Totenmoor - Ich sehe dich - Bettina Mittelacher - E-Book
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Totenmoor - Ich sehe dich E-Book

Bettina Mittelacher

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Beschreibung

»Er hat die Person, die als Nächstes auf seiner Liste steht, bereits ausspioniert. Er weiß, wo der Mann wohnt, kennt seine Gewohnheiten. Wenn er es darauf anlegt, kann er ihn schon morgen in seine Gewalt bringen. Es wird ihm ein Vergnügen sein. Doch damit ist er noch nicht am Ziel. Er will mehr. Er will sie alle.« Zwei Moorleichen im Hamburger Westen. Eine Mordserie, die die Metropole erschüttert. Ein Wettlauf gegen die Zeit beginnt.

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Bettina Mittelacher / Klaus Püschel

Totenmoor – Ich sehe dich

Thriller

Impressum

Personen und Handlung sind frei erfunden.

Ähnlichkeiten mit lebenden oder toten Personen

sind rein zufällig und nicht beabsichtigt.

Die automatisierte Analyse des Werkes, um daraus Informationen insbesondere über Muster, Trends und Korrelationen gemäß § 44b UrhG (»Text und Data Mining«) zu gewinnen, ist untersagt.

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Alle Rechte vorbehalten

Herstellung/E-Book: Mirjam Hecht

Umschlaggestaltung: U.O.R.G. Lutz Eberle, Stuttgart

unter Verwendung eines Fotos von: © Anja / Pixabay

ISBN 978-3-7349-3040-9

Prolog

September 1999

Sein Atem ist nur noch ein Keuchen. Die kühlen Temperaturen machen ihm zu schaffen, dazu die Dunkelheit. Der beständige Regen, der ihm in den Nacken rinnt, hat seine Kleidung längst durchweicht. Doch am meisten lähmt ihn eine innere Kälte, die sich anfühlt wie eine eisige Hand, die sich um sein Herz krallt.

Das Grauen, das er gerade erlebt hat, kommt ihm vor wie ein Albtraum.

Lieber Gott, lass es nicht wahr sein!

Doch seine flehenden Gedanken werden nicht erhört. Dieser Gang hier ins finstere Moor ist die erbarmungslose Realität. Mit gesenktem Kopf stolpert Sven zusammen mit seinen Freunden einen Pfad entlang, der immer tiefer in die verwunschene Landschaft führt. Irgendwo in diesem Nirgendwo wird sich ein Versteck finden für die beiden schlaffen Gestalten, die sie mit sich schleifen.

Ein feuchtes Grab, das niemand jemals finden soll.

Das helle Licht ihrer Taschenlampe, das wie ein Suchscheinwerfer die Dunkelheit zerschneidet, weist ihnen den Weg. Svens Schritte werden immer mühsamer, begleitet von einem saugenden Geräusch, wenn er den Fuß aus dem sumpfigen Boden löst, um ihn erneut aufzusetzen, ein vorsichtiges Tasten. Ein rauer Schrei lässt ihn zusammenzucken. Dann erkennt er, dass es der Ruf eines Käuzchens ist. Für ihn klingt es, als käme der klagende Laut tief aus dem Rachen jenes Menschen, den er gepackt hat, um mitzuhelfen, ihn im Dunkel zu versenken.

Niemand darf erfahren, was sie angerichtet haben. Nach und nach haben sie dieser Abmachung zugestimmt und haben ihren Beschluss mit einem stillen Schwur besiegelt. Ein Quintett der Verdammten. Svens Magen hat sich dabei zusammengekrampft, und bittere Galle ist bis in seinen Rachen emporgestiegen. Er will das nicht. Aber er muss sich mit den anderen solidarisieren.

Wohl oder übel.

Widerwillig zerrt er an dem Körper und hilft, ihn weiter in die morastige Ödnis zu schleppen. Er hätte nie gedacht, dass ein so zartes Wesen so schwer sein könnte. Doch jetzt kommt die Frau ihm vor wie eine Drei-Zentner-Last. Das Gewicht scheint sich zu addieren mit der Bürde der Schuld, die er empfindet.

Am Rande eines von Pflanzen eroberten Teichufers bleiben sie stehen. »Das ist der richtige Ort«, sagt der Wortführer der Gruppe. »Hier findet sie niemand.« Gemeinsam senken sie einen der regungslosen Körper in die sumpfige Landschaft. Anschließend vollziehen sie das gleiche finstere Werk mit der anderen Frau. Einen Augenblick schauen sie zu, wie die Gestalten langsam in die Tiefe gleiten. Dann wenden sie sich ab und schlagen den Weg zurück zum Auto ein. Sven stolpert hinterher, eine traurige Nachhut mit schleppendem Gang.

Als er einige Schritte getan hat, dreht er sich noch mal um. Im fahlen Licht der einsetzenden Dämmerung hat er den Eindruck, als winke ihm die Hand, die als Letztes im Tümpel verschwindet, zu. Das muss ein Irrtum sein. Bestimmt spielt ihm seine Fantasie einen üblen Streich. Er muss schnell weg von hier. Fort von diesem verfluchten Ort.

