Tofu trifft Bratwurst - Alina Alberti - E-Book

Tofu trifft Bratwurst E-Book

Alina Alberti

5,0

Beschreibung

Auf einer Kreuzfahrt verlieben sich die attraktive Köchin Vivi und der charmante Restaurantbesitzer Luis ineinander. Auf den ersten Blick ein ideales Paar, privat wie beruflich. Doch Vivi ist eine kämpferische Veganerin und Luis ein überzeugter Kampfgriller. Und Luis' Ex-Freundin Maxi ist jede Intrige recht, um die Verbindung zwischen Luis und Vivi zu torpedieren. Hohe Hürden für ein Happy End.

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»Zuerst ignorieren sie dich, dann lachen sie über dich, dann bekämpfen sie dich und dann gewinnst du.«

Mahatma Gandhi

Über die Autoren:

Alina Alberti arbeitet als Journalistin in Bonn für Print und TV. In ihrem ersten Sachbuch beleuchtete sie die Rolle der neuen Medien für die Schulentwicklung. Die Germanistin mag Bücher mit Geschichten, die ihr helfen, andere Perspektiven einzunehmen und neue Welten zu entdecken. Für sie sind vor allem in der heutigen Zeit Toleranz und gegenseitiger Respekt Themen von zentraler Bedeutung. Auch vor diesem Hintergrund lässt sie diesen Liebesroman in der veganen Welt spielen.

Arne Aureli ist Sozialwissenschaftler und arbeitet in Bonn als TV-Journalist, Realisator und TV-Produzent. Seine große Erfahrung mit Filmtexten hat ihn motiviert, als Co-Autor diesen Roman zu verfassen. Ein Buch bietet ihm viel mehr Raum und Zeit, die Protagonisten auf Schritt und Tritt zu begleiten und ihre Nöte und Wünsche nachzuempfinden und auszuleuchten. Dabei interessieren ihn vor allem schicksalhafte Ereignisse, die Menschen vor besondere Herausforderungen stellen.

Inhaltsverzeichnis

Kapitel: Auftakt mit Hindernissen

Kapitel: Mit Karacho ins Glück

Kapitel: Es kommt, wie es kommen muss

Kapitel: Wo ein Wille ist, ist auch ein Weg

Kapitel: Des einen Not ist des anderen Brot

Kapitel: Nichts ist so wie es scheint

Kapitel: Plötzlich ist alles ganz anders

Epilog: Es muss Liebe sein

1. Kapitel Auftakt mit Hindernissen

01

Vivi hatte ewig für ihr Make-up auf dem halben Quadratmeter Kabinenbad gebraucht. Sie betrachtete sich im Spiegel. Ihre Hand war ganz ruhig, als sie die Konturen ihrer Lippen mit dem Pinsel nachzeichnete. Das dunkle Kirschrot machte ihren Mund noch verführerischer. Sie legte sonst keinen so großen Wert auf ihr Äußeres, doch für ihr erstes mediterranes Abendessen an Bord der »AIDA« wollte sie besonders schick sein. Sie benutzte tierfreie Produkte und achtete bei Kosmetika akribisch darauf, dass keine Tierversuche im Spiel waren. Auch für ihre Kleidung kamen nur vegane Materialien in Frage wie Baumwolle, Leinen oder Hanf.

Der erste Abend an Bord sollte ein Highlight werden. Vivi bedauerte, dass trotz mediterraner Sonne die ersten dunklen Wolken aufzogen. Ihr Freund David hatte nach heftigen Diskussionen die Kabine verlassen, um im Restaurant einen Tisch zu reservieren. Sie hatten sich – wie so oft – ums Essen gestritten. Vivi wollte lieber ins »East-Restaurant«, da sie dort als Veganerin eher auf ihre Kosten kommen würde. David zog es ins »Marktrestaurant«, weil da für ihn die Auswahl größer war, wie er stur behauptete. Um des lieben Friedens willen hatte sie zugestimmt. An sich verstanden sich David und sie. Aber was hieß schon »an sich«? An sich war die Beziehung zur Gewohnheit geworden. Mit seinen 1,70 Meter und dem etwas lichtem Haar war er nicht so ganz ihr Typ. Im Bett lief es auch nicht gerade optimal, obwohl sie sich erst seit drei Jahren kannten. Aber er war für sie da, als sie ganz unten war. Davids Vorgänger hatte sie von heute auf morgen verlassen. Obwohl es nie große Konflikte oder Streitereien gab, stellte er sie nach zwei Jahren plötzlich vor vollendete Tatsachen. Er hätte eine neue Freundin, die würde er mehr lieben. Das wäre so, er könne nichts dafür. Nach dieser Ansage hatte er seine Sachen gepackt und sich aus dem Staub gemacht. Sie war total von der Rolle und hatte die ganze Nacht geweint. Als sie dann am nächsten Tag ziellos mit roten Augen durch Köln irrte, hatte sie David angerempelt und war umgeknickt. Er half ihr wieder auf die Beine und verwickelte sie in ein Gespräch. Er interessierte sich für ihre Probleme und hörte ihr zu. Er nahm sie in den Arm, ohne dass es ihr peinlich war. Von da an sahen sie sich regelmäßig. Mit ihm konnte sie über alles reden. Das war wichtig für sie.

Der Knackpunkt war Davids Essverhalten. Er war ein ausgemachter Fleischesser, und sie mutierte während ihrer Beziehung zu einer überzeugten Veganerin, die ihren Ekel vor gebratenem Tier nicht immer unter Kontrolle halten konnte. Das tat sie häufig lautstark kund. Sie weigerte sich schließlich, für ihn Fleischgerichte zu kochen. Konnte das auf Dauer überhaupt gut gehen? Die Reise mit dem Kreuzfahrtschiff sollte eine Art Neustart für ihre Beziehung sein. Sie wollten auf neutralem Boden in einer entspannten Atmosphäre noch einmal über alles reden. Vivi setzte dabei auf Unterstützung und hatte ihre Freundin Laura überredet, mit ihnen zu fahren.

Das Klopfen an der Kabinentür riss sie aus ihren Gedanken. Sie warf einen letzten prüfenden Blick in den Spiegel. Dann öffnete sie die Tür.

»Laura, Schatz, pünktlich wie immer. Du hast dich sehr hübsch gemacht.«

Laura strahlte und zauberte ihre süßen Grübchen hervor.

»Danke. Für unsere hoffentlich unvergessliche Mittelmeerreise war mir kein Aufwand zu schade. Ich freue mich total auf die nächsten zehn Tage. Wo ist David?«

»Er sondiert schon einmal das Buffet«, antwortete Vivi knapp, »lass uns gehen und den Abend genießen.«

02

»David, ich sehe jetzt nicht das, was ich sehe, oder?«

Vivi starrte schockiert auf Davids Teller.

