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Winter in Siebenbürgen. Ein eisiger Schneesturm hat das alte Heimatdorf des Journalisten Paul Schwartzmüller fest im Griff. Im Sommer hatte er dort nicht nur einen Mordfall aufgeklärt, sondern sich auch in die mysteriöse Maia verliebt - nun steht er, bibbernd vor Kälte und Aufregung, wieder vor ihrem Hoftor. Doch Maia hat in der Zwischenzeit einen anderen Mann geheiratet. Als der kurz darauf tot im Wald gefunden wird, gerät Paul sofort in Verdacht und landet in einer Zelle der trutzigen Kirchenburg. Von dort beobachtet er in den langen Winternächten höchst Seltsames: Im Wald kriechen Menschen durch den Schnee und scheinen etwas zu suchen ... Aber was? Und: Haben sie etwas mit dem Toten zu tun?
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Seitenzahl: 394
Cover
Über das Buch
Über die Autorin
Titel
Impressum
Prolog
Eins
Zwei
Drei
Vier
Fünf
Sechs
Sieben
Acht
Neun
Zehn
Elf
Zwölf
Dreizehn
Vierzehn
Fünfzehn
Sechzehn
Siebzehn
Achtzehn
Neunzehn
Zwanzig
Einundzwanzig
Zweiundzwanzig
Dreiundzwanzig
Vierundzwanzig
Fünfundzwanzig
Sechsundzwanzig
Epilog
Nachwort
Über das Buch
Winter in Siebenbürgen. Ein eisiger Schneesturm hat das alte Heimatdorf des Journalisten Paul Schwartzmüller fest im Griff. Im Sommer hatte er dort nicht nur einen Mordfall aufgeklärt, sondern sich auch in die mysteriöse Maia verliebt – nun steht er, bibbernd vor Kälte und Aufregung, wieder vor ihrem Hoftor. Doch Maia hat in der Zwischenzeit einen anderen Mann geheiratet. Als der kurz darauf tot im Wald gefunden wird, gerät Paul sofort in Verdacht und landet in einer Zelle der trutzigen Kirchenburg. Von dort beobachtet er in den langen Winternächten höchst Seltsames: Im Wald kriechen Menschen durch den Schnee und scheinen etwas zu suchen … Aber was? Und: Haben sie etwas mit dem Toten zu tun?
Über die Autorin
Lioba Werrelmann, Jahrgang 1970, stammt aus dem Rheinland, hat Politische Wissenschaften studiert, volontierte und ist seit 1989 für verschiedene Tageszeitungen, Radio- und TV-Anstalten (WDR/ARD) als Redakteurin und Kommentatorin tätig, vor allem in Köln und Berlin. Für ihren ersten Kriminalroman Hinterhaus gewann sie 2020 den renommierten Friedrich-Glauser-Preis für das beste Debüt.
LIOBA WERRELMANN
TÖDLICHERWINTER
Paul Schwartzmüller ermittelt
Vollständige E-Book-Ausgabedes in der Bastei Lübbe AG erschienenen Werkes
Eichborn Verlag
Originalausgabe
Die Veröffentlichung dieses Werkes erfolgt auf Vermittlung der literarischen Agentur Peter Molden, Köln.
Copyright © 2024 Lioba WerrelmannCopyright © 2024 by
Bastei Lübbe AG, Schanzenstraße 6–20, 51063 Köln
Vervielfältigungen dieses Werkes für das Text- und Data-Mining bleiben vorbehalten.
Textredaktion: Christiane Branscheid, BremervördeUmschlaggestaltung: Guter Punkt, München | www.guter-punkt.deEinband-/Umschlagmotive: © iStock/Getty Images Plus: Pilat666 | Vera_Petrunina | CalinStan | ShaiitheBook-Erstellung: two-up, Düsseldorf
ISBN 978-3-7517-4843-8
luebbe.delesejury.de
Dies war der Tag, an dem er sterben würde. Er wusste es in dem Moment, in dem er sie hinter sich bemerkte.
Sie machten sich nicht einmal die Mühe, sich zu verbergen. Ihre Stimmen zerschnitten die Stille des frühen Morgens, ihre schweren Schritte hallten in der schmalen Gasse zwischen den Hauswänden wider. Sie würden ihm folgen, wie sie ihm schon so oft gefolgt waren, die Hälse vorgereckt, die Nasen aufgebläht, als witterten sie bereits das Geld, das ihr schäbiges Tun ihnen einbrachte.
Wer, dachte er bei sich und beschleunigte seinen Schritt, konnte es ihnen verdenken? Der Lohn, der auf sie wartete, war um ein Vielfaches höher als das, was sie mit ihrer Hände Arbeit erwirtschaften konnten. Sie führten Befehle aus, wie sie es seit Jahr und Tag taten, schon ihre Väter und Vorväter hatten es so gehalten. Skrupel waren ihnen fremd, ein Gewissen konnte sich keiner von ihnen leisten.
Das Töten gehörte zu ihrem Geschäft.
Nur einmal noch, dachte er und lief schneller. Das Dorf lag jetzt hinter ihm, ein schmaler Trampelpfad führte durch brachliegendes Land. Wenige Hundert Meter waren es bis zu der Stelle, wo der Wald begann.
Wenn es ihm doch nur ein einziges Mal noch gelingen könnte, sie abzuschütteln! Sein Leben war ihm schon lange nicht mehr viel wert. Nicht, seit er diese verhängnisvolle Entscheidung getroffen hatte. Doch wenn er an das dachte, was sich nicht weit von hier verbarg, spürte er eine Verzweiflung in sich aufsteigen, die ihm den Atem nahm. Es gab etwas, das er schützen musste, komme, was wolle.
Ein einziges Mal noch! Er keuchte, stolperte die letzten Meter über das freie Feld. Er wusste, es war aussichtslos, ein heilloses Unterfangen. Doch etwas, das stärker war als der Verstand, viel stärker, trieb ihn weiter an.
Endlich tauchte er ein in den dichten Wald. Kurz flackerte Hoffnung in ihm auf. Doch im nächsten Augenblick hörte er sie wieder ganz nah hinter sich. Viel zu nah.
Ein Gefühl, als griffe die Verzweiflung nun nach seiner Gurgel, als würge sie ihn.
Es war alles vergebens. Dieser Wald war ihm fremd. Er kannte die geheimen Wege nicht, die Abkürzungen. Er kannte den einen Weg. Doch den durfte er nicht wählen, nicht, wenn sie ihm auf den Fersen waren.
Sein Schritt wurde stolpernd. Kurz dachte er daran, umzukehren, wie er es so oft getan hatte, mit einem bitteren Geschmack auf der Zunge, den Bauch voller Wut. Sie würden ihm noch eine Weile folgen und ihn dann in Ruhe lassen.
Bis zum nächsten Mal.
Er keuchte. Er war nahe daran, zu weinen. Dass es aber auch keinen Ausweg gab!
Und die Entscheidung, die ihn retten sollte, hatte ihn nur noch tiefer in sein Elend gestürzt.
Er war verloren auf alle Zeit.
Sie kamen näher, immer näher.
Da. Dort vorne war das Gebüsch so dicht, dort konnte er sich für einen Moment verbergen. Schon kroch er hinein.
Ein letzter Gedanke, so berückend wie irre.
Und dann fühlte er nichts mehr außer Finsternis. Er hieß sie willkommen wie einen vertrauten Freund.
