Tödliches Roulette - Kurt Lehmkuhl - E-Book

Tödliches Roulette E-Book

Kurt Lehmkuhl

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Beschreibung

Eine ermordete Hausfrau, ein streikender Arzt, ein suspendierter Polizist - drei Menschen, die auf den ersten Blick nichts miteinander zu tun haben. Davon ist auch Helmut Bahn, Redakteur beim Dürener Tageblatt, zu Beginn seiner Recherche überzeugt. Doch dann stellt sich heraus, dass diese drei Personen miteinander verwoben sind. Als dann auch noch Bahns Frau Gisela auf eigene Faust zu ermitteln beginnt, drohen beide im Sumpf von Sein und Schein zu versinken.

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Kurt Lehmkuhl

Tödliches Roulette

Kriminalroman

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Besuchen Sie uns im Internet:

www.gmeiner-digital.de

Gmeiner Digital

Ein Imprint der Gmeiner-Verlag GmbH

© 2016 – Gmeiner-Verlag GmbH

Im Ehnried 5, 88605 Meßkirch

Telefon 0 75 75/20 95-0

[email protected]

Alle Rechte vorbehalten

Lektorat: Claudia Senghaas, Kirchardt

E-Book: Mirjam Hecht

Umschlagbild: © © Francesca Schellhaas / photocase.de

Umschlaggestaltung: Simone Hölsch

ISBN 978-3-7349-9440-1

1. Kapitel

Helmut Bahn fühlte sich gut, als er kurz vor Mitternacht die Haustür aufschloss. Er freute sich aufs Bett und einen tiefen, ruhigen Schlaf. In den Stunden in der Muckibude und anschließend in der Sauna hatte er den Stress abgebaut, der sich in den letzten Tagen langsam und unaufhaltbar in ihm aufgestaut hatte.

Und er hatte in der letzten Zeit verdammt viel Stress in der Redaktion gehabt. Da war der Besuch im Fitnesscenter der richtige Ausgleich zum Arbeitstag gewesen.

Aber nicht nur wegen des Stressabbaus hatte sich Bahn von Notizblock und Computer gelöst und zu den Kraftmaschinen und Schwitzkästen aufgemacht. Es gab noch einen zweiten Grund, weswegen er nicht den direkten Weg zu seiner Doppelhaushälfte in der Boisdorfer Siedlung nahm. Seine Frau Gisela hatte eine Freundin eingeladen, besser gesagt, die Plaudertasche Anne hatte sich selbst eingeladen und wollte mit Gisela über ihre Sorgen und Nöte reden. Annes Nachnamen fand Bahn nicht nur unaussprechlich, er hatte ihn auch vergessen. Irgendwas mit Schibulski oder so war er wohl.

Dieses Weibergetratsche würde ihm nur auf die Nerven gehen, hatte Bahn am Telefon gestöhnt, als ihn Gisela am Nachmittag warnte. Er konnte diese plötzliche Störung seiner Tagesplanung so wenig leiden wie Bauchschmerzen. Er hatte sich nach der nervigen Arbeit auf einen gemütlichen Abend mit Gisela gefreut. Nun wollte er seine Zeit sinnvoller nutzen, als sich neben die beiden Frauen zu setzen oder sich von ihrem Gerede stören zu lassen.

Gisela hatte mitbekommen, wie er den Focus in die Garage gefahren hatte. Bahn würde es nie lernen, das Tor geräuschlos zu schließen. Das Scheppern würde die Nachbarschaft garantiert aufwecken. Aber darauf nahm er keine Rücksicht.

Sie stand schon im Flur, als Bahn das Haus betrat.

»Gottfried hat angerufen.« Sie überfiel ihn sofort mit der Mitteilung, die nichts Gutes verheißen konnte. »Ich habe ihm gesagt, dass du zurückrufst. Es gibt wohl einen Mord in Düren.«

Bahns Hochstimmung war auf der Stelle verflogen. Wütend funkelte er seine Frau an und schleuderte dann die Sporttasche fluchend in die Garderobenecke.

»Hat das nicht Zeit bis morgen«, fauchte er. »Meinst du, ich habe Lust, jetzt noch in die Eiseskälte rauszufahren?«

Gisela verzichtete auf eine Erwiderung. Sie hätte darauf wetten können, dass Bahn derart gereizt reagieren würde. Dafür kannte sie ihn schon zu lange. Hätte sie ihm erst am nächsten Morgen von dem Anruf des Informanten berichtet, hätte er ebenfalls aufgebracht reagiert, wahrscheinlich sogar noch wütender. Das tat er immer, wenn etwas Unvorhergesehenes passierte, das ihm nicht passte. Da war der jetzige Wutausbruch das kleinere aller Übel.

Schweigend beobachtete Gisela Bahn, der nachdenklich und unentschlossen durch den Hausflur lief.

Sollte er Jansen anrufen oder nicht? Wenn’s tatsächlich ein Mord gab, musste er raus. Wenn Jansen vielleicht einer Fehlinformation aufgesessen war, schlug er sich für nichts die eiskalte Januarnacht um die Ohren.

»Helmut, es sollen sogar schon Fernsehteams draußen sein«, hörte er seine Frau leise sagen.

»Schon gut, ist ja schon gut«, schnaubte er. Er stapfte in sein Arbeitszimmer und tippte schnell die Rufnummer seines Informanten in das Telefon.

Gottfried Jansen war unbestritten die beste Quelle in Düren, wenn es galt, Neuigkeiten aus Polizeikreisen, von der Feuerwehr oder den Rettungsdiensten zu erhalten. Bahn kannte Jansen schon seit Jahren. Zufällig hatten sie sich in einer Kneipe kennengelernt und Jansen hatte ihm ungeniert seine Dienste angeboten. Seitdem Bahn als Redakteur beim Dürener Tageblatt tätig war, hatte ihn der Informant prompt und meistens zuverlässig mit Wissenswertem und Hintergründen versorgt. Woher der unscheinbare Jansen seine Informationen bezog, war Bahn einerlei; wahrscheinlich hörte Jansen sämtliche Funkgeräte ab und hatte einige Freunde in den Behördenstuben sitzen, die ihm gegen Bares Wissen verkauften. Aber so lange Jansen ihn als ersten und einzigen Journalisten in Düren informierte, so lange würde Bahn nicht nach dem Ursprung der Informationen fragen. Er bezahlte Jansen, dessen Beruf er noch nicht einmal kannte, gutes Geld aus dem Redaktionsetat und erhielt dafür in der Regel gutes Material.