»Entrecote rare. Argentinisch würde ich sagen, der richtige Starter für den ersten Urlaubstag«, antwortete David mit Unschuldsmine.

Er schob sich ein Stück Fleisch in den Mund und kaute genüsslich, als wollte er wie ein Tester die Qualität gründlich prüfen.

»Zart, gute Röstaromen, leicht pfeffrig. Ich bin begeistert. Wollt ihr Rotwein?«

Ohne die Antwort abzuwarten, goss David beiden aus der Karaffe Wein ein. Vivi nahm gar nicht erst Platz, sondern funkelte ihn aufgebracht an, als hätte er sich eines Verbrechens schuldig gemacht. Sie sprach so laut, dass die Familie am Nachbartisch irritiert zu ihnen herüber sah. Laura legte den Zeigefinger auf ihre Lippen und suchte Vivis Blick. Vergeblich. Sie kannten sich seit zwei Jahren.

Laura liebte Vivi so wie sich Freundinnen lieben, die alles von einander wissen. Weil Vivi mittlerweile für Laura ein offenes Buch war, wusste sie, was jetzt kommen würde. Wenn Vivi sich ärgerte, ging sie ab wie eine Rakete. Sylvesterknaller waren dann im Vergleich zu ihr ein meditatives Ereignis. Laura setzte sich, nahm Vivis Hand und zog sie auf den Stuhl neben sich. Mies gelaunt und widerwillig nahm Vivi Platz. Sie hatte sichtbar Mühe, ihre Betriebstemperatur nicht weiter ansteigen zu lassen und machte auch keine Anstalten, sich am reichhaltigen Buffet umzusehen, das für jeden Geschmack etwas zu bieten hatte.

»Super, das fängt ja gut an. Die Gäste am Nachbartisch fühlen sich durch euren Streit schon belästigt.«

Laura hatte den Satz geflüstert. Das Restaurant war wie erwartet gut gefüllt. David hatte den Tisch optimal gewählt. Die Aussicht aufs Meer war phantastisch. Laura hob ihr Glas, um die Situation zu entspannen und prostete ihrer Freundin mit ihrem charmantesten Lächeln zu.

Von so einer Kreuzfahrt hatte sie immer geträumt. Als Vivi sie gefragt hatte, ob sie mitfahren möchte, hatte sie sofort ja gesagt, auch wenn sie nicht gerne das fünfte Rad am Wagen war. Streit war da völlig fehl am Platz. Auch David prostete Vivi zu.

»Vivi, Schatz, slow down, pleasure up! Ich freue mich über unser erstes Essen mit Meerblick, strahlend blauem Himmel und gut temperiertem Rotwein. Diese Bordmarke schmeckt richtig gut.«

Sie stießen an, aber Vivis Miene verfinsterte sich, denn David schnitt sich ein weiteres Stück Steak ab, garnierte es mit Kräuterbutter, kaute lustvoll und schob noch ein paar Fritten hinterher, als schien er überhaupt nicht zu bemerken, dass sich gerade ein kleines bis mittelschweres Gewitter anbahnte, obwohl am strahlendblauen mallorquinischen Himmel kein Wölkchen mehr zu sehen war. Vivi knallte ihr Weinglas auf den Tisch, ohne einen Schluck zu trinken.

»Komm Laura, wir gehen zum Buffet. Ich brauch' was Vernünftiges.«

Vivi nahm Lauras Hand und steuerte auf die Abteilung Gemüse und Obst zu. Mit gut gefüllten Tellern voller Vitamine und nahezu ohne Kalorien kehrten sie zum Tisch zurück. Vivi plusterte sich wie ein Pfau vor David auf.

»David, wir hatten eine Abmachung. Wenn wir an Bord zusammen essen, isst du vegan oder ausnahmsweise mal vegetarisch. Schon vergessen?«

»Ja, stimmt, aber ich war ja vor dir hier, also allein!«, antwortete David mit vollem Mund provokativ, »ich brauche zum Auftakt einer solch tollen Reise was Richtiges.«

»Ach, und das auf unserem Teller ist nichts Richtiges? Hier, was Rotes, Tomaten, nicht wahr, und hier, ein paar schöne rote Zwiebeln und ein paar schwarze Oliven. Sieht doch klasse aus, dafür musste niemand ein Tier umlegen. Hat uns der liebe Gott auf andere Weise beschert. David, wir wollten unsere Beziehung stabilisieren. Mehr Rücksicht nehmen. Nur wenn ich nicht dabei bin, kannst du essen, was du willst. Das war die Abmachung. Dieses Zugeständnis fiel mir schwer genug. Das kannst du mir glauben. Also?«

»Ihre Freundin hat Recht«, mischte sich eine schick gekleidete Frau in den Vierzigern am Nachbartisch ein, »junger Mann, wissen Sie, wie viel Wasser gebraucht wird, um ein Filetsteak herzustellen? Das ist Irrsinn. Sie und die ganzen Fleischesser müsste man mal eine Woche lang in einen Schlachthof einsperren. Dann würden Sie anders reden. Dann wüssten Sie von Schmerzen, die Sie sich nicht mal vorstellen können. Dann sähe für Sie die Welt anders aus. Gesünder ist fleischloses Essen auch. Ich bin Ärztin, ich weiß wovon ich rede.«

Davids Gesichtsfarbe verwandelte sich von leicht rosa zu aschfahl.

»Hier wird Krieg gegen friedliche Menschen geführt!«

David konnte seine Stimme kaum im Zaum halten. Laura rutschte auf ihrem Stuhl immer weiter nach unten.

»David, die Dame hat Recht. Ich führe keinen Krieg. Ich will nur das Beste für die Gesellschaft mit meinem Verhalten und meinem Beruf bewirken.«

David kaute auf seiner Unterlippe, bis sie blutete. Seine Miene verdüsterte sich noch mehr.

