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Nominiert von der Jugendjury für den Deutschen Jugendliteraturpreis 2024 und
ausgezeichnet mit dem LUCHS im Januar 2023: „Was Sarah Crossan die Leserinnen und Leser fühlen lässt, vergisst man nicht so schnell.“ Katrin Hörnlein, Die ZEIT
In ihrem neuen Jugendroman erzählt die preisgekrönte Autorin Sarah Crossan von einer Freundschaft über Generationen hinweg. Die 15-jährige Allison ist von zu Hause abgehauen und würde ihr altes Leben am liebsten vergessen. Unterschlupf findet sie bei Marla, die nach und nach die Erinnerung an sich selbst verliert. Marla hält die unerwartete Besucherin für ihre Jugendfreundin Toffee. Und Allison, die sonst nirgendwohin kann, schlüpft in diese Rolle. Gemeinsam kochen und tanzen sie, gehen zum Strand, kümmern sich umeinander. Und Allison begreift, was es bedeutet, eine richtige Familie zu haben. Ein intensiver Roman über die Kraft, für sich und andere einzustehen.
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Seitenzahl: 168
Veröffentlichungsjahr: 2023
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In ihrem neuen Jugendroman erzählt die preisgekrönte Autorin Sarah Crossan von einer Freundschaft über Generationen hinweg. Die 15-jährige Allison ist von zu Hause abgehauen und würde ihr altes Leben am liebsten vergessen. Unterschlupf findet sie bei Marla, die nach und nach die Erinnerung an sich selbst verliert. Marla hält die unerwartete Besucherin für ihre Jugendfreundin Toffee. Und Allison, die sonst nirgendwohin kann, schlüpft in diese Rolle. Gemeinsam kochen und tanzen sie, gehen zum Strand, kümmern sich umeinander. Und Allison begreift, was es bedeutet, eine richtige Familie zu haben. Ein intensiver Roman über die Kraft, für sich und andere einzustehen.
Sarah Crossan
Toffee
Aus dem Englischen von Beate Schäfer
Hanser
Für Aoife
Deine Worte vergessen sie vielleicht,
doch was du sie hast fühlen lassen,
wird ihnen für immer im Gedächtnis bleiben.
Carl W. Buehner
Sie heißt Marla,
und ich bin für sie Toffee,
auch wenn meine Eltern mich Allison genannt haben.
Genau genommen
hat Mum den Namen ausgesucht;
für Dad war ich damals bloß ein brüllendes Bündel,
und wie ich heißen sollte,
war ihm ganz egal.
Er hatte Wichtigeres im Kopf.
Jetzt
schläft Marla im Zimmer nebenan,
wo sich auf der Tapete
Vergissmeinnicht hochrankt.
Sie liegt auf dem Rücken und schnarcht,
der Mund steht weit offen.
Manchmal wacht sie nachts
wimmernd auf,
fuchtelt mit den Armen,
fleht die Luft an, sie in Frieden zu lassen,
doch bitte, bitte in Frieden zu lassen.
Dann laufe ich zu ihr und
streiche mit den Fingerspitzen über ihren Arm.
Ich bin da. Alles in Ordnung.
Du hast bloß schlecht geträumt.
Meistens hilft das.
Dann sieht sie mich an,
als wäre ich genau der Mensch, den sie erwartet hat,
macht die Augen zu und
driftet wieder weg.
Die Matratze im Bett ist so weich, dass ich einsinke,
die Bettlaken sind vom vielen Waschen
dünn wie Papier.
Vorm Fenster gibt es bloß Tüllgardinen statt Vorhänge,
von der Straße gleißt helles Licht herein.
Das hier ist nicht mein Zuhause.
Das hier ist nicht mein Zimmer.
Das hier ist nicht mein Bett.
Ich bin nicht, wer ich zu sein vorgebe.
Marla ist nicht, wer sie zu sein glaubt.
Ich bin ein junger Mensch, der vergessen will.
