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Ein Künstler, der mit dem Grauen des Todes spielt: Der fesselnde Kriminalroman »Todestrieb« von Nora Schwarz jetzt als eBook bei dotbooks. Hinter diesen Kunstwerken lauert ein Abgrund … In einer Fabrikhalle wird die grausam zugerichtete Leiche des prominenten Skandal-Künstlers Sven Borke gefunden. Bei ihren Nachforschungen stoßen Hanna Mantolf und Tom Krohne von der Mordkommission Mannheim schnell auf krasse Gegensätze: Wie passt das Bild des treusorgenden Ehemannes zu dem Verdacht, dass er ein junges Model kaltblütig in den Tod getrieben hat? Und welche Verbindungen gibt es zwischen Borke und einem Serienmörder, der seit 18 Jahren im Gefängnis sitzt? Die Ermittlungen führen die beiden Kommissare schließlich in die Underground-Szene, eine abgründige Welt, die Tom Krohne lieber meiden würde – und Hanna Mantolf gut kennt. Zu gut vielleicht, denn der Fall wird für sie immer mehr zum persönlichen Alptraum … Schnell, hart, spannend: Ein Roman wie ein Skalpell, das Schicht für Schicht eine dunkle Wahrheit freilegt. Jetzt als eBook kaufen und genießen: Der abgründige Kriminalroman »Todestrieb« von Nora Schwarz. Wer liest, hat mehr vom Leben: dotbooks – der eBook-Verlag.
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Seitenzahl: 712
Über dieses Buch:
Hinter diesen Kunstwerken lauert ein Abgrund … In einer Fabrikhalle wird die grausam zugerichtete Leiche des prominenten Skandal-Künstlers Sven Borke gefunden. Bei ihren Nachforschungen stoßen Hanna Mantolf und Tom Krohne von der Mordkommission schnell auf krasse Gegensätze: Wie passt das Bild des treusorgenden Ehemannes zu dem Verdacht, dass er ein junges Model kaltblütig in den Tod getrieben hat? Und welche Verbindungen gibt es zwischen Borke und einem Serienmörder, der seit 18 Jahren im Gefängnis sitzt? Die Ermittlungen führen die beiden Kommissare schließlich in die Underground-Szene, eine abgründige Welt, die Tom Krohne lieber meiden würde – und Hanna Mantolf gut kennt. Zu gut vielleicht, denn der Fall wird für sie immer mehr zum persönlichen Alptraum …
Schnell, hart, spannend: Ein Roman wie ein Skalpell, das Schicht für Schicht eine dunkle Wahrheit freilegt.
Über die Autorin:
Nora Schwarz ist das Pseudonym der Autorin Britta Hasler. Sie wurde 1982 in Heilbronn geboren, studierte in Stuttgart Germanistik und Kunstgeschichte – und verdiente sich in dieser Zeit ihren Lebensunterhalt als Domina. Über die Erfahrungen im Sado-Maso-Studio schrieb sie den Bestseller »Lessons in Lack«, dem erotische Erzählungen und Romane, aber auch ein harter Krimi folgten. Inzwischen arbeitet Britta Hasler als freie Museumsführerin in modernen Kunstgalerien und als Autorin.
Die Autorin im Internet: www.nora-schwarz.de
Bei dotbooks erschienen bereits ihr Kriminalroman »Todestrieb« sowie die Romane der erotischen NYLONS-Serie: »NYLONS: Harte Zeiten«, »NYLONS: Mademoiselle hat ein Geheimnis«, »NYLONS: Erziehung eines Diebes«, »NYLONS: Der Schwan«, »NYLONS: Das französische Mädchen« sowie der Dreiteiler »NYLONS: Gewagtes Spiel«, »NYLONS: Verbotenes Spiel« und »NYLONS: Gefährliches Spiel«. Die ersten drei Romane der Reihe sind auch im Sammelband »Dark Temptation – Gefährliches Spiel« erhältlich.
Unter ihrem Pseudonym Britta Hasler veröffentlichte sie bei dotbooks die historischen Kriminalromane »Das Sterben der Bilder« und »Bilder des Bösen«.
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eBook-Neuausgabe Dezember 2013
Copyright © der Originalausgabe 2013 Pfälzische Verlagsanstalt GmbH, Ludwigshafen
Copyright © der Neuausgabe 2013 dotbooks GmbH, München
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur mit Genehmigung des Verlages wiedergegeben werden.
Titelbildgestaltung: Nele Schütz Design unter Verwendung von shutterstock/Gino Santa Maria, Yeti Studio und Vladimirkarp
eBook-Herstellung: Open Publishing GmbH (rb)
ISBN 978-3-95520-500-3
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Liebe Leserin, lieber Leser, wir freuen uns, dass Sie sich für dieses eBook entschieden haben. Bitte beachten Sie, dass Sie damit ausschließlich ein Leserecht erworben haben: Sie dürfen dieses eBook – anders als ein gedrucktes Buch – nicht verleihen, verkaufen, in anderer Form weitergeben oder Dritten zugänglich machen. Die unerlaubte Verbreitung von eBooks ist – wie der illegale Download von Musikdateien und Videos – untersagt und kein Freundschaftsdienst oder Bagatelldelikt, sondern Diebstahl geistigen Eigentums, mit dem Sie sich strafbar machen und der Autorin oder dem Autor finanziellen Schaden zufügen. Bei Fragen können Sie sich jederzeit direkt an uns wenden: [email protected]. Mit herzlichem Gruß: das Team des dotbooks-Verlags
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Nora Schwarz
Todestrieb
Ein Fall für Hanna Mantolf
dotbooks.
Für meine Mutter
Wir waren nie einem schlecht gebauten Boot ausgeliefert.
Sondern dem Ozean.
Langsam beginnt sie sich zu fragen, ob es ihr bestimmt ist, draußen auf dem Balkon zu sterben. Es ist Januar, und sie steht nun schon seit fast zwei Stunden dort, nur mit einer Jogginghose und einer ausgeleierten Strickjacke bekleidet. Im Rücken pfeift der bissige Wind, und unter ihren Hausschuhen knirscht immer wieder der fest gefrorene Schnee. Die Kälte ist wie ein Heer, das sie überfallen hat. Von der Straße dringen die Geräusche der Autos, die Schritte der Fußgänger zu ihr. Aber der Balkon hat von unten keine Einsicht. Niemand wundert sich, dass sie dort oben reglos steht und das Zittern unterdrückt, weil niemand sie sehen kann. Gegen das Zittern zu kämpfen und es tief in ihrem Innern einzusperren, ist eine unglaubliche Kraftanstrengung. Wann wird er sie endlich wieder herein holen? Hat er keine Angst, dass sie da draußen erfriert? Sie steht mit dem Gesicht zur Balkontüre, so will er es. Er will, dass sie sieht, wie wenig sie das Innere der Wohnung verdient hat. Drinnen sitzt er mit locker übereinander geschlagenen Beinen in einem großen Sessel, auf den Knien ein Buch. Im Kamin brennt ein Feuer. Es ist seltsam, das Flackern zu sehen, aber weder hören noch spüren zu können. Auf dem Tisch steht immer noch der Adventskranz, die vier Kerzen brennen ihrem Verschwinden entgegen; in diesem Haus wird nichts vergeudet. Neben dem Sessel dampft eine Teekanne, aus der er sich, seit sie hier draußen steht, vier Mal eingegossen hat, jede halbe Stunde einmal. Einen goldenen Strahl, noch ein wenig Milch und Kandis, und dann war da noch die Schüssel mit Mamas Plätzchen, aus der er sich bedient. Vanille-Kipferl, Zimtsterne und Sandkekse. Sie stellt sich vor, wie warm es dort drinnen ist, wie es riecht. Er hat während der ganzen Zeit kein einziges Mal zu ihr her gesehen. Seine langen, schlanken Finger blättern die Buchseiten um, und sie weiß, dass er behaglich schnauft, wenn er die Tasse an die Lippen setz. Sie fragt sich, was wohl geschieht, wenn sie umfallen würde. Ihr Gesicht ist gefühllos geworden, die Hände scheinen gar nicht mehr zu ihr zu gehören. Die Füße sind nur noch Schmerz.
Wie lange denn noch …
In diesem Moment klappt er das Buch zu und sieht sie an. Sie zuckt zusammen. Zwischen ihnen liegt die Balkontüre, an deren Seiten Eiskristalle wachsen. Die hellblauen Augen richten sich auf sie. Da ist wieder dieser wohlwollende Ausdruck, und sie weiß, dass die Strafe beendet ist. Die Wanduhr zeigt 12 Uhr mittags. Er steht auf, legte das Buch weg und geht ohne Hast zum Kamin, schürt ein wenig das Feuer auf. Gleich ist es vorbei. Doch sie spürt keine Erleichterung. In gewisser Weise ist es besser da draußen im Winter zu stehen. Er kommt herüber und öffnet die Balkontür. Ein Schwall warmer Luft flimmert auf der Grenze ins Freie. Er hält die Tür weit auf und sieht sie einladend und aufmerksam an. Sie bewegt sich nicht und senkt den Kopf. »Darf ich wieder hinein?«
Ihre Stimme ist dünn wie der Bindfaden, an dem der Meisenknödel hängt.
»Hast du darüber nachgedacht?«
Sie nickt.
»Und zu welcher Lösung bist du gekommen?« - »Ich werde es nie wieder tun.«
»Was wirst du nie wieder tun?« - »Ich werde nie wieder so lange das heiße Wasser laufen lassen.«
Das Zittern in ihrem Innern wird zu einem Krampf. Diese Worte sagen zu müssen, ist seltsamerweise schlimmer als die schreckliche Kälte, aber sie zeigen das erhoffte Resultat. Er lächelt. Freundlich und versöhnt. Er streckt die Hand aus. Das ist das Zeichen. Sie muss diese Hand ergreifen, die warm und etwas feucht ist. Und dann steht sie im Wohnzimmer, und die Balkontür ist zu. Er führt sie hinaus in den Flur und zu ihrem Zimmer. Vorbei an der Küche. Dort steht ihre Mutter und putzt vehement den Rosenkohl. Sie dreht sich nicht um, aber das Mädchen glaubt zu spüren, dass sie in sich zusammensinkt, als es an der Küche vorbei geht.