Nur, wie lange noch? Das war die Frage. Mit der anstehenden Digitalisierung des Polizeifunks, der im Aachener Grenzland bereits erfolgreich getestet wurde, war es mit dem illegalen Abhören wohl endgültig vorbei. Aber daran jetzt schon Gedanken zu verschwenden, war müßig. Es gab momentan Wichtigeres. Wenn Jansen doch endlich abheben würde.

Nervös trommelte der Journalist mit den Fingern auf der Schreibtischplatte, während er darauf wartete, bis sich der Informant meldete. Mitternacht war kein Grund, auf den Anruf zu verzichten. Er würde läuten lassen, bis selbst die größte Schlafmütze wach würde.

»Ich bin’s«, sagte er endlich schroff, »was gibt’s, du Penner?«

Jansen ließ sich von dieser beleidigenden Bemerkung nicht aus der Ruhe bringen. Er, der nie um einen lockeren Spruch verlegen war, blieb sachlich und informativ, was das untrügerische Zeichen dafür war, dass er die Sache ernst nahm.

»Vor ’ner knappen Stunde haben die Bullen einen Garagenhof im Grüngürtel abgeriegelt. Dort soll ’ne Leiche liegen. RTW, Leichenwagen und Feuerwehr sind draußen. Es kommt keiner ran.«

»Nur die Fuzzis vom Fernsehen«, unterbrach ihn Bahn barsch, »die sind alle da.«

»Die auch nicht, die stehen alle mindestens hundert Meter vom Fundort der Leiche weg.«

»Woher weißt du das?«

Jansen fiel in einen säuselnden Tonfall, der andeutete, dass er darauf nicht antworten wollte und das Thema für ihn abgehandelt war. »Helmut, mein Bester. Die wollen alle von mir Informationen und klagen mir alle ihr Leid. Aber ich sage ihnen nichts. Ich rede nur mit dir.« Er kicherte. »Weil du immer so gut zu mir bist, mein Bester. Vergiss nicht mein Honorar und viel Spaß in der Kälte.«

Bahn zögerte nicht lange. Er griff im Flur nach seiner Lederjacke und schaute kurz durch die Tür zum Wohnzimmer.

»Ich bin wieder weg«, sagte er hastig.

Nur flüchtig blickte er in das Gesicht von Giselas Freundin. Anne hatte wohl geweint. Krach mit dem Alten vielleicht oder Ärger im Beruf. Aber das war nicht sein Problem. Er konnte die Schibulski oder so ohnehin nicht leiden.

Problemlos hatte der Journalist bei seiner langsamen Fahrt durch das nächtliche Viertel den Einsatzort gefunden. Die Polizei hatte mit drei Streifenwagen den Bereich in einer wenig beachteten Nebenstraße der Nachkriegssiedlung abgesperrt und ließ niemanden durch. Hier im Grüngürtel waren in dem vom Krieg massiv zerstörten Düren Ende der Vierziger, Anfang der Fünfziger die ersten Wohnblocks hochgezogen worden, um Unterkünfte für Arbeitskräfte zu schaffen. Auf soziales Klima oder Gemeinschaftsbewusstsein wurde dabei keine Rücksicht genommen. In der Siedlung fristete man üblicherweise seinen Lebensalltag und wurde allenfalls bei Wahlen als Stimmvieh beachtet.

Erstaunt registrierte Bahn, dass zwar drei Männer mit Kameras vor dem rot-weißen Flatterband hinter den Fahrzeugen postiert waren, mit dem der Zugang zu der Garagenanlage verhindert wurde, dass aber kein Schaulustiger und keiner seiner Kollegen von den Dürener Konkurrenzblättern anwesend war. Es war beklemmend still, als er aus seinem Kleinwagen stieg und dabei nach dem Fotoapparat auf dem Beifahrersitz griff. Und es war lausig kalt, wie er feststellte, einige Grade unter Null. Kein Wunder, dass sich hier niemand länger aufhielt, als es sein musste und dass niemand freiwillig einen Mitternachtsspaziergang machte. In einiger Entfernung erkannte er die von der Feuerwehr aufgebauten Scheinwerfer, die offensichtlich einen nicht einsehbaren Platz erhellten. Bahn hatte sich noch nicht den wartenden Männern und den Polizisten genähert, als die Straßenbeleuchtung ausgeschaltet und die punktuelle Nachtbeleuchtung eingeschaltet wurde. Nur eine schwach schimmernde Lampe am Ende eines Peitschenmastes gab etwas Licht; zu wenig, um in die abgesperrte Straße hineinzublicken, aber ausreichend, um die Männer zu erkennen, die mit tief in den Jacken eingegrabenen Händen auf der Stelle trippelten, um sich ein wenig Wärme zu verschaffen. Bahn grüßte nur flüchtig die Sensationsgeier, wie er die vermeintlichen Journalisten bezeichnete, die glaubten, mit dem Besitz einer Videokamera das schnelle Geld bei einem der Privatsender machen zu können, und wandte sich einem der frierenden Polizisten zu.

»Was gibt’s?«, fragte er lässig.

»Nichts«, antwortete der Grüne nicht minder lässig.

Bahn kannte den Streifenpolizisten nicht. Der Junge, der ihn herablassend musterte, war wohl neu im Städtchen.

»Und warum stehen Sie dann hier herum und sperren halb Düren ab?«, knurrte der Journalist gereizt.

»Weil wir nichts Besseres zu tun haben«, erhielt er prompt und pampig zur Antwort.

Bahn wollte aufbrausen und sich den arroganten Schnösel vorknöpfen, als er eine Hand schwer auf seiner Schulter spürte.

»Nichts für ungut, Helmut«, hörte er eine vertraute Stimme, während er zur Seite geschoben wurde. Die Stimme gehörte einem der Polizisten, die schon seit Jahren an der Rur ihren Dienst schoben und mit denen Bahn es immer wieder zu tun hatte.

Freundlich schüttelte der Journalist dem älteren Grünen die Hand.