Wenige Stunden zuvor …
Paul zog den Bauch ein und bemühte sich, ruhig zu atmen. Ein. Aus. Ein. Aus. Doch zu seinem Entsetzen entfuhr seinem Mund ein Schnaufen, als sei er vom Flughafen bis hierher gerannt und nicht von Sorin in dessen klapprigem Geländewagen kutschiert worden. Auf seiner Stirn bildete sich ein feuchter Film. Und das neue Hemd, das er trug, konnte den Bauch, der in den letzten Monaten ein ganzes Stück gewachsen war – die Weihnachtstage hatten das ihrige dazu getan –, kein bisschen verbergen. Schlimmer noch, er wölbte sich gut sichtbar über den Gürtel. Das war selbst im spärlichen Licht der drei einzigen Straßenlaternen, die die stille Gasse beleuchteten, gut zu erkennen.
Am liebsten hätte er auf der Stelle kehrtgemacht.
»Lass uns weiterfahren!«, hörte er Sorin in seinem Rücken jammern. »Ich habe Hunger! Ich weiß, du hast sie lange nicht gesehen. Aber kannst du das nicht auf morgen verschieben?«
Paul zwang sich, so zu tun, als habe er Sorin nicht gehört. Wie sehr hatte er diesen Augenblick herbeigesehnt! Sechs Monate und dreizehn Tage, um genau zu sein. Denn so lange war es her, dass er von Maia Abschied genommen hatte, auf der Lügenbrücke in Hermannstadt, und ihm war, als habe es kaum einen Moment gegeben, an dem er seither nicht an sie gedacht hätte. Der neue Job hatte ihm einiges abverlangt, die Chefredakteurin auch. Doch Maia aus dem Kopf zu bekommen, und sei es auch nur für ein Stündchen, das war ihm nicht gelungen.
Er hätte es auch gar nicht gewollt.
Und nun war er da, der große Augenblick. Er brauchte nur an die niedrige Tür neben dem hölzernen Tor zu klopfen und einzutreten.
Wenn er bloß nicht so schwitzen würde! Er schwitzte sonst nie. Aber die Hand, mit der er sich gerade über die Stirn gefahren war, musste er umgehend an seiner Hose abwischen, so nass war sie. Zugleich bibberte er von Kopf bis Fuß, was kein Wunder war. Die Jacke hatte er vor lauter Aufregung im Auto gelassen. Dabei hatte ihn schon bei seiner Ankunft am Flughafen ein schneidender Wind begrüßt. Und je weiter sie Hermannstadt, oder Sibiu, wie die Rumänen die Stadt nannten, hinter sich gelassen hatten, je tiefer der ARO240 sich ins transsilvanische Hinterland gegraben hatte, desto kälter war es geworden. Das neue Jahr war erst wenige Tage alt, und offenbar bereitete sich ein sehr grimmiger Winter darauf vor, in den allernächsten Stunden über Siebenbürgen herzufallen.
Paul unternahm einen weiteren Versuch, den Bauch einzuziehen, und stellte sich gerader hin. Kopf hoch, Schultern zurück. Vermied es, an sich herabzublicken. Trocknete die nasse Hand noch einmal, so gut es eben ging, an der Jeans.
»Sie schläft wahrscheinlich längst«, meldete Sorin sich erneut zu Wort. »Lass uns morgen früh hingehen, wenn wir Glück haben, kocht sie uns Mămăligă. Das wird super. Jetzt aber …«
»Ach, sei doch still!«
Es kam brüsker heraus, als es gemeint war. Paul japste. Merkte, dass er den Bauch mittlerweile so sehr einzog, dass er fast keine Luft mehr bekam. Er wollte jetzt nicht an Mămăligă denken, oder Palukes, wie die Siebenbürger Sachsen den Maisbrei nannten. Dabei liebte er dieses warme, sämige Gericht. Vor allem so, wie Maia es zubereitete, mit einem Schuss frischer Milch obenauf. Und, bei aller Freundschaft, er wollte auch Sorins Genöle nicht länger ertragen.
Alles, was er wollte, war, diesen einen Moment auszukosten. Still die Luft einzusaugen, die ihm hier, in dieser Straße, vor diesem Haus, so süß und betörend schien wie nirgendwo sonst auf der Welt. Ihm war beinahe, als könne er den Schnee, der für die nächsten Tage angekündigt war, schon riechen. Der Geruch von Holzfeuern mischte sich mit dem des nahen Waldes.
Die Hunde hatten ihr abendliches Konzert bereits begonnen, das heisere Kläffen derer, die auf den Höfen an ihren Ketten zerrten, mischte sich mit dem der wild umherstreifenden Meute. Und trotz des schwindenden Lichts sah Paul die einzelnen Häuser ganz genau vor sich. Eins an das andere gebaut, die Giebel zur Straße, darunter die hohen Tore, groß genug, um während der Sommermonate das Vieh morgens und abends hindurchzulassen. An den meisten waren die Farben, in denen sie vormals gestrichen worden waren, längst verblasst, fast überall bröckelte der Putz. Und doch war noch zu erahnen, wie sie einst die schnurgerade Gasse geziert hatten, in Pastellgrün, Zitronengelb, Rosarot. Auch dieses hier, vor dem er stand, war früher bunt erstrahlt, in einem ganz sanften Violett, wie soeben erblühter Flieder. Jetzt war es vollkommen grau. Die Rose, die es geschmückt hatte, als er im Sommer zum ersten Mal seit vielen Jahren wieder hierhergekommen war, und die er sogleich aus den glücklichen Tagen seiner Kindheit wiedererkannt hatte, schlängelte sich noch bis unters Dach. Doch an diesem kalten Januartag war von ihr nichts geblieben als ein dicker, knorriger Trieb, dem man kaum noch zutraute, dass Leben in ihm steckte.
Wie sehr hatte er sich hierher zurückgesehnt! Nun musste er nur genügend Mut fassen, um sich endlich bemerkbar zu machen.
Wenige Details hatten sich verändert seit seinem letzten Besuch. In das einzige Fenster, das zur Straße zeigte – im Sommer war es mit Brettern vernagelt gewesen –, hatte jemand ein neues Glas eingesetzt. Und auch das Tor hing nicht mehr so schief in den Angeln. Mehr noch. Ein recht neuer, silbern glänzender Riegel verschloss es, als sei dahinter womöglich etwas Wertvolles verborgen. Auch die schmale Tür daneben, die bei seinem letzten Besuch nur einen zarten Windstoß benötigt hatte, um aufzuschwingen, schien fest verrammelt. Dabei führten Tür und Tor doch nur in Maias Hof, wo es, wie Paul wusste, allerhand Wunderliches gab, aber doch ganz sicher nichts von Wert.
Maia.
Paul schmeckte den Namen auf seinen Lippen, spürte, wie er sich aus ihm heraus flüsterte. So lange schon trug er ihn mit sich. Er wachte mit diesem Namen auf und schlief mit ihm ein, er dachte ihn Hunderte Male am Tag. Es war sogar beinahe schon vorgekommen, dass er die Chefredakteurin so angesprochen hätte. Sie duzten sich mittlerweile, wofür es Gründe gab, aber natürlich hieß sie nicht Maia, und zum Glück hatte sie es nicht bemerkt.
Maia. Paul spürte immer noch ihre Hand an seiner Wange an jenem Tag, an dem sie voneinander Abschied genommen hatten. Eine Geste, so flüchtig, dass man hätte meinen können, sie hätte keinerlei Erinnerung hinterlassen. Doch das Versprechen, das darin lag, raubte ihm seit Monaten den Schlaf.
