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Lorearts Lesehupferl präsentiert wiederentdeckte Texte heute fast vergessener, mehr oder weniger unbekannter oder unterschätzer Schriftsteller und ist eine Einladung an Leser auch mit diesen Schriftstellern bei Gelegenheit (am besten jetzt!) eine gute Lesestunde zu verbringen. Es sind noch viele Entdeckungen zu machen. Steigen Sie mit ein. Die fast klassische Novelle »Tomasio« steht in direkter Nachfolge zu Boccaccios »Decameron«. Klabund schrieb am 16. Dezember 1924: »Lieber Boetticher! Sie haben ja eine ganz entzückende Novelle im »Neuen Merkur« geschrieben! Eben las ich sie im Liegestuhl. Gratuliere!« Hermann von Bötticher, Schriftsteller und Dramaturg, lebte von 1887 bis 1941. Er wanderte zunächst 1914 in die USA aus, wurde dann bei der Heimkehr 1916 während des Ersten Weltkrieges gefangen genommen und zum Arbeitsdienst nach Île Longue in die Bretagne verbracht. Hier begann er mit der Erstellung seines eigentlichen Erstlingswerkes Jephta. Tragödie., welches er aber erst 1919 beenden sollte. 1917 wurde er in die Schweiz verlegt und in Genf, Zürich und letztlich in Bern interniert. Nach Deutschland kehrte er 1919 zurück und wurde für kurze Zeit Dramaturg am Düsseldorfer Schauspielhaus. Im selben Jahr veröffentlichte er mehrere Werke u.a. seine "Sonette des Zurückgekehrten". Ab 1920 lebte er vorwiegend in Florenz. Am 21. Januar 1920 wurde der erste Teil seines schon 1917 erschienenen Hauptwerkes Friedrich der Große, Der Kronprinz am Staatstheater in Berlin uraufgeführt, der zweite Teil folgte unter dem Titel Der König am 9. Juli 1922 als Uraufführung im Stadttheater Bochum. 1924 veröffentlichte er mit der Novelle Das Bild sein letztes Werk. Im Jahre 1925 wurde er erstmals wegen Schizophrenie in eine psychiatrische Heilanstalt eingewiesen. In den 1930er Jahren erkrankte er an einer erblichen Nervenkrankheit, an der schon sein Vater gestorben war. Die letzten Jahre seines Lebens verbrachte er in einer Heil- und Pflegeanstalt in Hildesheim.
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Seitenzahl: 44
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Inhaltsverzeichnis
Titelseite
Der Weg durch den Traum
Kapitel 1
Kapitel 2
Kapitel 3
Kapitel 4
Über den Autor
Impressum
Hinweise und Rechtliches
E-Books Edition Loreart:
Vorschau Lorearts Lesehupferl
Efraim Frisch
Der Weg durch den Traum
Erzählung
Wann das Gift in ihn eingetreten war, Reinhold hätte es nicht sagen können. Vielleicht wußte er es kaum, daß eine Veränderung mit ihm vorgegangen war. War es die Aufeinanderfolge der bedrückenden sonnenlosen Wintertage gewesen, die mit ihrer nebligen Trübe lastend seinen Sinn verdüsterten, oder hatte es damals begonnen, als er aus einem kurzen halbwachen Nachmittagsschlaf durch etwas aufgerissen ward und plötzlich fühlte, wie schwer er in die Welt zurückfand. Seit damals war er immer tiefer in die dämmergraue Region wesenlosen Leids hinabgestiegen. Stumm anwachsend ballten sich die Wolken des Kummers immer dichter und dichter zusammen, und der heißgelaufene Kopf, müde und weitabgewandt, vermochte es fast schon, auf ihnen auszuruhen. Der reifgewordene Schmerz hatte seine Erreger verzehrt und wollte nur noch sich selbst. Doch das Leben haspelte sich wie von selbst weiter ab und verlangte kaum noch von ihm die Gebärde der Freiwilligkeit; die sich dann auch zur Zeit auf Geheiß und träge genug einstellte.