»Was gibt’s?«, fragte er erneut.

»Mein Kollege hat es dir doch schon gesagt. Nichts.« Der Polizist lächelte schwach, während er sich eine Zigarette in den Mund schob. »Absolute Nachrichtensperre«, murmelte er fast nicht hörbar. »Auskünfte erteilt nur der Pressesprecher«, fügte der Routinier betont laut und für jedermann hörbar hinzu.

»Wo ist euer Märchenerzähler?«

»Irgendwo dahinten. Er wird wohl gleich kommen«, antwortete der Polizist gelassen. »Aber er wird dir auch nicht viel sagen können.« Er zog heftig an seinem Glimmstengel, als könne er sich damit innere Wärme verschaffen. »Am besten verziehst du dich wieder. Morgen gibt’s garantiert eine Pressekonferenz.«

»Worüber?«, fragte Bahn schnell. »Etwa über nichts?« Er sah den Alten an. »Stimmt’s etwa, dass es da hinten eine Leiche gibt?«

»Kein Kommentar.«

»Mord?«

»Kein Kommentar.« Der Polizist warf die angerauchte Zigarette hastig auf die Erde und trat sie aus. »Tote Frau, die hier wohnte«, flüsterte er. Er rieb sich zitternd die Hände und deutete in die dunkle Nebenstraße, in der schemenhaft jemand zu erkennen war.

»Da kommt übrigens unser Pressesprecher, Kommissar Mager.«

Neugierig betrachtete Bahn den Mann in Zivilkleidung, der sich ihm langsam aus der Dunkelheit näherte. Er kannte ihn nicht. Musste wohl auch ein Neuer sein. Sein Alter, vielleicht Mitte 30.

Höflich gab sich Bahn als Redakteur des Dürener Tageblatts zu erkennen, und höflich erwiderte der Mann den Gruß.

Sofort waren auch die Geier zur Stelle.

»Wenn Sie wissen wollen, was ich für Sie tun kann, muss ich Sie leider enttäuschen«, sagte Mager bestimmend, bevor Bahn eine Frage stellen konnte. »Es gibt momentan keine Informationen für die Presse.«

Ein Streifenwagen fuhr an den Rand, das Flatterband wurde für einige Sekunden zur Seite genommen und ein Rettungswagen passierte im grellen Scheinwerferlicht der sofort aktivierten Handkameras langsam die Gruppe der Wartenden. Der DRK-Wagen war abgedunkelt, wie Bahn erkannte.

Offenbar wurde das Fahrzeug hier nicht gebraucht.

»Ich habe von Anwohnern gehört, dahinten soll eine Leiche liegen. Es soll sich um eine Nachbarin handeln. Sie soll ermordet worden sein. Stimmt’s?« Bahn beobachtete den Pressesprecher, der für einen Moment die Mundwinkel verzog.

»Wenn Sie es wissen, warum fragen Sie dann noch?«, antwortete der Mann, um dann abzuwinken. »Es ist in der Tat so, dass wir eine weibliche Leiche haben. Aber wir wissen weder Name noch Alter. Wir wissen nicht, ob die Frau eines natürlichen Todes starb, ob sie ermordet wurde oder ob sie in der Dunkelheit von einem Auto angefahren wurde. Mehr gibt es beim besten Willen nicht zu berichten.« Anscheinend glaubte der Pressesprecher, damit ausreichend informiert zu haben.

Aber Bahn gab sich mit diesen Angaben nicht zufrieden. »Worauf warten wir dann noch? Sie hätten die Leiche doch längst wegbringen können.«

»Die warten auf den Staatsanwalt«, mischte sich lautstark einer der Geier ein, »habe ich eben mitbekommen.«

»Und auf die Mordkommission«, fügte ein zweiter hinzu. »Die Sache stinkt doch zum Himmel und Sie wollen uns die Geschichte als bedauerlichen Unfall verkaufen«, schimpfte er mit Mager. »Wer hat denn den Leichenfund wann gemeldet?«

Der Pressesprecher hob bedauernd die Schultern. »Ich kann Ihnen nicht mehr sagen als ich getan habe. Weitere Informationen gibt es heute im Pressebericht oder bei einer PK.« Er wollte sich abwenden.

Doch hielt ihn Bahn zurück.

»Weiß Kommissar Küpper schon Bescheid?«, fragte er lautstark.

Die misstrauischen Blicke der anderen Medienvertreter kümmerten ihn nicht. Sie hatten schon oft vermutet, dass Bahn und Küpper ihr eigenes Spiel betrieben, aber sie konnten es nicht beweisen und sie würden es niemals beweisen können. Denn in der Öffentlichkeit verhielt sich Küpper allen Journalisten gegenüber gleich.

Bahn konnte mit diesem Misstrauen der Kollegen gut leben, solange es ihm seinen Informationsfluss nicht verbaute. In der Tat war Küpper sein väterlicher Freund. Der Leiter der Mordkommission würde ihm schon vertraulich die Informationen verschaffen, die er haben wollte und die ihm der Märchenerzähler vorenthielt.

»Küpper weiß nicht Bescheid und wird auch nicht Bescheid bekommen«, antwortete Mager mit scharfer Stimme. »Er ist nämlich überhaupt nicht im Dienst. Ich weiß nicht, wer die Ermittlungen leitet, wobei ich Ihnen noch nicht einmal definitiv sagen kann, ob es überhaupt Ermittlungen wegen eines Gewaltverbrechens gibt.«

Bahn fluchte vor sich hin. Das hatte ihm noch gefehlt. Da gab es wahrscheinlich einen handfesten Mord und sein Polizistenfreund, mit dem er schon machen Kriminalfall geklärt hatte, war nicht an Bord.

Was wollte er hier noch? In der Dunkelheit herumstehen und sich die Zehen abfrieren? Zusehen, ob und wann der Staatsanwalt oder die Kripo kamen? Warten, bis die Leiche weggebracht wurde?

Das konnte Stunden dauern. Stunden, die ihm an Schlaf fehlten, wenn er morgen in der Frühe wieder in die Redaktion musste.

Gisela hatte auf ihn gewartet.

Schnell berichtete Bahn von der unbefriedigenden Situation im Grüngürtel, dann verkroch er sich unter die wärmende Bettdecke und wartete, bis sie sich an seine Seite kuschelte.