Kommst du wieder?, hatte sie ihn gefragt.
Und er hatte es bejaht.
»Ich fahr dann mal vor.« Paul hörte, wie Sorin seinen ARO 240 anließ. Der Geländewagen aus Ceauşescu-Zeiten klang, als würde ein altersschwacher Generator gestartet. »Kannst ja hinterherkommen«, brüllte Sorin über den Lärm hinweg. »Carry wartet bestimmt schon mit dem Essen. Du weißt ja, wie sie ist!«
Der ARO machte jetzt einen solchen Krach, dass ein Dutzend Vögel, das sich auf der über die Straße gespannten Stromleitung zum Schlafen niedergelassen hatte, krächzend davonflog.
»Nun komm!« Aus den Augenwinkeln sah Paul, wie Sorin sich weit aus dem Autofenster lehnte. »Es reicht, wenn du sie morgen siehst! Das ist früh genug für«, er unterbrach sich, fluchte, der AROwar stotternd ausgegangen, startete den Wagen neu. »Das ist früh genug für alles!«
Paul schnaufte ein letztes Mal. Sollte Sorin ruhig schon mal vorfahren. Keine Minute länger wollte er mehr warten und schon gar nicht bis morgen früh. Er musste sich nur endlich durchringen, an die niedrige Tür zu klopfen. Das konnte doch nicht so schwer sein!
Und ehe er sichs versah, hatte er fest dagegengepocht. So laut, dass die Hunde auf einen Schlag verstummten. Der ARO ging, als habe auch er sich erschrocken, gleich wieder aus, kurz röchelte er noch, dann wurde es vollkommen still.
Paul kam es so vor, als schlage sein Herz ihm nun zum Halse hinaus. Verdammt, er war beinahe fünfzig Jahre alt. Ein gestandener Mann, einer, der schon bei einer ganzen Reihe von Frauen an die Tür geklopft hatte. Kein Grund, wie ein Siebtklässler von einem Bein aufs andere zu treten! Wobei, den Bauch würde er jetzt doch gern noch ein bisschen mehr einziehen. Vielleicht, wenn er das eine Bein vor das andere schob und sich ein wenig zur Seite lehnte … Da hörte er es. Schritte. Auf der anderen Seite der niedrigen Tür näherte sich jemand.
Paul wusste mit einem Mal nicht mehr, wohin mit seinen Händen. Wo waren die Pralinen, die er extra aus Köln mitgebracht hatte? Lagen die etwa noch im Auto? Er konnte Maia doch unmöglich ohne Gastgeschenk gegenübertreten. Wenn er ganz schnell die wenigen Meter zurücklief …
Ein Zittern, als hätte jemand auf der anderen Seite mit dem Fuß gegen die Tür getreten. Das Klimpern eines Schlüssels. Die Tür schwang auf.
Doch es war nicht Maia, die ihm öffnete. Es war ein junger Mann. Halb bekleidet und sehr mürrisch dreinblickend.
»Da?«, fragte er, was so viel bedeutete wie »ja?«, und beugte sich ein wenig vor, als wolle er schauen, ob hinter Paul noch weitere Besucher standen.
»Ich bin Paul«, beeilte Paul sich zu sagen, wechselte kurz ins Rumänische, »eu sunt Paul«, um vor lauter Verwirrung gleich wieder auf Deutsch weiterzusprechen. »Ich bin ein Freund von Maia. Und ich, ähm, ich komme zu Besuch.«
Der Fremde schien kein Wort zu verstehen. Nicht besonders groß war er, einen ganzen Kopf kleiner als Paul, aber sehr muskulös. Breite Schultern, schweißglänzende Arme. Ein so imposanter Brustkorb, dass das eng anliegende Unterhemd, das er trug, sich bei jeder Atembewegung so sehr spannte, als wolle es gleich reißen. Ein glatt rasiertes, sehr markantes Kinn. Eine vollkommen gerade Nase. Die Augen, beinahe schwarz, waren von einem dichten Wimpernkranz umgeben, das dunkle Haar so kurz geschnitten, dass kaum mehr als ein feiner Flaum übrig geblieben war. Ein Flaum, der das Ebenmaß seiner Gesichtszüge nur noch deutlicher hervortreten ließ.
»Da?«, fragte er noch einmal und zog an seinem Hosenbund. Eine sehr weite Hose trug er, blau-weiß gestreift.
Paul war, als lege sich eine Schlinge um seinen Hals. Dieser Typ, schoss es ihm durch den Kopf, der da in Maias Hoftür lehnt, sieht aus wie eine griechische Statue. Und er trägt, oh nein, das darf nicht wahr sein, eine Pyjamahose.
Paul japste nicht mehr, er röchelte.
»Ich«, flüsterte er, immer noch auf Deutsch, »ich hatte mich angekündigt.«
Der Mann lehnte sich noch ein wenig weiter vor, er schien tatsächlich zu prüfen, ob Paul allein war. Als er den ARO 240 erblickte, verzog er die Lippen zu einem Flunsch.
»Dispăreţi!«, rief er, was Paul sofort verstand, es hieß, sie sollten verschwinden. Im nächsten Augenblick schlug der Kerl ihm die Tür vor der Nase zu.
Paul war, als könne er plötzlich nicht mehr richtig sehen. Alles verschwamm. Gottverflucht, was hatte das zu bedeuten?
»Nun komm schon.«
Paul wischte sich über die Augen. Sorin war ausgestiegen und um seinen ARO herumgelaufen, nun hielt er die Beifahrertür für ihn auf.
Den Kopf tief zwischen den Schultern vergraben, schlich Paul die wenigen Meter über die Straße, kletterte ins Auto.
»Das hättest du mir sagen müssen.«
»Mmh«, murmelte Sorin, schloss ganz sanft, als wolle er Paul nicht noch mehr erschrecken, die Beifahrertür, lief noch einmal um den ARO herum, sprang auf den Fahrersitz und startete abermals den Wagen.
»Lass uns endlich was essen und später drüber reden«, brummte er über den Motorenlärm hinweg. »Aber ich kann dir sagen, hier im Dorf sind Sachen passiert …«
Was?, wollte Paul fragen. Was ist hier passiert? Und wer ist dieser Typ in Maias Hoftür? Aber Sorin, das war offensichtlich, wollte einfach nur weg.
Sie fuhren genau zwanzig Meter weit. Carry lebte nur ein Stückchen die Gasse hinauf, direkt gegenüber der Kirchenburg. Das uralte Gemäuer, umgeben von einer gut sechs Meter hohen Ringmauer, strahlte golden in der hereinbrechenden Nacht. Offensichtlich hatte jemand Scheinwerfer aufgestellt, um es im Dunkeln zu beleuchten.
Paul schaute lieber nicht so genau hin. An die Kirchenburg und das, was sich im vergangenen Sommer darin abgespielt hatte, hatte er keine allzu guten Erinnerungen. Und sowieso wurde ihm gerade schrecklich übel.
Wem war er da gerade bei Maia begegnet?, fragte er sich. Doch Sorin, der die Antwort ganz bestimmt wusste, war schon ausgestiegen. Mit einem einzigen großen Schritt nahm er die drei ausgetretenen Stufen, die in Carrys kleinen Dorfladen führten, irgendeinem komischen Kasten neben der Tür schenkte er ein vergnügtes Winken.
