0,99 €
Als der Totengräber Reinhardt Felgenhauer die Grabstelle für eine bevorstehende Beerdigung vorbereiten möchte, macht er eine grausige Entdeckung. Eine junge Frau wurde dort bereits in einer Plane verhüllt vergraben. Während der Obduktion entdeckt der Rechtsmediziner im Inneren des Leichnams einen mysteriösen Gegenstand: eine Münze mit dem Symbol des Baphomet und der Zahl 666.
Für Jana Brinkhorst und ihr Ermittlerteam beginnt eine Reise in die Vergangenheit, da die gleiche Münze acht Jahre zuvor bei einem Mordopfer gefunden wurde. Ein bis heute unaufgeklärter Fall.
Ein erster Tatverdächtiger ist schnell gefunden, doch die Wahrheit ist komplexer, als es zunächst scheint, und ein weiteres Opfer lässt nicht lange auf sich warten. In einem tödlichen Netz aus Intrigen und illegalen Machenschaften werden die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt.
Totenhändler ist der vierte packende Fall der Jana-Brinkhorst-Reihe, der die Leser in die Abgründe der menschlichen Psyche entführt und sie bis zur letzten Seite in Atem hält.
Das E-Book können Sie in Legimi-Apps oder einer beliebigen App lesen, die das folgende Format unterstützen:
Frank Esser
Über das Buch:
Als der Totengräber Reinhardt Felgenhauer die Grabstelle für eine bevorstehende Beerdigung vorbereiten möchte, macht er eine grausige Entdeckung. Eine junge Frau wurde dort bereits in einer Plane verhüllt vergraben. Während der Obduktion entdeckt der Rechtsmediziner im Inneren des Leichnams einen mysteriösen Gegenstand: eine Münze mit dem Symbol des Baphomet und der Zahl 666.
Für Jana Brinkhorst und ihr Ermittlerteam beginnt eine Reise in die Vergangenheit, da die gleiche Münze acht Jahre zuvor bei einem Mordopfer gefunden wurde. Ein bis heute unaufgeklärter Fall.
Ein erster Tatverdächtiger ist schnell gefunden, doch die Wahrheit ist komplexer, als es zunächst scheint, und ein weiteres Opfer lässt nicht lange auf sich warten. In einem tödlichen Netz aus Intrigen und illegalen Machenschaften werden die Grenzen zwischen Gut und Böse verwischt.
»Totenhändler« ist der vierte packende Fall der Jana-Brinkhorst-Reihe, der die Leser in die Abgründe der menschlichen Psyche entführt und sie bis zur letzten Seite in Atem hält.
Der Autor:
Frank Esser, Jahrgang 1974, absolvierte nach dem Abitur eine Ausbildung zum Industriekaufmann und arbeitet seitdem in der Musikbranche. Er lebt in der Nähe von Aachen. Seine Liebe zu Krimis inspirierte ihn, seinen ersten Regionalkrimi zu schreiben, der in der Kaiserstadt spielt und 2017 veröffentlicht wurde. Mittlerweile veröffentlichte er neben seiner Aachen-Krimi-Reihe weitere Thriller und Krimis. Seit neuestem darf er sich stolzes Mitglied der Empire-Verlag-Familie nennen.
Frank Esser
Jana Brinkhorst ermittelt: Fall 4
Krimi
Bibliografische Information der Deutschen Nationalbibliothek: Die
Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der
Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten
sind im Internet über http://dnb.d-nb.de abrufbar.
Juni © 2023 Empire-Verlag
Empire-Verlag OG, Lofer 416, 5090 Lofer
Lektorat: Christine Weber – https://www.textomio.de
Korrektorat: Heidemarie Rabe
Alle Rechte vorbehalten. Das Werk darf – auch teilweise – nur
mit Genehmigung des Verlags wiedergegeben werden.
Cover: Chris Gilcher
https://buchcoverdesign.de/
Illustrationen: Adobe Stock ID 685106775
»Fick dich, du blödes Arschloch.«
Patricia Lambrecht öffnete die Autotür und knallte sie wutentbrannt wieder zu, nachdem sie ausgestiegen war. Die ersten Tränen bahnten sich ihren Weg, aber sie wollte auf keinen Fall, dass Lars sie weinen sah. Tränen waren ein Zeichen von Schwäche, doch sie war eine starke Frau. Jedenfalls redete sie sich das ein, denn im Grunde fühlte sie sich gerade hundeelend. Mit dem Handrücken wischte sie sich die Tropfen aus dem Gesicht, klemmte die widerspenstige dunkelbraune Haarsträhne hinters Ohr, drehte sich ruckartig um und streckte ihrem zukünftigen Ex-Freund den ausgestreckten Mittelfinger entgegen. Was bildete sich dieses Schwein eigentlich ein? Dass sie ihm den Seitensprung mit dieser eingebildeten Zicke aus dem Englischkurs einfach so verzieh? Diese blöde Schnepfe hatte sie ohnehin noch nie ausstehen können.
»Es war doch nur das eine Mal«, äffte sie ihn nach, als sie wieder losmarschierte. Kurz darauf ertönte ein Hupkonzert, offenbar war die Ampel an der Kreuzung mittlerweile auf Grün gesprungen. Dann hörte sie einen Motor aufheulen. Lars hatte sich den ungeduldigen Autofahrern gebeugt und war losgefahren. Zum Glück, dachte sie erleichtert. Hätte gerade noch gefehlt, dass er ihr nachlief – darauf legte sie nun wahrlich keinen Wert. Das vermeintliche Traumpaar Patricia und Lars war von nun an Geschichte.