»Das haben wir schon tausendmal diskutiert. Das ist deine Sicht der Dinge. Du kannst Rohes und Buntes in dich hineinschaufeln, so viel wie du willst, ist mir egal. Aber mir schmeckt das nicht, basta. Ich hatte Stress ohne Ende in der Kanzlei. Was machst du jetzt? Textest mich zu, statt im Urlaub mal locker zu lassen. Laura, sag doch auch mal was.«

Laura rutschte auf ihrem Stuhl hin und her. Sie hatte sich den Auftakt ihrer Reise wirklich anders vorgestellt. Zwischen zwei Stühle wollte sie auf jeden Fall nicht geraten. Auch sie war Veganerin. Doch dieser Lebensstil hatte sie einiges an Überwindung gekostet. Als sich Vivi und sie kennengelernt hatten, war die Welt noch in Ordnung. Damals aß Vivi noch alles, auch wenn sie nie die große Fleischesserin war. Erst nach ihrer Ausbildung wechselte sie auf den veganen Trip. Von diesem Zeitpunkt an hatte Vivi sie beknetet, zu Vorträgen mitgenommen, ihr ein Youtube-Video aus einem Massenzuchtbetrieb gezeigt, das ihr den Atem geraubt hatte. Sie hatte ein weiches Herz und war ihrer besten Freundin aus Zuneigung und Verbundenheit gefolgt. Mittlerweile schmeckte ihr sogar geräucherter Tofu, und sie hatten einen veganen Kochkurs an der Volkshochschule in Lindenthal gebucht, der ihr gut gefallen hatte. Sie holte tief Luft und hob den Finger wie in der Schule.

»Vivi, ... «

»Jetzt nicht, Laura, David weiß doch genau, was mit den Tieren passiert, bevor die bei uns auf dem Teller landen. – David, daran werde ich dich jeden Tag auf dieser Reise erinnern. Gerade weil es genug Auswahl ohne Fleisch und Fisch auf den Buffets gibt.«

»Aha – jeden Tag willst du mich auf dieser Reise daran erinnern. Jeden Tag. So das war's. Mir reicht's, Vivi, reise mit wem du willst, ich bin raus. Ich pfeif mir im ›California Grill‹ einen Burger rein, spül mit einem Gläschen Sekt nach und dann ...«, er zögerte für ein paar Sekunden, »...ziehe ich aus der Kabine aus. Hinterher beschwerst du dich noch über den Fleischgeruch oder so. Ich trau dir alles zu. Ich schlaf auf dem Pooldeck oder gar nicht. Jedenfalls gehe ich in Palermo von Bord. Das war's mit unserer Beziehung - definitiv. Ein Jahr zu spät. Ich hätte mich schon vor einem Jahr vom Acker machen sollen, als deine vegane Offensive begann.«

David ging ohne ein weiteres Wort. Vivi starrte auf ihren Teller. Sie trank einen Schluck Orangensaft und stocherte lustlos im Rote-Beete-Salat herum, obwohl sie rote Beete mit Äpfeln und Walnüssen liebte.

»Tja, Vivi, ich glaube, David macht wirklich ernst. Das war es wohl.«

»David war ohnehin, na ja, zweite Wahl. Ich weiß, das klingt jetzt fies, aber was soll ich sagen. Ich bin sicher, es wird schon noch der Richtige kommen.«

Für den Richtigen wirst du hoffentlich deine Toleranzgrenze erweitern und etwas geschmeidiger werden, dachte sich Laura, ansonsten wird das nie was.

»Bei wem, wenn nicht bei einer Köchin könnte am ehesten der Spruch in Erfüllung gehen ›Für jeden Topf gibt es den richtigen Deckel‹. Also Kopf hoch!«

»Laura, du bist ein Schatz. Verzeihst du mir, dass ich hier die Stimmung verdorben habe?«

»Natürlich, wozu sind beste Freundinnen denn da?«, erwiderte Laura versöhnlich und gab Vivi einen freundschaftlichen Kuss auf die Wange.

In diesem Moment kam ein Filipino mit einem gut ausgestatteten Getränkewagen an ihnen vorbei und rief in gebrochenem Deutsch: »Grappa für Papa, Rama für Mama!«

Vivi und Laura brachen trotz der angespannten Situation in lautes Gelächter aus.

»Also, Vivi, mit Grappa kann ich noch etwas anfangen, aber was ist denn Rama?«

»Ramazzotti«, warf eine Frau vom Nebentisch ein.

»Weißt du was, Vivi, auch wenn wir noch keine Mamas sind, ein Ramazzotti kann unserer Laune bestimmt gut tun.

– Geben Sie uns bitte zwei Ramas«, bat sie den Ober übermütig.

Die beiden Freundinnen prosteten sich zu und schluckten den Kräuterlikör auf ex.

03

In der Kabine fiel Vivi sofort die halb geöffnete Schranktür auf. Sie sah, dass Davids Koffer fehlte. Er schien seine Drohung wahr gemacht zu haben. Vielleicht war es besser so. Zehn Tage täglichen Streit hätte sie auch nicht ausgehalten. Sie schaute in den Spiegel.

»Tja, Ben, was soll ich machen? Ich vermisse dich so.«

Vivi unterdrückte aufsteigende Tränen. »Ich weiß, dass ich mir manchmal selber im Weg stehe. Ben, wenn ich nur mit dir darüber reden könnte«, murmelte sie vor sich hin.

Vivi ging auf den Balkon und schaute mit leeren Blick aufs Meer. Sie kam sich plötzlich so verloren vor, und ihr war übel. Der Streit war ihr mehr auf den Magen geschlagen, als sie Laura gegenüber zugegeben hatte. Die Schiffssirene riss sie aus ihren Grübeleien. Sieben kurze Töne und ein langer Ton kündigten die Seenotrettungsübung an. Sie hatte keine Lust, den Balkon zu verlassen und sich mit der Meute auf Deck zu begeben. Die Sonne war kurz davor, im Meer zu versinken. Der Anblick war so romantisch wie sie es aus Filmen kannte. Leider fehlte jemand, der den Arm um sie legte und diesen Moment mit ihr teilte. Sie schloss die Augen, atmete tief ein, hielt kurz die Luft an und atmete dann langsam aus. Auch darüber würde sie hinwegkommen. Dieser Urlaub würde die beste Therapie gegen Liebeskummer sein. Sie ging zum Schrank, um sich die Rettungsweste anzulegen. Als sie die Tür öffnete, sah sie, dass die zweite Weste fehlte. Aha, auch daran hatte David beim Auszug gedacht.

04

Auf den Gängen herrschte ein geordnetes Gewusel wie in einem Bienenschwarm. Manche Passagiere scherzten miteinander. Einige haderten mit dem störrischen Kleidungsstück, das Leben retten konnte.

»Bitte rücken Sie auf, hierher bitte, und dann nach hinten treten, so weit es geht, Herrschaften. Noch enger zusammen, bitte«, steuerten die Crewmitglieder die Passagiere.