In Carrys Laden hatte sich seit Pauls letztem Besuch nichts verändert. Kaum hatte er sich hinter Sorin hineingeschleppt – ihm war, als wären seine Beine zentnerschwer –, hörte er die von der Decke herabhängende Glocke, die schon in seiner Kindheit jeden Kunden begrüßt hatte. Damals hatte Carrys Mutter das Geschäft geführt.
»Da seid ihr ja! Willkommen, Paul!«
Mit einem Juchzer schoss Carry aus dem Hinterzimmer hervor, das blonde Haar hatte sie wie stets zu einem kunstvollen Knoten aufgesteckt, die blauen Augen funkelten.
»Welch eine Freude!«
Schnell küsste sie ihn links und rechts auf die Wangen, sie roch, das merkte Paul trotz seiner Verwirrung, verlockend nach Gebackenem und Gebratenem, und hielt ihn dann auf Armlänge auf Abstand.
»Ist dir nicht gut? Du siehst ein wenig mitgenommen aus!«
»Ihm geht’s prima«, tönte Sorin, schob Paul zur Seite und überreichte zu Pauls Verblüffung Carry die Pralinen, die doch eigentlich für Maia bestimmt gewesen waren. Wann hatte er die denn an sich genommen?
Kurz ärgerte Paul sich über den alten Freund. Dieser Schlawiner! Doch schon im nächsten Augenblick, als er sah, wie Carry strahlte, ärgerte er sich nur noch über sich selbst. Wo hatte er seinen Kopf gelassen, dass er kein Gastgeschenk für Carry dabeihatte?
Bei Maia, gab er sich selbst zur Antwort. Seine Gedanken waren immer nur bei Maia gewesen. In deren Hoftür ein fremder Kerl stand.
»Oh, ich sehe schon, du bist müde von der langen Reise. Gleich wirst du munterer!« Carry nahm seinen Arm und zog ihn mit sich. Der Gang zwischen den Warengestellen war so eng, dass ein Stapel Tüten mit Sonnenblumenkernen hinter Paul gefährlich ins Rutschen geriet. Sowieso gab es im ganzen Laden, etwa halb so groß wie eine Garage, kaum einen Quadratzentimeter, der nicht ausgenutzt wäre. Die Regale waren vollgestellt mit Kisten, Körben und Kanistern: Öl, Mehl und Konserven aller Art, Sprudelwasser, Spiritus und Rasierschaum. Gläser mit Fischrogen wechselten sich ab mit Dosen voller Presswurst, Schokoladentafeln stapelten sich neben Säcken voller Hirse. Die Akkuratesse, mit der alles arrangiert war, verriet Carrys fleißige Hand, doch Paul nahm all das nur durch einen Schleier wahr. Wer, Himmelherrgott noch mal, war ihm da gerade bei Maia begegnet?
Vorbei am Verkaufstresen mit der altertümlichen, sehr wuchtigen Registrierkasse ging es in das Hinterzimmer, von dem Paul wusste, dass Carry hier kochte und buk, genauer in Augenschein hatte er es noch nie genommen. Jetzt drangen ihm Lachen und Stimmengewirr entgegen, der Raum war voller Menschen. Offensichtlich diente das Zimmer Carry auch zum Wohnen und Schlafen, es gab einen bullernden Ofen, einen steinernen Waschtisch und eine hübsch bemalte Mitgifttruhe, einen etwas verschossenen Bodenteppich und bestickte Wandbehänge, vor allem aber war es auch hier sehr eng.
Der mit dicken Decken und zahlreichen Kissen ausstaffierte Diwan an der hinteren Wand diente an diesem Abend als Sitzgelegenheit, denn sonst hätten all die Besucher, die sich um den reich gedeckten Tisch versammelt hatten, kaum Platz gefunden. Paul begrüßte den alten Ion, Maias Nachbar, neben ihm saß seine winzig kleine Ehefrau, sie guckte so griesgrämig wie immer. Eugen war da, der Vulkaniseur, er brachte gerade Alma zum Lachen, eine ältere Dame, die Paul ebenfalls bei seinem letzten Besuch kennengelernt hatte. Und war der Glatzkopf dort drüben etwa Oliver, der Tierschützer vom Bärenpark? Ja, er war es, das riesengroße Tatzen-Emblem auf seinem T-Shirt verriet ihn. Nun stand er auf und drückte Paul an seine Brust, als seien sie alte Freunde. Es gab ein großes Hallo, Paul schüttelte Hände, von vielen wusste er nicht, zu wem sie gehörten, man klopfte ihm auf die Schulter, und noch bevor Carry ihm einen der Plastikstühle zurechtgerückt hatte, die sommers vor dem Laden auf der Straße standen – offensichtlich hatte sie alles herbeigeschafft, was sie an Mobiliar besaß –, hielt er auch schon den ersten Ţuică in der Hand. Nachbar Ion schenkte den Pflaumenschnaps aus einer anderthalb Liter fassenden Plastikflasche aus.
»Selbst gebrannt, mein Junge, der wird dir schmecken!«
Paul roch vorsichtig daran. Bei seinem letzten Besuch hatte er sich gleich am zweiten Abend so heftig mit Sorin betrunken, dass ihm an die darauffolgende Nacht nur noch schemenhafte Erinnerungen geblieben waren. Was wiederum zu einer ganzen Vielzahl von Verwicklungen geführt hatte. Wäre Maia nicht gewesen, die Sache hätte übel enden können.
Maia. Die nicht einmal auf seinen Brief geantwortet hatte, in dem er seinen Besuch ankündigte. Natürlich hatte ihn das stutzig gemacht, doch er hatte das ungute Gefühl beiseitegewischt. Denn da war dieses stumme Versprechen, das sie ihm gegeben hatte. Und war sie nicht immer so still und zurückhaltend gewesen? Eine Frau voller Geheimnisse, so hatte er sie erlebt. Eine Frau, die nicht viel sprach, die für sich blieb. Die sogar ihre Schönheit versteckte. Ihr fein gezeichnetes Gesicht, ihr rotes Haar, ihre alabasterfarbene Haut …
»Noroc«, hörte er wie von fern den alten Ion rufen, dabei saß er direkt an seiner rechten Seite. »Wir trinken darauf, dass unser Freund Paul wieder in der alten Heimat ist!«
»Noroc«, ertönte es rund um den Tisch. »Zum Wohl!«
Paul hob sein Glas, nippte vorsichtig daran, sah vor seinem inneren Auge wieder den Kerl in der Schlafanzughose in Maias Tor stehen und nahm gleich einen zweiten Schluck, einen größeren diesmal. Heiß rann der Schnaps seine Kehle hinab.
Mmh, das tat gut. Mit einem Mal war das Glas nur noch halb voll. Und noch bevor er es abstellen konnte, hatte Ion es wieder aufgefüllt, ebenso wie das Glas von Sorin, der links von ihm Platz genommen hatte.
»Wie ist es dir ergangen?«, wollte Ion wissen. »Sorin sagt, du bist befördert worden bei der Zeitung. Nicht einmal über Weihnachten hast du freibekommen.«
»Ja, das stimmt. Als Chef gibst du den Mitarbeitern frei, damit sie die Feiertage mit ihren Familien verbringen können.« Paul sprach gern über das, was er tat, er liebte seine Arbeit als Journalist. Und so erzählte er von langen Tagen und kurzen Nächten, von der Verantwortung, die man ihm als Chef vom Dienst übertragen hatte. Die Kopfschmerzen, die ihn neuerdings plagten, und das Grummeln im Bauch ließ er lieber aus. Ion hörte zu und schenkte reichlich nach.