Während sie deprimiert die Straße entlangging, wurde ihr klar, dass sie keinen blassen Schimmer hatte, wo sie sich hier überhaupt befand. Erst vor einem halben Jahr war sie des Studiums wegen nach Hamburg gezogen, sie kannte sich so gut wie gar nicht in der Hansestadt aus. Gleich in der zweiten Woche hatte sie Lars auf einer Studentenparty kennengelernt und sich Hals über Kopf in ihn verliebt. Viel gesehen hatte sie seither nicht von Hamburg. Entweder war sie an der Uni, verbrachte so viel Zeit wie möglich mit Lars oder steckte die Nase in die Bücher. Sie zückte das Handy und ließ sich mithilfe von Google Maps ihren Standort anzeigen, um zur nächsten U-Bahn-Haltestelle zu gelangen. Der kleine rote Punkt hatte ihr gerade den eigenen Aufenthaltsort verraten, als das Display plötzlich schwarz wurde.
»Fuck«, fluchte sie leise vor sich hin. Sie hatte vorhin vergessen, das Handy aufzuladen.
Passanten waren keine zu sehen. Hatte sie nicht einen Friseursalon in der Nähe der Ampel gesehen, an der sie aus dem Wagen gesprungen war, nachdem er ihr den Seitensprung gestanden hatte? Dort würde man sie ganz bestimmt telefonieren lassen. Sie machte auf dem Absatz kehrt und marschierte wieder zurück in die Richtung, aus der sie gekommen war.
Genau in dem Moment erkannte sie aus dem Augenwinkel, dass ein Lieferwagen aus einer nahe gelegenen Parklücke schoss und neben ihr stoppte. Die seitliche Schiebetür wurde aufgerissen. Zwei Maskierte preschten aus dem Laderaum, packten sie mit schraubstockähnlichem Griff, stülpten ihr eine Art Sack über den Kopf, und ehe sie überhaupt wusste, wie ihr geschah, bemerkte sie einen schmerzenden Stich am Hals. Sie spürte nicht mehr, wie sie von den Entführern in den Van verfrachtet wurde. Es war das letzte Mal, dass Patricia Lambrecht durch Hamburgs Straßen gelaufen war.
Donnerstag, 11. April, kurz nach acht
Reinhardt Felgenhauer zog die Abdeckplane von der Grabstelle, die er vor drei Tagen ausgehoben hatte. Mit Kippe im Mundwinkel und Baskenmütze auf dem Kopf trotzte er dem leichten Regen, der unentwegt auf ihn niederrieselte. Als Hamburger war man Schietwetter gewöhnt. Außerdem hatte er keine Wahl, schließlich gab es einen vorgeschriebenen Zeitplan, wann der Job erledigt werden musste. In vier Stunden würde eine Beerdigung stattfinden, das Erdloch für die Beisetzung sollte nach Vorgabe des Bestattungsinstitutes bis spätestens zehn Uhr vorbereitet sein.
Er legte die triefnasse Plane über den Aushub der Grube, den er keine zwei Meter von der Grabstätte entfernt zwischengelagert hatte, um das Loch später wieder damit füllen zu können. Als sein Blick auf den Boden des Erdloches fiel, stutzte er und kratzte sich an der Schläfe. Irgendetwas stimmte hier nicht, da war er sich ganz sicher. Sein geschultes Auge erkannte das sofort: Mit solch zerklüftetem Lehmboden würde er niemals eine Grabstätte hinterlassen.
Er hockte sich an den Rand des Loches und kniff die Augen zu schmalen Schlitzen zusammen. Was lugte da aus dem Boden heraus? Es sah aus wie ein Stück Plastik. In seiner Grube. Wie war das möglich? Als er das Loch am Vortag ausgehoben und nach Verrichtung seiner Arbeit verlassen hatte, war das mit Sicherheit noch nicht dort gewesen. Seufzend erhob er sich und ging hinüber zu seiner Schubkarre, in der die Klappleiter und eine Schaufel lagen. Kurz darauf stieg er in die Grube hinab. Der Boden gab unter seinem Gewicht sofort nach. Die Sache wurde immer seltsamer, der Untergrund hätte eigentlich fest sein müssen. Felgenhauer kniete sich erneut hin.
Tatsächlich, er hatte sich nicht geirrt. Ein weißes Stück Plastik ragte aus dem Lehm, ähnlich einer Einkaufstüte, wie man sie früher massenweise an den Supermarktkassen finden konnte, bevor sie aus Umweltschutzgründen aus dem Verkehr gezogen worden waren. Neugierig zog er an dem Plastikzipfel, und noch ein klein wenig mehr von dem Kunststoff kam zum Vorschein. Hatte hier etwa irgendein Idiot Müll verbuddelt? Er zog ein paar Arbeitshandschuhe aus der Jackentasche hervor, stülpte sie über und begann, mit der Schaufel zu graben.
