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Familiengeheimnisse. Traumata. Unaussprechliche Grausamkeiten.
In einem verlassenen Gebäude in Berlin, einst ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche in der ehemaligen DDR, wird die Leiche eines Franzosen entdeckt. Der Fund wird zum ersten Fall für das von Europol ins Leben gerufene Cold-Case-Team um Sophie Steinbach und David Martin, die am Tatort Schockierendes enthüllen: In einem zugemauerten Keller liegen die Überreste zahlreicher Menschen begraben. Sophie, David und ihr Team tauchen in die düstere Vergangenheit des Erziehungsheims ein. Die Spur führt sie zu geheimen Stasi-Akten und unaussprechlichen Grausamkeiten des damaligen Regimes. Während Sophie bis an ihre Grenzen geht, um für Gerechtigkeit zu kämpfen, muss sich David seinen eigenen Dämonen stellen. Dann nimmt der Fall eine dramatische Wendung …
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Seitenzahl: 390
In einem verlassenen Gebäude in Berlin, einst ein Heim für schwer erziehbare Jugendliche in der ehemaligen DDR, wird die Leiche eines Franzosen entdeckt. Der Fund wird zum ersten Fall für das von Europol ins Leben gerufene Cold-Case-Team um Sophie Steinbach und David Martin, die am Tatort Schockierendes enthüllen: In einem zugemauerten Keller liegen die Überreste zahlreicher Menschen begraben. Sophie, David und ihr Team tauchen in die düstere Vergangenheit des Erziehungsheims ein. Die Spur führt sie zu geheimen Stasi-Akten und unaussprechlichen Grausamkeiten des damaligen Regimes. Während Sophie bis an ihre Grenzen geht, um für Gerechtigkeit zu kämpfen, muss sich David seinen eigenen Dämonen stellen. Dann nimmt der Fall eine dramatische Wendung …
Nica Stevens (* 1976) leitete jahrelang ein Familienunternehmen und war als Dozentin tätig, bis sie nach der Geburt ihres zweiten Sohnes zu ihrer Leidenschaft des Geschichtenerzählens zurückfand. Ihr Debüt »Verwandte Seelen« wurde auf Anhieb zum Bestseller. Seitdem lebt Stevens ihren Traum, arbeitet hauptberuflich als Autorin und schafft es immer wieder, mit ihren Büchern restlos zu begeistern.
Andreas Suchanek (* 1982) verfasste bereits in Jugendjahren seine ersten Geschichten und Romane. Nach dem Studium der Informatik begann er damit, seine Geschichten hauptberuflich zu veröffentlichen. Seinen bisher größten Erfolg hatte Suchanek mit der Urban-Fantasy Reihe Das Erbe der Macht, die mit dem Deutschen Phantastik Preis und dem LovelyBooks Lesepreis ausgezeichnet wurde. Er ist für seine gemeinen Twists bekannt.
Rachejagd – Gequält
Rachejagd – Verraten
Rachejagd – Zerstört
STEVENS & SUCHANEK
Das Cold-Case-Team Berlin ermittelt
THRILLER
WILHELMHEYNEVERLAGMÜNCHEN
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Originalausgabe 11/2024
Copyright © 2024 dieser Ausgabe by Wilhelm Heyne Verlag, München, in der Penguin Random House Verlagsgruppe GmbH, Neumarkter Str. 28, 81673 München
Redaktion: Nina Bellem
Umschlaggestaltung: © bürosüd unter Verwendung von Motiven von Getty Images (Victor Pagan)
Satz: Uhl + Massopust, Aalen
ISBN 978-3-641-31436-1V001
www.heyne.de
In der verdammten Bruchbude gab es doch nichts zu finden!
Falk hielt die Waffe Richtung Boden gerichtet, die Stablampe schickte ihren Lichtstrahl in die Dunkelheit. Der Wind tobte dank zerschlagener Fenster durch das verlassene Gebäude.
Nachtschichten konnte er grundsätzlich nicht leiden, doch die verregneten erst recht nicht. Der Herbst hielt den Osten Berlins fest im Griff, die Temperaturen sanken Nacht für Nacht. Als Streifenpolizist war Falk es gewohnt, sich mit betrunkenen Jugendlichen und Aggro-Personen herumzuschlagen. Momentan herrschte jedoch aus einem anderen Grund Ausnahmezustand in der Wache.
Und genau dieser führte ihn hierher.
Kies knirschte unter Falks Schuhsohlen. Vorsichtig leuchtete er in jede Richtung, blieb wachsam. Im Minutentakt gingen auf dem Präsidium Hinweise ein, denen die Polizisten nachgehen mussten; natürlich dank zu wenig besetzter Stellen, in völliger Unterzahl.
Im vorliegenden Fall war der Anruf einer obdachlosen Bürgerin der Auslöser gewesen, in dem sie behauptete, dass die vermisste Jugendliche ganz zweifellos tot war. Sie hatte angeblich den Mörder dabei beobachtet, wie der auf diesem Grundstück in Friedrichshain den Körper aus dem Kofferraum hievte. Und da sie nur zwei Schnäpse hatte, konnte das auch keine Einbildung sein.
Würde sich jeder Anruf bei der Hotline als wahr herausstellen, wäre Berlin die Stadt mit der höchsten Mordrate in Europa.
»Ihr Idioten von der Soko musstet ja unbedingt an die Öffentlichkeit gehen«, knurrte Falk. »In den kommenden Tagen sind wir dank euch gut beschäftigt.«
Eine weite Eingangshalle ging in eine Treppe über. Der Zement war mit Holz verkleidet, das faustgroße Löcher aufwies.
»Hast du was?«, erklang es hinter ihm.
Falk schrie auf und fuhr herum. »Verdammt, Pete! Erschreck mich nicht so.«
»Du wusstest doch, dass ich das Grundstück absuche«, gab Peter zurück, der darauf bestand, Pete genannt zu werden. Er war erst Mitte zwanzig, trug aufgrund genetischer Veranlagung allerdings früh Glatze.
»Aber nicht, dass du plötzlich wieder hinter mir stehst.« Falk deutete mit einem Nicken nach oben. »Such du noch das Obergeschoss ab.«
»Alles klar.« Pete stieg die Stufen ins höher gelegene Stockwerk hinauf.
Falk betrachtete im Lichtschein jedes Loch im Boden, erst dann machte er den nächsten Schritt und trat in einen großen Hauptraum.
Der Lichtkegel entriss eine Person der Dunkelheit.
Seitenlage, gekrümmte Haltung.
Jede korrekte Ansprache nach Dienstvorschrift war aus seinem Geist verschwunden. Er konnte den Blick nicht von der Person abwenden. Jeans, ein Pulli, darüber eine Jacke in dunkler Farbe. War das die verschwundene Jugendliche?
»Bitte nicht«, flüsterte er.
Langsam trat er näher. Jeder Schritt war eine Überwindung. Bis auf das Fauchen des Windes und das Stampfen von Petes Schritten, als der die alte Holztreppe wieder herunterkam, war nichts zu hören. Alles wirkte so unwirklich. Er war Streifenpolizist, hatte bisher noch nie mit einer Leiche zu tun gehabt.
»Und, alles klar?« Petes Lichtkegel tauchte hinter ihm auf, glitt an ihm vorbei. »Scheiße. Ist das …?«
Falk hatte sein Ziel fast erreicht.
Es knirschte.
Plötzlich gab der Untergrund nach, wie alte Pappe. Falks Fuß krachte hindurch. Im Reflex drückte er ab, ein Schuss hallte durch die Nacht. Er ließ die Waffe fallen, um sich abzustützen. Als sei er ins Eis eingebrochen, hielt er sich fest, die Beine hingen in der Luft.
»Verdammt!« Pete kam näher, suchte den Boden aber vor jedem Schritt genau ab.
