operative Einheit ohne Kowalski hatte. In diesem Zustand verbrachten sie jetzt bereits fast drei Monate. Und in den letzten vier Wochen hatten Thomas Leidtner und er überhaupt keinen richtigen Fall mehr zugeteilt bekommen. Sie halfen jetzt nur noch aus, übernahmen größtenteils Sekundärermittlungen, befragten Zeugen, werteten die Ergebnisse des Tatorterkennungsdienstes aus oder schrieben Berichte. Diese Sache hier würden sie wahrscheinlich auch abgeben, an ein erfahreneres Team abgeben, obwohl Thomas Leidtner ein erfahrener Ermittler war.

Leidtner war ein richtiger Polizist, der nach seiner Ausbildung erst bei der Bereitschaftspolizei angefangen hatte und sich jeden Karriereschritt hart erarbeiten musste. So kam es Marek zumindest vor, wenn er den Gesprächen der älteren Kollegen zuhörte, den Kommissaren, die eine ähnliche Laufbahn hinter sich hatten. Ein studierter Polizist war da etwas, das nicht richtig passte, nicht zur Polizei passte. Aber sie wurden immer mehr und besetzten nach und nach die Stellen, die die richtigen Polizisten erst nach zehn oder fünfzehn Dienstjahren einnehmen konnten, wenn dann nicht schon jemand dort saß, jemand wie Marek. Gehobener Dienst bereits am ersten Arbeitstag.

Marek drückte die Telefontaste. Das Telefon klingelte. Wenigstens war der Anrufbeantworter nicht eingeschaltet. Marek zählte mit, dreimal, viermal. Bei jedem weiteren unbeantworteten Klingeln wollte er auflegen, tat es aber nicht. Sieben. Es klickte, ein dumpfes Hallo, ein Schaben, dann war das Hallo klarer zu hören. Thomas Leidtner nannte seinen Namen, hatte offenbar keine Ahnung, wer ihn anrief.

Marek musste sich räuspern. Er schluckte noch einmal. »Hallo Thomas, ich bin’s, Marek.«

Sie duzten sich wenigstens noch, musste Marek denken, als er die Worte ausgesprochen hatte.

Es dauerte ewige zwei Sekunden. »Hallo!«, antwortete Thomas tonlos, sonst nichts.

Es vergingen wieder Sekunden, bis Marek erneut ansetzte. »Entschuldigung für die späte Störung. Was machst du gerade?«

»Ich habe ein Bier stehen lassen.«

»Ach, du bist unterwegs und nicht zu Hause.«

»So sieht es aus.«

»Das ist natürlich blöd.«

»Ist bloß ein Alkoholfreies.« Thomas machte eine kurze Pause. »Haben wir einen Einsatz?«

»Ja, das heißt ...«

»Soll ich kommen?«, unterbrach Thomas Marek. »Wo bist du, worum geht es?« Leidtners letzte Worte wirkten jetzt etwas dynamischer.

»Nein, ist schon fast vorbei hier.«

»Was für ein Einsatz, Mord? Wer ermittelt?«

»Ja, Mord. Bei einem Streifeneinsatz wurde eine männliche Leiche mit Schussverletzungen aufgefunden. Tatort ist ein Reisebüro in Friedenau, aber das ist noch nicht alles. Ich habe auch noch eine lebende Person vorgefunden.«

»Du?«, fragte Thomas.

Marek ärgerte sich über seine Formulierung, gab dann aber eine ausführliche Beschreibung der Ereignisse des Abends. Thomas hörte zu, bis Marek geendet hatte.

»Und bis Montag führen wir die Ermittlungen?«, fragte er schließlich.

»Warum nur bis Montag?«, entgegnete Marek.

»Wäre ja mal was Neues«, stellte Thomas fest. »Ein Toter, eine Überlebende. Beide mit Schussverletzungen. Das hört sich doch nach einer größeren Sache an.«

Dann sah Marek plötzlich seine Chance, ein gemeinsames Ziel. »Du hast recht, aber bis Montag haben wir ja noch genug Zeit, um Fakten zu schaffen.«

»Fakten«, wiederholte Thomas. Seine Stimme klang erneut tonlos.

»Ja, Fakten. Ich will bis Montag schon etwas vorlegen können. Leider ist die Identität des Toten noch unbekannt. Da sind wir auf die technischen Kollegen angewiesen. Bei der Frau haben wir zumindest einen Namen und eine Adresse. Dann noch der Tatort selbst. Wem gehört das Gebäude? Wer betreibt das Reisebüro? Wer arbeitet dort?« Marek räusperte sich. »Ich möchte, dass du schon einmal so viel wie möglich herausbekommst«, sagte er fest. »Über das Reisebüro und über diese Claudia Witte. Sie war bewusstlos, als ich sie gefunden habe. Mit etwas Glück können wir sie vielleicht schon morgen verhören. Da sollten wir vorbereitet sein.«

»Und du willst heute noch etwas von mir hören?«, fragte Thomas.