Lediglich eine dünne Erdschicht von vielleicht zehn Zentimetern bedeckte den Fund. Binnen weniger Sekunden hatte er eine kleine Fläche freigeschaufelt, zum Vorschein kam ein weißer blickdichter Plastiksack. Felgenhauer zog die Handschuhe aus und riss den Sack kurzerhand auf. Im selben Augenblick wünschte er sich, dass das kleine Plastikstück nicht seine Neugier geweckt hätte. Er starrte auf den zur Seite geneigten Kopf einer toten jungen Frau. Es gelang ihm gerade noch, sich aufzurappeln und die ersten Stufen der Leiter zu erklimmen, bevor er die Reste seines morgendlichen Frühstücks auf den Rand der Grube erbrach.
08:21 Uhr
Der Anruf ereilte Jana Brinkhorst, Leiterin der Hamburger Mordkommission, genau in dem Moment, als sie einen Kaffee aus dem Automaten zog. Die Sechsundvierzigjährige lauschte den Worten des Streifenpolizisten und stürmte anschließend in das Büro ihrer Kollegen Steffen Hempel und Henning Kruse. Seit über sechs Jahren arbeitete sie jetzt mit den beiden zusammen, nachdem sie zuvor ihrer Heimatstadt Kiel den Rücken gekehrt und die Leitung der Mordkommission in Hamburg übernommen hatte. Der glatzköpfige Hüne Hempel stammte ursprünglich aus dem Ruhrpott und war vor mehr als zwei Jahrzehnten der Liebe wegen in die Hansestadt gezogen und auch geblieben, als seine damalige Freundin ihn verlassen hatte. Kruse, der vor einer Woche genullt und die vierzig Lenze vollendet hatte, war der einzige waschechte Hamburger des Ermittlungstrios, wie er selbst immer betonte. Er war verheiratet und Vater zweier Töchter im Teenageralter.
»Uns wurde gerade ein Leichenfund auf dem Friedhof Wohldorf-Ohlstedt gemeldet. Schnappt euch eure Jacken, wir fahren sofort los«, sagte Jana nur und machte auf dem Absatz kehrt.
»Ist jetzt nicht so ungewöhnlich, oder? ‘ne Leiche auf dem Friedhof, mein ich.« Hempel grinste über beide Wangen, wie Jana registrierte, als sie sich wieder zu ihm umwandte. Seine Mundwinkel sackten herab, nachdem er ihren ernsten Gesichtsausdruck bemerkt hatte.
»Nicht witzig«, erwiderte Jana nur und eilte aus dem Raum. Auf dem Weg in ihr Büro verständigte sie die KTU und beorderte die Kollegen ebenfalls zum Fundort der Leiche. Horst König – der Leiter der kriminaltechnischen Untersuchung – versprach, sich umgehend mit seinen Leuten auf den Weg zu machen. Kurz darauf stieg das Trio der Mordkommission in den Dienstwagen.
Für die knapp zwanzig Kilometer vom Präsidium am Bruno-Georges-Platz bis zum Waldfriedhof benötigten sie mehr als eine halbe Stunde. Schon am Eingangstor des Friedhofs waren zwei Streifenpolizisten postiert.
»Moin«, sagte der schmächtige und offensichtlich ältere der beiden, als Hempel das Fenster des BMW hinunterfahren ließ. Die drei blauen Sterne auf der Schulter verrieten ihm, dass er es mit einem Polizeiobermeister zu tun hatte. Der Ermittler zeigte seinen Dienstausweis vor, was der Polizist mit einem Nicken quittierte.
»Sie können mit dem Wagen zur Grabstelle fahren. Nach der Einfahrt direkt rechts halten. Am Ende des Weges links abbiegen. Sie können die Stelle nicht verpassen«, erklärte der Mann.
Hempel bedankte sich. Er wollte gerade durch das geöffnete Tor fahren, als er im Rückspiegel sah, dass ein weißer Kastenwagen auf die Zufahrtsstraße bog. »Das sind die Kollegen der KTU, einfach passieren lassen«, wandte er sich noch mal an den Streifenpolizisten, bevor er den Wagen langsam beschleunigte.
Nicht einmal eine Minute später erreichten sie den Leichenfundort. Ein weiterer Polizeiwagen markierte die Stelle, an dem der Totengräber die sterblichen Überreste einer Frau gefunden hatte, als er das Grab für eine bevorstehende Beerdigung vorbereiten wollte.
Der Bereich rund um die Grabstelle war bereits großräumig mit Flatterband abgesperrt worden.
Als Jana aus dem Wagen stieg, setzte Regen ein. »Natürlich, es war ja auch schon eine halbe Stunde trocken«, murmelte sie missmutig, stellte den Kragen ihrer Softshelljacke auf und zog die Kapuze tief über die schwarzen Locken. Vor Kurzem hatten sich sehr zu ihrem Leidwesen die ersten grauen Strähnchen gezeigt, die sie nun mit Färbemittel kaschierte. Im Hintergrund hörte sie, dass Horst König, der Leiter der KTU, seinen Leuten bereits Anweisungen gab. Sie sollten ein Schutzzelt über dem Erdloch aufbauen, in dem die sterblichen Überreste der unbekannten Toten gefunden worden waren. »… bevor der Scheißregen uns sämtliche Spuren wegspült«, hörte sie ihn noch sagen, ehe sie sich und ihre beiden Partner den Streifenpolizisten vorstellte, die dem einsetzenden Regen trotzten.
»Wir haben die Schutzplane schon wieder über das Loch gezogen, mit der das Grab abgedeckt worden war, bevor der Totengräber die Tote gefunden hat«, erklärte der schwergewichtige Mann mit dem hochroten Kopf. Er litt mit ziemlicher Sicherheit unter Bluthochdruck. Jana reckte den Hals in Richtung Grube und nahm anerkennend zur Kenntnis, dass die beiden Kollegen vorausschauend gehandelt hatten.