Kapitel 1

Dezember 2023

»Ich glaube wirklich, dass ich heute einen spektakulären Fund mache.« Jonas Spanker hält sich sein Handy dichter vors Gesicht. Die Verbindung ist nicht die beste, aber er mag nicht lauter sprechen. Nicht hier, in dieser wunderbaren Stille im Moor. Zwei Stunden mindestens möchte er dieses Idyll weiter für sich auskosten. Und Marianne, seine Frau, hat glücklicherweise für seine Bedürfnisse Verständnis, ohne dass er länger mit ihr diskutieren muss.

»Na klar. Bleib ruhig noch eine Weile«, hört er sie antworten. »Es wird dir guttun.«

Bestimmt wird es das. So sehr Spanker in seinem Beruf als Hamburger Immobilienmakler den Trubel schätzt, die schnellen Entscheidungen und das Adrenalin, so sehr liebt er es, hin und wieder in die Einsamkeit einzutauchen. Allein mit sich und der Natur.

Langsam schreitet der 53-Jährige voran im Bemühen, nichts und niemanden zu stören. Zu sensibel und schreckhaft sind die Wesen, zu denen er unterwegs ist. Auf keinen Fall will er sie verscheuchen.

Er hofft, einen Stieglitz ausfindig zu machen oder einen Sperber. Und am liebsten einen Silberreiher, dieses grazile Wesen mit dem schneeweißen Federkleid. Seit Langem versucht er, diesen in Norddeutschland seltenen Vogel vor die Kamera zu bekommen. Und diesmal soll es gelingen. Er hat sich ein gut geeignetes Terrain ausgesucht, bestens beschaffen für sein Vorhaben – und wunderschön dazu. Moore haben schon immer eine besondere Anziehungskraft auf ihn ausgeübt. Diese uralten Landschaften: geheimnisvoll, unergründlich, scheinbar unverändert und doch ständig im Wandel, mit geradezu magischem Licht.

Ein leichter Schneefall hat an diesem Tag vor Heiligabend eine hauchzarte, durchbrochene Schicht – ähnlich einer Häkeldecke – über die Landschaft im Rissener Schnaakenmoor gebreitet. Die Temperaturen liegen knapp unter null Grad, und ein böiger Wind fährt durch die Sträucher, die kahlen Birken und das abgestorbene Heidekraut. Spanker schließt auch den obersten Knopf seines gefütterten Parkas und wickelt seinen Schal ein weiteres Mal um seinen Hals, um die Schutzschicht gegen die Kälte zu verdichten. Er verstaut seine Kamera in seiner Umhängetasche und schultert sein Spektiv. Dann setzt er seine Tour in die Wildnis ein Stück abseits des Wanderwegs fort. Die Landschaft um ihn herum liegt in dem fahlen Winterlicht da wie in einem Gemälde von Pissarro.

Rechter Hand hat sich die Feuchtigkeit des Schnaakenmoors zu einem kleinen See verdichtet. Das Wasser steht jetzt im Winter höher als sonst und umspült die Gräser und die Sträucher, die an seinem Ufer wuchern. Dieses Feuchtgebiet könnte der ideale Platz sein, um seltene Vögel zu beobachten. Der Hobby-Ornithologe tritt an die Uferkante und lässt den Blick über den Teich schweifen, auf dessen größter Fläche eine hauchdünne Eisschicht liegt, hier und da durchbrochen, wo überspülte Gewächse aus dem Wasser ragen. Ja, dieser Minisee mit seiner Uferregion ist der richtige Platz für seine Beobachtungen. Mit etwas Glück gelingt es ihm heute, seiner Sammlung beein­druckende Bilder hinzuzufügen. Jetzt muss Spanker sich nur noch ein Versteck suchen, am besten hinter einem Gebüsch, und Geduld haben.

Auf dem Absatz macht er kehrt und spürt sofort, dass er mit dem linken Fuß den Halt verliert und in dem matschigen Untergrund ausrutscht. Mit rudernden Armen versucht er, das Gleichgewicht wiederzuerlangen, doch vergebens. Mit dem Spektiv auf seiner Schulter ist seine Bewegungsfreiheit eingeschränkt. Wie in Zeitlupe kippt er zur Seite und rutscht in den Teich, der tiefer ist, als er geglaubt hatte. Das eisige Wasser fühlt sich an wie Millionen spitzer Nadeln, die in seine Haut eindringen. Die Kälte raubt ihm für einen Moment den Atem. Mühsam bringt sich Spanker in eine aufrechte Position. Er weiß, dass es bei diesen Temperaturen lebenswichtig ist, schnell ins Trockene zu kommen.

Das Ufer neben ihm wirkt geradezu feindselig, zu steil und zu glitschig und ohne Möglichkeiten, irgendwo Halt zu finden. Er entschließt sich, zur gegenüberliegenden Seite zu gelangen, schwimmend oder watend, um sich aus dem gefährlich frostigen Nass zu retten. Das Wasser steht ihm bis zum Bauchnabel, als er die ersten Schritte macht. Der Untergrund fühlt sich an wie ein schlammiger Brei.