Marla ist ein alter Mensch, der sich zu erinnern versucht.
Manchmal bin ich traurig.
Manchmal ist sie wütend.
Trotzdem.
Hier
in diesem Haus
bin ich so glücklich
wie nie zuvor.
Ein Mann mit Bart
sitzt neben mir auf der Bank
im Busbahnhof.
Seine Nägel sind eingerissen und dreckig.
Seine Turnschuhe haben Löcher an den Zehen.
Lust auf ein Pringle?
Er zaubert eine rote Dose aus der kakifarbenen Jacke.
Ich rücke ein Stück von ihm weg,
starre auf den Rucksack bei meinen Füßen,
in dem Brötchen und Klamotten sind.
Ich konnte nicht viel tragen —
aber es hat sowieso nicht viel zum Mitnehmen gegeben.
Sag mal, was ist denn mit deinem Gesicht passiert?
Der Mann kneift die Augen zusammen, kaut laut seine Chips,
rückt dicht an mich ran.
Auf der Jacke sind Krümel, in seinem Bart auch.
Da hat dich ja einer richtig übel zugerichtet.
Ich drehe mich weg
in der Hoffnung, dass er denkt, ich wäre fremd hier
und könnte ihn nicht verstehen.
Und ich fühle mich wirklich fremd, wie ein Alien,
schon jetzt unendlich weit weg von zu Hause,
alles um mich herum nur ein unsinniges Getöse.
Ein Bus fährt vor. Ich reiche dem Fahrer mein Ticket,
ein gelber Fahrschein nach Irgendwohin,
mit Dads Kreditkarte bezahlt, kontaktlos.
Ausreißerin.
Lügnerin.
Diebin.
Auf einem Platz ganz hinten
presse ich die Stirn gegen die
kalte, feuchte Fensterscheibe.
Ich will nach Westen —
zu Kelly-Anne,
die gar nicht gehen wollte,
jedenfalls nicht ohne mich.
Der Bus fährt ruckelnd an.
Ich haue ab.
Ihr Koffer war in der Mitte ausgebeult,
als hätte er sich überfressen.
Anscheinend hatte sie am Vortag schon gepackt — es geplant.
Tut mir leid, Allie, ich muss von hier weg.
Wird immer schlimmer mit ihm.
Kelly-Anne zog den schlichten Rubinring vom Finger,
den Dad ihr geschenkt hatte.
Ihr Gesicht aufgedunsen und blass.
Seit Wochen kein Lächeln mehr.
Trotzdem.
Geh nicht.
Ich zerrte an ihrer Jacke.
Komm doch mit.
Ihr Blick saugte sich an der Wanduhr fest,
sie hatte schon die Stiefel an.
Wir finden eine billige Bleibe, und sonst
fällt uns schon auch noch was ein, meinst du nicht?
Lauf hoch und pack ein paar Sachen ein.
Aber mach schnell.
Komm schon. Schnell!
Ich ließ die Jacke los.
Liebst du ihn denn nicht?
Der Mann ist ein Arschloch, Allie.
Der dunkle Bluterguss an ihrem Arm war Beweis genug.
Und mich, hast du mich denn nicht lieb?
Ich kann nicht bleiben. Da gibt’s nichts zu erklären.
Sie beäugte den Ring.
Gerade du musst das doch verstehen.
Tu ich ja, aber …
Meine Stirn brannte,
meine Knie waren steif.
Er ist doch nicht ganz und gar böse, oder?
Er arbeitet so viel,
das macht ihn eben müde.
Allie …
Wir kriegen’s bestimmt hin, ihm gute Laune zu machen.
Wir beide zusammen.
Lass es uns doch noch mal versuchen.
Das hab ich lange genug getan, antwortete sie patzig
und verdrehte mein Handgelenk.
Sie hatte mir noch nie wehgetan,
aber jetzt war es anscheinend so weit.
Du musst nicht bleiben.
Unabsichtlich zeigte sie auf den Spiegel —
auf sich selbst.