Da Falk keine Lust hatte, ein Stockwerk tiefer auf den harten Kellerboden zu krachen, krallte er sich mit aller Kraft fest.
Endlich erreichte Pete ihn. Mit dessen Hilfe schaffte es Falk wieder aus dem Loch.
»Danke.« Er atmete schwer.
Pete beugte sich über den dunklen Schlund und leuchtete in die Tiefe. Im nächsten Augenblick schrie er auf, wich zurück.
»Was ist los?« Falk robbte nach vorne und blickte hinab. Da waren Silhouetten in der Dunkelheit.
Das Licht seiner Lampe enthüllte Details.
Er hatte sich geirrt. In den Schatten des Abrisshauses gab es doch etwas zu finden.
Sophie ruderte langsamer und glitt mit dem Skiff auf das Schilf zu. Die Sonne war vor etwa einer Stunde aufgegangen, durch die über dem See liegenden Nebelschwaden drang das Tageslicht jedoch nur schwerfällig hindurch. Der Wald, der den Werbellinsee umgab, war gerade noch schwach zu erkennen. Nur das Eintauchen der Ruder und die Rufe der Wasservögel waren zu hören. Die Wasseroberfläche kräuselte sich im kühlen Herbstwind. Zumindest hatte es aufgehört zu regnen.
Sie stoppte, balancierte das schmale Ruderboot aus, zog sich die Kapuze ihrer Regenjacke vom klammen Haar und durchstreifte mit ihrem Blick das dichte Schilf.
Bisher hatte sie in ihrem Leben drei Wasserleichen gesehen. Allerdings war keiner der Toten ertrunken. Sie alle wurden gewaltsam getötet und post mortem im Wasser abgelegt. Den Tätern hatte das nicht viel genützt. Sophie hatte die Morde aufdecken können.
Im Schilf ließ sich eine Leiche gut verstecken. Vor allem, wenn es sich dabei um eine zierliche Jugendliche handelte und herabfallendes Laub, das sich zwischen dem hohen Sumpfgras verfing, die Sicht zusätzlich einschränkte.
Sie seufzte. Was tat sie hier eigentlich? War sie jetzt schon so weit, dass sie einen Leichenfundort vermutete, sobald ein verdeckt liegender Schauplatz sich dafür eignete?
Einen kurzen Moment lang schloss sie die Augen und sog die feuchte Luft in ihre Lunge. Es war an der Zeit, den alten Fall loszulassen und nach vorn zu schauen. Ihre letzte Amtshandlung war es gewesen, ihrer Nachfolgerin, Kriminalhauptkommissarin Tina Spicker, anzuraten, mit dem Vermisstenfall an die Öffentlichkeit zu gehen. Es gab bisher keine Spur, der sie hätten nachgehen können, und je mehr Zeit verstrich, desto größer wurde die Wahrscheinlichkeit, dass sie Melissa Hubert nur noch tot oder gar nicht finden würden. Auch wenn es ihr schwergefallen war, den Fall abzugeben, freute sie sich auf ihre neue berufliche Herausforderung. Ab morgen arbeitete sie für Europol, hatte den alten Kollegen allerdings angeboten, dass sie sie bei Fragen kontaktieren konnten.
Mit kraftvollen Ruderbewegungen brachte sie das Skiff wieder in Fahrt, fühlte, wie ihre Muskeln arbeiteten. Die Saison ging nun im Herbst zu Ende und sie würde die Wochen bis zum Frühling zählen. Wenn sie im See schwamm oder ruderte, war sie mit sich alleine und konnte ihren Stresspegel herunterfahren. Im Schwimmbad zog sie neben anderen ihre Bahnen und musste stets aufpassen, nicht mit ihnen ins Gehege zu kommen. Dabei gelang es ihr kaum, abzuschalten.
Sie überprüfte regelmäßig mit einem Schulterblick, ob das Fahrwasser frei war. Der Campingplatz und der Steg waren schon nah. Paul Gruner stand am Anleger, hatte die Hände in die Hüften gestemmt und sah ihr entgegen.
»Frau Steinbach, was soll ich bloß mit Ihnen machen? Bei solchen Witterungsbedingungen können Sie doch nicht allein auf den See rausfahren.«
Sophie fuhr im schrägen Winkel zum Steg. »Guten Morgen, Herr Gruner, so früh schon auf? Ich dachte, ich bin der einzige frühe Vogel.« Sie hielt beide Ruder mit einer Hand fest, stützte sich mit der anderen auf den Holzplanken ab und stieg aus.
»Sie kennen mich doch«, erwiderte der alte Zeltplatzwart. »Die Campingsaison ist auch vorbei, aber das hier ist einfach mein Revier. Kann ich Ihnen helfen?«
»Das passt schon. Selbst ist die Frau.« Sie zwinkerte ihm zu, löste die Ruder aus den Lagern und legte sie ans Ufer.
Paul Gruner schüttelte schmunzelnd den Kopf. »Bis zur letzten Minute auskosten, was? Ich kann es ja verstehen.« Er sah zum Zeltplatz hinüber, auf dem mit Vorzelten ausgestattete Wohnwagen von Hecken umschlossen waren. »Es ist jetzt schon ruhiger geworden. Ich freu mich auf den Frühling, da ist hier wieder das Lachen von Kindern zu hören, und die Eltern betrachten den Sonnenuntergang. Dann kehrt wieder Leben ein.«
Er half ihr schließlich doch dabei, das Skiff aus dem Wasser zu heben und zum Bootshaus zu tragen. Dort legten sie das Boot auf zwei Böcken ab.
»Ich mache es später sauber«, versprach Sophie. »Wenn der Nebel sich verzieht, fahre ich wahrscheinlich noch mal raus.«
»Sie machen sowieso, was Sie wollen. Und das ist auch gut so.« Er strich sich mit der Hand über den ausladenden Bauch. »Das betont Ihr Mann auch immer. Wann kommt er eigentlich mal wieder mit vorbei?«
»Jan hat es nicht so mit dem Campen«, sagte sie, nickte Paul Gruner zu und ging in Richtung der Wohnwagen.
»Richten Sie ihm und der Kleinen bitte viele Grüße aus«, rief er ihr nach.
Ohne sich noch mal umzudrehen, hob sie die Hand.
Der Kleinen … Er hatte Laura hier über die Jahre aufwachsen sehen. Früher hatte sie beinahe jedes freie Wochenende mit ihrer Tochter am Werbellinsee verbracht. Obwohl sie gerade einmal fünf Jahre alt war, als Oma Frieda starb, besaß Laura viele Erinnerungen an diese Zeit.
Sophie blieb im Durchgang der hüfthohen Hecke stehen und betrachtete das Vorzelt, dessen Stoff irgendwann einmal grün gewesen war. Die Sonne hatte die Plane längst zu einem schmutzigen Beige ausgeblichen. Doch sie brachte es nicht übers Herz, diesen Platz zu verändern, ebenso wie den Wohnwagen selbst. Oma Frieda hatte ihr den Dauercampingplatz vor fast 20 Jahren hinterlassen und noch immer fühlte sie sich ihr hier nah. Da Laura nach ihrem erfolgreichen Uniabschluss gerade aus Berlin weggezogen war, wünschte Sophie sich umso mehr, die Zeit zurückdrehen zu können.
Ihr Smartphone vibrierte in der Jackentasche. Sie zog die Zip-Tüte heraus, nahm es zur Hand und sah auf das Display. Es war Jan.
»Guten Morgen«, sagte sie und zog den Reißverschluss des Vorzeltes hoch.
»Guten Morgen. Ich hab das Frühstück fertig. Wann kommst du?«
Sophie presste die Lippen aufeinander, öffnete die Wohnwagentür und trat ein. »Du, ich will den letzten Tag noch zum Rudern nutzen. Gefrühstückt hab ich schon.« Sie stellte auf Lautsprecher, legte das Smartphone auf den Tisch, zog ihre Regenjacke aus und hängte sie über den Haken an der Tür.