Nach wenigen Metern stößt er gegen einen festen Gegenstand, dann gegen einen weiteren. Es mag ein dicker Ast sein, der ihm da den Weg versperrt. Er greift nach dem länglichen Gebilde und zieht kräftig daran. Es ist viel schwerer, als er erwartet hat. Spanker forciert seine Anstrengungen, bis es ihm gelingt, das Hindernis an die Oberfläche zu zerren. Er erstarrt. Einen Augenblick lang scheint sich sein Gehirn zu weigern, das Grauen zu realisieren. Als er erkennt, was da aus dem Wasser auftaucht, stößt er vor Entsetzen einen heiseren Schrei aus.

In den Händen hält er ein Bein. Und an diesem Bein hängt ein Bündel, wahrscheinlich ein ganzer Mensch. Irgendwo in der Nähe hört Spanker ein Rascheln und ein Flügelschlagen. Sein panischer Ausruf hat offenbar einen Vogel aufgescheucht. Was es wohl für einer war? Das interessiert ihn jetzt nicht mehr.

Mit Grausen schießt ihm durch den Kopf, was er erst vor wenigen Minuten zu seiner Frau gesagt hat: dass er wohl »einen spektakulären Fund machen« werde. Seine eigenen Worte klingen für ihn nun wie Hohn. Er will nur noch weg. Das ist eindeutig ein Fall für die Polizei.

Kapitel 2

Schwere, nasse Flocken segeln aus dem Himmel herab. Längst hat sich die Dunkelheit über das Moor gesenkt. Der Mond steht als fahle Sichel am Himmel, immer wieder halb verdeckt von dunklen Wolken, die der stetige Wind vor sich hertreibt. Kahle Birken und andere Bäume, auf denen Spuren von Frost ruhen, recken ihre Äste empor und wirken wie bizarre Gerippe. Hier und da hat eine dünne Schneeschicht die Landschaft zugedeckt. Wie störrische, dunkle Haarbüschel ragen Flecken von abgestorbener Heide oder Gräsern aus den weißen Flächen.

Nur wenige Kilometer von der mächtigen Elbe und vom mondänen Blankenese entfernt wirkt das Schnaakenmoor am westlichen Rand von Hamburg wie eine urzeitliche, verwunschene Landschaft. Sie nimmt dich in sich auf, sie umarmt dich. Mit jedem Meter, den der Besucher in diese Region vordringt, entfernt er sich von dem Trubel der Me­tro­pole und erlebt ein kostbares, empfindliches Idyll. Büsche, Heide, Bäume, Moose und Flechten haben vor Tausenden von Jahren das Terrain erobert. Und mit ihnen die Sümpfe und Moorregionen, mit all ihren Geheimnissen und Mythen.

»Immer wenn ich hier in dieser Gegend bin, habe ich das Gefühl, in die Vergangenheit einzutauchen. Die Landschaft fasziniert mich jedes Mal aufs Neue. Geheimnisvoll und schattenhaft.« Emma Claasen starrt in den ellipsenförmigen Ausschnitt, den die Scheinwerfer ihres Autos aus der Finsternis des Schnaakenmoors in Hamburg-Rissen herauslösen. Die Kriminalhauptkommissarin hat mehr vor sich hin gesprochen, doch sie weiß, dass der Mann neben ihr auf dem Beifahrersitz aufmerksam zuhört. Sie spürt, wie Kai Plathe sie mustert, den prüfenden Blick aus seinen mokkafarbenen Augen auf ihr Profil gerichtet. Der Rechtsmediziner ist ein besonnener Begleiter, jemand, dem kaum etwas entgeht. Er scheint äußerst feine Antennen für Stimmungen zu haben, für das Ungesagte.

»Ich bin auch jedes Mal aufs Neue fasziniert vom Moor. Ich habe ganze Regale voller Bücher darüber, wissenschaftliche und fantasievolle.« Der 48-Jährige streicht sich über seinen Dreitagebart. »Es gibt Unmengen von Geschichten, die davon erzählen, dass die gefährlichen Sümpfe die Unbedachten in ihren Schlund ziehen und auf ewig verborgen halten. Viele davon haben sicher einen wahren Kern. Schon seit Menschengedenken sind diese besonderen Lebensräume dazu missbraucht worden, um sich anderer Personen zu entledigen – für lange Zeit, vielleicht sogar für immer. Wer das Böse will, findet in den Mooren schweigsame Verbündete.« Kai Plathe macht eine bedeutungsschwere Pause. »Aber manchmal taucht eben doch ein Verstorbener wieder aus den Tiefen auf.«

»Und heute, zwei Tage nach der der längsten Nacht des Jahres, ist offenbar genau so ein Moment.« Emma deutet nach vorn, wo sich der Weg schon nach wenigen Metern im düsteren Nirgendwo zu verlieren scheint. »Jetzt im Winter und so spät am Abend sieht es hier wirklich gespenstisch aus. Ganz anders als sonst.« Plathe wirft ihr einen fragenden Blick zu. »Ich wohne ja nicht weit entfernt, in Sülldorf«, erklärt die 37-Jährige. »Und deshalb bin ich häufiger in dieser Gegend unterwegs, zum Joggen, Spazierengehen oder wenn ich eine Tour mit dem Mountainbike mache. Die Landschaft bietet so viele Möglichkeiten zum Abschalten – für den Körper und für die Seele. Im Moment kann von Entspannung allerdings keine Rede sein!« Sie streicht sich ungeduldig eine Strähne ihrer schwarzbraunen Haare aus dem Gesicht. »Noch wenige Minuten Fahrt, und wir müssten am Ziel sein.«

Dort, wo das Moor zwei Tote freigegeben hat.