»In einer halben Stunde gibt es Mittagessen«, sagt er und schließt ihre Zimmertür auf. Sie geht hinein und setzt sich aufs Bett. Ihr ist immer noch kalt. An diesem Tag wird es kein warmes Wasser mehr geben. Später sitzen sie schweigend beim Essen, aber er lächelt über jeder Gabel Rosenkohl und Kartoffelbrei. Das Fleisch dampft. Sie schaut hinaus auf den Balkon. Es schneit jetzt, und die Meisen balgen sich um die Vogelfutterkugeln am Geländer. »Ein köstliches Essen«, lobt er. Die Mutter verzieht den Mund, aber es ist kein Lächeln. Nur so etwas Ähnliches.
Am Abend kommt er noch einmal in ihr Zimmer, als sie schon im Bett liegt. Die Mutter hat heimlich eine Wärmflasche gemacht und ihr unter die Decke gelegt. Jetzt befürchtet sie, dass er sie entdecken könnte. Er setzt sich zu ihr und starrt sie an. Unter der Bettdecke wird es wieder Winter.
»Du weißt, warum ich das tun musste, oder?«, fragt er mit strenger Stimme. Sie nickt.
»Sag es mir. Sag mir, warum du bestraft wurdest.«
»Weil ich es falsch gemacht habe.«
Jetzt nickt er, zufrieden und selbstgefällig. »Du weißt, dass ich dir das nicht durchgehen lassen kann.«
»Ja.«
»Es ist wichtig, dass du es lernst.«
»Ja.«
»Du willst ein guter Mensch werden, nicht wahr? Und kein Schmarotzer, der alles verschwendet und undankbar ist. Du willst besser sein.«
»Ja.«
»Ja, was?«
»Ja, ich will besser werden.«
»Ich helfe dir dabei. Ich helfe dir und mache dich darauf aufmerksam, wenn du schlecht bist. Alle guten Menschen mussten schon einmal bestraft werden. Nur dadurch konnten sie anständig heranwachsen, das ist vollkommen normal und notwendig. Du hast zu lange das heiße Wasser laufen lassen, für das ich bezahle. Einfach so. Das ist mein Wasser, und du hast es verschwendet.«
»Ich weiß.«
»Gut. Du hast aber trotzdem etwas vergessen.«
Jetzt richtet sich sein Blick unerbittlich auf sie, und sie glaubt schon, dass er das mit der Wärmflasche weiß. Langsam schiebt sie sie mit dem Fuß weiter weg zum Fußende der Bettdecke, damit er nichts von der ausstrahlenden Wärme merkt. Aber er meint etwas anderes. Es ist immer das Gleiche. Das Ritual am Abend eines Tages, an dem sie bestraft worden ist.
»Sieh mich an und sag es.«
Sie schaut ihn an. In diese hellblauen, weiten Augen, die sie streng und gleichzeitig aufmunternd betrachten. Die Worte würgen sie bereits jetzt, obwohl sie noch gar nicht in ihrem Mund sind. Dann presst sie sie hoch und stößt sie atemlos hervor, ohne hinzuhören. »Danke. Dass du mich bestraft hast.«
»Ich habe dich nicht bestraft«, sagt er, seine ganze Haltung wird mahnend.
»Nein, du willst mich nur besser machen.«
Jetzt lächelt er und streicht ihr einmal über den Kopf. Er steht auf und geht aus dem Zimmer. Kurze Zeit später hört sie im Wohnzimmer den Fernseher. Sie angelt sich die Wärmflasche nach oben und umarmt sie. Sie wartet, bis die Hitze durch ihren Schlafanzug in ihre Brust dringt. Es dauert lange, bis der Schlaf ein Einsehen hat.
Sie ist acht Jahre alt.
Ein Tag am Wasser. Eine verlockende Aussicht in einem Sommer, in dem die Luft honigdick über Mannheim hing. Doch dieses Wasser erfrischte nicht. Der Rhein klatschte hier gegen moosig-ölige Mauern, darin wummernde Maschinen wie die Herzwände eines Riesen. Pipelines folgten dem Verlauf der Friesenheimer Straße auf metallenen Stelzen, und im nachgiebigen Teer lagen Schienen, die zu den Fabrikhöfen und Lagerhallen führten.
Der alte Industriehafen auf der Friesenheimer Insel war Niemandsland, in dem lediglich ein paar verstreute Zigarettenautomaten und Kioskbuden auf die Bedürfnisse von Menschen hinwiesen. Eine davon war »Wolle’s Wurstparadies«.
Davor mümmelten Fernfahrer an Brötchen und Zigaretten.
Am Straßenrand stand ein abgekoppelter Anhänger, auf dem ein Kinderkarussell mit verblichenen Farben und ausgehängten Gondeln auf bessere Zeiten wartete. Vom Blickfeld der baufälligen kleinen Lagerhalle aus war es ein surrealistisches Fanal. Ringsum zwischen Holzpaletten, Zementsäcken und einem Betonmischer standen Bauarbeiter, die aussahen, als hätte ihnen jemand die Farbe gleich eimerweise aus dem Gesicht gepumpt. Ein paar von ihnen saugten zitternd an Zigaretten, und eine kleine Gruppe Polizisten huschte lautlos ins Innere der Halle. Mehrere Streifenwagen rollten scheinbar geräuschlos an, jemand spannte ein gestreiftes Band, und es wurde hinter vorgehaltenen Händen wispernd telefoniert. Kurz darauf entlud ein Kleinbus Leute, die im Schatten der Halle weiße Papieranzüge überstreiften.
Fragende alarmierte Blicke bei den Stehtischen am Kiosk.
Dann glitt etwas um die Ecke, leise wie ein Schwan und ebenso weiß. Um im nächsten Moment mit röhrendem Motor und quietschenden Bremsen die unwirkliche Ruhe über dem Geschehen zu brechen, ehe es ruckelnd stehenblieb.
Ein langes, aber kräftiges Bein, umspielt von seltsamen Lichtreflexen stellte sich neben die offene Fahrertür, dann ein zweites, und die dazu gehörigen, hochhackigen Lederpumps brachten den Kies zum Knirschen. Der Oldtimer ächzte ein bisschen, als die Frau aufstand, und sich den knielangen Rock glatt strich. Eng war dieser Rock, und die darunter liegenden Wölbungen rollten sanft im Rhythmus ihrer lauten Schritte, als sie auf die Lagerhalle zulief.
Vielleicht hörte der ein oder andere Fernfahrer auf zu kauen. Möglicherweise wegen dem Anblick des cremeweißen Jaguars zwischen all den mit Reflektoren und Blaulichtern bestückten Wägen.
Aber Tom Krohne glaubte das nicht.
Er strich rasch sein T-Shirt glatt, ehe er der Frau entgegen lief. Was sich da dem abgesperrten Areal vor der Lagerhalle näherte, schien nicht hier her zu gehören, nicht nach Mannheim, nicht in diesen schwitzenden Industriehafen, nicht zwischen die blau uniformierten Männer.
Sie gehörte in einen alten französischen Film, auf ein Art Deco Plakat. Und in einen kleinen Teil seiner Gedanken.
Und ebenso flüchtig rauschte Hanna Mantolf an Krohne vorbei, streifte ihn nur mit einem herben Lächeln. Schade, dass sie sich nicht die Hände gaben, dachte er. Und wozu ihm einen Guten Morgen wünschen? Das hier war kein verdammter guter Morgen, und der Rest des Tages würde nicht wesentlich besser werden. Da hatte Hanna Mantolf jedes Recht, ihm einfach nur ihre burgunderroten, geschlossenen Lippen zu zeigen. Er nickte. Sie alle würden noch früh genug reden müssen. Über schreckliche Dinge.
Krohne drehte sich um und folgte seiner Partnerin durch den bröckeligen Backsteinbogen.
Drinnen zwischen den flüsternden Plastikplanen war es kühl wie am Grund eines Brunnens. Bereits nach den ersten Schritten drang feiner Baustaub in Haare und Lungen und sicher auch zwischen die Maschen von Hanna Mantolfs Feinstrümpfen. Krohne ertappte sich bei diesem Gedanken, als wäre er etwas Verbotenes. Er fragte sich schon seit dem ersten Tag ihrer Zusammenarbeit vor einem halben Jahr, wen Hanna Mantolf mit ihrem Outfit eigentlich quälen wollte. Die Männer draußen an den Stehtischen?
Oder ihn? Im Kollegenkreis galt er als glücklich verheiratet. Einer, der Bilder der Familie auf dem Schreibtisch hatte. Von dem alle wussten, dass seine Maria ein Goldstück war, warmherzig und wunderbar. Irgendetwas an diesem Bild stimmt nicht, dachte Tom Krohne verwirrt. Er dachte das jedes Mal, wenn er Hanna Mantolf hinterher sah.
Die ersten drei Schritte ihrer Pumps auf dem Steinboden waren das Stakkato eines Wortes, das hier nicht hergehörte. Er sah die ersten Staubflocken sich auf ihrem Rock absetzen wie Schnee. Mit langen, geraden Schritten setzte sie ihre Stöckelschuhe über den Parcours der Schildchen, die die Spurensicherung als Schneise abgesteckt hatte. Ihre Schritte hallten wider zwischen den schmutzigen Mauern. Die Leute von der Spurensicherung wirkten mit ihren weißen Ganzkörperanzügen seltsam passend. Wie Astronauten auf einem Wüstenplaneten ohne Luft zum Atmen. In der Mitte der Halle hingen mehrere Planen von der Decke. Hanna Mantolf blieb stehen.
»Ist er da drin?«, fragte sie niemanden bestimmten.