»Als Laura noch bei uns wohnte, war dir das gemeinsame Frühstück heilig«, erwiderte Jan nach einer kurzen Pause.
Sie wusste nicht, was sie ihm darauf erwidern sollte.
»Es ist auch für mich eine Umstellung, Sophie. Ich hab langsam das Gefühl, du bist mit unserer Tochter ausgezogen. Rede mit mir, verdammt noch mal.«
Seiner Stimme war die Ratlosigkeit anzuhören. Aber gerade konnte sie nicht aus ihrer Haut. Zu Hause vermisste sie ihre Tochter noch mehr und Jan nahm sie vollkommen in Beschlag, da Laura ihm ebenfalls fehlte. Nach 24 Jahren plötzlich wieder in Zweisamkeit zu leben überforderte sie, was vermutlich vor allem daran lag, dass Jan zu Hause als selbstständiger Steuerberater arbeitete und immer da war. Sie brauchte ihren Freiraum, Zeit für sich. Und eine neue Herausforderung, der sie jetzt bei Europol entgegenfieberte.
»Zum Abendessen bin ich da, okay?«
Er atmete tief durch. »Soll ich uns was kochen?«
»Was hältst du davon, wenn wir das gemeinsam machen?«, schlug sie ihm als Wiedergutmachung vor und schenkte sich aus der Thermoskanne Kaffee in die Tasse.
»Klingt gut«, antwortete er.
Am Tonfall hörte sie, dass er lächelte.
»Dann bis später.«
»Bis später.«
Sophie tippte auf das Display, quetschte sich in die Sitzecke und schaltete den kleinen Fernseher über ihr im Regal ein. Es liefen Nachrichten, in denen gerade die immer weiter ansteigenden Mietpreise thematisiert wurden. Ihr Blick fiel auf die zwei gerahmten Fotos, die im Nebenfach standen. Auf dem linken Bild lächelte ihr Oma Frieda entgegen, das Gesicht überzogen von Falten, die weißen Haare am Hinterkopf zu einem ordentlichen Dutt gebunden. Daneben ein Familienfoto von Jan, Laura und ihr. Laura hatte ihre hellbraune Haarfarbe geerbt, ebenso wie die Wangengrübchen, die nur sichtbar wurden, wenn sie lächelten. Als das Foto an einem Sommerabend während einer Grillparty mit den Nachbarn aufgenommen wurde, war Laura 17 Jahre alt gewesen – wie die vermisste Melissa Hubert.
Sophie trank einen Schluck und zog ihren Notizblock, der vor ihr auf dem Tisch lag, zu sich heran. Die Akte hatte sie bereits abgegeben und Tina Spicker alle Erkenntnisse geliefert, die sie bis dahin zusammengetragen hatte. Dennoch blätterte sie durch ihre Aufzeichnungen. Vielleicht hatten sie irgendetwas übersehen?
»Die Polizei Berlin sucht weiterhin nach Hinweisen zu dem Verbleib von Melissa Hubert«, leitete der Nachrichtensprecher das neue Thema ein und brachte Sophie dazu aufzuschauen. »Am Montag, vor sechs Tagen, wurde die aus Friedrichshain stammende Siebzehnjährige zuletzt im Heinrich-Hertz-Gymnasium gesehen, wo sie sich nach dem Unterricht gegen 14:45 Uhr von zwei Freundinnen verabschiedete und diese sie entlang der Rigaer Straße fortgehen sahen. Um 14:51 Uhr telefonierte sie noch mit ihrem Freund und die Suche der Polizei verlief bisher erfolglos.«
Ein Foto von Melissa wurde eingeblendet, das Sophie noch persönlich mit deren Eltern ausgesucht hatte. Heutzutage war es schwierig, Bilder eines Teenagers zu finden, die durch Filter nicht zu stark bearbeitet waren und das reale Aussehen widerspiegelten.
»Melissa Hubert ist 1,66 Meter groß, sehr schlank und hat braunes, hüftlanges Haar mit einer neongrünen Strähne. Zuletzt trug sie einen grauen Pullover, hellblaue Jeans, schwarze Stiefeletten und einen cremefarbenen Mantel.«
Das Foto verschwamm unter Sophies starrem Blick. Sie wollte sich nicht einmal ansatzweise vorstellen, wie die Eltern sich jetzt fühlten. Und vor allem musste sie den Vermisstenfall endlich für sich abschließen.
Nicht nur bei ungelösten Fällen, auch in Bezug auf ihre Tochter, musste sie lernen loszulassen. Sophie war stolz auf Laura und wünschte sich für sie, dass sich der Job in der Redaktion so gestaltete, wie sie sich das vorstellte. Außerdem war Hamburg ja nicht aus der Welt und mit dem ICE in weniger als zwei Stunden erreichbar.
Sie schrieb ihrer Tochter eine kurze Nachricht, in der sie ihr einen schönen Sonntag wünschte, und widmete sich dann wieder ihren Notizen. Als Sophie klar wurde, was sie da gerade tat, warf sie den Block von sich – Hauptsache außer Reichweite.
Ein Blick aus dem Fenster offenbarte ihr, dass der Nebel sich allmählich verzog. Sie konnte es kaum erwarten, nochmals mit dem Boot rauszurudern, also stand sie auf und griff nach der Regenjacke. Im selben Augenblick klingelte ihr Handy.
Was wollte Oliver Alvarez heute von ihr? Sie hatte ihren neuen Chef vorgestern kennengelernt, als er ihr die noch spärlich eingerichteten Büroräume gezeigt hatte, die der Unterabteilung für grenzüberschreitende Cold-Case-Fälle bereitgestellt werden sollten. Morgen würde sie zum ersten Mal mit ihren neuen Teamkollegen zusammentreffen.
»Herr Alvarez?«, meldete sie sich zu Wort, klemmte sich das Smartphone zwischen Schulter und Ohr und streifte ihre Jacke über.
»Hallo, Frau Steinbach, so schnell hört man sich wieder. Ihre Arbeit beginnt zwar offiziell erst morgen, aber ich habe einen aktuellen unaufschiebbaren Fall für Sie.«
Sophie hielt mitten in der Bewegung inne. »Sie meinen jetzt, sofort?«
»Ihr neuer Kollege, Commissaire Générale David Martin, ist bereits in der Stadt. Sie finden seine Telefonnummer in dem Protokoll, das ich ihnen am Freitag ausgehändigt habe. Rufen Sie ihn bitte an und geben Sie ihm Bescheid, dass er sich mit Ihnen treffen soll. Wie es aussieht, müssen Sie vorerst keine alten Akten herumwuchten oder Datenbanken neu befüllen. Sie ermitteln in einem aktuellen Todesfall mit Cold-Case-Bezug. Ich schicke ihnen die genaue Adresse und kümmere mich derweilen um die Bestätigung unserer Zuständigkeit. Da unsere Abteilung gerade erst ins Leben gerufen wurde, sind die Diskussionen vorprogrammiert.«
Sophie zog die Jacke wieder aus und nahm das Smartphone richtig zur Hand. Allerdings kam sie nicht dazu, weiter nachzuhaken. Oliver Alvarez hatte aufgelegt und schickte ihr direkt eine Nachricht mit der exakten Standortangabe.
Sie streifte ihre Sportleggings ab und schlüpfte in ihre Jeans. Währenddessen sah sie sich im Wohnwagen um und überlegte, wo sie besagtes Protokoll abgelegt haben könnte. Dabei kam ihr das Handschuhfach ihres Autos wieder in den Sinn und sie zog hastig ihre Stiefel über. In ihrer Manteltasche tastete sie nach dem Lippenbalsam, schaltete den Fernseher aus, drehte die Gasflasche unter dem Kochfeld ab und verließ den Wohnwagen.