»Das wird Horst freuen, dann werden wenigstens nicht alle Spuren weggespült, bis die das Zelt aufgebaut haben«, meinte Henning Kruse und setzte sein Hans-Albers-Lächeln auf. Er sah dem Hamburger Kult-Schauspieler nicht nur ähnlich – zuweilen erinnerte sein Gesichtsausdruck auch an den längst Verstorbenen.
»Sitzt der Zeuge bei Ihnen im Wagen?«, wollte die leitende Ermittlerin von dem Beamten wissen.
»Jepp. Reinhardt Felgenhauer, dreiundfünfzig«, rasselte der die Eckdaten herunter.
Königs Leute gaben indes Gas und schleppten allerhand Ausrüstungsgegenstände zum Leichenfundort.
»Die Befragung übernehme ich«, meinte Jana nur und wandte sich dann an ihre beiden Partner: »Und ihr schaut euch schon mal am Fundort um. Ich stoß dann gleich zu euch.«
Das Gespräch mit Felgenhauer dauerte nicht lange. Der Totengräber hatte sichtlich unter Schock gestanden, deshalb hatte es Jana auch nur bei den notwendigsten Fragen belassen, damit sich ein Arzt schnellstmöglich um den Mann kümmern konnte. Wichtige Erkenntnisse hatten sich nicht ergeben. Ein Mitarbeiter der SpuSi nahm anschließend eine DNA-Probe sowie Fingerabdrücke vom Totengräber und erstellte einen Abdruck von dessen Schuhprofil, um seine Spuren später von anderen Fremdspuren am Leichnam und in dessen unmittelbarer Nähe unterscheiden zu können. Schließlich war Felgenhauer ja in die Grube hinuntergestiegen und hatte den Sack aufgerissen, in dem die Leiche eingewickelt und vergraben worden war.
Nachdem Jana aus dem Polizeiwagen gestiegen war, steuerte sie geradewegs auf das weiße Schutzzelt zu, das mittlerweile die Grabstelle vor dem Niederschlag schützte. Königs Leute waren bereits damit zugange, den Fundort der sterblichen Überreste der Toten zu fotografieren. Um die räumlichen Dimensionen zu erfassen, lief eine Videokamera. Während Kruse in der Nähe der Grube stand und etwas in sein Tablet tippte, war von Steffen nichts zu sehen. König hockte am Grund des Lochs und war mit einem kleinen Schäufelchen und einem groben Pinsel damit beschäftigt, den Plastiksack, in dem der Leichnam begraben worden war, von Schmutz und Lehm zu befreien. Am Grund des Bodens erkannte Jana auch drei schuhgroße weiße Flecken. Offenbar hatte der Leiter der KTU bereits Abdrücke von Schuhabdrücken mit Gips ausgegossen, um sie zu sichern.
»Wo steckt denn unser Kollege?«, fragte sie, als sie sich Kruse zuwandte.
Henning schaute kurz auf. »Wollte in Erfahrung bringen, ob es hier irgendwo Überwachungskameras gibt. Ich bin übrigens gerade die Vermisstenanzeigen der letzten Tage durchgegangen. Könnte sein, dass ich einen Treffer habe. Marion Hufnagel, siebenundzwanzigjährige Verkäuferin. Wurde vor zwei Tagen von ihrem Freund als vermisst gemeldet.« Kruse hielt ihr das Tablet mit einem Foto der Frau vor die Nase.
»Hat eine gewisse Ähnlichkeit«, erwiderte sie, nachdem sie noch einmal einen Blick in die Grube geworfen und in das mittlerweile freigelegte totenweiße Gesicht der Frau geblickt hatte.
Ein Motorengeräusch ließ sie aufhorchen, als Autonärrin erkannte sie sofort den alten Mercedes des Rechtsmediziners, Doktor Robert Dürr. Der Mann liebte seinen Oldtimer genauso wie seinen Job. Kurz darauf steuerte der hoch aufgeschossene schlanke Forensiker mit seinem Instrumentenkoffer, dessen Inhalt er für die erste Leichenschau benötigte, auf sie zu. Horst König hatte zu diesem Zeitpunkt bereits vorsichtig den kompletten Bereich des Oberkörpers der Toten vom Lehm befreit, wobei die verschmutzte Plane mehr und mehr zum Vorschein gekommen war. Akribisch machte sich König daran, die Beine freizulegen.
»Morgen zusammen«, begrüßte Dürr die Ermittler mit seiner tiefen Stimme. Er stellte den Koffer auf den Boden und fischte aus der bereitstehenden Kiste der SpuSi einen Schutzanzug, den er überstreifte, bevor er die Leiter hinunter zu Horst König in die Grube stieg.
»Hier wird‘s langsam eng wie in einer Sardinenbüchse«, murmelte der KTU-Chef nur.
Und nahezu zeitgleich polterte hinter Jana und Kruse plötzlich Steffen Hempel los. »Natürlich funktioniert die Kamera an der Toreinfahrt nicht! Dieses blöde Teil ist schon seit über zwei Wochen kaputt«, blaffte der Ermittler, als er das Schutzzelt betrat. Das Wasser lief in feinen Rinnsalen von seinem Glatzkopf in den Kragen der Jacke. Hempel schien das schlechte Wetter nichts auszumachen.