Ihr Spiegelbild starrte zurück,
zweifelnd und
geknickt.
Sie kapierte einfach nicht,
dass ich keine Wahl hatte.
Ich musste bleiben.
Er war nicht mein Freund, sondern mein Vater.
Die eigenen Eltern kann keiner einfach verlassen.
Wen hatte ich schon außer ihm?
Wen hatte er schon außer mir?
Schluchzend stand ich im Flur.
Kelly-Anne zog einen zerknüllten Zehner aus der Tasche,
in den eine Pfund-Münze eingewickelt war wie ein Geschenk.
Hier, sagte sie,
als könnte Geld alles in Ordnung bringen.
Ich such mir eine Unterkunft, dann ruf ich dich an.
Sei stark und achte drauf, ihn nicht wütend zu machen.
Sag ihm, du hast nicht mitgekriegt, wie ich gegangen bin.
Lass ihn glauben, dass ich wieder zurückkomme,
damit er nicht loszieht und mich sucht.
Und das war’s.
Ich sah ihr vom Fenster aus hinterher,
voller Angst, was passieren würde,
wenn Dad nach Hause kam
und merkte, dass seine Freundin weg war und
der Verlobungsring auf dem Flurtischchen lag —
der Ring mit dem Rubin, der früher mal
meiner Mutter gehört hatte,
vor langer Zeit, als er sie liebte,
von Herzen liebte.
Diese Straße muss die längste im Universum sein.
Asphalt und Asphalt und Asphalt.
Ich spiele mit meinem Telefon herum,
folge der gezackten blauen Linie der M5
bis nach Bude in Cornwall.
Vor Monaten hätte ich mir die Zeit noch damit vertrieben,
Jacq irgendwelche miesen Emojis zu schicken und
heimlich die ganzen Loser im Bus zu fotografieren,
die mit sperrangelweit offenem Mund schlafen.
Jetzt kann ich keinem schreiben und
kann nirgendwohin zurück.
Hoffentlich ist in Kelly-Annes Leben
immer noch Platz für mich.
Asphalt und Asphalt und Asphalt.
Die längste Straße im Universum.
Eimer und Schaufeln
baumeln an einer Markise.
Am Himmel titanweiße Möwen, die kreischen.
Eine Schar Mädchen schleckt Eis aus der Waffel,
obwohl es leicht nieselt.
Eine bleibt stehen
und läuft gleich wieder hinter den anderen her:
Jetzt wartet doch mal!
Ich hieve den Rucksack
die Bustreppe
runter
aufs Pflaster,
sauge salzige Luft ein.
Ich habe einen Fetzen Papier mit der Adresse
und einen Stadtplan auf dem Handy.
Bis zu Kelly-Anne sind es zwei Meilen.
Ein Mann in kariertem Fußballtrikot
öffnet die Tür. Ja?
Ungeniert glotzt er meine Wange an.
Ist Kelly-Anne da?
Meine Schultern tun weh.
Ich setze den Rucksack ab.
Kels? Nee.
Die kreuzt auch nicht mehr hier auf.
Hat sich verpisst, du weißt schon.
Er nimmt die Werbeprospekte von der Fußmatte,
schaut sie kurz durch,
tritt vor die Tür und
schmeißt sie in die Mülltonne.
Die ist oben in Aberdeen.
Hat da ’n Job, Verkäuferin oder so. Schuldet mir noch Miete.
Er kratzt sich am Ohr und starrt seinen Finger an,
als gäbe es da was Faszinierendes zu entdecken.
Versuch’s übers Handy. Allerdings geht sie nie dran.
Werd ich machen.
Ich sage ihm nicht,
dass ich auf meine letzten Nachrichten
auch keine Antwort bekommen habe
und dass es, wenn sie in Aberdeen ist,
sowieso nichts bringt,
ich bin ja extra nach Cornwall gekommen.
Ein ganzes großes Land liegt zwischen uns.
Alles okay bei dir?