Ihr Auto stand auf dem Parkplatz am Waldrand. Nachdem sie hinter dem Lenkrad Platz genommen hatte, öffnete sie das Handschuhfach, griff nach dem Protokoll und faltete das Blatt auseinander.
»David Martin«, flüsterte sie und strich mit dem Zeigefinger über das Papier, bis sie auf seinen Namen stieß.
Sophie speicherte die Nummer ihres noch unbekannten Kollegen ein, betätigte die Freisprechanlage und fuhr los.
Das kalte Licht des Morgens fiel durch die Vorhänge und tauchte das Zimmer in diffuses Dämmerlicht. David blinzelte. Die Träume verblassten und machten der Wirklichkeit Platz. Er lag in einem fremden Bett, neben ihm ein warmer Körper.
Die Erinnerung an die vergangene Nacht kehrte schlagartig zurück. Das Tanzen, eine muskulöse Brust, die sich eng an ihn drückte. Raue Lippen, Wangen, die von einem Dreitagebart bedeckt waren.
Er schob die Decke beiseite. Im Zimmer war es frisch, so mochte er es. Da er nur Shorts trug, breitete sich Gänsehaut auf seinem Rücken aus.
»Morgen«, kam es verschlafen vom Bett.
David blickte zurück. Micha, fiel ihm der Name des Mannes wieder ein, hatte die Decke wieder vollständig übergezogen, nur seine dunklen Locken schauten heraus. Er war Ende dreißig, Besitzer eines Cafés und laut eigener Aussage nur an zwischenmenschlichem Spaß interessiert, was Davids Vorlieben entgegenkam.
Er linste auf die Uhr.
Es war sieben Uhr am Morgen. Normalerweise liebte er es, sonntags auszuschlafen, in einem fremden Bett gelang das aber nur selten. Und dieses hier hatte er letzte Nacht zum ersten Mal benutzt.
David schlüpfte in Jeans und einen Pulli.
»Willst du noch ’nen Kaffee?« Micha blickte verschlafen zu ihm herüber.
»Danke, aber ich trinke keinen.«
»Kann ich dir schreiben?« Micha lächelte.
David spürte den vertrauten Stich in seinem Inneren. »Ich bin viel unterwegs. Vielleicht sehen wir uns ja mal wieder im Prinzknecht. Oder ich schaue in deinem Café vorbei.«
Damit drückte er ihm einen Abschiedskuss auf die Stirn und ging auf Fluchtkurs. Vor der Tür erwarteten ihn leere Straßen und grauer Asphalt. Jeder vernünftige Berliner lag zu dieser Zeit noch im Bett. Jeder vernünftige Pariser ebenso.
David benötigte einen Augenblick, um sich zu orientieren. Er war in den vergangenen Jahren öfter in Berlin gewesen; mal beruflich, mal privat zum Feiern. Hier wohnten Freunde und versprengte Familie und ab sofort war es seine Heimat.
Er zog sein Smartphone hervor, schob es dann aber wieder zurück in die Tasche und lief einfach los. Die Bewegung tat gut. Irgendwann wurde die Gegend vertrauter. Er erreichte die erste U-Bahn-Haltestelle – Gneisenaustraße. Das war also Kreuzberg. Er stieg in die nächste einfahrende Bahn.
Das beständige Ruckeln lullte ihn ein. David dämmerte ein wenig vor sich hin. Zwei Umstiege später fuhren sie in die Zielhaltestelle ein. Sein Kiez wartete: Tempelhofer Berg. Er schlurfte die Treppenstufen der Haltestelle hinauf, entdeckte schon von Weitem Hundebesitzer, die das Tempelhofer Feld besuchten. Die hatten dank ihrer Lieblinge schließlich keine Wahl.
Erst als die Tür zu seiner neuen Wohnung hinter ihm ins Schloss fiel, atmete er auf, warf den Schlüssel in die Schale auf der Anrichte und ließ die Einrichtung auf sich wirken. Nach der Zusage von Alvarez vor einem Monat hatte David in Windeseile seine Schuhschachtel in Paris gekündigt. Dank zahlreicher Partynächte besaß er ein, zwei Kontakte, die ihm schnell eine andere Schuhschachtel, dieses Mal in Berlin, verschafft hatten. Er durfte keinem Berliner davon erzählen, sonst würde er zum Mordopfer werden. Der Wohnungsmarkt in dieser Stadt war eine Katastrophe.
Hinter der Tür schloss ein schmaler Gang an, der Boden war uneben und mit Teppich ausgelegt. Die Wohnung bestand, neben dem Bad, lediglich aus zwei weiteren Räumen: einer Küche und einem Wohn- und Schlafzimmer. Für den Übergang würde es auf jeden Fall reichen.
Die Menge an Umzugskisten war überschaubar, aber noch nicht vollständig ausgepackt. David wandte sich zuerst dem Bad zu und genoss eine heiße Dusche. Da der Föhn irgendwo in den Niederungen eines Umzugskartons verborgen war, rubbelte er sein Haar einfach trocken.
Nackt wandte er sich einem der Kartons zu, zog eine Jogginghose heraus und schlüpfte hinein. Noch ein altes Shirt und er fühlte sich nicht mehr wie ein Höhlenmensch. Nur wie ein typischer Sonntagsgammler.
Die Türklingel riss ihn aus seinen Überlegungen zum weiteren Ablauf des Tages.
Er öffnete sie und spürte im gleichen Augenblick einen Anflug von Freude. Vor ihm stand Giacomo. Einige Jahre zuvor hatten sie sich in Berlin in einem Club kennengelernt, zuerst geflirtet, dann rumgeknutscht. Erst im Bett hatten sie bemerkt, dass sexuell absolut keine Kompatibilität bestand. Schlussendlich hatten sie das Beste daraus gemacht und geplaudert, sich mal wieder zum Essen getroffen, telefoniert. Eine Freundschaft war entstanden.
»Giaco.« David zog ihn in eine Umarmung.
»Mein Lieblingsbaguette.« Er wurde mit einem Arm fest gedrückt, im dem anderen balancierte Giacomo einen Karton mit zwei Bechern darin.
»Irgendwann werde ich dir als Revanche ein italienisches Klischee an den Kopf werfen«, drohte David.
»Dafür müsstest du erst mal schlagfertig werden.« Sein Freund trat an ihm vorbei und begutachtete den Flur. »Um Himmels willen.«
»Ist größer als meine Wohnung in Paris.« David deutete auf die Becher. »Rieche ich da frisch gebrühten Kaffee?«
»Alles ist größer als deine Abstellkammer in Frankreich.« Giacomo verstrahlte die Wucht einer Abrissbirne und die Flauschigkeit einer Federboa. Außerdem war er Italiener und besaß Nationalstolz.
Er bog links ab und verschwand in der Küche.
»Mio dio!«, erklang es kurz darauf.
Mit einem Seufzen schloss David die Wohnungstür. Er benötigte das Koffein dringend, vorher war er nicht aufnahmefähig.
Nachdem Giacomo die Räumlichkeiten begutachtet hatte, saß er David gegenüber auf dem Rand des Bettes, tätschelte ihm den Oberschenkel in einer Alles-wird-gut-Geste und reichte ihm den Kaffeebecher.
»Danke.« David sog den Duft des Getränks tief ein, entspannte sich ein wenig und trank seinen ersten Schluck.
»Lange Nacht?« Eine hochgezogene Braue, ein neugieriger Blick.
»Du weißt ja, wie das so ist.«
»Ich habe diffuse Erinnerungen.«
Beide tranken schweigend.