Jana seufzte. »Ist doch eigentlich immer so. Leicht wird‘s uns in der Regel nie gemacht.« Dann wandte sie sich wieder der Grube zu und beobachtete Doktor Dürr dabei, wie er sich daran machte, die sterblichen Überreste der jungen Frau zu untersuchen. Die Plane hatte er mittlerweile bis auf Hüfthöhe aufgeschnitten. Im Bereich des nackten Oberbauchs konnte Jana eine klaffende Wunde erkennen.
»Sieht ganz so aus, als ob unsere Jane Doe erstochen wurde«, meinte Hempel schließlich.
»Da bin ich allerdings anderer Meinung«, ertönte aus der Grube Dürrs Stimme. Er blickte zu ihnen hinauf. »Die Frau ist zwar höchstwahrscheinlich aufgrund hohen Blutverlustes infolge eines hypovolämischen Schocks gestorben. Aber ursächlich dafür war vermutlich eher der Umstand, dass man ihr zuvor die Leber entfernt hat. Selbst wenn man sie ordnungsgemäß wundversorgt hätte, was definitiv nicht der Fall gewesen ist, wäre sie gestorben. Ohne Leber, na ja, Sie wissen schon, kann man nicht überleben.«
Jana stöhnte auf. Auch ihre beiden Partner verzogen den Mund und starrten sie an. »Bitte nicht schon wieder«, murmelte sie und dachte an einen Fall, in dem sie vor zwei Jahren ermittelt hatten. Damals waren den Opfern Körperteile und Organe entfernt und am Tatort platziert worden. »Todeszeitpunkt?«
»Da die Totenflecken schon stark ausgebildet sind und die Totenstarre bereits vollständig wieder gelöst ist, schätze ich, dass die Frau mindestens vierundzwanzig bis achtundvierzig Stunden tot ist. So genau lässt sich das aufgrund der Umgebungstemperatur nicht sagen. Da müssen Sie sich leider gedulden, bis die Obduktion abgeschlossen ist«, erwiderte Dürr.
»Könnten Sie bitte nachschauen, ob die Tote auf dem rechten Oberschenkel ein ovales Muttermal hat«, bat Kruse den Rechtsmediziner.
Der beugte sich wieder hinunter, schnitt die Plane noch ein bisschen weiter auf und suchte nach dem Mal. Wenige Sekunden später erhob er sich und nickte.
»Dann dürfte es sich mit hoher Wahrscheinlichkeit um Marion Hufnagel handeln, und aus dem Vermisstenfall wird jetzt leider eine Mordermittlung«, erklärte der Oberkommissar und stieß einen tiefen Seufzer aus. »Der Freund hat so ein Muttermal erwähnt.«
»Womit in Dreiteufelsnamen haben wir’s jetzt wieder zu tun?« Hempel stand mit verkniffenem Mund und verschränkten Armen vor dem Grab und blickte in das Gesicht der Toten.
Robert Dürr zog inzwischen seine Nitrilhandschuhe aus, schloss den Untersuchungskoffer und kletterte die Leiter wieder herauf.
»Da fallen mir auf Anhieb gleich mehrere Möglichkeiten ein. Kannibalismus, Organhandel, okkulte Opferrituale«, war es Horst König, der sich daraufhin zum ersten Mal zu Wort meldete.
Hempel schaute den KTU-Leiter zweifelnd an. »Du willst nicht ernsthaft andeuten, dass die Frau einem Menschenfresser zum Opfer gefallen ist.« Er schnaubte verächtlich.
»Du wolltest wissen, womit wir es zu tun haben könnten. Das ist meine Meinung dazu«, erwiderte König und setzte seine Arbeit fort.
Drei Stunden später
König hatte mit seinen Optionen leider recht behalten, wie Hempel bei seinen Recherchen schnell feststellen musste. Fälle von kannibalistisch motivierten Tötungsdelikten kamen häufiger vor, als er das auf dem Schirm gehabt hatte. Auch in Deutschland. Jana hatte ihm aufgetragen, sich mit Straftaten auseinanderzusetzen, in denen Kannibalismus eine Rolle gespielt hatte.
Natürlich war ihm in diesem Zusammenhang zuallererst der Name Joachim Kroll in den Sinn gekommen, auch wenn dessen Taten bereits Jahrzehnte zurücklagen. Als gebürtiger Essener kannte er selbstverständlich die Geschichte des als »Menschenfresser von Duisburg« beziehungsweise »Ruhrkannibalen« in die Kriminalgeschichte eingegangenen Serienmörders. So wie vermutlich fast jeder Erwachsene, der vor den Achtzigerjahren im Ruhrpott aufgewachsen war oder dort gelebt hatte. Acht vollendete Morde konnten Kroll damals nachgewiesen werden. Bei seinem letzten und gleichzeitig jüngsten Opfer handelte es sich um ein vierjähriges Mädchen, dessen Körper dieser Abschaum in alle Einzelteile zerlegt hatte. Als Polizeischüler hatte sich Hempel ausgiebig mit dem Fall beschäftigen müssen. Noch heute drehte sich ihm der Magen um, wenn er an die Einzelheiten dieser Gräueltaten dachte.