Am Pech von Anne, von dem Gisela ihm noch erzählen wollte, war er nicht interessiert.

2. Kapitel

In den Lokalnachrichten des Radios, mit denen Bahn sich am Morgen vom WDR-Studio Aachen wecken ließ, fehlte jegliche Information über den nächtlichen Zwischenfall in Düren.

Insgeheim atmete er auf.

Die Rundfunkfuzzis waren ihm jedenfalls nicht zuvorgekommen. Sie würden zwar tagsüber berichten, wenn es die angekündigte PK tatsächlich geben sollte, aber er hatte die Möglichkeit, am nächsten Tag ausführlich zu informieren. Insofern würden die Elektrojungs indirekt für die ausführlichere Berichterstattung in den Tageszeitungen sogar noch Werbung machen.

Anders wäre es gewesen, wenn der Rundfunk jetzt schon eine Meldung losgelassen und die Leser im Tageblatt nichts über den nächtlichen Polizeieinsatz gefunden hätten. Dann hätte er als vermeintliche Schlafmütze dagestanden.

Zwangsläufig ging der erste Blick in die Blätter der Mitbewerber, nachdem Bahn schon kurz vor Neun in die noch leere Redaktion gekommen war. Er war fast immer der Erste am Platz und hatte damit die Ruhe, sich ungestört auf das Tagwerk vorbereiten zu können.

Auch die beiden örtlichen Konkurrenten, die Dürener Zeitung und die Dürener Nachrichten, hatten verständlicherweise keine Nachricht absetzen können. Schließlich war die Tote erst nach dem Andruck der aktuellen Ausgabe entdeckt worden.

Aber die beiden Lokalzeitungen machten mit einer anderen spektakulären Geschichte auf, die am Tageblatt voll und ganz vorbeigegangen war. Sie berichteten von einem Hausarzt in Langerwehe namens Dr. Waldemar Kuhlmann, der in einen unbefristeten Hungerstreik getreten war, so musste Bahn jedenfalls lesen.

Anscheinend hatte der Internist aus der benachbarten Kleinstadt die beiden anderen Blätter zu einem Pressegespräch gebeten und auf seine Aktion hingewiesen.

Bahn hatte es längst aufgegeben, sich darüber zu ärgern, wenn DN und DZ zu Gesprächen eingeladen wurden, das DTB hingegen nicht. Sein Blatt war halt das Kleinste an der Rur mit den wenigsten Abonnenten und wurde außerhalb der Dürener Stadtgrenzen im Landkreis oft gar nicht beachtet. Klein, aber fein, so gab sich das Tageblatt in dem Wissen, dass es in der Kreisstadt seine Stammleser hatte.

Dennoch fuchste es Bahn, dass die Geschichte nicht in seiner Zeitung abgedruckt war. Er würde einen freien Mitarbeiter darauf ansetzen, nahm er sich vor.

Aus Protest gegen die Gesundheitsreform der Bundesregierung werde er so lange das Essen einstellen, bis die Gesundheitsministerin reagiere, hatte der Mediziner behauptet, der, nach den Fotos zu urteilen, durchaus einige Fastenwochen verkraften konnte. Die unsoziale Politik des Bundes mit den immer neuen Quoten und Deckelungen würde ihn und seine Kollegen in den finanziellen Ruin treiben, lamentierte Kuhlmann. Mit seinen 55 Jahren sei er nicht mehr in der Lage, jetzt noch Mittel für die Altersversorgung aufzubringen, jammerte der Arzt Solidarität erheischend.

Wenn’s weiter nichts ist, dachte sich Bahn. Lieber hungrig als tot. Er würde sich zunächst um die Tote aus dem Grüngürtel kümmern. Gesundheitspolitik und Altersvorsorge, das waren nicht seine Themen. Die machen da in Berlin sowieso, was sie wollen, meinte er in Einklang mit den meisten Bürgern.

Der Griff zum Telefon und das Wählen geschahen mechanisch.

»Gibt’s was Neues?«, fragte er Jansen, den er mit seinem Anruf aus dem Bett geklingelt hatte.

»Bahn, du bist ein Arsch«, brummte der Informant ungehalten statt einer Antwort. Dann bequemte er sich doch, die Bänder abzuhören, auf denen er den Funkverkehr der Nacht aufgezeichnet hatte.

»Die haben das Mädchen noch bis vier in der Kälte liegen lassen«, berichtete er. »Staatsanwalt und Kripo waren da. Man geht wohl von einem Mord aus und sucht nach einem Messer.«

Jansen gähnte ungeniert ins Telefon. »Für diese Informationen kriege ich aber Nachtzuschlag.«

»Schlaf weiter«, bemerkte Bahn trocken und legte grußlos auf, um den nächsten Anruf vorzunehmen. In der Leitstelle der Berufsfeuerwehr kannte er einige Mitarbeiter, die ihm gerne und zuvorkommend Auskünfte erteilten, weil er ihnen im Gegenzug kostenlos Fotos von Bränden und anderen Einsätzen überließ. Das Geschäft auf Gegenseitigkeit, das Bahn auch mit dem Rettungsdienst und der Polizei praktizierte, funktionierte üblicherweise.

Doch heute stieß er auf Granit.

»Ich kann dir nichts sagen, Helmut«, bedauerte der Wachhabende in der Telefonzentrale. »Wir dürfen nichts sagen, sonst sind wir den Job quitt.«

So etwas gebe es nicht, protestierte der Journalist. »Seit wann seid ihr denn in der Maurer-Gewerkschaft?«

Er versuchte es auf eine Tour, mit der er seinen Gesprächspartner am wenigsten in Nöte bringen würde. »Ihr seid gestern herausgerufen worden, um den Liegeplatz einer Leiche auszuleuchten und abzusichern. Richtig?«

»Ja.«

»Bei der Leiche handelt es sich um eine Frau?«

»Ja.«

»Sie wurde identifiziert?«

»Ja?«

»Und wohnt in der Nachbarschaft?«

»Ja.«

»Ihren Namen hat man euch nicht gesagt?«

»Ja.«

»Sie wurde ermordet?«

»Ja.«

»Wie?«

»Kann ich dir nicht sagen und würde ich dir nicht sagen.«

Er habe einen Alarm auf der anderen Leitung, entschuldigte sich der Beamte schnell mit einer Notlüge, wie Bahn vermutete, und beendete das Gespräch.