Der Mann mustert meinen Rucksack.
Ich muss los, sage ich.
Hast du denn was, wo du hinkannst?
Seine Gesichtszüge sind weicher geworden.
Eine Katze stupst gegen seine Turnschuhe.
Keine Ahnung.
Ein Zuhause jedenfalls nicht,
so viel ist klar.
Ich tippe
mit den Fingerspitzen
auf meine
Wange.
Sie ist immer noch heiß.
Feuerwerksdunst hängt in der Luft,
und die Dämmerung riecht irgendwie nach Schießpulver,
obwohl es bis Guy Fawkes noch Wochen hin ist.
Direkt vor mir liegt ein geschotterter Weg
mit Gärten auf beiden Seiten,
und obwohl Google Maps sagt,
ich soll nach rechts,
nehme ich diesen Weg, zurück Richtung Stadt,
runter zum Meer.
In einem Garten
ein Gewächshaus mit vergammelten Fenstern.
In einem anderen
ein Haufen Spielzeug, zu einer Pyramide aufgetürmt.
Im nächsten
ein Stapel mit Liegestühlen und Klapptischen.
Aber ganz hinten, wo der Weg fast zu Ende ist,
gibt es einen maroden Schuppen,
dessen Tür nur angelehnt ist,
dahinter ragt ein verlassenes Haus auf —
ein Haus ohne Licht,
die Fenster von Efeu überwuchert.
Ich zwänge mich durch eine Lücke im Zaun,
drücke die Schuppentür auf,
schlüpfe hinein.
Auf dem Boden liegen rostige Farbdosen,
daneben ein aufgeplatzter Sack Zement.
Schwere Gartengeräte baumeln an Haken;
das kleine Fenster geht raus auf den Weg und
ist mit einer zerrissenen Wolljacke zugehängt.
Ich kann meinen Pullover als Kissen nehmen
und meine Füße gegen die Tür stemmen.
Es gibt schlimmere Zufluchtsorte.
Ich checke mein Telefon,
obwohl es gar nicht auf lautlos gestellt ist
und ich sowieso jeden Ton gehört hätte.
Immer noch nichts von Kelly-Anne.
Von Dad auch nicht.
Ich lege mich hin,
male mir aus, wie morgen früh die Sonne aufgehen wird,
bettle den Schlaf an, er soll mich schlucken,
bevor es vollends finster wird
und die Nacht meine Angst anschaltet —
nicht vor Ratten oder Mäusen,
die im Dunkeln vielleicht an
meiner Brandwunde nagen könnten,
als wäre das Grillfleisch,
zart und wie für sie gemacht,
sondern vor Menschen und dem,
was sie einem Mädchen antun könnten,
das sich, sowieso schon verletzt,
allein
ins Dunkel
kauert.
Ich greife nach einem rostigen Schraubenschlüssel,
spüre sein Gewicht in meiner Hand,
hole aus und schwinge ihn mit ganzer Kraft
einem unsichtbaren Fremden entgegen,
einer drohenden Gefahr.
Mein Gesicht tut weh.
Ich lasse den Schraubenschlüssel fallen, schließe die Augen.
Das Telefon bleibt stumm.
Vorm Schuppen ein Schaben und Scharren
wie von Stiefeln auf Kies.
Ich schrecke hoch, überrascht, geschlafen zu haben.
Die Tür knarrt,
ich kreische,
und in den Schuppen schleicht sich
sanft wie Seide
eine graue Katze
mit Augen, die leuchten wie winzige Monde.
Pss-pss-pss-pss-pss, zischle ich,
tippe die Fingerspitzen aneinander und
strecke ihr meine leere Hand hin.
Erst schnuppert die Katze,
dann dreht sie sich weg,
mit hochgerecktem Schwanz,
den Arsch entblößt.
Meine Zuneigung kümmert sie nicht.
Er meinte, wir könnten doch
einen Filmabend machen,
ich sollte entscheiden, was wir anschauen, egal was,
bloß wollte er vorher
noch schnell unter die Dusche.