Aber auch in der jüngeren Geschichte gab es Fälle von kannibalistisch motivierten Morden, der letzte hatte sich im Jahr 2020 in Berlin ereignet. Seine Recherchen hatten ergeben, dass es verschiedenartige Foren gab, in denen sich Menschen über Kannibalismus austauschten und sogar anboten, sich essen zu lassen. Was ging nur in den Köpfen dieser Leute vor, dachte er nicht zum ersten Mal, seit er mit den Recherchen begonnen hatte. Er hielt einen Moment inne, um die Informationen sacken zu lassen, die er bisher zusammentragen konnte. Er hatte bereits etliche Stichpunkte notiert, um später noch tiefer in die Materie einzutauchen. Vorher jedoch wollte er die Jungs von der Cyber-Abteilung bitten, in den Kannibalismus-Foren, die sich vornehmlich im Darknet tummelten, nach Hinweisen zu suchen, die möglicherweise mit dem Mord an der jungen Frau in Verbindung standen. Nachdenklich verschränkte er die Hände hinter dem Kopf, schloss kurz die Augen und lehnte sich in seinem Stuhl zurück.
»Der Büroschlaf ist bekanntlich der gesündeste«, feixte Henning, der am anderen Ende des Büros an seinem Schreibtisch saß und ebenfalls mit Recherchen beschäftigt war. Er sollte sich mit Satanismus und okkultistisch motivierten Morden auseinandersetzen.
»Ich denke nach«, brummte Steffen, öffnete das linke Auge, während er das andere geschlossen hielt, und starrte seinen Partner über den Monitor hinweg an.
»Aha, und worüber?«
Steffen atmete tief durch und blickte seinen Freund und Kollegen jetzt ernst an. »Ich versuche zu verstehen, was Menschen antreibt, sich freiwillig in die Hände eines Kannibalen zu begeben, um sich dann töten und anschließend essen zu lassen. Das ist mir völlig unbegreiflich.«
»Da liegt meist eine psychische Störung vor«, erklärte sein Kollege. »Der Gedanke, mit der Seele des jeweils anderen zu verschmelzen. Habe ich jedenfalls mal irgendwo aufgeschnappt.«
Hempel schüttelte den Kopf. »Ja, hab ich auch gelesen. Trotzdem versteh ich das nicht. Und was machen deine Recherchen?«
»Es existierte tatsächlich mal Anfang der 2000er eine extreme satanistische Szene in Hamburg. Es gab mehrere Ermittlungen wegen Vergewaltigungen, Tierquälerei oder Drogenmissbrauchs, die im Zusammenhang mit Teufelsanbetern gestanden haben sollen. Der Ohlsdorfer Friedhof wurde mehrfach mit entsprechenden Symbolen geschändet – Pentagramme, die Zahl 666 und so weiter. Hinweise auf ein Opferritual damals habe ich allerdings nicht gefunden. Aber leider haben wir auch nichts in unseren Datenbanken zu den alten Ermittlungen. Alle Informationen zu den Vorfällen habe ich aus dem Netz: alte Zeitungsberichte und so. Ich muss mir mal die Akten aus dem Archiv dazu kommen lassen. Abgesehen davon gibt es seit Jahren keine auffälligen Vorfälle, die auf eine aktive Szene hinweisen, was natürlich nichts heißen muss«, erklärte Kruse, und fast im selben Moment flog die Tür auf. Jana stürmte herein.
»Die Identität der Toten wurde inzwischen zweifelsfrei durch die Eltern der Frau bestätigt. Marion Hufnagel. Gott, wie ich den Teil unseres Jobs hasse, Angehörigen erklären zu müssen, dass ein geliebter Mensch gewaltsam aus dem Leben gerissen wurde. Daran werde ich mich nie gewöhnen«, seufzte sie. »Mit dem Freund der Toten habe ich auch inzwischen gesprochen. Er hat sie zuletzt vor zwei Tagen gesehen, als sie zum Sport wollte. Im Fitnessstudio ist sie allerdings nie angekommen. Er hat noch am selben Abend die Vermisstenanzeige aufgegeben«, erklärte sie mit traurigem Blick, die Hände tief in die Jackentaschen vergraben. »Ich mach mich jetzt auf den Weg in die Rechtsmedizin. Dürr wird gleich mit der Obduktion beginnen. Wie weit seid ihr mit euren Recherchen? Schon irgendwelche Erkenntnisse?«
Hempel fasste in kurzen Worten zusammen, was er herausgefunden hatte. Anschließend berichtete Kruse, dass er bisher keine Hinweise auf eine aktuell aktiv existierende satanistische Szene in Hamburg entdeckt hatte. Er wollte aber später noch Kontakt zum Sektenbeauftragten der Stadt und zum Verfassungsschutz aufnehmen, um sich diesbezüglich Gewissheit zu verschaffen.
»Gut«, sagte Jana, die jedoch sichtlich angespannt wirkte. »Bleibt am Ball und gebt mir Bescheid, sobald ihr auf was Interessantes stoßt. Ich mach mich jetzt auf den Weg zur Rechtsmedizin nach Eppendorf.« Und genauso schnell, wie sie das Büro betreten hatte, stürmte die Kriminalhauptkommissarin wieder hinaus.
Geduldig hatte Jana sich im Hintergrund gehalten und den Beginn der Obduktion von Marion Hufnagel beobachtet. Routine würden solche Termine sicherlich nie für sie werden. Sie war aber auch nicht zimperlich, es machte ihr nichts aus, den Sektionssaal zu betreten und einer Autopsie beizuwohnen. Es sei denn, bei dem Opfer handelte es sich um ein Kind – das brachte sie wirklich an ihre Grenzen.