Über lange Zeit waren die Leichname verborgen gewesen vor den Augen der Welt. Welche Geheimnisse haben die Verstorbenen mit in ihr nasses Grab genommen? Hat die Hamburger Polizei einen neuen Kriminalfall?

»Mein Bauchgefühl sagt mir, dass es für uns ein sehr langer Abend wird.« Plathe blickt auf seine Uhr und denkt an das Glas Rotwein, das er zum Ausklang des Tages hatte trinken wollen. Daraus würde nichts werden. Denn der Tod kennt keinen Feierabend.

Gerade erst hat Emma Claasen mit Unterstützung von Kai Plathe, dem neuen Direktor des Instituts für Rechtsmedizin, einen Serienmord aufklären und den Verbrecher dingfest machen können.

Doch das Böse ruht nicht. Es ändert nur seine Gestalt. Und wieder gibt es Opfer, die entsetzliches Leid erfahren, Menschen, die ihre Liebsten verlieren. Schmerz und Tod und Trauer. Manchmal erscheint Emma ihre Arbeit wie die Hydra. Aber dieser Eindruck lähmt sie nicht. Er spornt sie nur noch mehr an. Sie ist Kriminalbeamtin mit Leib und Seele. Sie will sich dem Unheil entgegenstellen. Ihr Ziel ist es, die Verantwortlichen zu fassen und sie ihrem gerechten Urteil zuzuführen.

Und dabei hat sie in Kai Plathe einen äußerst engagierten und fähigen Verbündeten, der sich vor allem als Anwalt der Opfer sieht.

Dass die Zeit eines jeden Menschen begrenzt ist, hat der Rechtsmediziner schon als kleiner Junge erfahren müssen, als seine geliebte Großmutter eines Tages nicht mehr da war. »Sie ist im Himmel und guckt uns aus den Wolken zu«, hat seine Mutter ihm seinerzeit versichert. Es dauerte einige Jahre, bis er es besser wusste. Dass sie nicht irgendwo bei den Engeln war, sondern tief im Erdreich vergraben.

Im Medizinstudium und mit seiner Facharztausbildung hat Plathe sich darauf spezialisiert, Antworten auf die Frage zu finden, die wohl jeden Hinterbliebenen umtreibt: Warum musste dieser Mensch sterben? Er geht dem Tod auf den Grund, will seine Methoden aufdecken und seine Geheimnisse entschlüsseln – und damit Erkenntnisse sammeln, die die Täter überführen und außerdem den Lebenden helfen.

»Zwei Moorleichen in einem kleinen See. So oder so wird eine schauerliche Geschichte dahinterstecken.« Kai Plathe spricht aus, was Emma gerade gedacht hat.

Die Kommissarin nickt zustimmend. »Spaziergängerinnen, die versehentlich vom Weg abgekommen und in den Sumpf geraten sind? Das wäre natürlich möglich. Das erinnert mich an einen Film, den ich irgendwann in grauer Vorzeit mal gesehen habe. In einer Szene kämpfen zwei Menschen verzweifelt gegen den Sog des Moores an und werden trotz aller Bemühungen immer weiter in die Tiefe hinabgezogen. Als Letztes sind ihre Gesichter zu sehen, in denen die Panik steht, und die Arme, die sich nach oben recken, im vergeblichen Versuch, irgendwo Halt zu finden.«

Emma schüttelt leicht den Kopf, um die verstörenden Bilder zu verscheuchen, und zieht dabei eine kleine Grimasse. Bei vielen Menschen würde das wohl unvorteilhaft wirken, bei ihr aber zeigt sich ihr Grübchen in der rechten Wange, und die großen teichgrünen Augen bekommen einen besonderen Glanz. Es sieht zauberhaft aus, findet Plathe. Er hütet sich allerdings, seine Gedanken auszusprechen. Zwar sind die Kommissarin und er mittlerweile über ihre konstruktive und harmonische Zusammenarbeit im vorangegangenen Fall beim vertrauten »Du« angekommen. Aber dies ist weder die Zeit noch der Ort für Komplimente.

An einer Weggabelung müssen sie ihr Fahrzeug stehen lassen. Ab hier geht es nur noch zu Fuß vorwärts. Emma und Plathe folgen den schmalen Lichtstreifen ihrer Taschenlampen, vorsichtig einen Fuß vor den anderen setzend, damit sie auf dem schneefeuchten Untergrund nicht ausgleiten.

»Da vorne ist es!« In der Ferne erspäht Emma ein helles Areal, dort, wo die Kollegen durch Generatoren angetriebene Flutlichter herbeigeschafft haben, um den Fundort der Moorleichen auszuleuchten. Plathe geht dicht hinter ihr. Etwa hundert Schritte entfernt erkennen beide mehrere Planen, die ein etwa 80 Quadratmeter großes Gebiet abgrenzen und dafür sorgen, dass die Ermittler ungestört arbeiten können. Eine Folie ist als Dach dieser behelfsmäßigen Hütte gespannt.