Vivi reihte sich ein. Der Ton des Übungsleiters erinnerte sie ans Militär, aber sie nahm ihm seine bestimmende Art nicht übel. Ihr war es recht, wenn es schnell ging. Sie sah sich die Rettungsboote genauer an und fragte sich, ob im Ernstfall wirklich alle Passagiere darin unterkommen könnten. Aber eine Havarie oder etwas Schlimmeres wollte sie sich sowieso nicht genauer vorstellen. Ihre private Havarie reichte ihr vollkommen. Immer mehr Menschen strömten zur Musterstation Y, so hieß ihre Sammelstelle. Es wurde eng. Vivi fühlte sich unwohl, wenn ihr fremde Menschen so nah kamen. Es war nicht spaßig zwischen einer übergewichtigen Mittfünfzigerin mit penetrantem Parfum und einem Kerl mit eigenwillig verstrubbeltem Haar, das seltsam roch, eingeklemmt zu sein. Ihr Hintermann hatte eine Alkoholfahne. Einige Meter weiter stand Laura. Vivi winkte ihr zu. Der Übungsleiter rief Kabinennummern in bunter Reihenfolge laut auf, um zu prüfen, ob alle vor Ort waren.

»8265«, schrie der Steward, um gut verstanden zu werden.

»Hier!«, rief Vivi.

»Und hier auch«, hörte sie von irgendwo hinter ihr die Stimme Davids.

Die Rettungsweste war unbequem. Ihr war nichts lieber, als dieses ungeschmeidige Teil endlich auszuziehen.

»Mein Gott, wie kann man so etwas erfinden. Da müssten mal Designer ran. Luis, was meinst du?«

Vivi schaute nach rechts, um herauszufinden, wer da flötete. Der hat 'nen Ratsch im Kappes. Designte Schwimmwesten, geht's noch? Der soll doch froh sein, wenn er nicht absäuft, dachte sie nur.

»Luis, dieses grässliche Teil passt gar nicht zu meinem Hemd. Rot und Orange, das beißt sich. Sind die Dinger gereinigt oder desinfiziert?«

Der Nörgler hielt sich den Kragen der Weste vom Mund weg und machte ein angeekeltes Gesicht. Vivi nervte das Geflöte. Dass der Junge vom anderen Ufer war, störte sie nicht. Das war sie in ihrer Heimatstadt Köln gewohnt. Aber diese egomanische Nabelschau zehrte an ihren Nerven. Der stellt sich an wie ein Baby, hätte sie am liebsten laut gesagt.

»Luis, ich weiß nicht, aber ich glaube, mir wird übel. Lass mich hier nicht allein, wenn ich umfalle. Diese Enge.«

Der Kerl nörgelte so laut, dass sie nicht anders konnte und wieder in die Richtung der quäkenden Stimme schaute. Diesmal blickte sie in warme braune Augen, die sie für einige Sekunden festhielten. Das musste dieser Luis sein. Sie hielt seinem Blick stand. Flirtete sie etwa? Sie war erstaunt über sich selbst, nach allem was gerade passiert war. Es war nicht ihre Art, auf diese Weise Kontakte zu knüpfen. Aber es war eine ideale Ablenkung für ihre geschundene Seele. Schönes gewelltes Haar, muskulöser Körper. Ein paar Unebenheiten im Gesicht. Vielleicht litt er als Teenie unter Akne. Aber seine lässige, souveräne Ausstrahlung machte alles wieder wett.

»Luis, ich brauch' ein Bonbon. Mein Mund ist total trocken.«

»Hab' keins, sorry.«

Vivi hielt Ausschau nach einer weiblichen Begleitung in seiner Nähe, konnte aber niemanden ausmachen. Der ist bestimmt auch schwul. Die meisten gut aussehenden Männer sind schwul. Warum sonst standen sie so eng zusammen.

»Pascal, tief durchatmen und am besten aufs Meer hinausschauen, einen Punkt fixieren. Bald haben wir es geschafft«, hörte sie diesen Luis seinen Nachbarn beruhigen. Beim letzten Satz sah er wieder zu Vivi hinüber. Er zog die Schultern etwas hoch, als wüsste er nicht weiter und wollte ihren Rat. Sie lächelte verlegen zurück. Wahrscheinlich ist das sein Bruder oder so. Schön wäre es. Sie hatte das Gefühl, dass der attraktive Typ sie weiter ansah, traute sich aber nicht mehr, in seine Richtung zu schauen, auch wenn sie es gern getan hätte.

Die »Flöte« war verstummt. Offenbar hatte der Attraktive eine beruhigende Wirkung auf ihn. Vivi war froh, dass die Übung gleich vorbei war. In Kürze würde das Schiff auslaufen. Sie merkte, dass sie nach dem Streit immer noch voll unter Strom stand. Sie musste sich irgendwie abreagieren.

2. Kapitel Mit Karacho ins Glück

05

Was will dieser Computer von mir? Vivi hasste Technik, es sei denn, es handelte sich um Backöfen, Dampfgarer, Gasherde oder Mixer. Sie berührte den Touchscreen und entschied sich, zehn Minuten zu laufen. Wer sich aufs Laufband traute, konnte den Blick aufs Meer genießen. Sie würde gar nicht merken, dass sie sich anstrengte. Ihr Puls sollte 150 nicht übersteigen, obwohl sie nicht sicher war, ob er das nicht jetzt schon tat. Vivi prüfte ihre Schnürsenkel und zog sich ihren Sport-BH zu recht. Sie war bereit. Ihr Nachbar zur Linken schwitzte schon wie ein ...na ja, Ferkel. Er lief, was das Zeug hielt und machte den Eindruck, als sei er auf der Flucht. Mach dich locker und los geht's, Vivi. Laura wartet auf dich auf dem Pooldeck, um mit dir zusammen das Auslaufen zu genießen. Das sollte dir Ansporn genug sein. Vivi hasste das Laufband schon nach einer Minute. Warum lag sie nicht relaxt auf einer Liege mit Blick auf den Pool und knackigen Männerhintern, einem Kaffee mit Sojamilch in der Hand und genoss die letzten Sonnenstrahlen des Tages? Wie lang eine Minute war! Sie fühlte sich plötzlich so, als würde sie bergauf laufen. Aber sie wollte sich keine Blöße geben und lief weiter. Sie dachte an David und seine Ignoranz und die Art und Weise, wie er sie abserviert hatte. Ihre Beine wurden schwerer. Was tat sie hier überhaupt? »Zwei Minuten noch, Vivi«, ermunterte sie ihren inneren Schweinehund. Du bist jung, verdammt noch mal. Auf einmal spürte sie, dass ihr das Blut aus dem Kopf lief. Ihr wurde schwindelig, und ehe sie sich versah, verfehlte sie mit ihrem linken Fuß das Laufband und fiel. Sie wollte irgendetwas dagegen tun, aber sie schaffte es nicht. Sie sah sich beim Fallen zu wie in einem Film, wie in Slow Motion, wären da nicht diese starken Arme gewesen, die sie auffingen und Schlimmeres verhinderten.