»Wenn ich ihn umgebracht hätt, dann da«, flüsterte Tom Krohne absichtlich dramatisch zurück und erntete einen verständnislosen Blick. Er hatte den Humor der Hauptkommissarin immer noch nicht durchschaut, und die Testballons, die er regelmäßig steigen ließ, sanken allesamt mit durchstochener Hülle auf den Boden zurück.
Insbesondere mit seinem Mannheimer Dialekt schien sie nichts anfangen zu können. Heimlich ärgerte ihn das. Er fand diese Frau so anziehend, so schön. Aber ihr Mundwerk gefiel ihm schon weniger. Zu schriftdeutsch, mit sparsamer Melodie.
Er wusste, dass Hanna Mantolf in Schwetzingen aufgewachsen war, also im Herzstück der Kurpfalz. Aber anscheinend hatten ihre Eltern es für ein Zeichen von Kultiviertheit gehalten, dialektfrei zu sprechen. Dabei lebte Hanna Mantolf nach einigen Jahren im schwäbischen Feindesland nun wieder seit 12 Jahren in Mannheim. Und trotzdem schaute sie ihn und andere Kollegen von der Kripo konsterniert an, wenn er sich von der ganz speziellen kurpfälzer Sprachmelodie davon tragen ließ. Vielleicht denkt sie, dass das einen Bullen unprofessionell wirken lässt, stellte er sich vor. Sie verwendete keine der in der Stadt gängigen Floskeln, und manchmal war Krohne irritiert von dem Gedanken, dass Hanna Mantolf nur noch begehrenswerter wäre, wenn sie dieselbe »Gosch« hätte wie andere Alteingesessene. Aber passte das zu ihrem tiefroten, strengen Mund?
Ein Polizeibeamter, dessen Uniform aussah, als hätte er einen alten Keller ausgemistet, reichte Ihnen eine Plastiktüte, in der ein Personalausweis lag.
»Der Tote ist schon identifiziert?«, fragte Hanna Mantolf, fasste die Tüte aber nicht an. Der Beamte räusperte sich. »Neben ihm lagen seine Kleider. Darin haben wir den hier gefunden.«
»Sven Borke …«, las Krohne mit zusammen gekniffenen Augen vor. Das Bild des Mannes ließ auf ein energisches Gesicht mit großen Augen schließen. Er versuchte dieses sachliche, biometrische Portrait mit dem vornüber gebeugten Gesicht am T-Träger in Einklang zu bringen. Es war ein absurdes Gedankenspiel, das ihn innerlich schaudern ließ.
»Jahrgang 1964. Der Name kommt mir irgendwie bekannt vor.« Er reichte ihr die Beweismitteltüte, aber Hanna ignorierte ihn.
»Der Name wird gerade überprüft. Möchten Sie …?« Der junge, staubige Mann wies auf die herabhängenden Plastikfolien, hinter denen sich die Schatten bewegten. Als lade er sie ein, sich auf einem Jahrmarkt eine besonders geheimnisvolle Attraktion anzuschauen, hob er die Plane, und Krohne und Mantolf betraten den Tatort.
Im Innern herrschte ein seltsames Eisschranklicht. Das passte auch zu dem blutigen, im buchstäblichen Sinne gut abgehangenen Stück Rot, das in der Mitte leuchtete.
Zuerst erkannte Tom Krohne nicht genau, was sie da vor sich hatten. Er blinzelte. Vielleicht war seine Netzhaut ebenfalls mit Baustaub überzogen. Doch dann sagte eine Stimme aus dem Nichts: »Es erinnert an ein Gemälde von Francis Bacon, findet ihr nicht? Fleischfarbene Wirbel mit blutroten Spritzern. Ich frage mich, ob der gute Francis seinen schreienden Päpsten auch gerne die Kehle durchgeschnitten hätte.«
Hanna Mantolf neben ihm holte tief Luft. Vorsichtig trat er näher. Der Mann war stehend an einen T-Träger gefesselt und hatte sich im Verlauf seines Martyriums so dagegen gestemmt, dass die Schultern wie ausgekugelt aussahen. Die Knie waren nach innen eingeknickt. Er war nach vorne gesunken, und unter dem dichten schwarzen Haar verlief eine Augenbinde, als wollte jemand der Leiche den eigenen, Anblick ersparen. Krohne gönnte sich – ganz ohne schlechtes Gewissen – einen Blick auf die schimmernden Lichtreflexe in Mantolfs Strumpfhose, was ihn seltsamerweise beruhigte. Wann hatte die Sonne diesen Teil ihrer Strahlen darin verloren und nicht wieder zurück gefordert?
»Was … was sind das für Spuren auf seiner Haut?«, fragte sie, noch immer gebannt von dem erschütternden Anblick, und die Stimme sagte: »Sieht aus wie Striemen. Oder Schnitte.« Neben dem T-Träger lag ein Häuflein mit Kleidern, die Schuhe standen ordentlich daneben. Und dort trat nun Benno Hader hervor, der sich selbst scherzhaft Dr. Hades nannte. Er trug trotz der Hitze einen grauen Anzug und einen Hut. Dieses Outfit eines 50er Jahre Gangsters endete im Baustaub mit einem Paar hellroter Sneaker. Seine Stimme füllte den Raum mit hallenden Echos.
»Massiver Blutverlust. Die Kehle wurde durchtrennt, aber von jemandem, der das zum ersten Mal gemacht hat. Sehr dilettantisch, das Ganze.«
Er sagte das leichthin. Wenn Tom Krohne dem Pathologen begegnete, erinnerte er ihn immer ein klein wenig an einen Studenten im 5. Semester, der sich noch über die besonders grausigen Fälle freut. Benno Hader hatte blondes, leicht gelocktes Haar, das sich um geradezu winzige Ohren ringelte. Seine Gesichtsfarbe sah stets danach aus, als hätte er gerade Sauna und Tauchbecken hinter sich und nicht die Neon beschienenen Kacheln der Gerichtsmedizin. Krohne dachte einmal wieder, mit was für illustren Wesen er immer wieder an diversen Tatorten zusammenkam, seit er für das Mannheimer Morddezernat arbeitete. Benno Hader mit seinem jungenhaft, unkonventionellen Stil, der auf scherzhafte Bemerkungen über seine roten Turnschuhe antwortete, dass man als Pathologe eben im Blut watet. Und Hanna Mantolf, die aussah, als sei sie dem frühen Filmwerk Fellinis entsprungen. Er dagegen musste sich von seiner Frau anhören, dass er perfekt dem Klischee des heruntergekommenen Kommissars entspreche mit verwaschener Cargohose, den Stoffturnschuhen und seinen geliebten Reggae-Shirts.
Er betrachtete Dr. Hades, der neben der Leiche stand, als würde er ein avantgardistisches Kunstwerk betrachten. Plötzlich gönnte er diesem roten Etwas, dass ihm nach seiner Tortur nun die kühlen, sachlichen Berührungen eines Mediziners bevorstanden. Hader schnippte mit den Fingern und wie aus dem Nichts tauchten Leute von der Spurensicherung auf und nahmen sich das Blut auf dem Boden vor. Die Planen rauschten und wisperten im Luftzug.
»Arterielle Spritzer auf dem Boden«. Hader schob sich ein Bonbon in den Mund. »Entweder hat er einen schrecklichen Fehler gemacht, dass er das erleiden musste, oder jemand glaubte, dass er das verdient hat.«
Hader und seine Hardboiled-Sprüche, dachte Krohne. Wenn er so etwas Theatralisches gesagt hätte, hätte es albern gewirkt. Aber aus dem Mund des Pathologen klang es, als wären sie allesamt Schauspieler an einem düsteren Filmset. Und das wiederum wirkte auch irgendwie tröstlich.
Er starrte auf das, was von Sven Borke übrig geblieben war. Der Zustand seiner Haut verriet ihnen, dass sein Tod eine Erlösung gewesen sein musste. Seine Genitalien waren in einem Zustand, der keine Lust auf einen zweiten Blick machte.
»Wann ist das passiert?«, fragte Krohne Benno Hader.
»Schätzungsweise gestern Abend zwischen 23.00 und 02.00 Uhr.«
»Wie kommt’s, dass du so schnell aus Heidelberg da warst?«
»Wer sagt, dass ich aus Heidelberg hergekommen bin?« antwortete Hader, kryptisch lächelnd wie immer. Soweit Tom Krohne wusste, hatte Hader keine Familie. Wer mochte wissen, was er in der letzten Nacht getrieben hatte, um so schnell vor Ort zu sein. Nur wenige wussten etwas über die 2. Leidenschaft des Pathologen, die mit dem Zupfen dicker Basssaiten zu tun hatte. Hader spielte abends und nachts in den kleineren Jazzclubs der Metropolregion in verschiedenen Bands. Es gab manche, die behaupteten, noch nie jemanden erlebt zu haben, der seinen Kontrabass mit so viel Zärtlichkeit bearbeitete, und Tom Krohne erlaubte dieses Gerücht, Rückschlüsse darauf zu ziehen, wie Benno Hader mit den Toten umging. Ihm lag eine Frage auf der Zunge, aber nur, weil ihm sonst nichts anderes einfiel.
Benno Hader kam ihm zuvor. »Ihr wollt wissen, wann ich anfange, ihn zu zerlegen?«
»Wenn du das so nennen willst.«
Hader lächelte und unterdrückte ein Gähnen. »Nun, du ahnst es sicher. Ich bin unausgeschlafen und habe noch nichts im Bauch.«
»Sehen wir aus, als ginge es uns besser?«, fragte Hanna müde. Der Pathologe legte den Kopf schief und blinzelte die Kommissarin an. »Wenn ich es mir recht überlege, hast du noch nie satt und zufrieden ausgesehen.«
»Such dir aus, ob das ein Kompliment ist, oder eine Unverschämtheit«, murmelte Krohne in ihre Richtung, und diesmal erntete er völlig unerwartet ein angedeutetes Lächeln. Diese Frau sollte öfter lächeln, dachte er.