Am liebsten mochte er
Ganz oder gar nicht,
dabei lachte er immer ganz laut.
Also suchte ich diesen Film aus,
als meinen Wunsch für uns beide,
machte den Fernseher bereit und so weiter.
Popcorn mochte er auch,
salzig und frisch,
also machte ich welches,
ließ in einem Topf auf dem Herd
die Maiskörner
popp-
popp-
poppen.
Bloß waren es zu viele,
das Öl wurde zu heiß,
Rauch waberte durch die Küche,
und der Rauchmelder schrillte los,
füllte das Haus mit
Lärm.
Dad kam in die Küche gerannt, mit nassen Haaren.
Verdammte Scheiße, brüllte er,
und bevor ich ihm erklären konnte,
das wäre doch
Überraschungspopcorn,
extra für ihn,
packte er mein Handgelenk
und verdrehte es,
weiter, immer weiter und immer weher,
dann trieb er mich in den Garten,
wo ich stundenlang
in der Kälte sitzen
und gründlich über
mein Verhalten
nachdenken musste.
Weil ich nicht wieder einschlafen kann,
hole ich eine Banane aus dem Rucksack.
Sie ist von oben bis unten
voller dunkler Flecken.
Ich werfe sie weg.
Angeschlagenes Obst
habe ich noch nie
essen können.
Das meiste konnte ich verstecken
unter langen Ärmeln oder Strumpfhosen,
dann brauchte es bloß eine gefälschte Entschuldigung:
Allison kann beim Sport heute nicht mitmachen,
weil bla, bla, bla.
Die Lehrer verdrehten die Augen
(für Regelschmerzen hatten sie kein Verständnis),
erlaubten mir aber, am Rand sitzen zu bleiben.
Die anderen tobten in T-Shirts und Shorts auf Trampolinen,
schlugen Saltos,
ließen sich nach vorn fallen
und wieder hochschnellen,
flogen bis zum Turnhallendach.
Sie lachten und johlten vor Freude,
feierten ihre Freiheit,
während ich Zeit hatte zu überlegen,
wie ich verhindern könnte, Dad in die Quere zu kommen,
wenigstens für einen Tag,
damit die dunkelblauen Blutergüsse
ins Gelbliche verblassten.
Brandungswellen walzen den Strand platt,
Kleinkinder stopfen sich Sand in den Mund.
Mit meinem letzten Bargeld kaufe ich mir
eine Tüte Fritten —
Dads Kreditkarte funktioniert nicht mehr —,
kippe eine Ladung Essig darüber und
gönne mir als Nachtisch einen pinken Lolli,
als wäre ich erst acht.
Dann spuckt der Himmel auf einmal Regentropfen,
malt Tupfen in den Sand, bis der ganz dunkel geworden ist,
und ich habe als Unterschlupf nur den Schuppen.
Also mache ich mich auf den Weg.
Die großen Fenster sind fest verschlossen,
aber aus der Nähe betrachtet
wirken sie viel sauberer
als von ganz hinten
im Garten.
Ich lege die Hände um die Augen und
spähe durch die Hintertür in die Küche:
braune Schränke und ein Ablaufbrett aus Blech —
alles wirkt wie aus einer Zeit vor meiner Geburt,
und auf dem Herd steht ein Kessel.
Ein Kessel mit kochendem Wasser,
der pfeifend nach jemandem ruft:
Komm schnell, komm schnell,
stell das Dampfgeschrei ab.
Da sehe ich sie,
wie sie hinter der Kühlschranktür vorkommt,
das weiche Gesicht
voller Angst,
als sie mich entdeckt.
Wir starren uns an.
Und rühren uns nicht.
Ich renne los,
quer durch den Garten,
zurück zum Schuppen,
schnappe meine Sachen
und will
weg
weg
weg.
Ich will einen Abgang machen, so schnell wie möglich,
hier kann ich nicht bleiben.