»Nicht so stürmisch. Der Urlaub fängt doch grad erst an.«

Vivi sah in braune Augen, die ihr bekannt vorkamen. Ihr Retter in der Not hielt sie immer noch fest.

»Haben Sie sich verletzt? Fehlt Ihnen etwas?«, fragte dieser Luis von vorhin mit sanfter Stimme.

Vivi wusste nicht, was sie sagen sollte. Ihr Missgeschick war ihr peinlich.

»Nein, nein, es ist nichts passiert, alles ok. Mir ist nur etwas komisch.«

»Setzen Sie sich, Sie sind ja weiß wie eine Wand, Sie sollten sich durchchecken lassen, bevor Sie weiter laufen.«

»Ich weiß auch nicht, was mit mir los ist. Vielen Dank. Ich setz mich mal.«

Vivi beobachtete ihren Retter aus den Augenwinkeln, während sie sich das linke Bein massierte. Er legte sich ein Handtuch um den Hals. Unter seinem Shirt zeichnete sich sein durchtrainierter Körper ab.

»Entschuldigung, ich heiße Luis. Da Sie ja so gut wie in meinen Armen lagen, könnte ich mich auch mal vorstellen.«

»Vivi, ich heiße Vivi, eigentlich Vivian. Danke, dass Sie im richtigen Moment gekommen sind.«

»War mir ein Vergnügen.«

»Sie trainieren ganz allein? Ihr lustiger Freund, der eben neben Ihnen stand, hält wohl nichts vom Schwitzen?«

Luis dachte einen Moment nach.

»Stimmt. Wir kennen uns, richtig. Von der Seenotrettungsübung. Ohne Weste gefallen Sie mir viel besser.«

Vivi lief rot an, was sie hasste. Helfer in der Not und dann auch noch charmant. Das war zuviel für diesen Tag.

»Ne, mein lustiger Freund mag fast keinen Sport, hat er auch nicht nötig, er ist Asket, obwohl er Feinschmecker ist. Gutes, aber in Maßen.«

Vivi bemerkte, dass sie wie gebannt an seinen Lippen hing und wurde verlegen.

»Aber ich will Sie nicht aufhalten. Nochmals danke für Ihre Hilfe.«

Vivi hätte ihm fast ganz förmlich die Hand zum Abschied gereicht. Doch ihr charmanter Retter kam ihr zuvor und strich ihr über beide Arme.

»Sie dürfen mir jederzeit wieder in die Arme sinken.«

Vivi suchte nach Worten, nach den richtigen. Sie zog sich ihre Trainingsjacke sehr langsam über. Sie musste Zeit gewinnen. Vielleicht ergriff er noch einmal die Initiative. Ihr fiel einfach nichts ein, worüber sie noch hätte reden können. Sie hatte Luis schon den Rücken zugewandt, als sie seine Stimme hörte.

»Was machen Sie denn, wenn Sie mal nicht vom Laufband fallen?«, fragte er und fügte, ohne ihre Antwort abzuwarten, hinzu, »wer fleißig trainiert, darf doch sicher abends einen Cocktail trinken. Wie wär's? Die ›Anytime Bar‹ an Bord soll sehr spacig sein.«

Sie wusste nicht, was er mit spacig meinte, aber es klang verlockend.

»Hört sich gut an.«

Vivi wollte nicht so klingen, als habe sie sehnsüchtig auf eine Verabredung gewartet.

»Aber erst morgen. Den Abend heute will ich mit meiner Freundin Laura verbringen.«

»Klar, verstehe, passt doch. Also, bis morgen Abend um elf. Genießen Sie den ersten Seetag.«

Luis verabschiedete sich mit einem lässigen Gruß und verließ den Spa Bereich. Vivi blieb noch einen Moment stehen und schaute ihm verwirrt nach. Sie merkte, dass ihr Herz schneller schlug und wusste nicht, ob das mit ihrem kleinen Sportunfall zu tun hatte oder mit ihrem Helfer in der Not. Das Kribbeln in der Magengegend sprach mehr für die zweite Variante. Sie war froh, dass sie sportlichen Ehrgeiz entwickelt hatte, um sich abzureagieren. Wie in einer Art Trance ging sie in ihre Kabine, um zu duschen.

06

Vivi konnte Laura nirgendwo entdecken. Die Menschen drängte es zur Reling, wo sie beim Auslaufen aus guten Positionen filmen und fotografieren konnten. Einige sicherten sich auf den Holzbänken am Pool einen Platz mit schöner Rundumsicht. Crewmitglieder ließen die Korken knallen und gossen Sekt in hunderte Gläser und anschließend farbige Liköre dazu. Vivi kam es keinen Moment so vor, als würden an Bord dieses Schiffes über 2000 Menschen Erholung suchen. Sie sehnte Laura herbei. In wenigen Minuten würden sie auslaufen.

»Bekommst du bei dieser Musik auch Fernweh?«

Plötzlich stand Laura neben ihr. Auf ihren Augen lag ein feuchter Glanz. Der emotionalen Auslaufmusik konnte sich niemand entziehen. Laura trank einen letzten Schluck Sekt und legte dann ihren Kopf auf Vivis Schulter. Gemeinsam betrachteten sie das Meer. Sie kannten sich seit zwei Jahren. In einer Zeit, in der Beziehungen und Freundschaften turnusmäßig mit dem Update des Handys wechselten, war das eine Ewigkeit. Das Schiff hatte kaum spürbar abgelegt.

»Schau, wie winzig die Mallorquinische Kathedrale geworden ist. Wir stechen in See, Vivi, einfach umwerfend, ich bin so gespannt.«

Auch bei Vivi lösten die romantischen Klänge Gänsehaut aus. Sie versprachen Abenteuer und neue Erfahrungen. Sie legte den Arm um Laura und sah sie liebevoll an.

»Ich bin froh, dass du bei mir bist, Laura. Hier zu stehen und das weite Meer zu betrachten, ist traumhaft. Stell dir mal vor, für immer so zu reisen, von einem Hafen zum nächsten, meine Kabine wird jeden Tag aufgeräumt. Ich esse, wann ich will und lasse es mir im Spa und auf der Sonnenliege gut gehen.«

»Gute Idee, aber leisten könnten wir uns das nicht. Ist dir wohl klar.«

»Laura, wir sind hier, um zu träumen.«

»Tu ich ja, ich träume von einem Mann, nett, lustig, humorvoll, gut aussehend, er soll mir nah sein und mich verstehen, nicht am Hungertuch nagen und mir vor allem treu sein«, geriet Laura ins Schwärmen.