Das Telefonat mit dem Roten Kreuz nahm einen ähnlichen Verlauf. Die Frage nach dem Mord blieb ohne Antwort. Nur einen Hinweis nahm Bahn mit. Die Kripo würde im Laufe des Tages die Spurensicherung fortführen, sagte ihm der DRK-Mann.

Damit erklärte sich auch die Mitteilung der Kripo, die per Fax den Medien mitteilte, es gebe erst am späten Nachmittag eine Presseerklärung wegen eines Todesfalles im Grüngürtel. Nachfragen seien zwecklos und würden von der Pressestelle zurückgewiesen.

›Dann werde ich mal rausfahren‹, sagte Bahn zu sich und seufzte. Seinem Kollegen würde es nicht schmecken, wenn er allein mit der Sekretärin im Büro bleiben müsste. Bahn sprach lieber von einem Büro als von der Redaktion, denn diese umgebauten Wohnräume im ersten Stock eines Mietshauses entsprachen keinesfalls der Vorstellung einer modernen, lichtdurchfluteten Redaktion. Sie waren nicht mehr auf dem neuesten Stand der Technik, über den die Kollegen der anderen Zeitungen längst verfügten. Zwar gab es Rechner und Scanner, aber einen ISDN-Anschluss oder gar eine Zugriffsmöglichkeit aufs Internet, davon konnten Bahn und seine Tageblatt-Mitstreiter nur träumen. Vorsorglich hatten sie noch die alten mechanischen Schreibmaschinen deponiert. Da die Wartung und der Austausch der elektronischen Geräte mehr als dürftig waren und nur erfolgten, wenn sich einer der verlagseigenen Techniker ausnahmsweise einmal bequemte, vom Rhein zur Rur zu fahren, hinkte die weit vom Mutterhaus gelegene Lokalredaktion in ihrer Ausstattung von Jahr zu Jahr mehr der Konkurrenz, aber auch der eigenen Zentralredaktion hinterher. Nicht minder heruntergekommen waren das einfache Büromobiliar, die Tapeten, die dunklen Vorhänge an den Fenstern und der abgetretene Teppichboden. Seit knapp 15 Jahren war nicht mehr renoviert worden. Vergilbt, muffig, altbacken und wenig anziehend waren die Räume, in die Bahn nur ungern Gäste einlud. Die DTB-Redaktion war für ihn ein abschreckendes Beispiel, wie eine Redaktion nicht aussehen sollte.

Und zum unattraktiven Äußern, mit dem er sich abfinden musste, kam jetzt noch das personelle Problem.

»Ausgerechnet jetzt, wo was los ist, muss unser Chef auf Hochzeitsreise«, lästerte Bahn, als er den Kollegen informierte. Der vierte Mann, der üblicherweise in der Redaktion des Tageblatts arbeitete, hatte sich eine Gelbsucht eingefangen und lag krank zu Hause herum. Die Zentrale des Tageblatts in Köln hatte allerdings keine Anstalten gemacht, den personellen Engpass durch einen Vertreter zu beheben. Sie müssten halt mit zwei Leuten sehen, wie sie über die Runden kämen, hatte der Chef vom Dienst lakonisch zu Bahn gesagt, als dieser um Unterstützung nachgefragt hatte. »Glauben Sie denn im Ernst, Kollege, einer unserer Jungs würde freiwillig von Köln nach Düren in die Lokalredaktion gehen? Die bleiben lieber hier, wo das Leben pulsiert.«

Bahn hatte sich nicht die vergebliche Mühe gemacht, dem überforderten Planungsstrategen zu widersprechen. Die Erfahrung hatte ihn gelehrt, dass ein Widerspruch zwecklos war. Sein Lokalchef und Freund Fritz Waldhausen hatte vor seinem Urlaub ebenfalls vergeblich um eine Aushilfe gebeten. Brüllen, Drohen, Fluchen, nichts hatte geholfen.

Wenn’s in Köln so gewollt war, dann war es eben so, redete Bahn sich schicksalsergeben ein. Die Schnarchsäcke würden schon sehen, wohin das führte. Er konnte nicht mehr als arbeiten, und was er nicht schaffte, musste halt liegenbleiben oder wurde als Termin nicht wahrgenommen.

Aber den Mord, den ließ er sich nicht entgehen. Da war er in seinem Element.

Die Schwärze der Nacht hatte viel verdeckt. Im matten Licht des feucht kalten Tages sah die Nebenstraße im Grüngürtel trübe und heruntergekommen aus. Dieser Bereich des Wohnviertels war unbestritten sanierungsbedürftig. Zu lange hatten zu viele Menschen in der Siedlung gelebt, ohne dass die Wohnungsvermieter sich um die Substanzerhaltung der Häuser gekümmert hätten. Jetzt war es fast schon zu spät für eine Rundumerneuerung, war längst der Lack an den Häusern ab und auch bei den Bewohnern.

Die Polizei hatte das zweifarbige Plastikband entfernt. Zwei grüne Mannschaftswagen und ein Streifenwagen standen am Ende der Straße in einem Wendehammer, um den sich einige Wohnblocks gruppierten. Die privaten Pkw hatten die Grünen wohl in die Garagen vertrieben.

Auf dem schwarzen, regennassen Asphalt erblickte Bahn einige Kreidestriche. An dieser Stelle hatte vermutlich die Leiche gelegen. Er machte ein Foto mit seiner alten bewährten Spiegelreflex, die er jeder Digital-Kamera vorzog, und sah sich weiter um.

Die Tür zu einem der alten, ungepflegten Mehrfamilienhäuser stand offen. Bahn beobachtete die Polizisten, die eintraten oder herauskamen. In diesem Haus hatte das Mordopfer gewohnt, folgerte er und griff wieder zu seinem Fotoapparat.

»Hier wird nicht fotografiert!«, hörte er eine herrische Stimme in seinem Rücken. Sie konnte nur zu dem feisten Wenzel gehören, dem immer noch auf eine Beförderung wartenden Kriminalkommissar, der als langjähriger Assistent von Kriminalhauptkommissar Küpper versuchte, seinen Teil bei der Aufklärung von Morden zu leisten, der aber das seltene Geschick hatte, im falschen Moment etwas Falsches zu tun.