Mit dem Ţuică kam der Hunger. Was hatte Carry nicht alles aufgetischt! Direkt vor Paul stand eine Schüssel Zacuscă, jenes köstliche Mus aus Auberginen, Paprika und Tomaten, von dem er schon als kleiner Junge nie genug bekommen konnte.
Das Brot, das Carry dazu reichte, dampfte noch, offensichtlich hatte sie es gerade erst aus dem Ofen gezogen. Es gab mild geräucherten Käse, Oliven, sauer eingelegtes Gemüse und eine Wurstplatte, bei deren Anblick Paul das Wasser im Munde zusammenlief. Vollends aber quollen ihm die Augen über, als er realisierte, dass dies erst die Vorspeisen waren und Carry begann, die Hauptgerichte aufzutragen. Nach einer klaren Brühe, für die sie, wie Ion Paul augenzwinkernd zu verstehen gab, am Vortag extra ein Huhn geschlachtet hatte, zauberte sie eine tiefe Schüssel voller Sülze hervor. Die hatte Paul zuletzt in seiner Kindheit gegessen, als er alle Sommerferien bei seiner Tante Zinzi hier im Dorf verbrachte. Er wusste genau, was in eine Sülze gehörte, neben reichlich Knoblauch, Salz und Pfeffer waren das jede Menge Schwarten vom Schwein, dazu die Füße und der Kopf. Ein echtes Festessen. Einen Moment lang rang er mit sich, dann aber nahm er eine ordentliche Gabel voll von dem, was Carry ihm bereits auf den Teller geladen hatte. Mmh, köstlich! Paul entfuhr ein Seufzen. So eine gute Sülze hatte er seit Jahrzehnten nicht mehr gegessen.
Womöglich, dachte Paul und ließ sich von Carry noch einmal reichlich nachgeben, gibt es für den Kerl in Maias Hoftür eine ganz einfache Erklärung. Vielleicht ist es ihr Cousin oder so. Und je mehr sein Bauch sich füllte, er erwischte sich dabei, wie er voller Wohlgefallen darüberstrich und den Gürtel ein wenig lockerte, desto zuversichtlicher wurde er. Sorin würde mehr wissen. Bloß dass der gerade auch den Mund voller Sülze hatte, und sowieso würde er ihn lieber ausfragen, wenn sie allein waren. Alma, die Sommersächsin, wie sie genannt wurde, weil sie meist die Sommermonate im Haus ihrer Vorfahren in Siebenbürgen verbrachte, während sie den Rest des Jahres in Deutschland lebte, hatte gerade den alten Ion verscheucht und sich neben Paul gesetzt.
»Wie geht es Ihnen?«, fragte sie und legte prüfend eine Hand auf seine. »Als Sie vorhin hereinkamen, sahen Sie beinahe so aus, als wäre Ihnen bereits ein Strigoi begegnet.«
»Nein, nein«, beeilte Paul sich zu sagen. »An diesen Quatsch mit den Untoten glaube ich nicht. Ich bin nur ein wenig erschöpft von der Anreise.«
»Soso.« Ihr Gesicht legte sich in lauter feine Runzeln. »Ein Mann wie Sie erschöpft von der Reise. Da glaube ich doch eher noch an Strigoi.«
Einen Moment lang wusste Paul nicht, was er darauf antworten sollte, dann aber begann Alma zu lachen, und er fiel darin ein. Eugen, der Vulkaniseur, rief von der anderen Seite des Tisches etwas, das Paul nicht verstand, was aber dazu führte, dass Alma die Augen auf eine Art niederschlug, als sei sie noch ein junges Mädchen und nicht weit über siebzig, genau wie Eugen.
Und dann gab es Nachtisch.
Carry zauberte ein süß duftendes Blech aus dem Bauch des Ofens hervor, darauf ein flacher viereckiger Kuchen, bedeckt mit einem golden glänzenden Guss.
»Hanklich!«, entfuhr es Paul. »Du hast Hanklich gebacken!«
»Selbstverständlich.« Carry schnitt ein Stück für ihn ab, so groß, dass Paul protestieren wollte, aber als der Teller vor ihm stand, war der Kuchen blitzschnell in seinem Mund verschwunden. Mmh. Wundervoll.
Er spürte, wie ihm mit jedem Bissen, der ihm auf der Zunge zerging, ein bisschen wohliger zumute wurde. Wie tröstlich doch so ein gutes Essen war! Und wie schön, wieder in Siebenbürgen zu sein!
Der alte Ion lachte gerade so sehr, dass die goldenen Zähne in seinem Mund nur so funkelten, offensichtlich verstand er sich prächtig mit Oliver vom Bärenpark. Gleichzeitig wurde Ion nicht müde, eine Runde Ţuică nach der nächsten auszuschenken, neben seinem Stuhl entdeckte Paul einen ganzen Vorrat gut gefüllter Plastikflaschen vom Selbstgebrannten. Selbst Ions Ehefrau hatte mittlerweile lustige rote Bäckchen bekommen, auch wenn sie nach wie vor griesgrämig guckte. Alma kicherte mit Eugen, und Sorin ließ sich gerade das zweite Stück Hanklich geben. Dabei verfolgte er jede von Carrys Bewegungen mit einem so sehnsuchtsvollen Blick, dass Paul sich unwillkürlich an ihr letztes Gespräch vor seiner Abreise erinnerte.
Hatte Sorin da nicht angedeutet, dass er Carry schon lange Zeit mehr oder weniger vergeblich begehrte? Und hatten die beiden nicht immerhin einmal …? Verdammt, wieso kam ihm ausgerechnet jetzt wieder der Kerl in der Pyjamahose in den Sinn? Paul merkte, wie ihm der Schweiß ausbrach. Er würde Sorin gleich hier und jetzt fragen, was es mit dem Typen auf sich hatte, länger hielt er diese Ungewissheit nicht mehr aus.
Doch in genau dem Moment, in dem Paul sich zu seinem alten Freund hinüberlehnte, darauf bedacht, dass auch niemand mitbekam, was er von ihm wissen wollte, wurde Sorin kreidebleich. Rund um seinen Mund, der gerade noch genüsslich Hanklich gekaut hatte, bekam er einen harten Zug, seine Augen verzogen sich zu schmalen Schlitzen.
Es war noch ein Besucher gekommen. Und während Paul Sorins Blick folgte, war auch ihm, als schmecke der Hanklich plötzlich nicht mehr ganz so gut.
Der neue Besucher schien ein Ebenbild des Mannes in Maias Hoftür zu sein. Ebenfalls nicht besonders groß, aber genauso muskulös. Die Haare weniger dunkel, jedoch der gleiche kurze Schnitt, das Kinn, nicht ganz so kantig, ganz glatt rasiert. Immerhin trug er mehr als nur ein Schlafanzugunterteil, aber das leicht schimmernde Hemd und die wie auf Maß geschneiderte Hose betonten seinen Körper auf eine Weise, die beinahe ein bisschen anstößig war.
Hatte Sorin das gemeint, als er gesagt hatte, im Dorf seien seltsame Sachen passiert? Dass hier plötzlich muskelbepackte Schönlinge herumliefen, neben denen normale Männer wie Paul und er aussahen wie ausgefranste Waschlappen?
»Wer«, zischte Paul Sorin ins Ohr, »ist das denn?«
Doch da hatte Carry den Kerl schon hinter sich her zu ihnen herübergezerrt.