Giacomo seufzte. »Da bin ich mit meinen vierzig ein uninteressanter Opa. Und du, mein Lieber, gehörst bald auch zum Club. Aber lassen wir das Thema. Was hast du für heute geplant?«
»Noch mal zwei Stunden schlafen, dann wollte ich mir die Akten der Kollegen vornehmen. Schließlich will ich da morgen nicht als uninformierter Neuling auftauchen.«
»Seit wann nimmst du das so ernst?«
David spürte, wie er innerlich verkrampfte. »Meinen Job nehme ich immer ernst.« Die Worte kamen harscher heraus, als er es beabsichtigt hatte. Giaco war einer der wenigen Menschen, die über Davids Familiengeschichte Bescheid wussten.
»Entschuldige«, lenkte der sofort ein. »Du weißt, was ich meine.«
David nickte versöhnlich. Es war nun einmal so, dass er es im Leben eher leicht hielt. Mit Perfektionisten konnte er gar nicht, die machten aus jedem Komma ein Semikolon und diskutierten dann drei Tage darüber. Pragmatismus und Effektivität schlugen für ihn Bürokratie und Penibilität; das Ziel musste stets an erster Stelle stehen und wenn ein Formular ihn aufhielt, landete es im Reißwolf.
Glücklicherweise würde in der neu gegründeten Europol-Abteilung ein buntes Gemisch aus Menschen zu finden sein.
»Und du bist dann der Chef?«, fragte Giacomo.
David lachte auf. »Dafür wäre ich wohl denkbar ungeeignet. Nee, da kommt jemand, der bisher in Brüssel gearbeitet hat. Alvarez. Und die Fallleitung teile ich mir mit einer Deutschen. Sofia Bach heißt sie, glaub ich.«
»Teamwork, du?« Giacomo trank schnell noch einen Schluck und haspelte dann hinterher: »Das passt total.«
David schnappte sich ein Kissen vom Bett und warf es seinem Freund entgegen. Natürlich absichtlich so weit daneben, dass der Kaffee sich nicht über das Bett verteilte. Die Wohnung musste ja nicht noch weiter den Bach runtergehen.
»Bevor du dich zu deinem Ergänzungsschlaf niederlegst und am freien Tag Akten durchgehst, könnten wir gemeinsam ein wenig spazieren gehen. Und dann helfe ich dir beim Auspacken der Umzugskartons.«
Giacomo war eben eine Seele von Mensch.
»Lass mich mal was anderes anziehen.«
»Alles klar.« Er wandte sich dem Fernseher zu, der immerhin bereits angeschlossen war, und schaltete das Gerät ein, während David in den Kartons herumkramte.
Glücklicherweise hatte er noch einen ganzen Stapel frischer Wäsche. Bis er die altersschwache schmale Waschmaschine im Bad benutzen musste, würde also etwas Zeit vergehen.
»… die siebzehnjährige Melissa Hubert vermisst«, erklang die Stimme einer Nachrichtensprecherin.
Giacomo regelte den Ton nach unten. »Das schon wieder«, sagte er.
David betrachtete das eingeblendete Bild. Armes Mädchen, hatte seine gesamte Zukunft noch vor sich gehabt. Wenn bisher keine Lösegeldforderung eingegangen war, war sie vermutlich tot. Statistisch gesehen fiel die Wahrscheinlichkeit, ein Entführungsopfer lebend zu finden, nach 48 Stunden steil ab. Er wünschte der Familie, dass diese Sache ein gutes Ende nahm. Und falls nicht, dass sie wenigstens eine Antwort erhielten und abschließen konnten. Ungewissheit war das Schlimmste.
»Dir ist klar, dass du seit einer Minute nackt dastehst und den Fernseher anstarrst«, sagte Giacomo.
David fand endlich Unterwäsche, eine Jeans und dazu passend Shirt und Pullover. Kurz fuhr er sich durchs Haar, das mittlerweile wieder trocken war. Seine Wangen kratzten allerdings, als er darüberstrich.
»Wollen wir los?« Giacomo stand auf.
Davids Handy klingelte. Er warf einen Blick auf das Display, eine deutsche Nummer wurde angezeigt. Er signalisierte Giaco mit erhobenem Zeigefinger eine Minute zu warten. »Martin.«
»Steinbach«, erklang die Stimme einer fremden Frau.
David nutzte in solchen Augenblicken, in denen er keine Ahnung hatte, wer am anderen Ende war, eine beliebte Verhörtechnik; er schwieg.
»Tut mir leid, Sie so früh zu stören, Herr Kollege«, fuhr die Anruferin fort. »Herr Alvarez hat mich gerade angerufen. Wir haben einen Fall.«
Steinbach, nicht Bach! Das war Sofia Steinbach! »Guten Morgen. Haben Sie ein paar zusätzliche Details für mich?«
»Die gebe ich Ihnen im Auto. Ich bin bereits auf dem Weg«, erklärte sie. »Sie sind in Berlin?«
»Tempelhof.«
»Perfekt. Wenn Sie die Ringbahn nach Friedrichshain nehmen, hole ich Sie an der Haltestelle ab. Ich sitze in einem grauen Touran.«
»Bis gleich.« Er legte auf.
Giacomo hatte den Fernseher ausgeschaltet. »Dann verbringe ich den Sonntag halt mit meinen richtigen Freunden.«
David lachte. »Der morgige Feierabend gehört dir, versprochen.« Er schlüpfte in Turnschuhe und zog eine schwarze Jacke über. In seine lederne Umhängetasche schob er Laptop und die Akten der Kollegen. Auf dem Weg nach Friedrichshain konnte er sie noch lesen, auch wenn es nur eine fünfzehnminütige Fahrt war.
Kurz darauf stand er bereits auf der Straße vor seiner Wohnung, verabschiedete sich von Giacomo und eilte zur Ringbahn. Die war dieses Mal wenigstens pünktlich. Auf dem Weg zog er die Akte seiner neuen Kollegin hervor und blätterte darin. Eine Idee, für die er sich beglückwünschte. Sie hieß nämlich nicht Sofia, sondern Sophie.
»Immerhin, ein paar der Fettnäpfe konntest du umgehen, David Martin.«
Natürlich enthielten die Akten nur eine grobe Beschreibung, damit sich jeder ein Bild verschaffen konnte. Alvarez hatte sie zusammengestellt und den Mitgliedern des Teams zugänglich gemacht. Auf diese Art besaßen auch alle die Telefonnummer des jeweils anderen; er musste unbedingt daran denken, diese einzuspeichern.
Für längere Recherche blieb keine Zeit. Die Bahn erreichte ihr Ziel und er eilte im einsetzenden Nieselregen auf einen grauen Touran zu. Hinter dem Steuer saß eine attraktive Frau mit schulterlangem braunem Haar.
Nach einem fragenden Blick, der mit einem Nicken beantwortet wurde, öffnet er die Beifahrertür.
»Dann noch mal ganz persönlich, guten Morgen«, wurde er begrüßt. »Auf gute Zusammenarbeit.«
Er sprang in den Wagen und streckte ihr seine Hand entgegen. »David.«
Sie schenkte ihm ein Lächeln. »Sophie.«
Mit einem Ruck zog er die Tür zu. Sie startete den Motor und fuhr los. Immerhin war am Sonntagmorgen der berüchtigte Berliner Verkehr nicht ganz so berüchtigt.
»Was wissen wir bis jetzt?«, fragte David.
»Fast nichts«, gab sie zurück. »Alvarez hat mich kontaktiert. Es wurde eine Leiche gefunden, Verbindung zu einem Cold-Case.«
Alle Blicke waren auf Europols neues Eliteteam gerichtet, das sie bildeten. Unter großem Einsatz im Hintergrund war die Abteilung gegründet und eingegliedert worden. Ihr Auftrag waren Cold-Case-Fälle auf europäischer Ebene mit länderübergreifendem Bezug.
»Vor Ort erfahren wir mehr«, sagte Sophie.