Der Wind rüttelt an den kunststoffbezogenen Abdeckungen wie zahllose ungeduldige Hände und entlockt den Planen ratternde Geräusche.

Die Temperaturen knapp unter dem Gefrierpunkt lassen Emma Claasen frösteln. Obwohl sie ihre gefütterte Winterjacke trägt, dringt die feuchte Kälte durch ihre Kleidung und verursacht ihr Gänsehaut. Sie wirft einen Blick nach rechts zu dem kleinen Teich, in dem bis vor Kurzem die zwei Moorleichen verborgen waren.

Die Wasserfläche hat kaum die Größe eines Volleyballfeldes. Eine Eisschicht bedeckt wie eine hauchdünne Haut Teile der vom Weg abgewandten Seite des Sees. Es riecht nach nasser Erde. Am vorderen Ufer ist das Wasser trüb und der sandige Boden aufgewühlt. »Da sind Stiefelabdrücke.« Die Kommissarin deutet auf tiefe Spuren im Morast. »So tief, wie die sich in das Erdreich gegraben haben, sieht es nach wilden, überhasteten Schritten aus. Die stammen bestimmt von dem Mann, der hier abgerutscht ist.«

Emma leuchtet mit ihrer Taschenlampe auf weitere Abschnitte des Bodens, an denen welkes Gras zertrampelt worden ist, und anschließend auf ein Gestrüpp, an dem mehrere Zweige abgebrochen sind. »Dort hat er offensichtlich versucht, sich festzuhalten.« Einer der Polizisten, der beim Absperren des Fundortes geholfen hat, kommt auf Claasen und Plathe zu. Emma ist ihm schon mal bei einer früheren Ermittlung begegnet. Sie erinnert sich, dass er Sönke Hansen heißt.

»Der Mann, der uns alarmiert hat, ist ein gewisser Jonas Spanker. Ein Hobby-Ornithologe aus Hamburg, der zufällig die Leichen gefunden hat«, berichtet Hansen. »Wir mussten ihn nach Hause schicken, haben aber seine Personalien. Er war vollkommen durchnässt. Und außerdem komplett durch den Wind.«

»Das wundert mich nicht.« Plathe nickt nachdenklich. Er will dringend die Moorleichen in Augenschein nehmen. Aber zuvor sollte er besser zusammen mit Emma noch mehr über die Umstände erfahren, wie sie entdeckt wurden. »Ein ahnungsloser Naturfreund, der in einen eisigen Teich fällt und dann auch noch so eine unheimliche Entdeckung macht! Was hat dieser Spanker denn erzählt, wie der Fund abgelaufen ist?«

Hansen verschränkt die Arme. »Es sind offenbar zunächst nur ein Bein und Teile eines Rumpfes zu sehen gewesen. Wie es unter der Wasseroberfläche aussieht, hat er gar nicht wissen wollen. Er hat nur schnell sein Handy aus seiner Jacke herausgefingert. Glücklicherweise hatte er es in einer wasserdichten Seitentasche seiner Gore-Tex-Jacke. Und dann hat er die 110 gewählt.«

Die Kriminalbeamten, die sich etwa 30 Minuten nach dem Notruf am Tatort eingefunden haben, haben beim vorsichtigen Staken im Gewässer und beim Durchpflügen mit großen Forken noch einen zweiten Leichnam entdeckt. Er war mit einem Bein unter den Wurzeln eines Baumes festgeklemmt, ähnlich wie der andere Körper. Sonst hätte das Moor die Toten wohl schon viel früher freigegeben.

Später werden vermutlich Polizei und Technisches Hilfswerk mit schwerem Gerät anrücken müssen, um das Moorgewässer großflächig auszupumpen.

Werden sie noch weitere Tote finden? Oder Utensilien, die den beiden Leichen zuzuordnen sind?

Das nächste Umfeld und vor allem die Toten sind danach nicht mehr angetastet worden. Bis die Spurensicherung, die Rechtsmedizin und die Mordkommission sich einen detaillierten Eindruck verschafft haben, muss alles möglichst unverändert bleiben.

Und so wartet nun auf das Duo Emma Claasen und Kai Plathe, das gerade um den Teich herum zu den Moorleichen geht, ein geheimnisvolles Szenario. Zwei dunkle, schmale Gestalten – geschunden, über lange Zeit verborgen, rätselhaft. Rechtsmediziner Plathe zieht sich einen Ganzkörper-Schutzanzug über, geht am Ufer neben den Körpern in die Hocke und betrachtet die Toten intensiv. »Wer seid ihr?«, murmelt er. »Und was ist eure Geschichte?«

Kapitel 3

Ein leichter Druck mit dem Handgelenk, und das Skalpell schneidet in die Haut. Eine Bewegung, tausendfach ausgeübt. Doch diesmal muss Kai Plathe die Kraft, mit der er das Messer führt, deutlich verstärken. Die Haut des Leichnams, der im kalten Licht des Obduktionssaals vor ihm auf dem stählernen Tisch liegt, ist widerstandsfähiger als üblich. Ledriger, fester, dunkler, nach der Bergung aus dem feuchten Milieu des Moores bereits etwas ausgetrocknet. Der Rechtsmediziner weiß, was ihn bei diesem sehr speziellen Todesfall erwartet. Mit Wasserleichen und Moorleichen kennt er sich besonders gut aus. Und es bestätigt sich bereits bei den ersten Zentimetern des T-Schnitts, mit dem er den Leichnam eröffnet. Es ist ein bisschen so, als würde er mit dem Messer in gegerbtes Leder eindringen.