Er und Bahn mochten sich nicht, was nicht nur darauf zurückzuführen war, dass Bahn erfolgreicher war als Wenzel und bei Küpper mehr Sympathie besaß. Sie hatten sich noch nie gemocht. Schon bei der ersten Begegnung vor einigen Jahren war eine spontane Antipathie geboren worden, die unaufhörlich weiterwuchs.

»Wer will mir das verbieten?«, bellte Bahn zurück, ohne sich umzudrehen, und knipste ungeniert weiter. »Hier gibt’s kein Verbotsschild.«

»Sie behindern unsere Arbeit. Verschwinden Sie!«, fauchte ihn der übergewichtige Kommissar an, der wahrscheinlich wegen seines üppigen Rettungsringes in Bauchnabelhöhe nicht mehr eine Aufnahmeprüfung zum Öffentlichen Dienst bestehen würde. Er entwickelte sich langsam zur Tonne. Der Dicke hatte sich vor Bahn gepflanzt und starrte ihn mit wütenden Blicken an. Trotz des Winterwetters standen ihm die Schweißperlen auf der Stirn.

»Ich gehe, wann ich will«, sagte Bahn betont gelassen. »Ich will sehen, ob ihr tatsächlich die Tatwaffe findet. Oder habt ihr das Messer etwa schon?«

Wenzel schoss die Zornesröte ins Gesicht und Bahn musste grinsen.

Es freute ihn jedes Mal, wenn Wenzel auf einen Bauerntrick hereinfiel. Dieses Mal war es offensichtlich. Wenzels Mimik und die Hautveränderung machten deutlich, dass Bahn richtig lag. Die Frau war wahrscheinlich mit einem Messer ermordet worden.

»Weg! Weg! Weg von hier!«, brüllte der Kommissar erregt und zerrte Bahn am Arm zur Seite. »Verschwinden Sie oder ich lasse Sie festnehmen wegen Behinderung der Justiz!«

Beschwichtigend hob der Journalist die Hände. »Ist ja schon gut, ich gehe.« Er erinnerte sich an einen Polizeieinsatz nach einem Brandanschlag in Birgel, als er tatsächlich einmal, unter dem Hohngelächter von Kollegen, vorübergehend eingebuchtet worden war.

»Wir sehen uns heute Nachmittag bestimmt bei der Pressekonferenz wieder.«

Es war weniger die Frage als vielmehr der Tonfall, der Bahn auf die Palme brachte, als er, aus dem Fotolabor kommend, gerade an seinem Schreibtisch Platz genommen hatte.

»Was macht eigentlich Ihr hungerstreikender Arzt?«, fragte ihn am Telefon eine Kollegin aus der Zentralredaktion in Köln mit einer hochnäsigen Arroganz, die nicht mehr zu überbieten war.

»Was kriegen wir wann von Ihnen darüber? Bild und Text?«

Für einen Augenblick blieb Bahn die Luft weg, dann platzte es aus ihm heraus. »Sie kriegen überhaupt nichts«, brüllte er in den Hörer. »Wenn Sie was haben wollen, dann holen Sie es sich.«

Ob die Kollegin die letzte Bemerkung mitbekommen hatte, wusste er nicht. Sie hatte pikiert mitten im Gespräch den Hörer aufgelegt.

Erwartungsgemäß klingelte einige Minuten später das Telefon erneut. Der Chef vom Dienst Waldmann wünsche ihn zu sprechen, warnte die Redaktionssekretärin Bahn vor. Darauf hätte er wetten können.

»Sie sind in den Streik getreten, Herr Kollege?«, fragte Waldmann mit spitzer Stimme.

»Wer erzählt so einen Schwachsinn?«, entgegnete Bahn gereizt. Das fehlte noch, dass der unangenehme Sesselfurzer, der seinen Arsch nicht vom Sessel hochbekam, ihn auch noch attackierte und der Tucke beistand, statt ihn zu unterstützen.

»Sie wollen nichts über den Arzt machen, über den in allen anderen Zeitung und in den Rundfunkanstalten fortlaufend berichtet wird?«, fuhr der CvD bissig fort. »Ihre Weigerung ist für mich eine Art Streik, das ist Arbeitsverweigerung. Oder wie würden Sie das bezeichnen?«

»Für mich ist es ein Streik, wenn Sie sich weigern, unsere Redaktion personell vernünftig zu bestücken«, hielt Bahn zornig dagegen. »Ich häng mittendrin in einer Mordgeschichte, der Kollegen hat die Manuskripte stapelweise vor sich auf dem Schreibtisch liegen und Sie verlangen, dass wir alles stehen und liegen lassen und uns um einen dämlichen Arzt kümmern, der abnehmen will. Dafür haben wir keine Zeit und kein Personal.«

Bahn ließ nicht zu, dass ihn Waldmann unterbrach. »Ich möchte Ihr Gesicht sehen, wenn wir morgen nichts über den Mord in Düren schreiben, aber dafür umso mehr über den Doktor, über den alle schon berichtet haben. Ich kann mich nur um eine Sache kümmern, und das ist für mich der Mord.«

»Welcher Mord?«, fragte Waldmann neugierig.

Bahn hatte sein Ziel erreicht, seine Dramaturgie war aufgegangen.

Der CvD schwenkte mit wehenden Fahnen um auf seine Seite. So kannte man ihn und so musste man mit ihm umgehen.

Bahn atmete tief durch und schilderte ausführlich das nächtliche Geschehen im Grüngürtel und seine Recherche. »Darüber schreibe ich uns ganze Seiten zu. Aber für den Medizinmann haben wir wirklich keine Zeit.«

»Ich kümmere mich drum«, versicherte Waldmann ausgesprochen höflich. »Sie sind bekanntlich unser Mordexperte. Da bleiben Sie am Ball.«

Mordexperte war gut, dachte sich Bahn. Was konnte er dafür, dass er gelegentlich in heikle Verbrechen einbezogen wurde? Er riss sich nicht darum, aber er wehrte sich auch nicht dagegen. Es schmeichelte durchaus seiner Eitelkeit, wenn sich jemand daran erinnerte, dass er schon so manchen Mörder als Helfer der Polizei zur Strecke gebracht hatte. Ein Ausspruch seines Kripo-Freundes Küpper fiel ihm ein: »Helmut, du ziehst das Verbrechen magisch an.«

Sollte das jetzt wieder der Fall sein?