»Dann weiß hoffentlich jemand, dass wir kommen.« David warf ihr ein Schmunzeln zu. »So ganz ohne Dienstausweis wird es sonst schwer.«
Den alten Dienstausweis hatte er in Paris abgegeben, den neuen erhielt er erst morgen. Genau wie die Dienstwaffe. Auf seinen fragenden Blick nickte Sophie bestätigend. Ihr ging es also ebenso.
»Ich habe von meiner vorherigen Stelle noch Kontakte«, erklärte sie. »Falls es da Probleme gibt, die Alvarez nicht beseitigen konnte.«
David spürte das freudige Kribbeln, ausgelöst durch die Aussicht auf ein neues Team, das erst noch eingeschliffen werden musste. Was immer da kam, er sah dem Ganzen mit Spannung entgegen.
Sophie setzte den Blinker und steuerte das Ziel an. Das Absperrband war bereits von Weitem zu sehen, dahinter das Großaufgebot an Spurensicherung und uniformierten Polizisten.
David nickte ebenfalls. »Legen wir los.«
Sophie parkte direkt vor dem Absperrband. Es riegelte den Eingangsbereich eines verwilderten Grundstückes ab, auf dem ein ehemals herrschaftliches Gebäude schon seit Jahrzehnten in sich zusammenfiel. Das Grundstück war von einem verrosteten, mannshohen Eisenzaun umgeben, an dem vergilbtes Unkraut rankte.
»Sie können hier nicht stehen bleiben«, rief ein Polizist, der hinter der Absperrung stand und mit hektischen Handbewegungen versuchte, sie zum Weiterfahren zu animieren. Als sie dessen ungeachtet ausstiegen, kam er auf sie zugeeilt, hielt jedoch inne, als er Sophie erkannte. »Ach, Sie sind es.«
Sie nickte grüßend. Die Polizei war bei den Ermittlungsarbeiten der letzten Jahre auch stets vor Ort gewesen. Die meisten Polizisten kannte Sophie vom Sehen.
»Bei den ganzen Einsatzkräften wird es nicht lange dauern, bis es hier vor Presseleuten wimmelt«, sagte sie und deutete mit dem Kinn zu den Schaulustigen, die auf dem Gehweg die Hälse reckten und von zwei Polizisten zurückgedrängt wurden. »Holen Sie sich bitte die Genehmigung, einen Teil der Straße absperren zu dürfen, ansonsten herrscht hier bald Chaos.«
Sophie öffnete den Kofferraum und nahm für David und sich jeweils ein Paar Einmalhandschuhe und Schuhüberzieher heraus. Er hielt das Absperrband hoch, damit sie darunter hindurchschlüpfen konnten.
»Hallo, Frau Steinbach«, begrüßte sie ein Mann im Schutzanzug und schob die Seitentür eines Transporters zu.
Grüßend hob sie die Hand. Seinen Namen hatte sie sich gemerkt. Er hieß Frank Strunz und gehörte zum Team der Spurensicherung. »Wo finden wir den oder die Verantwortlichen?«, erkundigte sie sich.
»Na, soviel ich weiß, sind das jetzt Sie, oder? Die Zuständigkeit wird hier gerade heiß diskutiert.« Er deutete auf das Gebäude. »Sie müssen zum Hintereingang.«
David ging voraus. Während sie ihm folgte, fiel ihr Blick auf den teils matschigen Boden. An manchen Stellen waren noch Pflastersteine der einstigen Auffahrt zu erkennen. Inzwischen wuchsen Unkraut und Sträucher aus den Fugen und eine Schlammschicht befand sich auf den Steinen, auf der die Einsatzkräfte unzählige Fußspuren hinterlassen hatten. Schuhabdrücke brauchte hier keiner mehr zu sichern. Sophie würde ewig brauchen, um ihre Stiefel wieder sauber zu bekommen.
Der Nieselregen ging in einen Schauer über und sie ärgerte sich, die Regenjacke zurückgelassen zu haben. Fröstelnd stellte sie den Kragen ihres Mantels auf, zog die Schultern hoch und betrachtete das Gebäude, von dessen rissiger Fassade der Putz bröckelte. Die Fenster waren mit Brettern vernagelt, wovon einige lose herabhingen und die Sicht auf zerschmetterte Fensterscheiben freigaben. Auf dem stellenweise eingefallenen Dach wuchs eine kleine Birke.
»Bist du ein Fan von Lost Places?«, fragte David und folgte ihrem Blick. Er sprach in klarem Deutsch ohne Akzent, wodurch Sophie beinahe vergaß, dass er Franzose war.
»Mir drängt sich die Frage auf, was das hier früher war. Der Größe nach zu urteilen, war es kein einfaches Wohnhaus, sondern irgendein öffentliches Gebäude.«
»Denke ich auch, das hier war anscheinend mal ein Parkplatz«, erwiderte er, während sie gemeinsam um die Hausecke bogen. Hinter dem Haupthaus befand sich die Ruine eines kleineren Nebengebäudes.
»Da ist ja meine Lieblings-Kriminalhauptkommissarin«, hörte sie Iwan mit seiner unverwechselbaren dunklen Stimme rufen.
Er stand in der offenen Tür des Hintereinganges. Sophie ging zu ihm, umarmte ihn kurz und stellte ihrem ehemaligen Kollegen David vor.
Die Kommissare nickten einander zu, bevor Iwan sich wieder an sie wandte. »Und ich hatte schon Bedenken, ich bekomme dich gar nicht mehr zu Gesicht, wenn du für Europol arbeitest.« Er kratzte sich über den Dreitagebart und lief voraus. »Allerdings hätte ich mir für unser Wiedersehen einen schöneren Anlass gewünscht.«
Sie durchquerten eine Eingangshalle, in der sich Frauen und Männer der Polizei und Spurensicherung aufhielten, die Sophie allesamt beim Vorbeigehen grüßten.
»Du bist ja bekannt wie ein bunter Hund«, flüsterte David und schenkte ihr ein beeindrucktes Nicken.
»Ich nehme an, das bist du in Paris auch.« Mit einem Lächeln sah sie zu ihm auf. Er war beinahe einen Kopf größer als sie. Laut seiner Akte hatte er im Gegensatz zu ihr die Vierzig noch nicht überschritten. Sie trennten gerade einmal vier Jahre, aber während sich bei ihr allmählich die ersten grauen Haare bemerkbar machten, konnte sie bei ihm kein einziges entdecken.
Vor dem Betreten eines Ganges zogen sie sich die Schuhüberzieher über die schlammigen Sohlen. Iwan zeigte ihnen den Weg, blieb jedoch zurück, als sie den Flur betraten. Die morschen Dielen knarrten unter ihren Schritten. Der Gang wurde von einem aufgestellten Strahler erhellt. Von den Wänden löste sich die Farbe. Es roch nach Staub und modrigem Verfall.
Sophie wunderte sich, dass sie am anderen Ende ausgerechnet von Tina Spicker erwartet wurden. Die schenkte ihr zur Begrüßung einen durchdringenden Blick. Einen, den sie in der Vergangenheit schon oft ausgetauscht hatten, wenn sie nach Dienstschluss noch im Büro zusammengesessen und einen Fall besprochen hatten. An sie hatte sie den Vermisstenfall von Melissa Hubert abgegeben. Tina besaß den gleichen Jagdinstinkt wie Sophie. Sie würde alles daransetzen, das Mädchen zu finden.
»Ist es damit offiziell?«, fragte Tina. »Europol ist nun zuständig?«
»Zumindest wurden wir von unserem Chef hergeschickt«, erwiderte Sophie und machte David mit ihr bekannt. »Wieso bist du denn hier?«
Tina hob die Augenbrauen. »Du hast noch keinerlei Infos, was?« Sie trat beiseite und gewährte ihnen Zugang zu einem Hauptraum, in dem sich Gustav Schröder, der Leiter der Spurensicherung, und zwei Streifenpolizisten befanden. Neben einem etwa einen Quadratmeter großen Loch im Boden lag ein Toter. Kleine Nummernschilder der Beweissicherung standen verteilt daneben.