»Den musst du dir erst noch backen, Süße.«

Sie kniff Laura in den Po. Sie lachten und bestellten sich einen Cocktail an der kleinen Bar auf dem oberen Pooldeck.

»Denkst du noch an David?«

»Nö, warum sollte ich? Irgendwann kommt schon noch der Richtige«, antworte Vivi etwas zu schnell.

Sie hatte gut reden. Sollte sie Laura jetzt von ihrem neuen Verehrer berichten, so wie es gute Freundinnen machen?

07

Vivi erzählte vom ersten Augenkontakt mit Luis während der Seenotrettungsübung und dass sie mit diesem süßen Typen etwas geflirtet habe.

»Du wirst nicht glauben, was mir dann passiert ist, ich bin in seine Arme gefallen.«

»Wie, was? Ich verstehe gar nichts mehr. Bei der Seenotrettungsübung? Das hätte ich doch mitbekommen, ich stand doch in der Nähe.«

»Natürlich nicht.«

Vivi erzählte von ihrem Sportunfall und dem charmanten Retter.

»Jetzt kommt der Clou. Er hat sich für morgen Abend mit mir verabredet. In der ›Anytime Bar‹ gegen elf Uhr. Natürlich kommst du mit!«

»Also, heute Abend im Restaurant David ade, einige Stunden später Luis ok?«

Laura verstand Vivis Verhalten nicht so ganz.

»Ich will ein bisschen Spaß. Er hat die schönsten braunen Augen, die du dir vorstellen kannst. Und er ist so charmant. Komm Laura, ein bisschen Spaß. Nichts sonst.«

Laura wusste, wenn Vivi ein Typ gefiel, sprach sie noch schneller als sonst und ihre Pupillen weiteten sich, als hätte sie an der Marihuana-Tüte geschnüffelt. Laura atmete tief durch.

»Vivi, wie machst du das? Der eine geht, der nächste kommt. Als wäre alles so easy. Ich bin jetzt seit zwei Jahren solo. – Na ja, hab' nun mal keine Traummaße.«

»Aber ein großes Herz.«

»Das hilft mir auch nicht wirklich.«

»Kein Trübsal blasen auf dieser Reise, nicht wegen der Kerle. Sag mal, was hältst du davon, von deiner fensterlosen Innenkabine in eine Außenkabine mit Balkon zu wechseln, gleich morgen nach dem Frühstück?«

»Ähm, wie, was.....?«

»Ja, David ist doch ausgezogen, und ich habe ein freies Bett, also...«

Laura umarmte Vivi so fest, dass sie nach Luft schnappen musste.

08

Vivi hielt sich am Geländer fest, als sie die Treppen zu ihrer Kabine hinaufging. Laura und sie hatten nicht einen Song ausgelassen. Unter dem Sternenhimmel abzurocken, war ein unglaubliches Gefühl. Jetzt taten ihr die Füße so weh wie nach einem Gewaltmarsch im Bergischen Land, und sie hatte einen Brummschädel. Dazu kam eine Blase am linken Fuß, die höllisch brannte. Sie humpelte. Aber Fahrstühle waren ihr ein Gräuel. Sie bekam keine Luft in diesen engen Räumen. Sie hatte reichlich getrunken, um den Streit mit David zu verdrängen. Sie wollte ihr komisches Gefühl loswerden. Schließlich war sie gemeinsam mit David an Bord gegangen, um schöne Tage zu verleben. Sie hatte Laura an ihrer Kabine auf Deck 7 verabschiedet und ihr versprochen, an sich zu arbeiten. Sie wusste allerdings noch nicht, ob und wie sie etwas ändern könnte. Vivi schob die Chipkarte in den Schlitz ihrer Kabinentür und drückte die Klinke herunter, als das Lämpchen grün zeigte. Die Balkontür war einen Spalt breit geöffnet. Es strömte kalte Luft herein. Sie torkelte ins Bad und schaufelte sich kaltes Wasser ins Gesicht. Sie war keinen Alkohol gewohnt. Zum Zähneputzen fehlte ihr die Disziplin. Sie griff sich den Duschkopf und ließ Wasser über ihr Füße laufen. Die Blase schmerzte immer mehr. Sie schlüpfte in ihre Badelatschen. In der Kabine war es still, nicht mal ein Geräusch aus einer benachbarten Kabine war zu hören. Vivi genoss das Rauschen der Wellen und spürte, dass sich das Schiff sachte bewegte. Ihr fielen die Augen fast zu. Sie knipste die Nachttischlampe an und ließ sich aufs Bett fallen. Schon vor Stunden hatte sie die Nummer ihrer Mutter auf dem Handy gesehen, aber keine Lust verspürt, zurückzurufen. Jetzt waren sie auf dem offenen Meer, und es war kein Handyempfang mehr möglich. Sie griff zum Hörer des Kabinentelefons und konzentrierte sich, um die richtige Nummer zu wählen. Es war fast Mitternacht, aber das war ihr egal.

»Mama, ich bin's.«

»Weißt du, wie spät es ist, Vivi?«

Margas Stimme war leise und belegt.

»Ja.«

»Vivi, wirklich, du erschreckst mich zu Tode, wenn du mitten in der Nacht anrufst. Ist was passiert?«

»Ja, es ist was passiert.«

Die kleine Pause nutzte Vivi, um sich zu sammeln. Ihr war übel. Und sie bemitleidete sich, weil sie allein in diesem Bett auf diesem wunderbaren Schiff lag.

»Mama, David und ich haben uns getrennt.«

»Was ist los? Wie, was heißt getrennt? Auf einem Schiff kann man sich nicht trennen, das ist doch absurd und dann noch im Urlaub. Wenn man dich einmal alleine lässt. Jetzt ist die Nacht gelaufen, Vivi.«

Es war gefühlte drei Minuten still in der Leitung.

»Vivi, ich weiß nicht, was ich jetzt sagen soll. Ist David nicht bei dir?«

»Nein, ist er nicht.«

»Du bist doch kein kleines Kind mehr. Du bist 27 Jahre alt. Wann wirst du erwachsen?«

»Mama, ich bin erwachsen.«

»Das bezweifle ich.«

»Mama, du kriegst es doch selbst nicht besser hin.«

Marga wollte etwas sagen, aber Vivi hörte nur ihre Schnappatmung.