Aber dann.
Toffee?
Eine Stimme, leise wie Bleistift auf Papier.
Der Zaun lässt mich nicht durch,
egal wie sehr ich rüttele,
ziehe,
zerre,
und da ist wieder die Stimme.
Lauter diesmal und der Klang irgendwie komisch.
Herrjemine, nun komm schon zurück!
Toffee!
Sie muss aus Irland sein, das höre ich.
Die Frau hebt die Hand,
wie ein Kind im Unterricht.
Toffee?, wiederholt sie zum dritten Mal.
Das klingt wie eine Einladung ins Haus,
zu Tee und Keksen oder so.
Verzweiflung liegt in ihrer Stimme.
Ich kenne das — ich weiß, wie es ist zu betteln,
dass jemand anderes nicht weglaufen soll.
Na dann.
Der Kessel ist vom Herd gerückt und verstummt.
Die Küche riecht nach getoasteten Rosinenbrötchen.
Auf der Arbeitsfläche steht ein leerer Teller
mit schwarz verbrannten Krümeln.
Ich hätte zu gern eins gehabt, mit jeder Menge Butter.
Ich krieg das Wasser nicht mehr aus.
Die Frau zeigt,
streckt den ganzen Arm vor,
mit krummen, knotigen Fingern.
Der Hahn geht nicht mehr zu, erklärt sie.
Das müssten die doch besser hinkriegen,
sind schließlich nicht alle Leute Muskelkerle.
Wobei von mir aus jeden Tag so einer
hier aufkreuzen könnte, der den Hahn abdreht.
Ehrlich, so ein starker Kerl könnt doch gleich
noch mehr rumfummeln, nicht bloß am Wasserhahn.
Sie zwinkert mir zu und kichert,
dann führt sie mich quer durch die Küche
in den Flur
und weiter in ein Badezimmer,
wo das Wasser in der Wanne
auf die Teppichfliesen überzulaufen
droht.
Ich ziehe den Stöpsel und drehe den Hahn ab.
Das Wasser gurgelt und gluckst.
Eine Glühbirne flackert.
Ich wollt bloß die Gardinen waschen.
Aber vielleicht schmeiß ich die eh besser weg.
Ich würd sie lieber loswerden als waschen.
Wer braucht schon Gardinen?
Nicht mehr ganz weiße Tüllgardinen liegen
zu einem Haufen geknüllt im Waschbecken.
Ich muss los.
Ich mache einen Schritt zurück,
schiele zur Vordertür.
Die Frau legt den Kopf schief.
Kannst du nicht bleiben?, fragt sie.
Ich sag Mami, sie soll noch einen Teller hinstellen.
Bei euch daheim gibt’s doch kaum was zu beißen.
Wie? Nein, ich hab noch was vor, sage ich,
aber ohne mich zu rühren,
mein Körper weiß nämlich mehr als mein Kopf:
Ich habe kein Geld und kann nirgends hin.
Wenn ich gehe, muss ich raus in den Regen.
Die Frau lächelt,
ich sehe ihre kleinen gelben Zähne, ganz schief sind die.
Sie betrachtet mein Gesicht.
Tut das weh?, fragt sie.
Ich berühre die Brandwunde.
Ja, gebe ich zu. Ein bisschen.
So furchtbar leid tut ihr das anscheinend nicht,
trotzdem sagt sie: Ich hab da eine Salbe, die hol ich mal.
Sie schlurft wieder in die Küche,
kramt in einem Schrank und reicht mir eine
Tube Sonnencreme, Lichtschutzfaktor 30.
Brauchst du so was?, fragt sie.
Ich drehe die Sonnencreme um und grinse.
Na ja, nicht unbedingt das Wetter dafür, oder?
Auf einmal wirkt sie sauer,
als wäre ich am Regen schuld.
Der Bauch tut mir schon weh vor lauter Hunger.
Also frage ich, ob ich auch ein Rosinenbrötchen haben kann.