»Darf ich vorstellen?«, rief sie, die Wangen gerötet, die Stimme ein bisschen schriller als sonst. »Dies ist Toma, mein Verlobter. Toma, das ist Paul, ich habe dir von ihm erzählt.«
Paul schüttelte eine nicht allzu große, aber doch fest zupackende Hand und merkte, wie Sorin neben ihm in sich zusammensackte. Und während Toma von den anderen Gästen mit großem Hallo und viel Schulterklopfen begrüßt wurde, kam Paul endlich dazu, Sorin die Frage zu stellen, die ihm so unter den Nägeln brannte.
»Wo kommen diese Typen her, dieser Toma und der, den wir bei Maia angetroffen haben?«
»Aus Sibiu«, murmelte Sorin in sein Glas hinein, es war bis auf eine letzte Pfütze Pflaumenschnaps schon wieder leer. »Sind wohl sowas wie Kumpel. Sie haben das alte Pfarrhaus gekauft und wollen Ferienwohnungen draus machen, mit Restaurant und so.«
Paul schluckte. An das alte Pfarrhaus hatte er nicht allzu gute Erinnerungen. Und der Gedanke, dass womöglich bald Touristen das kleine Dorf bevölkerten, behagte ihm auch nicht. Am allerwenigsten aber gefiel ihm, wie Sorin guckte – als habe man ihn gerade fest gehauen.
»Verlobter?«, fragte er deshalb leise. »Carry und dieser Toma sind tatsächlich verlobt?«
Sorin nickte, und Paul sah, wie er sich auf die Zunge biss, als wolle er eigentlich noch mehr sagen.
»Und Maia?«, fragte Paul deshalb schnell. »Ist sie etwa auch verlobt?«
»Nein, nein, nicht verlobt«, gab Sorin zur Antwort. Er schien noch an seinen nächsten Worten zu kauen, als wieder Carrys ungewöhnlich schrille Stimme ertönte.
»Meine lieben Gäste«, rief sie und schlug mit einem Messer gegen eine Kaffeetasse, »einen Moment Ruhe, bitte!«
Paul sah auf. Carry stand am Kopfende des Tisches, sie strahlte. Mit ihren blauen Augen und der Hochsteckfrisur sah sie in diesem Moment, fand Paul, haargenau so aus wie ihre Mutter. Viktoria Laurenzi galt, als Paul noch ein Junge war, als die schönste Siebenbürger Sächsin weit und breit, Sorin hatte sie damals die siebenbürgische Brigitte Bardot genannt.
Wie gut Paul den alten Freund verstehen konnte, dass er für Carry entflammt war! Er selbst hatte damals als Junge kaum ein Wort herausgebracht, wenn Tante Zinzi ihn zum Laden schickte, Öl oder Sodapulver kaufen. Und Carry war eine solche Schönheit, dass wohl jeder Mann ihr einfach hinterherschauen musste. Ausgenommen, man dachte unentwegt an Maia, so wie er. Und ausgenommen der Kerl, der neben ihr stand, dieser Toma. Der guckte vor sich auf den Boden, als wäre er lieber ganz woanders.
Carry schien es nicht zu bemerken.
»Ich habe«, setzte sie an, hickste und begann von vorn, »also, wir haben eine Ankündigung zu machen.«
Paul hörte, wie Sorin scharf die Luft einzog. Eine hagere Hand mit einer Plastikflasche schoss an Paul vorbei, es war die des alten Ion. Mit geübtem Schwung füllte er Sorins Glas bis knapp unter den Rand.
»Ihr habt es euch sicherlich schon gedacht«, japste Carry, genau wie Sorin schien sie plötzlich schlecht Luft zu bekommen. »Vor allem, nachdem ja zunächst eine Doppelhochzeit im Gespräch war. Aber nachdem Petre und Maia«, sie machte eine kurze Pause, und Paul kam es so vor, als hätte sie diesen Namen mit einer gewissen Missbilligung ausgesprochen, »nicht warten konnten, haben wir nun unseren eigenen Termin gefunden. Am 24. Januar, am Tag der Vereinigung, treten wir vor den Traualtar. Ihr seid alle herzlich eingeladen!«
Carry hob die Kaffeetasse, an die sie eben geklopft hatte, merkte es, griff kichernd nach einem Glas voller Ţuică, prostete ihrem Verlobten zu, der immer noch geradeaus guckte, und nahm einen ordentlichen Schluck. Da gab es kein Halten mehr, die Gäste sprangen auf und küssten und herzten Carry, sodass sie schon bald hinter der Schar der Gratulanten verschwunden war. Einzig Alma blieb auf ihrem Stuhl sitzen.
Paul merkte, wie seine Brust dort, wo er sein Herz vermutete, ganz hart wurde. Als schleppe er einen Stein mit sich herum.
Neben ihm leerte Sorin sein Glas in einem einzigen Zug.
»Ist das wahr?«, flüsterte Paul, und noch während sein Mund die Worte formte, fragte er sich, ob er diese Frage überhaupt stellen wollte. Ob er nicht einfach aufstehen, hinausgehen und abreisen wollte, diesen Ort, den er doch eigentlich so liebte, verlassen, bevor ihm bestätigt würde, was er niemals hören wollte. Was er sich nicht hätte ausmalen können in seinen schlimmsten Albträumen.
Aber da waren die Worte schon aus ihm heraus.
»Ist es wahr?«, flüsterte er noch einmal. »Maia ist mit diesem Petre verheiratet?«
Sorin sagte nichts, doch der Blick, mit dem der alte Freund ihn bedachte, war Paul Antwort genug.
Pušomori stand auf den Zehen, blinzelte zum Fenster hinein und spitzte die Ohren. Außer ihr war niemand mehr auf der Gasse unterwegs, und wenn man sich ganz dicht an die Hauswand schmiegte, wurde man auch nicht entdeckt.
Soso, Carry würde also auch heiraten. Solcherlei Liebesdinge interessierten Pušomori kein bisschen.
»Du bist so dünn und hässlich«, hatte ihre Mutter ihr von klein auf gepredigt. »Dich will eh keiner.« Pušomori war es nur recht gewesen. Sie hatte anderes vor mit ihrem Leben. Und seit genau drei Tagen, seit ihre Brüder aus dem Wald zurückgekehrt waren und von etwas erzählt hatten, nebenbei, während sie ihre Beute sortierten, dessen Bedeutung sie kein bisschen verstanden hatten, glaubte Pušomori, dass es möglich wäre. Dass ihr Traum Wahrheit werden könnte. Wenn sie nur achtgab, dass niemand mitbekam, was sie trieb.
Aber darin war sie schließlich eine Meisterin.
Sie warf einen letzten Blick auf den Heruntergekommenen. Er trank schon wieder zu viel, und er sah ziemlich mitgenommen aus.
Sie würde ihn im Blick behalten, allein, damit er ihr nicht in die Quere kam.
Paul hatte den alten Ion schon bei ihrer ersten Begegnung gemocht. Damals hatten sie eine ganze Nacht lang gemeinsam Totenwache gehalten, während der Leichnam eines Nachbarn auf einer aus den Angeln gehobenen Wohnzimmertür aufgebahrt gewesen war. Schon in diesen langen Stunden hatte Ions selbstgebrannter Ţuică wahre Wunder vollbracht. Er hatte die Zungen der Männer, die mit ihnen wachten, gelöst, er hatte Paul, der sich nach seiner langen Abwesenheit fremd im Dorf gefühlt hatte, von innen gewärmt, und zum Schluss hatte er sie alle einschlafen lassen, die Köpfe selig gebettet auf den Schößen der neben ihnen Sitzenden.