Moorleiche eins hat Plathe diese Tote im Stillen getauft. Der zweite Körper, den sie aus seinem sumpfigen Grab geborgen haben, heißt dementsprechend Moorleiche zwei. Ganz schlicht und bürokratisch.

Doch die Präparation erfolgt keinesfalls so unsentimental, wie es die kühle Nummerierung erscheinen lässt. Schon immer haben Moorleichen eine besondere Faszination auf Plathe ausgeübt. Ebenso wie die Moore selbst. Schließlich existieren sie viele Tausend Jahre und damit weitaus länger, als wir es uns mit unserer Vorstellungskraft ausmalen können. Moore gehören zu den ältesten belebten Landschaften der Erde. Ihre besondere Zusammensetzung, zugleich säurereich und sauerstoffarm, konserviert seit Jahrtausenden Lebewesen und macht sie so zu stillen Zeitzeugen der Geschichte.

Und ebenso lassen sie uns erschaudern angesichts der Schicksale zahlloser Menschen, die dort den Tod gefunden haben. Viele haben sich schlicht verlaufen, etwa beim Kräutersammeln. In den feuchten Regionen reicht ein Fehltritt, um von dem Boden langsam, aber unerbittlich eingesogen und schließlich verschluckt zu werden. Andere Opfer sind dort bewusst getötet worden – geopfert, hingerichtet oder ermordet und im Moor als verschwiegenem Grab zurückgelassen.

Rechtsmediziner Plathe hat bereits mehrere dieser speziellen Funde wissenschaftlich untersucht und ihnen so viele Geheimnisse entlockt. Dabei haben Moorleichen eine bestimmte Eigenart: Sie geben die Details um ihre Liegezeit im feuchten Untergrund nicht so leicht preis. Nach zehn bis zwanzig Jahren verändern sie sich kaum noch. Die Konservierung in diesem speziellen Umfeld geschieht zunächst sehr rasch. In den nächsten Jahrzehnten, Jahrhunderten oder Jahrtausenden bleibt der mumifizierte Körper fast so, wie er ist.

In früheren Fällen hat Kai Plathe trotzdem mit viel Akribie herausgefunden, wie viel Hunderte oder sogar Tausende Jahre Moorleichen in ihrem dunklen Grab gelegen haben. Er hat Verletzungen dokumentiert und ebenso die Spuren, die Hungersnöte an den Körpern hinterlassen haben. Er hat das Lebensalter festgestellt und unter anderem auch bestimmen können, ob die Menschen Rechts- oder Linkshänder gewesen waren. Andere Spezialisten haben sich mit einer Gesichtsrekonstruktion befasst und so das wahrscheinliche Aussehen der jeweiligen Person nachzeichnen oder modellieren können.

Moorleichen: Sie sind wie Zeitkapseln. Das ist gelebte Geschichte und echte Wissenschaft. Sie sind spannend, geradezu mitreißend. Man muss sie nur zum Sprechen bringen.

Welche ihrer Geheimnisse wird er also entschlüsseln können? Plathe spürt ein Kribbeln, wie er es lediglich bei ganz wenigen Fällen empfindet. Aber anders, als er es bei früheren, zum Teil Tausende Jahre alten Moorleichen gewohnt ist, sind diese Exemplare hier kaum von anthropologischem Interesse. Schon als Plathe die beiden schlammbedeckten Gestalten im Moor inspiziert hat, hat er den Eindruck gewonnen, dass es sich um Todesfälle handelt, die nur wenige Jahre, maximal Jahrzehnte zurückliegen. Was an Kleidungsresten zu erkennen ist, sieht so gar nicht nach grobem Leinen oder gar Tierleder aus, wie man es beispielsweise bei Funden aus der Eisenzeit erwarten dürfte. Bei den Hosen könnte es sich um Jeans handeln, und das Oberteil der einen Moorleiche ähnelt einem Rollkragenpullover. Vor allem: Eine der Toten trug eine Kette mit einer D-Mark-Münze um den Hals. Das grenzt den Zeitraum erheblich ein. Es könnte allerdings das Ablenkungsmanöver eines Täters sein, um falsche Spuren zu legen.

Also Obacht – keine vorschnellen Schlüsse ziehen!

Die Kleidung hat Plathe vorsichtig aufgeschnitten, um an den nackten Körpern die Untersuchungen vornehmen zu können. Alles geschieht mit größter Behutsamkeit.