»Ich werde jetzt jedenfalls nicht wie ein gieriger Hund auf die Ankunft dieser Leiche warten, auch wenn ich mich wahrlich so fühle.«
»Wie ein gieriger Hund?«, fragte Hanna.
»Ganz genau. Und deswegen werde ich meine Gier verlagern auf etwas Leibliches. Ihr wisst ja, wo es in der Stadt die besten Croissants gibt. Danach steht mir jetzt der Sinn, und dieser arme Kerl hier …« Er deutete auf die Leiche, die in diesem Moment behutsam von dem T-Träger gelöst wurde. »… kann warten. Ihr könnt mich gerne begleiten.«
Tom Krohne sah sich plötzlich zusammen mit Hanna und dem Pathologen an einem der winzigen, eng gestellten Tischchen draußen unter den Jugendstil-Arkaden am Friedrichsplatz sitzen. An seinem Knie Hannas Sommerstrumpfhose. Die Steine am Wasserturm veränderten im höher steigenden Sonnenlicht ihre Farbe. Ja, es war das am meisten fotografierte Motiv in Mannheim, plakatives Cover für nahezu jeden Regionalkrimi, aber es war nun mal einfach der schönste Platz in dieser Stadt, die doch so gerne eine Metropole gewesen wäre. Gut, der Verkehr rings um den Ring konnte einem schon das Gefühl geben, dass in Mannheim ein paar Hunderttausend mehr lebten. Dazu kam aber gleichzeitig die Illusion, am Montmartre zu sitzen, wenn die Bedienung aus dem schummrigen Herz des Cafés Körbe mit Croissants und Tassen voll zitterndem Milchschaum trug. Er sah sich dort sitzen zwischen seinen beiden Kollegen, in diesem geschäftigen Krach und stellte sich vor, dass Benno ihnen etwas über seine Nachtmusik preisgeben würde.
Die Leiche von Sven Borke sank auf die Bahre, und Tom vertrieb das schöne Bild.
Dr. Hades zerbiss sein Bonbon. Damit tippte er sich an den Hut, wandte sich um und verschwand zwischen den Foliengespenstern. Immer mehr weiß gekleidete Männer wuselten nun durch den Raum. Die Zwerge tanzen um Schneewittchen herum, dachte Tom, als er das grellrote Etwas in der Mitte ein letztes Mal ansah.
»Ich will jetzt auch frühstücken«, verkündete Hanna Mantolf, als sie wieder im Freien standen und legte kurz ihre Hand auf Krohnes Rücken. Durch den Stoff spürte er, dass sie schweißnass war.
Krohne schöpfte schon Hoffnung, dass sie tatsächlich zu dritt in die Innenstadt fahren würden, aber die Hauptkommissarin steuerte den Kiosk auf der anderen Straßenseite an. Sie klopfte sich den Staub von ihrem grauen Wildseidekostüm und schien gar nicht zu bemerken, dass sie auf eine Wand aus zusammengekniffenen Augen und reglos erschlafften Mündern vor »Wolle’s Wurstparadies« zusteuerte.
***
Hanna Mantolf wusste, dass es nicht unbedingt zu ihrer Vintage-Bluse, Pumps und roten Fingernägeln passte, dass sie das Frikadellenbrötchen mit ihren Zähnen niedermachte, als wäre es ihr eigener Schrecken über das eben Gesehene. Sie spürte die neugierigen, irritierten Blicke von den Stehtischen ringsum.
Eben wurde ein grauer Sarg aus dem Leichenwagen gehoben und in die Lagerhalle getragen, doch Hanna wusste, dass er weitgehend ignoriert wurde. Die Männer lauerten hinter ihren Papptellern und Bierdosen wie Schüler, die insgeheim eine unangekündigte Klassenarbeit erwarteten. Einer hatte gepfiffen, doch Hannas Ignoranz darüber war wirksamer als ein böser Blick oder ein genervtes Kopfschütteln. Sie wusste, was sie hervorrief, und stand den Konsequenzen sanftmütig gegenüber. Sie wusste auch, dass sie der weitverbreiteten männlichen Annahme, Frauen mit figurbetonten Kleidern würden es doch nur auf Pfiffe und Anzüglichkeiten anlegen, ausschließlich Gleichgültigkeit entgegen bringen konnte. Sie hatte diese Dinge seit jeher für sich alleine getan. Das schmeichelnde Gefühl von Nylon an den Beinen war so viel schöner als begehrliche Blicke.
Doch wie sie jetzt das Frikadellenbrötchen bezwang, passte wirklich nicht zum Rest ihrer Erscheinung. Rasch wischte sie sich mit der Serviette die Mundwinkel sauber und zwang sich, langsamer zu kauen. Das wäre ihr sicher nicht passiert, wenn sie Hader begleitet hätten und nun bei Orangensaft und Butterbrezeln in dem Café sitzen würden, in dem man mitten in Mannheim so nah an Frankreich war, wie nirgends sonst in dieser ungeliebten Stadt. Tom Krohne nagte vorsichtig an einem Käsebrötchen und sah sie fragend an. Die Unsicherheit des neuen Kollegen hatte sich auch in den sieben Monaten, die sie jetzt an einer Seite arbeiteten, nicht gelegt. Sie fragte sich manchmal, was für einen Eindruck sie auf den Mann machen mochte, mit dem sie sich das Gleichgewicht dessen, was Kollegen üblicherweise voneinander wissen, ziemlich ungerecht teilte. Was dachte Krohne von einer Hauptkommissarin und alleinerziehenden Mutter, die so gut wie gar nichts über sich selbst erzählte, ihren (gestrigen) Geburtstag verschwieg und meistens auf eine einschüchternde Art und Weise wortkarg war. Es war nicht böse gemeint, sie wusste nur einfach nicht, was sie auf Krohnes permanent staunende Hilflosigkeit in ihrer Gegenwart erwidern sollte. Der Mann war nur unwesentlich jünger als sie und wirkte gleichzeitig wie ein Jugendlicher, der nicht wusste, was er tun musste, um irgendwo dazuzugehören. Am Anfang hatte sie geglaubt, dass die durchkomponierte Schäbigkeit seines Äußeren reine Verkleidung war. Herrgott, der Kerl trug Shirts von Bob Marley! Mittlerweile wusste sie es besser. Der jamaikanische Reggae-Star nahm bei Krohne die Rolle ein, die bei anderen Menschen Jesus vorbehalten war.
»Mein Magen braucht Arbeit!«, klärte sie ihn auf. »Sonst wird er dem Schrecken nicht Herr. Ich muss ihn zuschütten, damit er Ruhe gibt, verstehst Du?«
»Zuschütten«, echote er. »Das funktioniert auch prima mit Kieselsteinen.«
»Dein Brötchen hat auch nicht mehr Nährstoffe als Löschpapier.«
«Wenigstens setzt es keine Verwesungsprozesse in meinem Körper frei.«
»Tom, auch wenn es nicht so aussieht – mein Leben ist keine asiatische Gemüsepfanne mit frischem Koriander, wie bei Dir. Mein Leben ist diese Frikadelle. Schnell, ohne viel Geschmack, aber mit bösem Nachspiel.« Sie unterdrückte einen Rülpser. Bevor Tom Krohne das mit der asiatischen Gemüsepfanne weit von sich weisen konnte, trat ein unsicher aussehender Polizist an den Stehtisch und fragte: »Tschuldigung … seid ihr hier fertig?«
Hanna Mantolf spülte den Fleischklops und das Brötchen mit einem Schluck Kaffee aus dem Plastikbecher herunter.
»Die Frau vom Toten – Elisabeth Borke – die hat ihn eben als vermisst gemeldet«, verkündete der Beamte.
»Gutes Timing. Da kümmern wir uns gleich drum«, wimmelte Krohne den Mann ab. »Hier müssen noch ein paar Leute befragt werden.« Er ließ sich, ohne hinzusehen einen Zettel mit der betreffenden Adresse geben. »Und versuchen Sie bitte, diese beiden verdächtig nach Presse aussehenden Leute da drüben in dem grauen Polo wegzuscheuchen.«
Hanna folgte seinem Blick. Ein Mann und eine Frau saßen telefonierend in den offenen Türen des Autos. Einer der Polizisten lief gerade auf sie zu. Hanna kannte das Gesicht der Frau von Pressekonferenzen des Hauptquartiers. Sie war Reporterin bei irgendeinem kleinen linksrheinischen Blatt. Was machte sie so früh hier? War das Zufall?
»Da ist aber noch was«, sagte der Mann. »Dieser Sven Borke. Das ist ein ziemlich bekannter Fotograf, wohnhaft in Mannheim, in der Uhlandstraße.«
Das ist bei mir um die Ecke, dachte Hanna erstaunt und fragte sich, warum sie noch nie etwas von dem Mann gehört hatte. Krohne hingegen fasste sich an die Stirn.
»Ah, jetzt weiß ich, woher ich den Namen kannte. Das ist doch der Typ, auf den sich die Presse immer stürzt, wegen menschenfeindlicher Kunstauffassung oder so …«
»Nie gehört.«
»Doch«, beharrte Krohne, »Das ist dieser Skandalfotograf, so was wie der Gunter Hagens der Fotografenszene.«
»Schön, dass du so belesen bist«, meinte Hanna und durchforstete weiter ihr Gehirn nach Anhaltspunkten. Sie erinnerte sich dunkel, im Mannheimer Morgen mal einen Artikel über anti-feministische Kunst gelesen zu haben, die mit sexistischen, gewalttätigen Reizen spielte. Dabei war es also wohl um Sven Borke gegangen, auch wenn ihr der Name nichts sagte. Sie erinnerte sich nur an ein Bild von einer nackten Frau, die in irgendeiner alten Maschinenhalle in einem Berg phallusförmiger Metallteile kauerte. Damals hatte sie sich gewundert, dass die eher biedere Tageszeitung ein solches Bild abgedruckt hatte. Ein leiser Schauer überrieselte sie. Durch diese Information wurde das blutige Arrangement drinnen in der Halle plötzlich auf eine absurde Weise stimmig. Sie nickte dem Beamten zu und drehte sich zu den Männern an den Stehtischen um.