»Die Polizeibeamten Falk Marwitz und Peter Bachmann waren die Ersten vor Ort«, informierte Tina sie. »Sie sind der Zeugenaussage einer obdachlosen Frau nachgegangen, die behauptet, auf diesem Grundstück einen Mann dabei beobachtet zu haben, wie er ein angeblich totes Mädchen aus einem Kofferraum hievte. Natürlich ging die Anruferin aufgrund der Berichterstattung sofort davon aus, dass es sich um Melissa Hubert handelt. Wie die anderen fünfhundert Anrufe auch, die täglich auf uns einprasseln.«
Sophie fuhr zu ihr herum. »Melissa …?« Sie hob die Hand über die Augen, schirmte das blendende Licht der Scheinwerfer ab, und starrte ihre ehemalige Kollegin an. »Habt ihr sie gefunden?«
Tina schüttelte den Kopf. »Die Befürchtung hat sich glücklicherweise als unzutreffend herausgestellt. Leiche, ja. Melissa Hubert, nein.«
David ging auf den Toten zu, wurde aber sofort von Gustav Schröder zurückgehalten. »Vorsicht! Hier besteht akute Einsturzgefahr.« Er reichte ihm eine Geldbörse. »Die hab ich in der Jackentasche des Toten gefunden.«
Sophie trat neben David, der das Portemonnaie aufklappte und einen französischen Personalausweis hervorzog. »Vincent Durant aus Grenoble«, las er vor.
»Ein toter Franzose in Berlin«, sagte Sophie. »Das erklärt, warum Alvarez uns hierherbestellt hat.« Vorsichtig machte sie einen Schritt auf den Toten zu und ging in die Hocke, um ihn besser betrachten zu können. Durchnässte Jeans, offene Jacke, schwarze Lederhandschuhe, hochgerutschter Pulli. Sie hatte schon viele, teils bis zur Unkenntlichkeit entstellte Leichen gesehen und bekam dennoch jedes Mal aufs Neue eine Gänsehaut. Dieser Tote wirkte jedoch beinahe friedlich. Auf den ersten Blick konnte sie keine Blutspuren erkennen. »Liegt schon eine Vermutung über die Todesursache vor?«
Schröder wischte sich mit dem Handrücken den Schweiß von der Halbglatze. »Noch haben wir nichts Offensichtliches finden können. Dafür muss er in der Rechtsmedizin eingehender untersucht werden. Die Bergung der Leiche gestaltet sich allerdings schwierig, wenn bei der kleinsten Bewegung der Boden unter mir einzubrechen droht. Das ganze verdammte Haus fällt in sich zusammen.«
»Er wurde hier post mortem abgelegt«, warf David ein. »Falls es ein Mord war, ist das hier nicht der Tatort.«
»Das ist korrekt«, pflichtete Schröder ihm bei. »Die sichtbaren Leichenflecke am Bauch belegen, dass der Leichnam bewegt wurde.«
Sophie streckte die Hand aus und stieß gegen die rötlich braunen Fingerkuppen des Toten. »Die Leichenstarre hat sich bisher nicht gelöst. Er ist wahrscheinlich keine 24 Stunden tot.« Sie sah David an. »Alvarez meinte aber doch, es soll einen Cold-Case-Bezug geben.«
»Sie haben ja das ganze Ausmaß noch nicht gesehen«, sagte Gustav Schröder, bevor David ihr etwas erwidern konnte.
»Ich hab da bis zur Hälfte dringesteckt«, brach es aus einem der Polizeibeamten heraus. »Man landet im Keller, in einem elenden Gruselkabinett. Überall menschliche Schädel und Knochen.«
Schröder reichte David seine Taschenlampe und deutete zu dem klaffenden Loch im Dielenboden. »Überzeugen Sie sich selbst.«
David hielt einen kleinen Sicherheitsabstand und leuchtete mit der Taschenlampe in das Loch. »Das ist ein Massengrab.« Er wirkte mit einem Mal bleich und suchte Sophies Blick.
Sie trat neben ihn und schaute ebenfalls in die Tiefe. Der Lichtkegel der Taschenlampe brachte nicht viel zum Vorschein. Aber der winzige Einblick reichte aus, um ihr einen kalten Schauer über die Haut zu jagen, und ihr das Grauen, das dort unten auf sie wartete, bewusst werden zu lassen.
»Wir konnten keinen Zugang zu diesem Kellerbereich finden«, meldete Tina sich wieder zu Wort. »Es gibt keinen. Wäre Herr Marwitz nicht mit den Beinen durch den Boden gebrochen, würden wir überhaupt nicht wissen, dass dieser Raum existiert.«
»Diese armen Seelen wurden eingemauert«, flüsterte Schröder vor sich hin.
»Von wie vielen sprechen wir hier ungefähr?«, hakte Sophie nach.
Gustav Schröder zuckte mit den Schultern. »Zu viele. Mehr kann ich erst sagen, wenn wir uns einen stabilen Zugang verschafft haben.«
Kaum hatte er den Satz beendet, setzte das Dröhnen eines Presslufthammers ein und brachte das gesamte Haus zum Vibrieren.
»Um Himmels willen, die bringen hier alles zum Einsturz.« Er stürmte aus dem Raum, wobei sie ihm umgehend folgten.
»Was war das hier?«, rief David über den Lärm hinweg. »Wer war der letzte Besitzer oder Mieter des Anwesens?«
Tina blieb in der Eingangshalle, in der sich nach wie vor die Einsatzkräfte tummelten, stehen. »Das wird das Erste sein, was diejenigen, die ab jetzt zuständig sind, herausfinden müssen.« Sie deutete zu einem Anzugträger, der das Gebäude gerade durch die Hintertür betrat und sich ein Taschentuch vor die Nase hielt. Sophie erkannte den Staatsanwalt erst, als Tina sich zu ihm auf den Weg machte. Anscheinend wollte sie die Zuständigkeit endgültig klären.
»Alvarez lag mit seiner Vermutung richtig«, sagte David neben ihr. »Dieses versteckte Massengrab ist definitiv ein Cold-Case – oder eher mehrere –, und durch den toten Franzosen sind nun wir zuständig.«
Sophie zog die Einmalhandschuhe aus, nahm ihr Smartphone aus der Manteltasche und wählte Oliver Alvarez’ Nummer.
»Haben Sie sich schon einen ersten Überblick verschaffen können?«, fragte ihr Chef, sobald er rangegangen war.
»Das haben wir. Allerdings brauchen wir eine offizielle Bestätigung, dass das unser Fall ist.«
»Die liegt mir inzwischen schriftlich vor«, erwiderte er. »Jetzt ist es an uns, schnellstmöglich Ergebnisse zu liefern. Wenn Sie vor Ort fertig sind, kommen Sie bitte umgehend zu unserem Quartier. Ich habe das ursprünglich für morgen angesetzte Treffen vorverlegt und das gesamte Team informiert. Wir dürfen bei den Ermittlungen keine Zeit verlieren. Sie können sich ja vorstellen, dass mir die Presse – und damit auch mein Chef – im Nacken sitzt.«
»Alles klar«, erwiderte sie. »Wir brauchen hier aber noch ein Weilchen.«
Sie hatte gerade aufgelegt, als Tina sich ihnen wieder näherte.
»Ich bin offiziell raus«, bestätigte auch sie. »Viel Erfolg euch. Die Spurensicherung bleibt und arbeitet mit euch zusammen.« Tina nickte ihnen zum Abschied zu und verschwand nach draußen.