So auch die Analyse in der Computertomographie. Selbst wenn diese Technik ihm noch keinen Aufschluss über eine Todesursache geben kann: Er weiß jedenfalls bereits, woran die Moorleichen nicht gestorben sind. Es gibt keinerlei Projektile in den Körpern, keine Spuren von Schussverletzungen. Aber es sind auffällig viele Knochenbrüche zu erkennen. Die Anzahl der Frakturen deutet darauf hin, dass es zu einem massiven Trauma gekommen sein muss, beispielsweise durch einen Sturz aus größerer Höhe. Das wird er noch genauer analysieren.

Zunächst einmal konnte er bestimmen, dass es sich bei Moorleiche eins und Moorleiche zwei um Frauen handelt. Die Beckenform ist in der dreidimensionalen Rekonstruktion der CT-Befunde aussagekräftig genug gewesen. Jetzt kann er bei der äußeren Leichenschau ausreichend sicher weibliche Brüste und ein weibliches Genital abgrenzen.

Unter seinem grünen Kittel spürt Plathe in der Hosentasche seiner Jeans ein Vibrieren. Vielleicht ist endlich eine WhatsApp von Corinna eingetrudelt. Zu sagen, dass seine Frau und er sich an diesem Morgen des zweiten Weihnachtsfeiertages nicht gerade in bestem Einvernehmen getrennt hätten, wäre eine glatte Untertreibung. Tatsächlich hat es einen handfesten Streit gegeben. Wieder einmal.

Irrt er sich, oder hat Corinna geradezu auf einen Anlass gelauert, um die familiäre Atmosphäre zu verderben?

Er hat ihre gereizte Stimmung bereits gespürt, als sie und die beiden Söhne am Abend vor Weihnachten aus Essen angereist und in Hamburg aus dem Zug gestiegen sind. Um Corinnas schönen Mund hat ein harter Zug gelegen, zwischen ihren eisblauen Augen hat sich eine steile Zornesfalte gezeigt. Es hat ihr wohl nicht gepasst, dass sie das Fest nicht in ihrem früheren gemeinsamen Domizil in Essen verbringen würden, sondern in Plathes berufsbedingtem neuem Zuhause in Hamburg-Niendorf, in dem er nach seinem beruflichen Wechsel vorerst allein lebt. Doch diese Trennung auf Zeit war intensiv besprochen und abgestimmt, vor allem wegen ihrer Söhne Philipp und Dominik. Die Familie war sich einig gewesen, dass Kai zunächst allein in die Hansestadt übersiedeln würde. So können die Söhne in ihrem gewohnten Umfeld bleiben – und Corinna in ihrem Job in der Ruhrmetropole Essen.

Ihre Kinder haben sich auf ein Weihnachten zu viert in Hamburg sehr gefreut. Deshalb hat Plathe sich wirklich ins Zeug gelegt, eine Zwei-Meter-Nordmann-Tanne besorgt, sie in seinem Wohnzimmer aufgestellt und reichlich Weihnachtsdekoration bereitgelegt, damit sie den Baum am Morgen des Heiligen Abends gemeinsam schmücken können, von jeher eine Familientradition.

Doch weder der prächtige Baum, der nach Wald duftete, noch das Gulasch zum Abendessen, das Plathe so perfekt gelungen ist, dass das Fleisch auf der Zunge zerging, konnten Corinnas Stimmung heben.

Wie gut, dass die Jungs offenbar von dem Zorn, der in ihr zu brodeln schien, nichts gespürt haben. Erst recht nach der Bescherung nicht. Sie schienen happy mit den Smartphones, die Corinna und er ihnen geschenkt haben – und ebenfalls hoch erfreut über die Tickets für das Musical »König der Löwen«, mit denen Plathe seine Familie überrascht hat. Gleich am ersten Feiertag haben sie die mitreißende Show angesehen. Er hat den gemeinsamen Nachmittag sehr schön gefunden.

Fast hätte er darüber die unterschwellige Missstimmung vergessen. Vor Weihnachten ist es Wochen her gewesen, seit seine Frau und er sich zuletzt gesehen haben. Wann immer er die Familie in sein neues Zuhause nach Hamburg eingeladen hat, sind allein Philipp und Dominik angereist. Corinna hat mehr als einmal betont, dass die beiden mit ihren 11 und 14 Jahren sehr gut selbstständig mit dem Zug von Essen nach Hamburg zum Vater fahren können. Und sie selber habe nun mal wichtige berufliche Termine im Ruhrgebiet, die sie ganz und gar in Anspruch nähmen. »Kannst du das nicht verstehen?«, hat sie gefragt und ihn in ihrem Videotelefonat mit wutblitzenden Blicken beinahe aufgespießt.

»Gerade du?« Plathe hat nicht an sich halten können und ebenso wütend reagiert. Wie sie es geschafft hat, in diese zwei Worte einen so massiven Vorwurf zu packen!