Dürr hatte die äußere Leichenschau mittlerweile beendet und alle relevanten Informationen zum Opfer in das Mikro gesprochen, das über dem stählernen Obduktionstisch hing. Körpergröße, Gewicht, Ernährungszustand, Hautfarbe, Infos zur Leichenstarre und Totenflecken waren lokalisiert und zu Protokoll gegeben worden. Ebenso alle äußeren Besonderheiten wie zum Beispiel das ovale Muttermal auf dem Oberschenkel, das letztlich dazu beigetragen hatte, die Identität der Toten schnell zu klären. Doch jetzt kam der Teil, der Jana viel mehr interessierte: die innere Leichenschau.
Als Doktor Dürr das Skalpell ansetzte, um mit Y-förmigen Schnitten den Oberkörper der Frau zu öffnen, trat sie näher an den Obduktionstisch heran. Bedächtig entfernte der erfahrene Rechtsmediziner das Brustbein und die angrenzenden Rippen, um so die Organe der getöteten Frau freizulegen. Wieder sprach er sein Medizinerlatein ins Mikro.
Selbst Jana erkannte auf den ersten Blick, dass der Frau die Leber entfernt worden war. Doch die Frage, die ihr auf den Lippen lag, war eine andere. Und jetzt konnte sie sich nicht länger zurückhalten, sie musste ihr Schweigen brechen. »Wurde die Leber fachmännisch entnommen?«
Trotz des Mundschutzes, der den unteren Teil des Gesichts verdeckte, konnte sie erkennen, dass der Mediziner lächelte.
»Ich habe mich schon gefragt, wann Sie mit der Frage herausplatzen«, sagte er schließlich und zeigte den Anflug eines Lächelns. »Auf den ersten Blick würde ich verneinen. Ein erfahrener Chirurg würde niemals so vorgehen. Das hier ist eher das Werk eines Metzgers. Sehen Sie die tiefen Einschnitte an Magen, Dickdarm, Dünndarm und am oberen Pol der rechten Niere?« Nacheinander deutete er auf die entsprechenden Organe. Jana nickte. »Die Schnitte sind zu tief und breit, als dass sie mit einem Skalpell ausgeführt worden sein könnten. Ich tippe eher auf eine Art Fleischermesser mit glatter Klinge.«
Jana kaute auf der Unterlippe. »Die Einschnitte könnten aber auch nur Tarnung sein, um die wahren Gründe für das Entfernen der Leber zu verschleiern, oder?« Der Klang ihrer Stimme verriet gewiss, wie viel Hoffnung mit der Frage verbunden war.
Dürr schaute Jana ernst an. Schließlich nickte er. »Das scheint durchaus möglich. Deshalb habe ich meine Einschätzung zu Beginn auch eingeschränkt und sprach vom ersten Blick. Selbstverständlich ist es ebenfalls denkbar, dass die Leber entfernt wurde, um sie zu transplantieren. Aber noch sind wir ja hier nicht fertig, Frau Brinkhorst. Wer weiß, was wir bei den weiteren Untersuchungen entdecken.«
Kaum hatte er zu Ende gesprochen, setzte er die Obduktion fort. Die einzelnen Organe wurden entnommen, gewogen und ausführlich untersucht, jedoch ohne wesentlichen Befund. Als Dürr sich der Luftröhre widmete, hielt er inne. Jana spürte förmlich, dass ihn irgendetwas in Aufregung versetzt hatte.
»Pinzette«, meinte er nur, und der Assistent reichte ihm umgehend das geforderte Werkzeug.
Neugierig trat Jana wieder näher an den Edelstahltisch und beobachtete das Vorgehen des Mediziners von der Seite. Etwa auf Mitte der Luftröhre setzte er seitlich das Skalpell an. Zum Vorschein kam ein kleiner münzgroßer rundlicher Gegenstand, den Dürr schließlich mit der Pinzette herauszog. Nachdem der Forensiker das Metallstück sekundenlang angestarrt hatte, runzelte er die Stirn, was Janas Neugier noch mehr steigerte. Dann blickte er sie ernst an.
»Ich will jetzt keine voreiligen Schlüsse ziehen. Aber vermutlich haben wir gerade ein Beweisstück entdeckt, das einen Hinweis auf ein mögliches Tatmotiv geben kann. Und das nebenbei erwähnt unter Umständen meine Theorie bestätigt, dass sich hier kein geübter Arzt an der bedauernswerten Frau ausgetobt hat.«
Dann zeigte er ihr die Münze, die sie nun ebenfalls sekundenlang musterte, ohne ein Wort zu sagen. Ihre Augen weiteten sich. Auf dem Metall war ein Pentagramm zu sehen, ein Ziegenkopf zierte dessen Mitte. Außerdem war dort die Ziffer 666 eingraviert.
Die Zahl des Teufels.
Doch es waren nicht die Symbole, welche sie derart erschreckten. Vielmehr war ihr Schock dem Umstand geschuldet, dass sie solch eine Münze nicht zum ersten Mal sah.
Draußen vor dem Institut zündete sich Jana erst einmal eine Zigarette an und inhalierte den Rauch tief in die Lunge. Sie versuchte, sich die Details in Erinnerung zu rufen. Es war jetzt etwas mehr als acht Jahre her, wenn sie es richtig im Kopf hatte. Ein ungelöster Fall, der sie als damalige Oberkommissarin der Kieler Polizei nicht losgelassen hatte.