Nur für wenige Augenblicke konnte Bahn seinen kleinen Erfolg genießen, dann gab es schon den nächsten Anruf aus Köln.

»Wie komme ich in dieses Kaff. Wie heißt es noch mal? Langerwehe oder so?«, fragte ihn die arrogante Kollegin leicht beleidigt, als müsse sie im eleganten Abendkleid aus einer Opernaufführung in der Mailänder Scala kommend sofort zu einem Zupfgeigenkonzert in einem hinterwäldlerischen Gasthofsaal eilen.

»Mit dem Zug, dem Auto, dem Fahrrad oder zu Fuß, ganz wie Sie wollen«, lästerte Bahn und empfahl der Zimtziege einen konzentrierten Blick auf die Landkarte. »Heimatkunde erweitert den Horizont.« Er legte auf, um sich diese Stimme nicht länger antun zu müssen.

3. Kapitel

Der per Fax übermittelte Pressebericht der Polizei enthielt neben der Einladung zur Pressekonferenz um 16 Uhr nach Bahns Ansicht nur Belanglosigkeiten. Ein paar Einbrüche, einige Unfälle, aber nichts Besonderes, meinte er nach dem flüchtigen Überfliegen der Blätter zu seinem älteren Kollegen, der sich um die Berichterstattung kümmern wollte.

Der altgediente Journalist schielte schon nach der Rente und machte bereitwillig Stalldienst. Artikel bearbeiten, Meldungen schreiben, damit vertrieb er sich die Zeit. Auf die Pirsch zu gehen, nach Sensationen zu angeln, das galt für ihn nicht mehr, das überließ er in einer stillschweigenden Übereinkunft bereitwillig den aus seiner Sicht jungen Hasen Bahn und dem Lokalchef.

Insofern klappte das Zusammenspiel zwischen den beiden verbliebenen Tageblattredakteuren ohne viele Worte. Die Alltagsarbeit war beim Redaktionssenior in verlässlichen Händen, er hielt Bahn den Rücken frei für Geschichten, nunmehr für den merkwürdigen Mord.

»Was willst du denn hier?« Verunsichert schaute Bahn seine Ehefrau an, die überraschend an seinen Schreibtisch getreten war. »Waren wir etwa verabredet?«

Statt einer Antwort erhielt er einen satten Kuss. Dann holte sie aus einer Einkaufstüte eine kleine Zellophanverpackung mit zwei Pralinen. Leonidas mussten es sein, eine helle für ihn, eine dunkle für sie. Oft brachte Gisela bei einem Einkaufsbummel die Pralinen mit, um damit mit Bahn anzustoßen, wie sie das Ritual nannte, wenn sie die Kalorienbömbchen verspeisten.

Schon seit Jahren hielt es Gisela an seiner Seite aus, wie Bahn es sich ab und zu eingestand. Sie hatte es gewiss nicht leicht mit ihm, wenn er wieder einmal mit dem Kopf durch die Wand wollte, er unbeherrscht aufbrauste oder übereifrig zu Werke ging. Sie hätte jeden Kerl kriegen können, dachte sich Bahn, sie war schön, schlank, groß und intelligent. Er konnte sich ein Leben ohne sie nicht mehr vorstellen und war froh, sie als Frau zu haben. Nur zu selten würdigte er ihre Bereitschaft, seinetwegen auf einen eigenen Beruf zu verzichten, um ihm als Hausfrau und ruhender Pol zu helfen. Sie wäre bestimmt eine gute Lehrerin geworden, doch sie hatte entschieden, einen einzigen Menschen zu erziehen. Denn Bahn war oft genug noch ein Kindskopf.

Gisela schmunzelte. »Ich wollte nur kontrollieren, ob du überhaupt arbeitest.«

Bevor Bahn aufbrausen konnte, fuhr sie fort. »Ich hätte gerne einmal den Pressebericht der Polizei gelesen«, bat sie lächelnd.

»Warum? Wegen des Mordes?«, fragte Bahn. Er betrachtete irritiert seine Frau.

Gisela schüttelte den Kopf und schob mit der Hand ihr langes, blondes Haar aus der Stirn. »Nein. Mir geht es um einen Verkehrsunfall. Mich würde interessieren, ob der Unfall mitgeteilt wurde, den Anne verursacht hat.«

Obwohl Bahn nicht nachvollziehen konnte, was Gisela beabsichtigte, holte er das Polizeifax vom Schreibtisch des Kollegen zurück. Darüber hatten die beiden Frauen also am Abend gesprochen. »Was soll’s denn sein?«

»Etwas mit einem Radfahrer«, antwortete Gisela.

Schnell hatte Bahn das Fax überflogen. Dann schüttelte er den Kopf. »Davon gibt’s nichts. Wann soll das denn gewesen sein?«

»Letzte Woche Freitag«, antwortete seine Frau und Bahn seufzte theatralisch auf.

»Das interessiert doch keinen mehr. Wir sind eine Tageszeitung und kein Wochenblättchen.« Er ging ins Zimmer der Sekretärin und langte im Regal nach dem Ordner mit den abgehefteten Polizeiberichten.

Rasch wurde er fündig: Am Freitagmittag hatte eine 33-jährige Autofahrerin einen 41-jährigen Radfahrer, beide aus Düren, schwer verletzt. Die Frau hatte in Gürzenich an einer Kreuzung von einer Hauptstraße rückwärts nach rechts abbiegen wollen und dabei den Radfahrer übersehen, der gerade auf der Hauptstraße in ihre Richtung fuhr. Der Mann war zur stationären Behandlung ins Krankenhaus gebracht worden, so hatte die Polizei gemeldet.

Bahn erinnerte sich flüchtig. Irgendetwas war mit der Meldung gewesen, etwas Belangloses, das ihm im Moment nicht einfiel.