»Danke, dass Sie alle so brav gewartet haben, meine Herren!«, sagte sei laut und ließ den Blick über die Gesichter ringsum schweifen. Einige von ihnen hatten dringend eine Rasur nötig. »Ich hoffe, dass Sie alle hier stehen, weil Sie etwas beobachtet haben, das uns hilft, diesen Fall in weniger als einer Stunde zu lösen. Also?«
»Geschtern war Sunndach, schöne Frau!«, platzte es aus einem der Fernfahrer heraus. Er sah südländisch aus, aber sein Dialekt war so eindeutig, wie das quadratische Straßenbild der Stadt.
»Ja, genau, am Wochenend is hier niemand«, bestätigte auch Wolle, der nun hinter der Theke stand und mit einem schmierigen Lappen intensiv darüber wischte.
»Ach, was Sie nicht sagen.« Mantolf lächelte aufmunternd. »Dann können ja jetzt alle gehen, die gestern nicht hier waren. Außer Ihnen.« Sie winkte Wolle zu sich an den Stehtisch. Der Imbissbudenbesitzer löste sich widerwillig von seiner schützenden Theke und trottete an den Tisch.
»Und der Rest von Ihnen …«, Hanna zeigte auf die parkenden LKWs am Straßenrand. »Falls niemand etwas Sachdienliches zu sagen hat, gibt es jetzt nichts mehr zu sehen.«
»Von wegen!«, grölte ein schlaksiger Typ mit Vokuhila und ließ demonstrativ seinen Blick an Mantolf auf und ab rutschen wie ein Stück Seife.
»Dir helf ich, Großer!«, sagte Krohne neben ihr.
Mantolf lächelte. »Bitte ignorieren Sie das, Krohne.« Sie fand seine Ritterlichkeit niedlich. »In zehn Minuten sind Sie alle hier verschwunden, das ist kein Platz für Gaffer. Erst recht nicht für solche wie Sie.«
Dann drehte sie sich um und winkte Wolle, dass er näher kommen sollte. Aus dem Augenwinkel bemerkte sie, dass die beiden aus dem grauen Polo sich schlendernd dem Kiosk näherten. Sie schnipste in Richtung des jungen Beamten, der ihnen von der Vermisstenanzeige berichtet hatte. Er hechtete förmlich in die Richtung der beiden Presseleute und hob die Hände. Hanna wandte sich wieder dem Besitzer der Wurstbude zu. Dafür, dass man ihn Wolle nannte, hatte er herzlich wenig davon auf dem Kopf. Sein Schädel glänzte schweißig.
»Nun lassen Se doch die armen Kerle«, meinte der beschwichtigend. »Die freu’n sich halt, wenn Se mal was Nettes für die Augen bekommen.«
Hanna musterte den Mann und sagte, »Ich weiß nicht, was an einem Leichenwagen, vier Polizeiautos und einem Sarg nett sein soll.«
Der Mann seufzte, und warf einen Blick auf seine Theke, wo Wienerwürstchen im Wasserbad dampften. »Da kam einer zum Fotografieren her, letzte Woche«, sagte er ohne Einleitung. »Ich mach immer so um acht zu. Abends kommen oft noch Leute, die hier durchfahren und auf ein Bier halten. Letzte Woche bin ich länger geblieben, weil ich den Herd geputzt hab.«
»Oh, dann machen Sie das also nicht jeden Tag?«, fragte Krohne interessiert.
»Was?«
»Den Herd putzen.«
Wurst-Wolle kniff die Lippen zusammen und schaute sich nach seinen Gästen um, die sich widerwillig von den Tischen lösten und ihre Dosen austranken.
Krohne lächelte ihn verschwörerisch an. »Wir sind nicht von der Gesundheitspolizei. Erzählen Sie einfach.«
Wolle räusperte sich und fuhr fort. »Also, am Donnerstag, so gegen halb zehn. Da kam also ein Mann mit ner riesigen Kamera und hat hier Bilder gemacht.«
»Von der Halle?«, fragte sie und zeigte hinüber zu dem niedrigen Gebäude
»Ja, er is reingegangen.«
»Und wie lange war er da drin, haben Sie das gesehen?«, fragte Krohne. Der Mann knetete seine Hände und sah immer wieder nervös zu seinen Gästen hin.
»Haben die noch nicht bezahlt, oder um was machen Sie sich Sorgen?« Hanna wurde langsam ungeduldig.
Widerwillig drehte der Mann den Kopf und murmelte, »Is mir einfach unangenehm. Is nicht gut für die Kundschaft.«
»Das legt sich schon wieder. Also, was haben Sie beobachtet?«
»Ich weiß auch nicht. Hab mich schon gewundert, was der Typ da macht. Aber es hätt ja sein können, dass er von der Baubehörde ist.«
»Wie sah der Mann aus?«, fragte Krohne
»Groß und schlank, dunkle, längere Haare«, sagte er zögernd.
Hanna Mantolf und Tom Krohne nickten gleichzeitig. Das war er. Sven Borke, der vielleicht geplant hatte, dort drinnen eines seiner gruseligen Bilder mit weiblichem Model zu schießen und sich erstmal das Setting anschauen wollte. Und jetzt war er in seiner eigenen Kulisse ermordet worden.
In diesem Moment fiel der Blick des Kioskbesitzers auf etwas, das sich in ihrem Rücken abspielte. Die Leute an den anderen Tischen schauten ebenfalls hin. Sven Borke wurde in einem grauen Sarg der Gerichtsmedizin aus der Baustelle getragen. Eine geradezu nächtliche Stille senkte sich für ein paar Sekunden über diesen Abschnitt der Straße. Dann fiel die Heckklappe des Leichenwagens zu, und der Moment war vorbei. Die beiden Presse-Leute lehnten an ihrem Auto und sahen gespannt zu ihnen herüber.
»War jemand bei ihm?«, nahm Mantolf den Faden wieder auf. Wolle schüttelte den Kopf. Seine Haut war eine Nuance blasser geworden. »Er war ganz allein. Is durch eins der Fenster eingestiegen. Hier kann jeder rein, auch nachts. Passt ja niemand auf. Also, ich möcht’ nicht wissen, wer sich da alles im Dunkeln rumtreibt.«
Hanna sah, dass Krohne nachdenklich nickte. Erst letzten Monat war am Morgen nach einer Party in einem Abrisshaus ein Jugendlicher von Bauarbeitern mit tödlicher Alkoholvergiftung entdeckt worden. Doch wer kam nachts auf die vollkommen abgelegene Friesenheimer Insel?
»Hatte der Mann ein Auto dabei?«
»Ja, mit so einem … Cabrio, schwarz … ich hab net auf die Marke geachtet.«
Krohne nickte und zückte einen 10 Euro Schein, um das Frühstück zu bezahlen. Da hellte sich die Miene des Besitzers auf. »Nee … is nicht nötig. Sie waren meine Gäste.« Auf seinem Blick wäre Hanna Mantolf fast ausgerutscht. Aber eben nur fast. Und auch Tom Krohne blieb standhaft. Er steckte ihm das Geld in die Hemdtasche. »War das ein Bestechungsversuch? Alla hopp, wir gehen jetzt.«
Hanna schmunzelte. Es gab Momente, in denen sie Krohnes unverkrampfte Art Zeugen und Verdächtigen gegenüber amüsierte. Etwas, das er bei ihr nie schaffte. Vielleicht lag es auch daran, dass sie die Einzige im Revier war, die sich nicht salopp mit Alla hopp verabschiedete, wie es die meisten Mannheimer taten.
Der Kioskbesitzer senkte den Kopf und begann eilig die Pappteller und Servietten zusammen zu räumen. Mantolf trat zu einem der Streifenpolizisten. »Haben Sie hier in der Nähe ein schwarzes Cabrio gesehen?«
Er schüttelte den Kopf. »Wir überprüfen gerade die Autonummern von den Wagen, die hier parken. Aber keiner von denen ist auf Sven Borke zugelassen.«
»Suchen Sie die Umgebung nach einem schwarzen Cabrio ab. Es kann sein, dass es weiter weg steht.«
Sie wandte sich an Krohne. »Wie ist er hier her gekommen? Das ist nicht gerade eine Gegend, wo alle Viertelstunde ein Bus vorbei fährt.«
»Vielleicht hat ihm sein Mörder eine Mitfahrgelegenheit angeboten?«
»Was hat er hier gemacht?«, fragte sich Mantolf und starrte dabei das Eisschild vor dem Kiosk an. »Könnte es sein, dass er für eine Fotosession hier war? Und dann sind er und sein Model überrascht worden?«
»Aber seine Kamera war nicht am Tatort«, sagte Krohne. »Entweder der Mörder hat sie mitgenommen … oder hier sollte nie eine Fotosession stattfinden, und dieser Ort hat eine andere Bedeutung für Borke gehabt.«
Sie nickte fahrig. Ihr Nacken tat weh. Seit einigen Jahren konnte sie sich einfach nicht mehr für Yoga aufraffen, obwohl ihr Körper manchmal geradezu darum bettelte. Dafür gab es morgens nach dem Aufstehen zehn Minuten Dehnübungen auf dem Teppich vor ihrem Bett, aber das reichte eben nicht aus. Und an diesem Morgen hatte sie gar keine Zeit dafür gehabt. Sie wusste, dass die Sehnen und Muskeln in ihrem Nacken sich nun Minute für Minute weiter verhärten würden und dachte beklommen an Elisabeth Borke, der sie gleich vom Tod ihres Mannes berichten mussten. Hoffentlich hat sie sachdienliche Hinweise und bricht nicht gleich zusammen, dachte sie. Aber sie sprach den Gedanken nicht aus. Sie wollte nicht, dass Krohne sie für unbarmherzig hielt.