»So ein Urteil steht dir nicht zu, Vivi. Dein Vater hat einen neuen Weg gewählt, und er hat mich nicht gefragt, was ich davon halte. Dafür kann ich nichts. Danach war es auch nicht einfach, den Richtigen zu finden, besonders wenn man Kinder hat. Aber ich rechtfertige mich nicht. Warum hast du mich angerufen, wenn du alles besser weißt?«

»Ich weiß es nicht, ich ... ach scheiße. Ich schlaf jetzt.«

Vivi legte den Hörer einfach auf. Sie wünschte, sie hätte nichts gesagt. Das Mutter-Tochter-Verhältnis litt unter einem Mangel an Verständnis auf beiden Seiten. Es lebten zwei Frauen zusammen, die beide einen Dickkopf hatten und sehr verschieden waren. Das alles wollte sie jetzt vergessen. Sie dachte an Luis, der im Spa das Schlimmste verhindert hatte. In diesen starken Armen würde sie gerne wieder Zuflucht suchen.

09

Vivi und Laura genossen das Frühstück im »Bella Donna«. Als Vivi sich den Krug mit der Sojamilch griff und ihre Früchte übergoss, hörte sie eine Stimme, mit der sie am wenigsten gerechnet hatte.

»Na, ihr beiden, schlemmt ihr mal wieder ach so gesunde Sachen.«

Plötzlich stand David hinter ihnen.

»Ich stör euch nicht weiter. Nur, Vivi, damit du es weißt, ich hab' mir das überlegt. Ich werde doch wieder in die Kabine einziehen. Erstens kann ich hier nicht immer irgendwo auf dem Pooldeck schlafen, zweitens will ich nicht auf die leckeren Steaks im ›California Grill‹ verzichten und drittens, warum soll ich das Schiff verlassen? Ich habe die Reise mitbezahlt und brauche Urlaub. Schließen wir Burgfrieden, wenigstens bis zum Schluss der Reise. Ansonsten kann ja jeder machen, was er will. Ich bringe heute Nachmittag wieder meine Sachen in unsere Kabine.«

Vivi sah David sprachlos an. Dann aß sie betont langsam einige Früchte, um Zeit zu gewinnen. Laura verschränkte ihre Beine unter dem Tisch, bis ihre Muskeln schmerzten. Ging das Theater von vorne los? Bitte nicht. Vivi legte ihren Löffel beiseite, tupfte sich den Mund mit der Serviette ab und drehte sich selbstbewusst zu David um.

»Das ist ja wohl nicht dein Ernst. Wie soll das denn funktionieren? Geht auch gar nicht! Laura ist bereits eingezogen«, behauptete sie mit fester Stimme. Beim letzten Satz nahm sie Lauras Hand und drückte sie so fest, dass diese einen kieksenden Laut von sich gab.

»Aber so einfach geht das nicht!«

»Doch, mein Lieber, genauso einfach geht das«, unterbrach Vivi Davids Protest, »du wolltest doch ausziehen, nicht ich. – Aber ich bin auch für einen Burgfrieden. Mein Vorschlag: Du ziehst in die Kabine von Laura, und wir gehen uns hier auf dem Schiff aus dem Weg. Ist ja groß genug mit 15 Decks. Einverstanden?«

David schluckte ein paar Mal.

»Gut, einverstanden. Ich will meine Ruhe und keinen Streit. Ich werde dir aus dem Weg gehen, besonders beim Essen!«, erwiderte er zögerlich, »und Laura, sieh meinen Platz in Vivis Balkonkabine als mein Geschenk an dich an.«

Laura lief rot an und stotterte: »Danke.«

»Gut David, hole heute Nachmittag in Lauras Kabine den Key ab.«

David schwirrte ab. Vor dem Eingang des Restaurants blieb er plötzlich stehen, was Vivi gar nicht gefiel. Sie fand, er sah aus, als würde er nachdenken, ob seine Entscheidung richtig war. Doch dann entschwand er aus ihrem Blickfeld. Vivi fiel ein Stein vom Herzen. Sie war viel selbstsicherer aufgetreten, als ihr innerlich zu Mute war. Aber es hatte gewirkt.

»Vivi jetzt hast du mich aber beeindruckt. Cool, wie souverän du reagiert hast.«

Vivi sah Laura stolz an. Sie freute sich darauf, sich mit ihr die Kabine zu teilen. Laura war ein durch und durch harmonischer Mensch. Sie würde ihr gut tun.

10

Vivi und Laura erreichten die ›Anytime Bar‹ über eine Art Reling, die wie ein futuristischer Tunnel wirkte. Kaltes blaues Licht und Spiegel stimmten sie auf Nightfever ein. In der Disco setzte sich der moderne Look fort. An der Bar saßen wenige Gäste. Die meisten hatten sich an den Stehtischen in den Nischen verteilt und wippten im Rhythmus der Musik. Die Tanzfläche war spärlich besucht. Vivi und Laura suchten in dem schummrigen Licht den Raum ab.

»Ist ja schnuckelig hier. Mir gefällt's sehr gut.«

»Kann ich mir denken«, sagte Laura mit einem ironischen Unterton.

»Laura, nerv nicht, ich will etwas Spaß. Mehr nicht. Du doch auch, also entspann dich. – Oh, da ist er.«

Luis winkte ihnen zu. Vivi hatte wieder Schmetterlinge im Bauch. Ein solches Gefühl hatte bisher kein Mann bei ihr ausgelöst. Sie begrüßten sich mit einem Wangenkuss. Laura streckte Luis mit hochrotem Kopf schüchtern die Hand entgegen. Doch die ignorierte er und küsste sie stattdessen ebenfalls. Laura hoffte, dass niemand ihre Verlegenheit bemerkte.

»Wir sind ja fast im Partnerlook, also was die Farbe unserer Leinenhosen angeht«, eröffnete Luis direkt das Gespräch und konnte die Augen nicht von Vivi lassen. Der stark abgedunkelte Raum ließ sie noch einen Hauch attraktiver als im Fitnessstudio wirken. Luis betrachtete Vivi genauer. Sie hatte etwas Asiatisches an sich mit ihren formschönen Mandelaugen, den geschwungenen Lippen, der makellosen Haut und ihrem kecken, nicht allzu großen Busen. Offensichtlich trug sie keinen BH.

»Hallöchen, hallöchen.«

Vivi erkannte die Stimme sofort. Der überdrehte Typ von der Seenotrettungsübung war bester Laune. Er hatte sich in Schale geworfen. Vivi fand ihn in seinem Designeroutfit fast overdressed. Es war offensichtlich, warum er die Rettungsweste als Verunstaltung seiner Erscheinung kritisiert hatte.