»Ist es das?«

»Wird wohl sein«, bestätigte Gisela. »Aber warum steht hier nicht, in welches Krankenhaus der Mann gebracht wurde?«

»Tut doch nichts zur Sache. Schreiben die nie. Anne hat den Mann angefahren und er ist verletzt. So etwas kommt immer wieder vor.«

Bahns Frau schien mit dieser Antwort nicht zufrieden. »Anne würde den Mann gerne besuchen. Wie kann sie ihn finden?«

»Ist doch ganz einfach. Anne hat den Namen des Mannes, der steht auf dem Protokoll der Unfallaufnahme. Sie braucht nur die drei Krankenhäuser in Düren anzurufen.«

»Das geht so einfach?«

»Das geht in der Tat so einfach, mein Schatz.« Bahn war aufgestanden, umarmte seine Frau und schob sie in Richtung Ausgang. »Und jetzt gehst du.«

Nach dem Blick auf die Uhr hatte er es eilig. Die Polizei würde mit ihrer Pressekonferenz nicht warten, bis er gekommen war.

Als Bahn den Konferenzraum in der Polizeiinspektion an der Aachener Straße betrat, stutzte er für einen Augenblick. Es herrschte Hochbetrieb. Tatsächliche und vermeintliche Journalisten hatten sich um den großen Holztisch gruppiert, an dessen Kopf zwei Stühle freigeblieben waren. Am anderen Ende des Tisches hatten drei Kameramänner ihre Geräte postiert. Mehrere Scheinwerfer sorgten für gleißendes, heißes Licht. Die vermaledeiten Kettenraucher hatten bereits die Luft verpestet.

Bahn lag schon ein Fluch auf den Lippen, weil er keinen Platz fand, dann erkannte er den winkenden DZ-Kollegen Krupp, der den Stuhl an seiner Seite freigehalten hatte.

»Ich weiß doch, dass ihr vom Tageblatt immer etwas später kommt«, flachste dieser kameradschaftlich. »Du bist bekanntlich immer der Letzte.«

Bahn nahm den Kollegenspott mit Gleichmut hin und bot Krupp sogar an, den Inhalt einer Mineralwasserflasche mit ihm zu teilen. Neugierig griff er nach dem vor ihm liegenden Blatt, während er trank.

Die Polizei hatte bereits einen Bericht über den Todesfall verfasst. Danach hatte am gestrigen Abend gegen 22.15 Uhr eine Fußgängerin die Leiche der 29-jährigen Cornelia B. in einem Garagenhof am Grüngürtel entdeckt. Die alarmierte Polizei stellte unzweifelhaft fest, dass die Frau Opfer eines Verbrechens geworden ist. Die Ermittlungen liefen in Richtung Mord. Die sofort eingeleitete Fahndung war erfolglos geblieben.

»Das ist weniger, als ich weiß«, bemerkte Bahn trocken zu seinem jungen Nachbar, der ihn argwöhnisch anschaute.

»Was weißt du denn schon wieder, was wir nicht wissen?«, wollte der DZ-Mann erstaunt wissen.

»Stell die richtigen Fragen und du wirst die richtigen Antworten bekommen«, entgegnete Bahn grinsend. Es tat gut, den Seitenhieb von eben kontern zu können.

Die murmelnden Gespräche stoppten auf der Stelle, als die Tür geöffnet wurde und zwei Männer eintraten.

»Kennst du die?«, flüsterte Krupp.

Bahn schüttelte ahnungslos den Kopf. »Die sind nicht aus Düren.«

Der ältere der beiden Männer stellte sich als Staatsanwalt Frings von der Staatsanwaltschaft Aachen vor, was Bahn aufstöhnen ließ. Wenn die Staatsanwaltschaft Regie führte, hatte die Kripo nichts mehr zu sagen. Er würde nur gefilterte Informationen aus Aachen bekommen. Die Dürener Polizisten waren als Untergebene zum Schweigen verpflichtet.

Als Hauptkommissar Schmitz gab sich der zweite Fremdling zu erkennen, ein stämmiger breitschultriger Mann mit einem kantigen Gesicht, vielleicht 40 Jahre alt.

»Ich leite die Ermittlungen in diesem Mordfall«, erklärte er den überraschten Journalisten im schneidigen Kommandoton, »und bin Staatsanwalt Frings unterstellt, der Ihnen alle Auskünfte erteilt.« Damit lehnte er sich bequem in den Stuhl zurück und kaute grinsend am Flügel seiner Nickelbrille.

Der Staatsanwalt, der den wahrscheinlich trügerischen Eindruck eines gutmütigen Familienvaters vermittelte, hatte die Ellenbogen auf die Tischplatte gestützt und die Hände gefaltet.

»Die Tatsachen haben wir Ihnen bereits in schriftlicher Form mitgeteilt«, sagte er mit leiser Stimme, mit der er die Journalisten zur Ruhe zwang, »mehr gibt es derzeit nicht. Oder haben Sie etwa noch Fragen?«

Bahn und Krupp sahen sich verdutzt an. Was sollte das? Da fehlte doch alles, was einen Kriminalfall ausmachte.

»Ich hätte gerne mehr Informationen über das Opfer«, meldete sich schnell ein Journalist zu Wort, von dem Bahn annahm, er arbeite für den Kölner Express. »Vollständiger Name, Beruf, Familienstand, Herkunft.«

»Cornelia Bergstein, 29 Jahre alt, Hausfrau, verheiratet, keine Kinder, vor einigen Monaten nach Düren gezogen«, antwortete der Staatsanwalt knapp. Er gab flüsternd zu verstehen, dass er nicht mehr preisgeben wollte, als unbedingt sein musste.

»Wo war der Ehemann zur Tatzeit?«, wollte der Express-Reporter wissen. »Die meisten Morde geschehen bekanntlich im Familienkreis oder in der Bekanntschaft.«

»Der Ehemann war zur Tatzeit auswärts«, gab Frings zur Antwort. »Er hat ein einwandfreies Alibi, falls Sie vermuten, er könne an der Tat beteiligt sein.« Der Aufenthaltsort des Mannes tue nichts zur Sache.

»Für uns steht fest, dass er nicht als Mörder infrage kommt. Weitere Fragen?« Er sah sich ungehalten um, als missfiele ihm diese Pressekonferenz.

»War die Frau immer Hausfrau oder hatte sie einen Beruf?«

»Sie ist gelernte Friseuse.«

»Raubmord?«

»Nein.«

»Sexualdelikt?«