In einem Waldstück war die skelettierte Leiche eines jungen Mannes gefunden worden. Laut Obduktionsbericht gab es Hinweise darauf, dass er keines natürlichen Todes gestorben war, und somit war es ein Fall für die Kieler Mordkommission geworden, für die sie zu diesem Zeitpunkt noch gearbeitet hatte. Auch damals hatten die Mitarbeiter der Spurensicherung unter der Leiche eine Münze im Waldboden entdeckt, die jener, die Doktor Dürr ihr eben präsentiert hatte, auf erschreckende Art und Weise glich. Der oder die Täter waren damals nie überführt worden. Jedenfalls nicht, soweit sie wusste. Falls doch, hätte ihr Jochen, ein ehemaliger Kollege, mit dem sie nach wie vor sporadisch Kontakt hielt, das sicherlich längst gesteckt.
Sie zückte ihr Handy, zog noch einmal an der Kippe, die sie anschließend im Aschenbecher vor dem Eingang ausdrückte, und wählte Jochens Nummer. Mist, nur die Mailbox. Sie hinterließ ihm eine Nachricht und bat um Rückruf, während sie zum Auto eilte. Sie kramte in den Windungen ihres Hirns nach der Bedeutung des Pentagramms mit dem Ziegenkopf. Die Erinnerung kam schnell zurück – sie hatte sich damals ausgiebig mit der Recherche über den Ursprung des Zeichens beschäftigt. Es war das Symbol der Church of Satan und nannte sich »Siegel des Baphomet«. Die satanistische Vereinigung war 1966 von Anton Szandor LaVay in San Francisco gegründet worden und vereinigte Atheisten, die einen Gegenpol zu den gottverehrenden Religionen bilden wollten. Doch entgegen landläufiger Meinung sahen sie in der Figur Satan nicht die Verkörperung des Bösen, sondern sie wurde als Archetyp gedeutet, einen idealtypischen Vertreter einer Idee beziehungsweise eines psychologischen Vorstellungs- und Handlungsmusters. Die Anhänger praktizierten rituelle Magie, die jedoch ausschließlich der Selbstbeeinflussung der Emotionen und Gedanken diente und somit einer selbsttherapeutischen Maßnahme ähnelte. Die Rituale waren nicht dazu gedacht, den Teufel anzubeten oder das Böse zu verherrlichen. Es gab nicht den geringsten Hinweis darauf, dass Anhänger der LaVay-Glaubensgemeinschaft Schwarze Messen mit Tier- oder Menschenopfern praktizierten. Das sah bei satanischen Sekten hingegen schon anders aus. Da dem Symbol auf der Münze von Marion Hufnagel, genau wie im Fall des unbekannten Toten in Kiel, die Zahl 666 hinzugefügt worden war, die auf der Baphomet-Münze selbst nicht vorkam, lag die Vermutung nahe, dass sie es eher mit radikalen satanistischen Anhängern zu tun hatten. Das war auch damals in Kiel die Ausgangslage für die Ermittlungen gewesen. Allerdings hatte sich diese Theorie nie erhärten lassen. Und jetzt tauchte diese Münze so viele Jahre später wieder auf: bei einem Mordopfer in Hamburg.
Jana umklammerte das Lenkrad ihres Dienstwagens so fest, dass sie regelrecht verkrampfte. Sie hatte schon fast die Zufahrt zum Präsidiumsparkplatz am Bruno-Georges-Platz erreicht, als ihr Handy klingelte. Sie nahm das Gespräch über die Freisprecheinrichtung an. »Jochen – danke, dass du mich sofort zurückrufst«, begrüßte sie den alten Kollegen.
»… obwohl ich zugeben muss, dass ich im ersten Moment dachte, ich habe mich verhört. Ihr habt tatsächlich eine Baphomet-Münze mit Teufelszahl in der Luftröhre einer Frauenleiche entdeckt?« Er hörte sich aufgeregt an.
Jana parkte ein, stellte den Motor ab und stieg aus. »Ich komme gerade aus der Rechtsmedizin, ich war live dabei, als sie gefunden wurde.«
Der Kieler Ermittler stieß einen Pfiff aus. »Ganz schön abgedreht. Und gestorben ist sie durch den Blutverlust, nachdem ihr die Leber entfernt wurde?«
»So sieht’s aus«, bestätigte Jana.
Dann herrschte für einige Sekunden Schweigen. Sie meinte, im Hintergrund das Klappern seiner Tastatur zu hören, bevor er den Faden wieder aufnahm.
»Könnte tatsächlich die Tat eines oder mehrerer fehlgeleiteter Satanisten sein«, erklärte er. »Es gibt da eine Passage aus Aleister Crowleys Anleitung für Schwarze Messen und Blutopfer. Wie du wahrscheinlich noch weißt, ist Crowley für viele Satanisten so etwas wie der Godfather der Szene. In dem Abschnitt heißt es, dass man einem Tier Herz oder Leber rausreißen und warm verspeisen soll, um die Energie des Lebewesens aufzunehmen. Er spricht zwar eindeutig von einem Tier, aber es gibt auch eine Textzeile, die dahingehend gedeutet werden könnte, dass die größte Energiequelle ein Menschenopfer sei.