Am heutigen Abend jedoch kam es ihm so vor, als wären Sorin und er verloren, gäbe es nicht Ion, der ihre Gläser unermüdlich auffüllte. Sie stürzten den Ţuică hinunter wie zwei Verdurstende. Und während es draußen vor dem Fenster tiefe Nacht wurde, während um sie herum Pläne geschmiedet wurden, wie die Hochzeit am besten zu begehen sei, wer für die Musik verantwortlich sein sollte und wer für das Essen, denn selbstverständlich durfte das in diesem Fall nicht Carry sein, die sonst immer für alle kochte und buk, war Paul, als tobten in seinem Innern Gefühle, die er sich sonst, in seinem normalen Alltag, niemals erlaubte.
Da war der Schock über die Nachricht. Die Trauer, etwas verloren zu haben, was er nie besessen hatte. Die verstörende Frage, ob er sich getäuscht hatte, als er glaubte, zwischen ihm und Maia habe sich etwas entsponnen. Und die Selbstvorwürfe, ein ganzes halbes Jahr fort gewesen zu sein und sie alleingelassen zu haben. Warum, hämmerte es in seinem Kopf, war er nicht früher nach Siebenbürgen zurückgekehrt? War es wirklich die Arbeit, die ihn in Köln festgehalten hatte, die Chefredakteurin gar? Er wusste es nicht.
Was für ein Glück, dass der Pflaumenschnaps all diese unerfreulichen Gedanken und Gefühle weich und warm umhüllte.
»Noroc«, hörte er den alten Ion neben sich rufen. »Lasst uns anstoßen auf die Frauen und auf die Liebe!«
Und so trank Paul. Die Gespräche am Tisch wurden zu einzelnen Wortfetzen, die sein Ohr nur noch ab und an erreichten. Offenbar ging es nun um einen Waldarbeiter, der kürzlich bei einem Unfall zu Tode gekommen war. Paul hörte nicht hin. Er trank. Und mit jeder Stunde, die verging, sackte er mehr in sich zusammen. Sorin lag schon beinahe mit dem Kopf auf der Tischplatte.
Wie zwei bucklige alte Männlein, dachte Paul, hocken wir nebeneinander auf unseren Plastikstühlen. Zwei Loser, denen zwei Schönlinge die Frauen weggeschnappt haben. Und plötzlich reichten die Wärme und die Weichheit des Ţuică nicht mehr, um den Frust in seinem Innern zu übertünchen.
Am besten, dachte er, ich reise so bald wie möglich wieder ab.
Da richtete Sorin sich auf.
Aus schmal zusammengekniffenen Augen fixierte er jemanden, der nicht wie alle anderen am Tisch saß, sondern ein wenig abseits stand.
»Dieser Schnösel«, stieß Sorin hervor. »Der hat eine Frau wie Carry doch gar nicht verdient! Schau ihn dir an! Er würdigt sie keines Blickes!«
Paul, dem es schwerfiel, geradeaus zu gucken, kniff nun ebenfalls die Augen zusammen. Sein Blick verirrte sich nach rechts, wo der alte Ion sich genüsslich ein Pfeifchen stopfte, seine für gewöhnlich sehr missmutig dreinschauende Ehefrau hatte ebenfalls eins zwischen den Lippen und schaute nicht mehr ganz so missmutig. Links von den beiden saß Carry, mit Alma und Eugen plappernd, aus ihrer Frisur hatte sich eine Strähne gelöst. Oliver, der Tierschützer, redete auf einen Mann ein, den Paul nicht kannte. Und hinter den beiden, in der offenen Tür zum Laden, lehnte, als sei er schon beinahe auf dem Heimweg, Toma. Er hatte sich halb von der Gesellschaft abgewandt, zog hektisch an einer Zigarette und tippte unablässig auf seinem Mobiltelefon herum.
»Das ist doch kein Benehmen!«, knurrte Sorin. »Warum sitzt er nicht bei seiner Braut?«
Paul konnte ihm nur beipflichten. Wäre an diesem Abend sein Hochzeitstermin verkündet worden, er würde seiner Liebsten nicht von der Seite weichen. Bloß dass die, die er sich als Liebste erträumt hatte, schon jemanden an ihrer Seite hatte.
»Und dieser Petre«, fragte er Sorin leise. »Ist der wenigstens gut zu Maia?«
»Glaub nicht. Man sieht sie kaum noch. Und wenn, dann huscht sie über die Straße, als wäre jemand hinter ihr her.«
»Ist nicht dein Ernst!«
»Doch, glaub mir.«
Paul merkte, wie ihn schon wieder ein Gefühl überkam, das er gar nicht von sich kannte. Eine Welle heißen Zorns, die sich scharf und beißend anfühlte.
»Verdammt!«, entfuhr es ihm. »Wie können Maia und Carry auf solche Typen stehen?«
Sorin sagte nichts dazu, doch er rieb Daumen und Zeigefinger aneinander und guckte vielsagend.
»Nie im Leben«, knurrte Paul. »Sie wohnt mietfrei auf dem Hof, sie muss niemanden heiraten wegen des Geldes …«
Doch dann verstummte er. Denn tatsächlich wusste er fast nichts über die Frau, an die er seit Monaten unentwegt dachte.
Sie waren unter den Ersten, die aufbrachen. Carry küsste sie zum Abschied auf beide Wangen, und als Paul Sorins sehnsuchtsvollen Gesichtsausdruck sah, tat der alte Freund ihm von Herzen leid. Erst recht, als sie sich an Toma vorbei nach draußen drückten. Der Kerl würdigte sie weiterhin keines Blickes und tippte immer noch auf seinem Mobiltelefon herum, neben ihm auf der Ladentheke stand ein Teller mit einem halb aufgegessenen Stück Hanklich, auf dem Rand eine ausgedrückte Zigarettenkippe.
»Was für ein Barbar«, schimpfte Paul, als sie die ausgetretenen Stufen, die vom Laden auf die Straße führten, heruntertorkelten. »Diesem Toma sollte dringend mal einer Bescheid stoßen. Aber zuerst knöpfe ich mir das Jüngelchen vor, das bei Maia eingezogen ist, diesen Petre. Keine Nacht mehr soll der mit Maia unter einem Dach verbringen, dass du es nur weißt! Und wenn ich ihm dafür eigenhändig den Hals umdrehen muss!«
Sorin sagte nichts dazu, womöglich hatte er ihn gar nicht gehört. Denn er war vollauf damit beschäftigt, sich gegen den starken Wind zu stemmen, der aufgekommen war und der ihnen mit eisigen Klauen unter die Jacken fuhr. So schwankten sie, reichlich betrunken und sehr missmutig, die stille Straße entlang. Den ARO ließen sie stehen.
Paul schlief schlecht in dieser Nacht. Wie hatte er sich darauf gefreut, wieder im Altenteil von Maias Hof zu wohnen, wo er im vergangenen Sommer in dem uralten, wuchtigen Holzbett mit dem imposanten Kopfteil hatte schlafen dürfen, wo er jeden Morgen vom Gesang der Feldlerchen geweckt worden war, die in den brachliegenden Äckern vor dem Fenster ihr Konzert anstimmten. Und wo, das vor allem, Maia nicht weit war, nämlich nur ein paar Schritte über den Innenhof im Haupthaus.