Als Reinhold aus seiner Wohnung auf die Straße trat, überfiel ihn wie schon oft in diesen letzten Wochen aufs neue jene dumpfe Ratlosigkeit, die jeden Entschluß zur Qual macht. War es nicht gleich, ob er sich nach rechts oder nach links wandte? Reinhold lenkte seine Schritte gewohnheitsmäßig in die stille Gasse, in der sein Freund Gregor wohnte und freute sich fast, die Fenster bei ihm erleuchtet zu sehen. Und als er bedachte, daß er eine schwere Stunde mit sich selbst hätte verbringen müssen, wenn er den Freund nicht angetroffen hätte, stieg er erleichtert die Treppe hinauf. Das behagliche Zimmer, die ruhige Freundlichkeit Gregors gaben ihm bald ein Gefühl melancholischer Geborgenheit. Und wie das Gespräch mit dem Freunde lebhafter wurde, ihn allmählich von sich selbst entfernte und doch wieder zu ihm zurückführte als zu einem Menschen, der schließlich nicht anders als andere seinen Anteil an der Mannigfaltigkeit des Lebens hat, wollte es ihm plötzlich scheinen, als hätte ihn nur seine freiwillige Vereinsamung in die Verwirrung hineingebohrt, in der er sich vor einer Stunde noch befand. Und es drängte ihn dunkel, den Zipfel irgendwelcher Vorgänge zu erfassen - sie schienen ihm weit zurückzuliegen - deren Folge dieser ihn bis zum Rand erfüllende Kummer war. Aber schon als er anfing, merkte er, daß er in einem weiten Bogen ausgewichen war und nichts zu fassen bekommen hatte als einen flatternden Irrwisch, vielleicht den fernen Flammenschein nur einer unsichtbaren Feuersbrunst, wer weiß wo!
Ob Gregor wohl glaubte, daß ein Ereignis, scheinbar bedeutungslos, unerkennbar das Wesen eines Menschen völlig zersetzen könne? - Gregor lächelte: Es käme auf den Menschen an und auf das Ereignis. Und was das Stärkere sei. - Reinhold schwieg eine Weile. Bemühte sich, näher an die Brandstelle zu kommen. »Nun denn, gut«, sagte er. »Etwa jemand, der Worten stets mißtraut hat. Auch den eigenen. Sein Leben in wirklichem Einklang mit sich lebte. Nicht Grundsätzen oder vermeintlichen Pflichten unterordnete. Und gleich das erstemal, vor eine Entscheidung gestellt und entscheidend, erweist sich sein Gefühl als Trug, seine Harmonie als Einbildung -« Dies sei doch nichts Ungewöhnliches, unterbrach Gregor. Man nenne dies eben Erfahrungen machen. - »Erfahrungen«, wiederholte Reinhold verwirrt, als könnte er den einfachen Sinn des Wortes nicht fassen. Vor seinen Augen spielte sich in aller Lebhaftigkeit ein Vorgang ab, der gerade, weil er so einfach schien, nur um so rätselhafter war. Erst war etwas nicht sicher, dann war es geschehen und beanspruchte seinen Platz in der Welt und nahm ihn ein wie ein Körper, der den Raum füllt. Und er selbst befand sich mit ihm in dem gleichen Raum, wie dieser Lehnstuhl, in dem er saß, so und soviel entfernt von jenem dunklen Schrank. Und diese Beziehung wurde Erfahrung genannt?
Er schüttelte den Kopf. Nahm einen Anlauf und die Worte entrangen sich ihm schwer und fremd: »Nein. Nicht so. Mag sein, wir machen Erfahrungen, wie du sagst. Aber leben wir nicht von Gewißheiten?« - Nun fühlte er das Brennen ganz nahe, so daß es ihm die Haut sengte. Und er fuhr fort, obwohl er die Augen gesenkt hielt, als schäme er sich seiner Worte: »Eine mit der du deine vollkommene Menschwerdung erlebst, der bist du für immer zu eigen - das war meine Gewißheit. Nicht weil ich an die Ewigkeit der Liebe glaubte oder an eine Verpflichtung zur Treue. Ein Gefühl von solcher Gewalt ist nicht von Dauer, das wußte ich. Aber weil es einmal ist und so ist, wie es nicht wiederkehrt, dafür kann mit nichts Geringerem als mit dem Leben gezahlt werden, sonst ist es gemein und sinnlos. Du weißt, was geschehen ist. Was ist man, wenn dies erschüttert ist?«
Kaum daß er ausgesprochen hatte und noch als er sprach, stieg Bitterkeit in ihm auf, welche wie der schale Rest eines Trankes einen faden Ekel auf seine Lippen legte. Und er empfand seine Worte abgeschmackt, prahlerisch und voll versteckter Absicht auf den Zuspruch des Freundes.
Und der Zuspruch blieb nicht aus. Gregor, der Reinholds Zustand schon lange zu erkennen vermeinte, versuchte einen freundschaftlichen Eingriff. Selten ist unsere Empfindung aufrichtiger, als wenn sie dem andern zu etwas mehr Resignation verhelfen soll.