Hanna schob Wolle, der sich wieder hinter seinem Tresen verschanzt hatte noch zwei Euro zu und zeigte auf ein Nuss-Schoko Eis auf der Karte. Später, als sie den Neckar in Richtung Sandhofer Straße überquerten, stellte sie fest, dass entweder das Frikadellenbrötchen ihre Geschmacksknospen lahm gelegt hatte, oder dass irgendetwas anderes nicht stimmte. Das Eis war vollkommen geschmacklos, und sie warf es aus dem Fenster in den Grünstreifen, wo es einem ganzen Heer von Ameisen für viele Stunden Arbeit geben würde. Der graue Polo folgte ihnen in großem Abstand.
***
Der Ort, von dem die Vermisstenmeldung gekommen war, sah aus wie der große, düstere Bruder des Tatorts. Auch hier wieder ein altes Fabrikgebäude, dessen ausgeschlagene Fensterhöhlungen den Kommissaren entgegensahen, als hätte das Nichts neuerdings ein Gesicht. Schmutzige, lehmfarbene Ziegel erstreckten sich auf dem Gelände der ehemaligen Zellstoffwerke Waldhof. Der Firma, die Zewa Wisch und Weg berühmt gemacht hatte. Doch der stillgelegte alte Teil der Anlage sah nicht aus, als hätte er noch Besucher. Vor dem Eingang stapelten sich Paletten und Müllsäcke. Seltsamerweise parkte auf dem Platz vor der Halle der Wagen eines Caterers mit der Aufschrift »Feinspeise«. Der Laderaum stand offen, und bei einem kurzen Blick hinein sah Hanna Mantolf Aluminiumbehälter, Gaskocher und zusammengeklappte Tische.
»Bist du sicher, dass wir hier richtig sind?«, fragte sie.
Tom Krohne sah noch einmal auf den Zettel. »Die Frau ist anscheinend da drin und wartet auf uns.«
»Das hier könnte sein Atelier sein.«
»Warum wundert mich das nicht?«
Dann ließen sie sich vom dunklen Gewölbe des Eingangs verschlucken.
Ein Gang führte nach rechts, wo ihnen Gläserklappern und Schritte entgegen hallten. Doch schon im nächsten Moment prallte Hanna zurück. Vor einem Bild, das auch ein neuer Tatort hätte sein können. Ein angewinkeltes Frauenbein mit krampfhaft gespreizten Zehen ragte ihnen entgegen. Am Knöchel hing ein gewaltsam abgestreifter Stöckelschuh, nur noch durch ein dünnes Riemchen am Fuß befestigt. Das Bein war in einen schwarzen, transparenten Strumpf gehüllt, eine breite Laufmasche fraß sich wie die Bissspur eines bösen Insekts an der Wade entlang. Der Rest des Körpers war verschwunden. Verschluckt von einem akkurat ausgehobenen Erdloch. Ein Grab. Nur die Ahnung von Fingerspitzen war noch zu sehen, die in sinnlosem Haltsuchen in die Luft stachen. Im nächsten Augenblick hätte die Grube die ganze Frau verschluckt. Im Hintergrund des Bildes waren verschwommen Grabsteine und ein paar Büsche zu sehen. Es war überlebensgroß und hing von einem Eisenträger an der Decke der Fabrikhalle herunter. Dahinter erahnte Hanna Mantolf die Ausmaße des Raumes, nackte Backsteinmauern und schwarz lackierten Boden. Der Schweißfilm auf ihrer Haut, unter den Strümpfen, in ihrer Halsbeuge war schlagartig getrocknet.
»Macht dich das an?«, fragte Hanna.
Tom Krohne sah vollkommen verständnislos aus. »Sollte es das? Und dich?«
»Danke, ich bevorzuge Frauen, die mit beiden Beinen im Leben stehen.«
»Naja, mit solchen Absätzen wär wohl jeder in ein offenes Grab gefallen. Ich sag doch, diese Dinger sind lebensgefährlich.« Er warf einen tadelnden Blick auf Hannas Pumps. In diesem Moment hörten sie ein leises Rascheln, und eine Frau trat hinter dem Transparent hervor. »Ein tolles Bild für die Eingangsposition, finden Sie nicht? Es nimmt die Schock-Ästhetik von Svens Werk vorweg und bereitet die Zuschauer auf die anderen Fotos vor. Aber darf ich sie fragen, warum Sie hier ungefragt eindringen? Die Vernissage beginnt erst heute Abend.«
Hanna legte den Kopf schief. Die Frau sah aus, als wäre sie gerade aus einem Gemälde von Edward Burne-Jones gestiegen. Tümpelgrüne Augen in einem herzförmigen, seerosenweißen Gesicht, umrahmt von rotem, ungekämmten Haar. Ihr Körper wirkte selbst unter dem weiten schwarzen Kleid androgyn. Und wie um Krohnes These zu bestätigen, war sie barfuß.
»Haben Sie uns angerufen?«, fragte er. »Elisabeth Borke?«
»Was ist hier los?«, rief eine weitere Frauenstimme, und auf dem Steinboden erklang das harte Knallen von Absätzen, das selbst das Geklapper der beiden jungen Männer übertönte, die an einer Seitenwand ein Buffet aufbauten.
»Das ist Elisabeth Borke«, meinte die junge Schönheit neben ihnen. Hanna Mantolf trat an dem Transparent vorbei in die Halle. Sie wusste nicht, auf was sie sich zuerst konzentrieren sollte. Auf das verstörende Panoptikum der Fotoausstellung oder auf den kugelrunden Babybauch in einem hautengen weißen T-Shirt, der im Stechschritt auf sie zu eilte. Elisabeth Borke war eine jener Frauen, bei deren Statur man sich fragte, wie sie jemals ein Kind austragen konnten. Ihr Bauch stand in einem derart krassen Kontrast von ihrem knochigen Körper ab, dass Hanna sich wunderte, wie die Frau sich auch noch auf ihren Stilettos halten konnte.
Sie begrüßte die Ermittler mit einem knappen Kopfnicken. »Sie sind dann wahrscheinlich von der Polizei. Dann ist Sven also tot?«
»Elisabeth!«, hauchte die junge Frau neben ihr erschrocken. Und Hanna konnte förmlich hören, wie Tom Krohnes Augenbrauen in die Höhe schnellten. Bevor sie etwas erwidern konnte, bedachte Elisabeth Borke die andere Frau mit einem mitleidigen Blick und sagte. »Er ist gestern Nacht nicht nach Hause gekommen. Das ist ja nichts Besonderes«, sie machte ein verächtliches Geräusch. »Aber dass er jetzt nicht hier ist, zu den letzten Vorbereitungen für seine heißgeliebte Vernissage – das ist dann doch sehr merkwürdig.« Hanna Mantolf sah sofort, dass über dem Gesicht der Frau eine Maske lag. Und die hatte dieselbe Wirkung wie Botox. Vollkommen regungslos starrten sie die beiden großen braunen Augen an, während ihre Hände die Rolle der aggressiven Ungeduld übernahmen.
»Wir … ähm, haben ihn gefunden«, begann Krohne. Seine Stimme klang belegt.
»Und ist er’s?«, blaffte die Frau. »Tot, meine ich.« Ungeduldig fuchtelten ihre Hände in der Luft herum.
»Das hört sich seltsam … hoffnungsvoll an, Frau Borke«, meinte Hanna. »Haben Sie sich deswegen die Fingernägel abgerissen?« Die perfekt gepflegte Erscheinung der Frau stand in einem auffallenden Kontrast zu ihren Händen. Die Fingernägel waren nur noch winzige Splitter im wunden, ausgefransten Nagelbett.
»Elisabeth?!«, flüsterte die junge Frau erneut und starrte die andere fassungslos an.
»Schon gut, Sie waren nervös«, sagte Tom Krohne. »Und außerdem scheinen Sie es bereits zu ahnen. Vielleicht erklären Sie uns … später, was Sie zu dieser Annahme veranlasst hat.«
Hanna war dankbar, dass ihr Kollege die Maske der Frau ebenfalls erkannt hatte und nun mit seiner feinfühligen Art versuchte, dahinter zu dringen. Und als hätten seine Worte einen Schalter umgelegt, fiel die starre Selbstbeherrschung, die Elisabeth Borkes Gesicht im Griff hatte, von ihr ab. Schlagartig lauerten Schatten unter den Augen. Dann legte sie rasch den Arm um die Schulter der anderen Frau. »Das ist Tatjana Kuber. Sie ist die Assistentin meines Mannes. Und wer sind Sie bitte?«, sagte sie mit krampfhafter Ungerührtheit. Tatjana Kuber starrte zwischen Hanna Mantolf und Tom Krohne hin und her. Tom streckte die Hand aus, aber anstatt seine Marke zu ziehen, berührte er sacht den Arm der Frau. »Frau Borke, Sie setzen sich vielleicht besser.«
Elisabeth Borke wich zurück und zischte: »Ich muss gar nichts. Ich sage Ihnen, was ich muss. Ich muss diese Vernissage organisieren, ich muss vielleicht die Leiche meines Mannes identifizieren, aber mehr auch nicht!« Sie schnaubte. Ihre Augen wurden feucht.