Nun aber hatte Sorin ihn mit nach Hause genommen. Und weil der nach seiner letzten Scheidung wieder bei seiner Mutter eingezogen war, schliefen sie in Sorins altem Jugendzimmer.
In den Jahren, als sie noch Jungs gewesen waren, und in denen Paul stets die Schulferien bei seiner Tante Zinzi auf dem Dorf verbracht hatte, hatte er dieses Zimmer kaum je betreten. Sie waren von früh bis spät durchs Dorf geflitzt, über die Felder und durch den Wald, barfuß und braun gebrannt vom Scheitel bis zu den Zehen. Dass sie tagsüber drinnen hockten, war so gut wie nie vorgekommen. Und so war Paul dieses Zimmer auf vielerlei Weise fremd.
Auch Sorin schien nicht wirklich hierher zu passen. Er schlief in einem schmalen Bett unter einem bestickten Wandbehang, für Paul hatte er eine Liegestuhlauflage auf dem Boden ausgebreitet, dazu eine dünne Decke und ein aufwendig verziertes Kissen, das furchtbar kratzte. Vor allem aber war Paul so betrunken, dass es ihm, sobald er die Augen schloss, so vorkam, als säße er auf einem sich rasend schnell drehenden Karussell.
So lag er lange wach, lauschte dem Bellen der Hunde und Sorins Atemzügen und versuchte, das Bild von dem Kerl in der Pyjamahose aus dem Kopf zu bekommen. Es gelang ihm nicht.
Viel später, als er endlich schlief, fühlte er eine Hand auf seiner Stirn, zärtlich und warm. Sie gehörte zu einer Frau, die tief über ihn gebeugt stand. Er sah zu ihr auf, betrachtete sie genau. Die Augen so grün wie die einer Katze. Die Lippen rot wie die Weichseln, die letzten Sommer in Tante Zinzis Garten gereift waren. Ihr Mund formte Worte, die er nicht verstand. Ihr Haar war verborgen unter einem dunklen Tuch. Er konnte nicht anders, er streckte die Hand aus, um es ihr vom Kopf zu streifen, wie sehr sehnte er sich danach, ihr Haar zu sehen, es zu berühren! Da wandte sie sich von ihm ab und verschwand. Das Letzte, was er von ihr sah, war ihre Hand, wie sie vorsichtig die Tür hinter sich zuzog, weiß wie Alabaster.
»Maia«, flüsterte er, »endlich.« Dann sank er zurück in die Kissen.
Irgendwann war ihm, als höre er im Schlaf Sirenen, und als er erwachte, war er sicher, Sorin wäre fort. Aber als er sich zu dessen Bett umwandte, lag er laut schnarchend unter dem Wandbehang. Ein wenig angenehmer Geruch ging von ihm aus, und Paul fürchtete, dass er mindestens genauso stank.
Mühsam kam er auf die Beine, seine Glieder waren komplett steif und durchgefroren. Die Liegestuhlauflage war viel zu kurz für einen Mann seiner Größe, die Decke ebenfalls.
»Das Badezimmer ist gleich links«, hatte Sorin gesagt, als sie gestern Abend ins Zimmer gestolpert waren. Als Paul sich nun dort hineinschleppte, stieß er einen leisen Pfiff aus.
Es war so neu, dass er die frische Wandfarbe riechen konnte, auf dem elektrischen Lüfter unter der Decke klebte noch Verpackungsfolie. Vor allem aber waren die Fliesen, das Klo und der Waschtisch aus feinster Keramik; die Chefredakteurin hatte sich in ihrer Eigentumswohnung in Köln ein neues Bad einbauen lassen, und Paul, hilfsbereit wie er war, war Samstag für Samstag mit ihr durch die Badausstellungen großer Möbelhäuser gelaufen. Dieses Bad hier mitten im transsilvanischen Nirgendwo, da war er sich sicher, hatte eine ordentliche Stange Geld gekostet. Oh Mann, hatte Sorin wieder irgendeine ominöse Einnahmequelle aufgetan? Er kannte doch den alten Freund und seinen Hang für zwielichtige Geschäfte!
Paul beschloss, Sorin später mal auf den Zahn zu fühlen. Hoffentlich war alles ganz harmlos.
Er duschte herrlich heiß, zog sich leise neben dem immer noch schlafenden Sorin an und traf in der Küche auf eine Frau, die er beinahe nicht wiedererkannt hätte.
Sorins Mutter ging, wie er sie kannte, sehr gebückt, was sie noch kleiner wirken ließ, als sie eh schon war, doch als sie sich zu ihm umwandte, sah er kaum noch Ähnlichkeiten mit der Frau, der er im Sommer begegnet war. Damals hatte Sorin im Gefängnis gesessen, und sie war vom Kummer gezeichnet gewesen. Doch diese schwere Zeit schien sie vollkommen hinter sich gelassen zu haben, sie strahlte übers ganze Gesicht.
»Bună dimineaţa, băiatul meu«, rief sie und reichte Paul eine kleine Tasse starken Kaffees, während auf dem mit Wachstuch bedeckten Küchentisch der Fernseher plärrte. »Guten Morgen, mein Junge! Ich habe auch Mămăligă für dich gekocht, aber ein Vögelchen hat mir gezwitschert, dass eine junge Frau ebenfalls Frühstück für dich zubereitet hat.«
»Eine junge Frau?«, fragte Paul und nahm einen Schluck. »Aber ich kenne doch gar keine …«
»Du Dummkopf!«, unterbrach sie ihn, und ihre kleinen Augen unter dem straff geknoteten Kopftuch funkelten vor Vergnügen. »Ich rede natürlich von Maia!«
»Maia?«, stotterte Paul und hätte sich beinahe den Kaffee übers frische Hemd gekippt. Das im Übrigen auch ein wenig zu eng geworden war.
»Selbstverständlich Maia. Und sie wartet bestimmt schon. Also mach dich schleunigst auf den Weg!«
Paul trank aus, schnappte sich seine Jacke und lief zur Tür. Im letzten Moment kehrte er noch einmal in die Küche zurück. Sorins Mutter saß am Tisch, die Nase ganz dicht am Bildschirm des Fernsehers. Paul küsste sie herzhaft auf die Wange.
»Mulţumesc«, murmelte er, »danke schön.« Ganz zart fühlte sich ihre runzlige Haut unter seinen Lippen an, und als sie sich zu ihm umwandte, funkelten ihre Augen noch ein bisschen mehr.
Dieser Tag, dachte Paul, als er schließlich auf die enge Gasse trat, würde sehr viel besser werden als der vorherige. Und wie erfrischend ihm der eiskalte Wind erschien, der ihm vor dem Haus um die Nase fuhr! Er war seit der vergangenen Nacht noch stärker geworden und hatte die Richtung geändert. Paul spürte ihn jetzt im Rücken, als er direkt loslief.
Den kleinen schwarzen Hund nahm er erst wahr, als er ihn laut kläffend von hinten überholte.
Konnte das sein?, fragte er sich. War das etwa derselbe kleine Kerl, der ihm im Sommer auf Schritt und Tritt gefolgt war? Womöglich, dachte er, und rannte weiter.
Im Laufen fiel ihm ein, dass er sein Handy in Sorins Schlafzimmer gelassen hatte. Egal, er würde es nicht brauchen.
Die schmale Straße, die durchs Dorf führte, mehr als diese eine gab es nicht, war wie leer gefegt. Eine besonders starke Windböe ließ ihn gleich noch schneller laufen.