Na sicher. Das ist mal wieder typisch:
Du kommst bloß, wenn du Hunger hast.
Sie zieht einen Stuhl vor.
Setz dich.
Komm, setz dich hin.
Knirschende Teigkruste,
saftige Rosinen,
geschmolzene Butter,
alles mischt sich
in meinem Mund.
Noch nie habe ich
etwas Köstlicheres
gegessen.
Ich frage sie nach ihrem Namen.
Erst wedelt sie vorwurfsvoll mit dem Finger,
dann denkt sie mit düsterem Blick
über die Frage nach.
Ich bin Marla.
Ja.
Ich bin Marla.
Aber jetzt sag mal …
hat sich Conor gemeldet,
wegen dem Hurling-Spiel?
Gehen wir Samstag jetzt hin oder nicht?
Ich find’s ja unmöglich, wie der mit uns umspringt.
Jede Woche der gleiche vermaledeite Mist.
Der Kerl gehört zur unzuverlässigen Sorte, stimmt’s?
Eine Pause. Ein kurzer Blick aus dem Fenster.
Das Wetter hat gewechselt, oder?
Gestern war’s noch so sommerlich.
Ich wollt schon Minze pflanzen.
Riecht da irgendwas angebrannt
oder bild ich mir das bloß ein?
Hagelkörner prasseln gegen die Fensterscheiben,
wie kleine Glasperlen.
Marla hält mir einen kirschroten Fettstift hin
und deutet auf meine Wange.
Versuch’s doch mal damit.
Kann ich noch ein Rosinenbrötchen haben?, frage ich.
Zweimal erkläre ich Marla,
wie ich wirklich heiße:
Allison. Allison.
Erst benutzt sie den Namen ein paar Mal,
ohne mich dabei anzusehen,
aber nach einer Weile nennt sie mich doch wieder Toffee.
Das ist wohl die Person, für die sie mich hält,
also widerspreche ich nicht mehr.
Außerdem gefällt mir der Name:
Toffee, wie ein Karamellbonbon.
Ein Mädchen mit einem Namen,
der süß klingt und ein Rätsel ist.
Mal weich, mal zäh, mal hart.
Ein Mädchen zum Zähneausbeißen.
Ich stehe vor Marlas Badezimmerspiegel
und betrachte mein ramponiertes Gesicht.
Ich dachte, der dunkle Fleck wäre inzwischen verblasst
und die Stelle weniger sichtbar,
doch sie ist immer noch da:
flammend rot.
Es wirkt gar nicht mal wie eine Brandwunde,
eher so, als hätte mich jemand markiert —
hätte mir irgendwas ins Gesicht geknallt,
das wie Schinkenspeck aussieht.
Hinter mir sehe ich Marla im Spiegel.
Sie beobachtet mich,
die kaum vorhandenen Augenbrauen in tiefe Furchen gelegt.
Das sieht schlimm aus. Lass mich dir helfen.
Nein, knurre ich.
Ich kann mit ihrer Besorgtheit nichts anfangen,
also drehe ich mich weg, damit sie im Spiegel
nicht mehr so viel sieht von meinem wehen Gesicht.
Ich will kein Mitleid von einer Fremden.
Und zum Teil bin ich ja sowieso selbst schuld.
Dummes Ding.
Dummer Mund.
Dummer Fehler.
Das verblasst irgendwann.
In ihre Stimme mischt sich Wut.
Ich wusste gar nicht mehr, wie übel das aussieht.
Sie trägt einen Ring mit einem
leuchtend blauen Saphir
und Ohrstecker aus echten Perlen.
Zusammen würde das ordentlich was einbringen.
Mein Mund ist wie verhakt.
Ich blinzele.
Ich muss los, sage ich.
Ich gehe in den Flur.
Eine Lederhandtasche baumelt
unverschlossen
von einem Pfosten
am Treppengeländer.
Marla schüttelt traurig den Kopf.
Wär doch erste Sahne, wenn du bleibst.