»Und Sie müssen uns sagen, warum Sie damit gerechnet haben, dass er tot ist«, sagte Hanna behutsam, als wäre es nur ein Vorschlag. Die Frau wollte sich offensichtlich nicht auf eine sanfte Behandlung einlassen. Nun, sie würde noch früh genug darum betteln, wenn sie aufgehört hatte, sich zu wehren und akzeptierte, dass diese Vernissage nicht ihr Hauptproblem war. »Woher wollen Sie wissen, dass wir nicht hier sind, um ihnen zu verkünden, dass ihr Mann einen Unfall hatte. Sie wissen, dass er ermordet wurde. Warum?«
Die Frau ließ sich nicht aus dem Konzept bringen. Sie wirbelte herum und deutete mit weit ausgebreiteten Armen auf die gigantischen Fotos, die in der Halle verteilt waren. Hannas Blick fiel auf das riesige Foto in ihrem Rücken. Erst jetzt erkannte sie die Einzelheiten darauf. Da lag eine Nackte in einem Krankenhausbett ohne Matratze, aber einem dicken Kissen auf dem Gesicht. Daneben ein anderes Bild mit einer Frau in einem Einkaufswagen, auf dessen unterer Ablage Feuerholz aufgeschichtet war, daneben ein Benzinkanister. »Schauen Sie sich diese Bilder an!«, rief sie. »Was sagen Sie dazu?«
»Frau Borke, wir sind nicht hier, um die Arbeit Ihres Mannes zu beurteilen …«, sagte Tom Krohne sanft. Elisabeth Borke fuhr zu ihr herum. »Das sollten Sie aber tun, wenn Sie seinen Mörder finden wollen!«
Hanna warf einen Blick auf Tom Krohne. In seinem Gesicht flackerte eine mühsam unterdrückte Faszination. Zwischen den hohen, blinden Fenstern hing das Bild einer Supermarkt-Tiefkühltruhe, in der ein gefrorener Hähnchenschenkel zwischen den Beinen einer starr daliegenden, ebenfalls Nackten hervor ragte. Und dann das Bild eines Masten, dessen Fahne auf halber Höhe hing. In die Fahne war etwas eingewickelt, man erahnte die Konturen eines Körpers. Wie ein Kokon baumelte das Paket vom Mast, unten guckte ein Fuß heraus. Alle Bilder waren hochglänzend und meterhoch. Sie wirkten vor den kahlen Backsteinwänden wie blitzsaubere, gestochen scharfe Fenster in die Welt des Mannes, der in diesem Moment auf dem Weg nach Heidelberg in die Forensik war.
»Was sehen Sie in diesen Bildern?!«, herrschte die Witwe nun auch Tom an.
»Elisabeth …«, versuchte die Assistentin sanft einzuwirken, doch die Frau hob gebieterisch die Hand, und Tatjana Kuber verdrehte die Augen und schwieg.
»Frau Borke, wir müssen wirklich …«, sagte Tom, aber Hanna fiel ihm ins Wort.
»Visionen«, sagte sie. »Das sind Visionen einer besonderen Form der Freiheit, denke ich. Frei von Moral und Erziehung eine eigene Schönheit im Grauen zu finden. Die Gesellschaft verbietet uns so etwas, weil es nicht mit unseren Wertmaßstäben zusammenpasst. Das sind Obsessionen. Der Versuch, Schönheit und Sadismus zu vereinen.« Jetzt drehte Elisabeth Borke sich zu Hanna Mantolf um und sah sie mit aufgerissenen Augen an. Ihr Blick war ungläubig.
»Denken Sie das, ja?«, hauchte sie. Ihre Stimme klang fast versöhnlich. Und seltsamerweise hoffnungsvoll.
»Ja. Ich meine, man wird ja fast erschlagen von diesem Transparent im Eingang. Aber durch die großen Maßstäbe und die Details, die Anordnung der Körper, das Licht … das zwingt den Betrachter geradezu, sich der Schönheit darin zuzuwenden.«
Sie fühlte fast, wie über Krohnes Kopf die Gedankenblasen mit den Fragezeichen darin aufstiegen. Von den Kollegen bei der Kripo wusste niemand, dass sie drei Semester Kunstgeschichte studiert hatte, bevor die Polizeiausbildung anfing.
Es war nicht das einzige, was sie nicht wussten.
Ein leises Klatschen ertönte neben ihr. Ein langsames, sehr höhnisches Klatschen. Es war Tatjana Kuber. »Schön gesprochen. Welchen Zeitungsartikel über Sven haben Sie auswendig gelernt, hm?« Der spöttische Zug machte ihre Lippen ganz dünn, und plötzlich war von der Jugendstil-Sanftheit nicht mehr viel übrig.
»Halt den Mund, Tatjana!«, zischte Elisabeth Borke, doch Tatjana Kuber schüttelte mit bitterem Lächeln den Kopf.
»Sven hat gar nicht erst versucht, durch seine Kunst einen Raum zu schaffen, der sich der kaputten Welt verweigert. Im Gegenteil. Er hat sie erwidert!«, ereiferte sich die junge Frau, »und deswegen gab es viele, die seine Arbeit ganz, ganz schlimm fanden.« Ihre Stimme klang verächtlich, als äffte sie eine politisch korrekte Feuilleton-Journalistin nach.
»Eine Kunstauffassung die ihn umgebracht hat?«, fragte Tom Krohne.
»Wussten Sie, ob jemand ihn bedroht hat?«, hakte Hanna ein.
»Keine Ahnung«, sagte die Assistentin tonlos. »Aber ich … hatte immer das Gefühl, dass er mit seiner Kunst keine guten Menschen anlockt. Es waren immer irgendwelche Freaks. Und die meisten, die Bilder von Sven gekauft haben, haben’ s heimlich getan und verschwiegen. Er hat nur ihre geheimen Obsessionen, ihre dunkle Seite beliefert, verstehen Sie?«
»Und Sie?«, drängte Krohne und ging einen Schritt auf Elisabeth Borke zu. »Hatte er Feinde?« Die Frau schwieg und zog die Schultern noch weiter hoch. Sie schüttelte den Kopf.
»Und dennoch haben Sie geahnt, dass Sie ihn nicht wieder lebend sehen«, sagte Hanna.
»Herrgott, er ist die ganze Nacht nicht zu Hause gewesen!«, fuhr Elisabeth Borke nun auf. »Ich hatte ein schlechtes Gefühl … ich habe ihn geliebt! Wenn man jemanden so liebt wie ich Sven … geliebt habe, dann spürt man so was!«
»Wann haben Sie ihn zum letzten Mal gesehen?«
»Gestern Nachmittag«, sagte sie tonlos. »Er kam heim, hat geduscht, hat etwas gegessen und war wieder weg.«
»Wissen Sie, wohin er wollte?«
Die Frau überlegte krampfhaft. »Ich … glaube, er wollte sich mit irgendeinem Kunden treffen.«
»Am Sonntag?«
Tatjana Kuber drehte sich kommentarlos um und steuerte eine rot lackierte Tür an der hinteren Wand der Halle an. »Ich hole seinen Terminkalender!«, rief sie, als wollte sie ihre Fassungslosigkeit nun ebenfalls durch Geschäftigkeit überspielen.
Elisabeth Borke zog scharf die Luft ein. »Die Vernissage …sie findet trotzdem statt. Auf jeden Fall!«
»Haben Sie wirklich keine anderen Sorgen?«, erwiderte Krohne nun müde. Doch sie trieb ihre Überzeugung sogar noch etwas weiter auf die Spitze. »Ach, hören Sie doch auf! Wenn Beethoven einen Tag vor der Uraufführung seiner Neunten gestorben wäre, hätte man die dann auch abgeblasen, oder was? Selbstverständlich wird diese Vernissage über die Bühne gehen. Sven hätte das so gewollt. Und seine Fans ebenfalls. Ich gebe zu, dass sein Tod einen ziemlichen Schatten auf das Ganze wirft, aber … in gewisser Weise passt das in dieser Szene sogar …« Sie verschluckte sich und hustete. Hanna Mantolf stellte sich vor, was Beethoven wohl dazu sagen würde, dass er sich seinen Sockel plötzlich mit jemandem wie Sven Borke teilen musste.
Und wenn diese Vernissage vorbei war, würde die Frau zusammenbrechen.
»Ich nehme dann mal an, dass Sie dann heute Abend auch erscheinen«, stellte Sven Borkes Witwe voller Widerwillen fest. Gleichzeitig erschien in ihren Augen ein flehentlicher Ausdruck.
»Wird sich wohl nicht vermeiden lassen. Wir sind natürlich dankbar, wenn wir so vielen Menschen wie möglich begegnen, die zu Ihrem Mann Kontakt hatten«, sagte Krohne bescheiden.
»Oh, da werden Sie keinen Mangel haben. Da kommt so ziemlich jeder, den Sven kannte. Kunden, Presse, Fans.« Sie sprach das letzte Wort fast hämisch aus. Als gönne sie es diesen Fans, dass ihr großes Idol Borke nun gar nicht mehr greifbar war.
»Sie werden aber aus dieser Vernissage kein Massenverhör machen. Wenn Sie das tun, dann …«
»Was dann?«, fragte Krohne leise.
»Das wäre … pietätlos. Ich denke da an eine spontane Trauerfeier. Dass alle Menschen, die mit Sven zu tun hatten, gleich Abschied nehmen können. Im Beisein seiner Werke ist das, glaube ich … passend.« Sie klang trotzig.
»Frau Borke, wir ermitteln hauptsächlich in einer Mordsache und wir werden Ihnen keineswegs versprechen, dass wir heute Abend nicht gleich auf eventuell verdächtige Personen zugehen. Ich glaube, nach der Vernissage ist noch genug Zeit, ihrem Mann zu gedenken.«
Elisabeth Borke hastete hinüber zu dem Buffet und keifte die jungen Männer an, sich zu beeilen, eilte dann wieder zurück und ließ ihre Blicke durch die Halle schweifen. Warum trauert sie nicht, fragte sich Hanna. »Wo waren Sie denn gestern Abend?«, erkundigte sie sich beiläufig, ohne die Frau anzusehen.