»Darf ich euch Pascal vorstellen, er ist mein bester und ältester Freund.«

Pascal begrüßte Vivi und Laura perfekt französisch mit drei angedeuteten Wangenküssen. Dann strich er Luis über den Rücken. Vivi war mehr als irritiert. Sie mochte den Kerl nicht. Ist da doch etwas zwischen den beiden? Der soll die Finger von ihm lassen. Mit großem Interesse fixierte Pascal anschließend den Discjockey neben der Tanzfläche und schien sich nicht weiter für die Frauen zu interessieren.

»Ich bin gleich wieder da«, entschuldigte sich Luis.

Kaum war er außer Hörweite, legte Vivi los.

»Ist er nicht traumhaft und charmant?«

Laura verstand Vivis Schwärmerei. Luis war anziehend mit seinem vollen dunklen Haarschopf und seiner schlanken Figur. Das weiße Hemd hing ihm lässig aus dem Hosenbund seiner khakifarbenen Leinenhose. Was für ein Mann. Genau ihr Typ. Luis führte sie wenige Minuten später zu einem runden Tisch mit Barhockern. Pascal leistete ihnen Gesellschaft, nachdem er dem Discjockey seine Musikwünsche übermittelt hatte. Laura und Vivi war sofort klar, dass es ihm weniger um die Musik ging, denn er flirtete auf Teufel komm raus, ließ sie aber nicht lange allein, denn das Objekt seiner Begierde musste arbeiten. Er verbreitete den herben Duft eines teuren Aftershaves und wirkte wie ein Gentleman in Perfektion, was seine Fliege noch unterstrich. Er verkörperte all das, was Frauen an homosexuellen Männern liebten.

»Wir sagen doch du, oder? Darf ich euch einen Drink holen? Auf einem Schiff auf dem Trockenen zu sitzen, ist ja mehr als peinlich, oder? Womit wollt ihr euren verwöhnten Gaumen benetzen? Prosecco, oder lieber einen kühlen Chardonnay oder eine Margherita?«, frage Pascal beschwingt.

»Margherita«, antworteten Laura und Vivi wie aus einem Mund. Der Cocktail war mit größter Wahrscheinlichkeit vegan. Vivi spürte Luis' scannenden Blick. Aber sie tat so, als bemerkte sie das gar nicht. Sie hatte sich ein abendtaugliches Make up verpasst mit Smokey Eyes, die ihre Wirkung nicht verfehlten. Sie fühlte, dass Luis gefiel, was er sah. Pascal überreichte den Frauen die Getränke.

»Na dann, auf einen schönen Abend. Stößchen.«

Doch nicht ganz so unsympathisch, dachte Vivi, solange er die Finger von Luis lässt.

»Wie gefällt euch denn das Schiff? Ist das eure erste Kreuzfahrt?«, wollte Luis wissen und ließ Vivi dabei keine Sekunde aus den Augen.

»Das Schiff ist toll, obwohl wir noch nicht alles erkundet haben.«

»Na ja, den Spa-Bereich kennst du doch schon«, antwortete Luis mit einem Augenzwinkern.

Vivi musste laut lachen.

»Ich bin eben kein Sportfreak. Dann kommt so ein kleiner Unfall schon mal vor. Bist du häufiger in der Muckibude?«

»Ab und zu. An sich habe ich ein anderes Hobby, wenn ich überhaupt dazu komme. – Ich bin Paraglider.«

»Du fliegst also mit so einem Schirm durch die Gegend?«

»Vivi, ich fliege nicht durch die Gegend, ich schwebe mit einem Gleitschirm. Was glaubst du, wie weit weg deine Sorgen sind, wenn du die Welt von oben siehst. Vieles wird unbedeutend. Endorphine versetzen deinen Körper in eine Art Rausch. Komm doch mal mit. Wir machen einen Tandemflug, dann wärest du meine Co-Pilotin.«

»Nie im Leben! Das ist mir zu gefährlich, ich bleibe lieber mit beiden Beinen auf der Erde, das ist mir sicherer. Siehst du doch auch so, Laura?«

Laura zuckte mit den Schultern. Wenn Luis sich für sie interessieren würde, würde sie mit ihm als Tandem alles machen, ja wenn....

»Kommt für mich auch nicht in Frage«, schloss sich Pascal Vivis Meinung an, »ich bin ja schon froh, wenn ich unbeschadet über die Kölner Ringe komme und nicht von irgendwelchen pubertären Rennfahrern platt gemacht werde.«

»Ich weiß, Pascal, Risiken sind dir zu anstrengend. Hast du auch ein Hobby, Vivi?«

Luis gab sich alle Mühe, Vivi näher kennen zu lernen. Sie zögerte mit der Antwort. Nicht sofort alles preisgeben, ruhig ein wenig geheimnisvoll tun. Laura hatte schon Luft geholt, um etwas zu sagen, doch Vivi war schneller.

»Lass dich überraschen. Du erfährst es in den nächsten Tagen.«

»Jetzt machst du es aber spannend. Also....?«

Luis' Neugierde war geweckt. Genau wie es Vivi wollte.

»Nichts ›also‹. Du erfährst es schon bald, ich verspreche es.«

»Dann müssen wir uns wohl noch häufiger sehen, bis das Geheimnis gelüftet wird«, antwortete Luis.

Vivi strahlte Luis zufrieden an. Genau das wollte ich ja, du Schnellmerker.

»Wie gefällt es euch denn hier? Ist ja nicht viel los auf der Tanzfläche. Ich glaube, wir sollten das ändern«, wechselte Luis das Thema.

»Wahrscheinlich warten alle auf andere Musik. Was gerade läuft, ist auch nicht so meins«, antwortete Vivi unentschlossen.

»Also Mädels, mir gefällt's. Laura, kommst du mit, ich liebe es zu tanzen.

Pascal rückte sich die Fliege zurecht und rutschte vom Hocker.

»Darf ich bitten?«

»Paartanz liegt mir nicht, das sag ich dir gleich, aber der Beat gefällt mir«, stimmte Laura verunsichert zu.

Sie fühlte sich seltsam dabei, dass sie nun alle beobachteten, wie sie mit einem schwulen Mann tanzte, der im Sommer eine altmodische Fliege trug. Aber sie mochte Pascals direkte freundliche Art, und er roch ganz einfach gut. Er tanzte ausgelassen. Dass er immer wieder die Nähe des attraktiven Discjockeys suchte, quittierte sie mit einem Schmunzeln. Das konnte sie von den Schwulen lernen, sie zeigten es offen, wenn sie jemanden mochten. Luis beobachte beide belustigt. Nach einigen Minuten nahm er Vivis Hand und bugsierte sie auf die Tanzfläche.

»Was die beiden können, können wir schon lange. Wenn du schon nicht mit mir durch die Lüfte schweben willst, dann wenigstens über die Tanzfläche.«