Marek wollte schon wieder einlenken, blieb dann zu seiner eigenen Überraschung fest. »Ja, trinke dein Bier aus, verabschiede dich von deinen Freunden und mach dich an die Arbeit. Ich fahre jetzt zum Krankenhaus.«

Thomas hatte offenbar keine Einwände. »Was ist mit dem Tatort?«, fragte er stattdessen.

»KHK Roose ist mit seinem Team noch hier. So schnell werden die nicht fertig. Wenn du die ersten Infos hast, können wir uns am Tatort treffen.«

Thomas schien zu überlegen. Marek war sich nicht sicher, ob er seinen Kollegen mitgerissen hatte. Vielleicht klang es mehr nach Befehlen, als nach Vorschlägen, die er ihm unterbreitet hatte.

»Gut, mal sehen was ich so finde«, erklärte Thomas schließlich. »Ich melde mich wieder.«

Sie beendeten das Gespräch. Marek hielt sein Smartphone noch ein paar Sekunden am Ohr, nahm es herunter, schloss kurz die Augen und atmete dabei tief ein. Dann blickte er auf Ulrich Rooses Zettel, tippte die Nummer von Claudia Witte ins Telefon und ließ es klingeln. Er zählte diesmal nicht, gab es aber nach einer gefühlten Ewigkeit auf.

*

Auf seinem nächtlichen Weg zur Charité kam er an drei Berliner Sehenswürdigkeiten vorbei. Nachdem er den Großen Stern passiert hatte, ließ er die Siegessäule hinter sich und fuhr auf der Straße-des-17.-Juni dem Brandenburger Tor entgegen. Danach passierte er über die Ebertstraße und die Dorotheenstraße auch noch das Reichstagsgebäude. Als er schließlich die Spree überquerte, wurde aus der Wilhelmstraße die langgezogene Luisenstraße. Er fuhr fast einen Kilometer lang geradeaus und erreichte an der Nummer 65 den großzügigen Eingangsbereich der Rettungsstelle des Universitätsklinikums Charité-Mitte.

Er parkte seinen Audi neben einem Krankenwagen und ging direkt unter der Leuchtschrift ins Gebäude. Er musste einer Rollstuhlfahrerin Platz machen, die ihm entgegenkam und die Rettungsstelle gerade verließ. Dann war er doch überrascht. Im Wartebereich zählte er ein gutes Dutzend Leute. Eine junge Frau mit einer bandagierten Hand lächelte ihn an. Marek lächelte zurück. Er sah sich noch einmal um, ging dann auf sie und ihre Freundin zu.

»Entschuldigung, wo geht es hier zur Notaufnahme?«, fragte er die Frau mit dem Verband.

»Das ist doch die Notaufnahme«, antwortete die Freundin an ihrer Stelle und schenkte ihm ebenfalls ein Lächeln.

»Und wo meldet man sich an?«

»Ach so«, sagte wieder die Freundin und zeigte auf eine Glastür am Ende des Ganges. »Da müssen Sie klingeln.«

Marek bedankte sich. Er ging an den Wartenden vorbei, fand neben der Glastür den Klingelknopf mit dem Hinweis: Nach 23:00 Uhr bitte klingeln. Er sah auf seine Armbanduhr, es war tatsächlich schon Viertel vor zwölf. Dann klingelte er. Es dauerte eine halbe Minute, bis ihm der Summer die Tür öffnete. Im Empfangsraum saßen noch einmal vier Patienten. Marek ging direkt zum Tresen. Eine Krankenschwester hatte ihm bereits ein Formular und einen Kugelschreiber durch die Öffnung ihres Glaskastens geschoben. Marek schüttelte den Kopf und zeigte ihr seinen Polizeiausweis.

»Mein Name ist Quint. In der letzten Stunde wurde ein Notfall eingeliefert. Der Name ist Witte, Claudia Witte.« Den Namen sprach er etwas leiser aus. »Ich möchte bitte den behandelnden Arzt sprechen. Und können Sie mir auch schon einmal sagen, wo die Patientin untergebracht ist.«

»Untergebracht?«, wiederholte die Krankenschwester und zog Formular und Kugelschreiber auf ihre Seite der Glaswand zurück.

»Ja, auf welcher Station liegt Frau Witte, Claudia Witte. Und wer behandelt sie?«, erklärte Marek noch einmal.

Die Krankenschwester sah erst einen Stapel Papiere durch, die vor ihr auf dem Tisch unter dem Tresen lagen. »Hier ist sie nicht«, kommentierte sie. »Mit V oder mit W?«

»Bitte? Ach so, ja, mit W, Witte, Vorname Claudia mit C.«

Sie blätterte noch einmal den Stapel durch, schüttelte dann den Kopf. »Wenn die Aufnahme in der letzten Stunde war, müsste ich die Patientin hier finden.«

»Sie ist bestimmt nicht hier über den Tresen gegangen«, vermutete Marek.

Die Krankenschwester sah ihn an. »Nicht über den Tresen gegangen?«, wiederholte sie fragend.

»Ich meine, sie ist wahrscheinlich durch die Hintertür ... Also, sie ist mit einem Krankenwagen eingeliefert worden. Zwei Beamte, zwei Polizeibeamte haben sie begleitet.«