Elisabeth Borke kniff die Augen zusammen und zischte: »Jetzt bin ich also verdächtig, ja? Die verbissene, ehrgeizige Mäzenin, die nur darum bemüht ist, ihrem Mann einen angemessenen Abgang aus der Kunstszene zu verschaffen?!«
»Danke für diese treffende Selbstcharakterisierung«, sagte Hanna. »Genau diesen Eindruck wollen Sie anscheinend erwecken.«
Elisabeth Borke trat einen Schritt auf Hanna zu. »Denken Sie, dass ich Sven ermordet habe? Oh, ich hätte es ab und zu wirklich gerne getan. Aber nein!« Sie warf theatralisch ihre Hände in die Luft und verpasste ihrem Bauch dann einen unfreundlichen Klaps. »Sie kann es ja gar nicht getan haben. Sie ist hochschwanger!« Ihr Gesicht war eine Maske verzerrter Wut und Abscheu. »Was glauben Sie, was mit dieser Kugel alles möglich ist! Und jetzt würde ich gerne meinen Mann identifizieren.«
»Ist das Ihr Ernst?«, platzte es aus Krohne heraus.
»So ist doch das Prozedere, oder etwa nicht?«, fragte sie gereizt und schnipste einen unsichtbaren Schnipsel von ihrem Bauch. »Jemand muss doch versichern, dass er es ist, nicht wahr?«
»Wir haben bei Ihrem Mann einen Ausweis gefunden, deswegen ist es sehr wahrscheinlich, aber es muss trotzdem ein Angehöriger bestätigen, dass er es ist. Aber das kann in diesem Fall auch Ihre Assistentin machen.« Er warf einen auffordernden Blick auf Tatjana Kuber, die mit einem schwarzen Terminkalender in der Hand neben sie getreten war.
»In welchem Fall?«, zischte Elisabeth Borke.
»Mein Kollege möchte nur Rücksicht auf Ihren Zustand nehmen, Frau Borke«, sagte Mantolf sanft. Sie wusste nicht, ob sie die Frau bedauern oder verachten sollte.
»Mein Zustand wird mich nicht daran hindern, meine Pflicht zu tun«, verkündete sie, als sei es das Selbstverständlichste auf der Welt.
Tom Krohne hob die Hände und ließ sie entnervt wieder fallen. »Ok, dann sagen Sie uns jetzt bitte noch, was für ein Auto Ihr Mann gefahren hat, wo es sich befindet, wo seine Kamera ist und ob Sie sein Computerpasswort kennen.« Seine Feinfühligkeit hatte Risse bekommen. Und Elisabeth Borke antwortete in der gleichen Sprache darauf. »Audi TT, schwarz, der nicht bei uns zu Hause steht. Wo seine Kamera ist? Da könnten Sie genauso gut fragen, wo sein Herz ist! Ich weiß es jedenfalls nicht. Und sein Computer geht mich nichts an:« Und damit drehte sie sich herum, und eilte zu dem Transparent, das den Eingang verdeckte. Sie drehte sich ruckartig um und blitzte Hanna Mantolf an. »Kommen Sie, oder was? Sie wollen mich doch in die Gerichtsmedizin fahren!«
Hanna hatte zwar nichts dergleichen gesagt, aber sie war gespannt darauf, ob Elisabeth Borke vielleicht ihre hässliche Maske ablegen würde, wenn sie erst alleine in ihrem Auto Richtung Heidelberg fuhren.
»Frau Kuber, ich würde mich gerne mit Ihnen unterhalten«, sagte Krohne und schenkte der Assistentin ein strahlendes Lächeln. Hanna hoffte, dass die junge Frau zugänglicher war. Sie verabschiedete sich rasch und beeilte sie sich, Elisabeth Borke einzuholen, die bereits auf dem Weg nach draußen war, als könnte rein gar nichts sie aufhalten. Als sie hinter der Frau ins Freie trat, verpasste ihr die 10-Uhr-Hitze einen Schlag gegen beide Schläfen. Hätte sie gewusst, dass sie in weniger als einer Stunde einen noch viel härteren Schlag bekommen sollte, wäre sie auf der Stelle k.o. gegangen.
***
Ein Schlag ins Gesicht des guten Geschmacks …
Pseudo-ästhetischer Massenmord …
Als ob der Tod nicht schlimm genug wäre …
Ist dieser Mann gefährlich?
Gibt es Schönheit im Perversen?
***
Von der Wand seitlich des Schreibtisches in dem kleinen Büro schlugen Tom Krohne Abneigung, Missfallen, Kritik, Abwertung und unverhohlene Abscheu entgegen. Fein gerahmt und hinter Glas, symmetrisch und nach Größen geordnet, hatte Sven Borke jeden Zeitungsartikel, der sich mit seiner Fotografie auseinandersetzte, an die Wand gehängt. Es waren sicherlich an die 60 kleinen, oder mittelgroßen Rahmen, die sich an der Backsteinmauer versammelten und davon erzählten, wie die Außenwelt Borkes Kunst bewertete. Tom Krohne konnte fast das spöttische Lachen hören, mit dem ein noch lebender Sven Borke diese Artikel bedacht haben musste. Und auf den ersten genauen Blick war es nur eine Handvoll, die in seinen Fotografien mehr sahen, als nur morbide Perversion. Ein paar von ihnen wiederholten genau das, was Hanna Mantolf vor ein paar Minuten gesagt hatte. Aber war das nun unbedingt ein positives Merkmal? Der Rest der Zeitungsausschnitte aus allen namenhaften Magazinen überbot sich in negativen Äußerungen von Geschmacklosigkeit, Plakativität, bis hin zu der Frage, ob Sven Borke selbst in der Lage wäre, eine Frau zu töten, und diesen Trieb durch seine Fotos unter Kontrolle halte.
Und doch waren für die Vernissage am Abend weit über 300 Gäste angekündigt. Der Name der neuen Fotoserie passte so gar nicht zu den sommerlichen Temperaturen außerhalb der alten Mauern der Fabrikhalle.
Cold Meat Showroom.
Wie kommt man zu so einer Lebenseinstellung, fragte sich Krohne. Er fühlte sich auf einmal eigenartig verloren und sehnte sich nach einem positiven Impuls. Was hätte er darum gegeben, kurz die Kopfhörer seines MP3-Players einzustöpseln, um Bob zu lauschen. Das hätte die eigenartige Kälte dieser Bilder vertrieben.
Tatjana Kuber legte eine Kopie der Gästeliste vor Tom Krohne auf den Tisch.
»Sind die alle aus Mannheim?«
»Aus ganz Europa.« Sie strich sich das Haar aus der Stirn. »Und wenn wir die Besucherzahl nicht von Anfang an wegen Platzmangel limitiert hätten, wären es 5000 gewesen. Die kommen aber nach der Vernissage im Lauf der nächsten Tage, das kann ich Ihnen versichern.« Die Frau zog die Augenbrauen hoch, als wäre ihr diese Zahl an Interessierten selbst nicht ganz geheuer.
»Erzählen Sie mir von Sven Borke«, bat er und setzte sich auf die rote Samtcouch am anderen Ende des Zimmers.
»Oh, ich bin sicher, dass Elisabeth das viel besser kann.«
»Elisabeth Borke war in meinen Augen zu sehr damit beschäftigt, ihrem Mann böse zu sein, dass er es gewagt hat, sich ermorden lassen zu haben. So kurz vor diesem wichtigen … Ereignis.«
Tatjana Kuber setzte sich mit einem weichen Rascheln ihres Kleides auf einen Stuhl. Sie holte tief Luft und sagte stirnrunzelnd. »Ja, also, wenn Sie wissen wollen, warum Elisabeth das irgendwie geahnt hat … ich hatte dieses Gefühl auch. Als ob diese Möglichkeit Sven ständig begleitet hätte. Also, Florian Silbereisen bekommt sicher keine Morddrohungen, oder?«
Tom Krohne unterdrückte ein Grinsen. »Ou ou ou, sind Sie sich da mal aber nicht so sicher.«
Anstatt einer Antwort beugte sie sich zu einem Schubladenschrank neben dem Schreibtisch herunter und reichte ihm einen dicken grünen Ordner.
»Schwachsinnige« stand mit Filzstift darauf geschrieben. »Die können Sie alle mitnehmen. Ist eine … erheiternde Lektüre.« Der Stapel der nach Datum geordneten Drohbriefe war so voluminös, wie die vierteljährliche Steuererklärung einer international operierenden Firma. Tom Krohne blähte die Wangen auf angesichts dieser Flut von Hass und Abscheu. »Die Frage, ob er damit zur Polizei gegangen ist, erübrigt sich?«
Die Assistentin zuckte geradezu gelangweilt die Schultern. »Sven wäre nicht Sven gewesen, wenn er das ernst genommen hätte. Das Meiste waren sowieso nur irgendwelche moralingesäuerten Ergüsse von weltfremden Feministinnen. Denen hat Svens Frauenbild nicht gepasst.«
»Was hatte er denn für ein Frauenbild?«, fragte Krohne und legte den Ordner zur Seite. Die Kollegen von der Kriminaltechnik konnten ihn nachher mitnehmen. Er lehnte sich zurück und sah Tatjana Kuber an. Ein gelangweilter Ausdruck in einem schönen Gesicht. Borkes Assistentin pustete die Luft nach oben gegen ihre Stirn und verschränkte die Hände vor der Brust. Der Tod Sven Borkes schien sie nicht zu belasten. Sie machte nur einen sehr verunsicherten Eindruck.
»Sie haben es ja gesehen«, begann sie seufzend. »Sven hat angefangen als ganz kleiner Fotograf, der mit den Frauen, mit denen er gerade rumgevögelt hat, Experimente gemacht hat. Ein paar Bilder auf dem Friedhof, ein bisschen Knipsen in Papas Weinkeller, ein paar Schnappschüsse auf einer leeren Bahntrasse.«
Krohne nickte. Er kannte diese Strömung in der Fotografie. Hauptsache schonungslose Ästhetik, schöne Frauen vor lebensfeindlichem Hintergrund, nackte Haut vor rostigen Heizungsrohren. Nicht gerade originell. Ihn berührte so etwas nicht, machte ihn nur ein bisschen traurig. Was war an sonnengebräunten Frauen an Palmenstränden oder meinetwegen lauthals lachend in einem Kettenkarussell so falsch? Was trieb einen zu solch düsteren Ideen?