»Die SpuSi ist erst mal die nächsten Tage mit dem Fundort beschäftigt«, bemerkte David, der den Blick auf die zahlreichen Weißkittel gerichtet hielt. »Der Tote aus Grenoble wird da noch am einfachsten zu bearbeiten sein. Uns bleibt nichts weiter übrig, als den Obduktionsbericht abzuwarten.«
Sophie nickte nachdenklich. »Wäre schön, wenn wir die neuen E-Mail-Adressen bekämen, damit die Untersuchungsberichte uns auch erreichen.« Bei dem Gedanken, was die nächsten Tage auf sie zukam, spürte sie eine prickelnde Vorfreude, kombiniert mit dem bekannten Gefühl der Überarbeitung.
Also alles wie immer.
»Sind die Europol-Leute noch hier?«, rief Gustav Schröder über die Köpfe derjenigen hinweg, die in der Empfangshalle versammelt waren. Der Leiter der Spurensicherung stand an einem Treppenabgang, fand Sophie und David mit seinem Blick und winkte sie zu sich. »Wir sind in den versteckten Raum durchgebrochen«, ließ er sie wissen und eilte vor ihnen die Stufen ins Kellergeschoss hinab. »Es ist noch schlimmer, als wir dachten.«
David stützte sich an der Hauswand ab und atmete tief ein und wieder aus, bis die Übelkeit nachließ.
»Alles okay?« Sophie trat an seine Seite. Auch sie wirkte blass.
»So etwas habe ich noch nie gesehen. Nie.« Dabei war Paris ein hartes Pflaster und David war mit einigen wirklich heftigen Mordfällen konfrontiert worden.
»Geht mir auch so.« Sophies Stimme zitterte kurz, doch dann straffte sie die Schultern. »Selbst Schröder ist neben der Spur. Das wird ein Puzzle aus Knochen. Die Anzahl der Toten kann man bisher noch nicht mal schätzen.« Sie zog einen Lippenpflegestift hervor und verteilte den Balsam auf ihren Lippen.
Als sie zum Auto liefen, wirbelten Erinnerungen in Davids Geist umher. Blaulicht, das tränenüberströmte Gesicht seiner Mutter. Die Schuld, die ihn bis heute in Augenblicken der Schwäche peinigte.
Sophie entriegelte das Auto über den Druckknopf des Schlüssels. David öffnete die Beifahrertür und stieg ein. Mittlerweile war alles sauber abgesperrt und erste Kamerawagen hielten vor dem Haus.
David atmete auf, als sie das Gebäude hinter sich ließen. Der Druck fiel von seiner Brust, der graue Schatten auf seiner Seele aber blieb.
»Wissen die Kollegen überhaupt, wohin sie die Daten schicken sollen?«, fragte er.
»Da wir noch nicht einmal eine E-Mail-Adresse haben, nein, darum bleibt nur eines.«
»Ach?«
»Das Fax.« Sophie lachte auf. Ihre Grübchen waren sympathisch und vertrieben seine Düsternis ein wenig. »Nur ein Scherz. Ich habe Schröder erst mal den Kontakt vom Chef gegeben. Aber wird Zeit, dass wir ausgestattet werden.«
Mittlerweile füllten sich die Berliner Straßen. Auch an einem Sonntag blieb das nicht aus. Sie benötigten fünfundvierzig Minuten, um Tempelhof zu erreichen. Sophie parkte auf der Straße, den neuen Parkplatz konnte sie ohne Zugangsberechtigung noch nicht anfahren.
Das Neubau-Areal war einmal eine Fabrik gewesen. Doch eine Kernsanierung später wirkte das Ganze wie ein hipper Start-up-Park. Ein flaches Gebäude mit sandfarbener Fassade ragte jetzt an der Stelle empor, umgeben von einem Drahtzaun. Lediglich der Stacheldraht und die Überwachungskameras wiesen darauf hin, dass hier nicht jeder hereinspazieren konnte.
»Jetzt weiß ich, wohin das ganze Geld geflossen ist«, kommentierte Sophie.
»Tja, wenn die EU ins Spiel kommt …« David löste seinen Gurt und stieg aus.
Die neue Abteilung war ein Prestigeprojekt, das die Unterstützung der Mehrheit der Staats- und Regierungschefs genoss. Gleichzeitig war es der erste Vorstoß, Europol mehr Zuständigkeiten zu geben. Etwas, das naturgemäß nicht überall gut ankam.
»Wenigstens muss ich morgens keinen Parkplatz suchen.« Sophie deutete auf den leeren Bereich. »Freie Auswahl.«
David schmunzelte nur. Er selbst konnte sogar zu Fuß von seinem aktuellen Schuhkarton hierherspazieren.
Der Eingangsbereich war verglast, eindeutig kugelsicher, wie er bei genauerer Betrachtung feststellte, er hatte diese Art von Glas schon öfter gesehen. Die Tür bestand aus Stahl, daneben waren ein Lautsprecher und ein Sensorpad angebracht. Ohne einen RFID-Chip ging es hier nicht weiter. Sophie betätigte die Klingel.
»Ja?«, erklang eine rauchige Stimme.
»David Martin und Sophie Steinbach«, sagte sie. »Alvarez erwartet uns.«
Ein Summer war zu hören, sie konnten eintreten.
Drei Kameras überwachten den Eingangsbereich aus allen Richtungen. Erst als die Tür sich hinter ihnen geschlossen hatte, realisierte David, dass das hier eine Schleuse war. Vor ihnen gab es eine weitere Stahltür. Es summte erneut, sie konnten auch diese passieren.
Dahinter wartete eine Art Loft. Weitläufig und lichtdurchflutet. Es gab mehrere Büros, deren Front verglast war. So konnte jeder von jedem Punkt aus alles überblicken. Im zentralen Bereich befand sich ein runder Konferenztisch, an der Wand hing ein Monitor. Von dort gingen auf der unteren Ebene drei Büros ab. Zwei Treppen führten auf eine Galerie, wo David weitere Türen entdeckte.
Gleichzeitig gab es etliche Schächte, aus denen Kabel hervorragten. Über den meisten Konturensitzen und höhenverstellbaren Tischen hing noch Plastikfolie. Sie passierten einen Schrank mit codierten Schließfächern. Hier mussten wohl die Waffen eingeschlossen werden, wenn man kam oder in den Feierabend ging – er kannte das Prozedere von seinem alten Revier.
»Willkommen im Triple-C!« Ein Mann kam auf sie zugeeilt. Das schwarze Haar war kurz und perfekt gestylt, er trug einen Anzug und ein dezentes Lächeln auf den Lippen.
Sein Deutsch kam mit einem leichten Akzent.
»Markus Ebner, Sekretariat und Presse«, stellte er sich vor. »Ich segne jedes Statement ab, das rausgeht.« Er schüttelte ihnen nacheinander die Hand.
»Österreich?«, fragte Sophie. »Triple-C?«
Ebner nickte. »Wien. Cold-Case und das dritte C steht für Club.«
Der Mann schien sehr locker zu sein, was ganz nach Davids Geschmack war. Sophie stellte sich ebenfalls vor, er bildete das Schlusslicht.
»Wo ist denn der Chef, Herr Ebner?«, fragte er.
»Markus reicht. Alvarez ist gerade bei Ebba, aber dazu gleich mehr.« Er ging voran.
Sie folgten ihm und boten auch Markus das Du an. Im Raum lag der Duft von ›neu‹. Sie kamen an einer abführenden Küche vorbei, aus der Kaffeeduft in Davids Nase drang. Immerhin, die Maschine war schon benutzt worden; ein Vollautomat.
Doch, hier konnte man sich wohlfühlen.
»Wir haben noch ein paar technische Probleme«, erklärte Markus.
»Fehlen die Computer?«
»Die Einrichtung ist überall pünktlich angekommen. Wir haben ein voll ausgestattetes Labor, neuester Stand. Eine Waffenkammer, modernste IT.«
»Aber?«, hakte Sophie nach.
»Das Internet.«
David lachte auf. »Ist das ein Witz?«