Plathe hat immer Verständnis dafür gehabt, dass nicht nur er, der vor wenigen Monaten als Direktor des Instituts für Rechtsmedizin in Hamburg berufen wurde, einen sehr fordernden Beruf hat, sondern ebenso Corinna. Dass auch sie ihre Karriere als Bauingenieurin konsequent verfolgen möchte. Er hat ihre Argumente verstanden, warum sie bis auf Weiteres mit den Söhnen in Essen bleibt. Die Jungs sollen nicht aus der Schule und ihrem jeweiligen Freundeskreis sowie den Sportvereinen herausgerissen werden. Alles gute Gründe, die sie hinlänglich diskutiert haben, bevor die gemeinsame Entscheidung gefallen ist. Warum also ist Corinna jetzt dauergereizt?

Sie hat sich die ersten beiden Festtage über so gar nicht zusammengerissen und seinem Eindruck nach nicht einmal versucht, eine harmonische Zeit mit ihm zu verbringen. Obwohl er sich redlich Mühe gegeben hat.

Vielleicht ist es aber ein Fehler gewesen, dass er seiner Familie nach dem Abendessen von seinem neuesten spannenden Fall erzählt hat? Der Moorleichenfund hat ihn derartig fasziniert, dass er darüber regelrecht ins Schwärmen geraten ist. Er hört sich noch sagen: »Ich kann es kaum abwarten, mit den Untersuchungen zu beginnen.«

»Na, so eilig wird es schon nicht sein«, hat Corinna geschnappt. »Nach Weihnachten sind die immer noch tot. Es wird dir doch wohl möglich sein, die paar Tage zu warten? Oder haben deine Leichen jetzt auch über die Feiertage Priorität?« Ihre Augen haben Funken gesprüht, als ihr Blick ihn durchdringend fixiert hat. »Als Institutsdirektor wirst du die Arbeit ja sicher delegieren können?«

Plathe hat sich zusammennehmen können und seine Stimme gesenkt. »Versteh mich bitte! Die beiden Leichen liegen noch nicht sehr lange im Moor, vermutlich nur einige Jahre. Die Polizei kann mit den Ermittlungen nicht erst bis deutlich nach Weihnachten warten. Außerdem fühle ich mich möglichen Angehörigen gegenüber verpflichtet, bald mit der Arbeit zu beginnen. Ich will herausfinden, wer die Toten sind und wie sie gestorben sind.« Er hat beobachtet, wie Corinna genervt den Mund verzogen hat. Also hat er weiter versucht, sie für die Problematik zu sensibilisieren. »In unserem Institut habe ich außerdem in Bezug auf Moorleichen bei Weitem die größte Fachkenntnis. Deshalb wäre es nicht sinnvoll, wenn einer meiner Kollegen die Untersuchung übernimmt. Diesen Job werde ich selber machen.« Einige Augenblicke später hat er noch hinzugefügt: »Und ich will alles über sie herausfinden. Wer weiß, was für spannende Geschichten sich hinter diesem Fund verbergen.«

»Cool, Papa! Wann können wir die Toten mal anschauen?« Dominik, sein jüngerer Sohn, hat mit seiner kindlichen Neugier unbewusst eine Bombe gezündet.

Corinna ist in diesem Moment erstarrt, hat die Serviette fallen lassen und sich vom Esstisch erhoben. »Na, dann bin ich hier wohl überflüssig«, hat sie geschäumt. »Ich muss dringend einen langen Spaziergang machen – sonst platze ich!«

Keine Minute später hat Plathe die Haustür gehört, die aber erstaunlicherweise nicht mit einem lauten Knall zugeworfen wurde, sondern leise zugezogen. Haben seine Argumente doch ein wenig Wirkung gezeigt? War Corinnas Wut da schon ein wenig verraucht?

Sie würden heute Abend in Ruhe reden. Wenn sich die Gemüter hoffentlich halbwegs beruhigt haben – und wenn er seine wichtigsten Untersuchungen im Sektionsraum abgeschlossen hat.

Den Keller des Instituts mit dem kalten Licht, den Obduktionstischen aus rostfreiem Stahl und den Fächern, in denen die Toten ruhen, empfindet so mancher vielleicht als bedrückend, seelenlos gar. Doch Plathe versteht ihn vielmehr als einen Ort der Gerechtigkeit und der Mitmenschlichkeit. Denn wenn er hier mit Skalpell und Säge in das Innerste eines Körpers vordringt, kann er dazu beitragen, Namenlosen eine Identität zurückzugeben. Ebenso kann er die Umstände eines Todes aufdecken und damit helfen, einen Mörder zu finden und hinter Gitter zu bringen. Das treibt ihn an.

Die Aufgabe am Obduktionstisch jetzt mit Moorleiche eins und anschließend mit der zweiten Moorleiche ist Kai Plathe ein besonderes Anliegen. Deshalb steht er jetzt auch hier, am Nachmittag des zweiten Weihnachtsfeiertages, und registriert jede Einzelheit der ersten zarten Gestalt ganz genau. Sein Protokoll wird wieder einmal viele Seiten füllen. Die ersten Befunde sind vielversprechend gewesen. Die beiden Körper haben mehr Geheimnisse preisgegeben, als er es nach dieser langen Zeit im Moortümpel erwartet hat.

Der Erhaltungszustand des Leichnams ist relativ gut. Zwar weist die Körperoberfläche mehrere Haut- und Weichteildefekte auf, speziell im unteren Gesichtsbereich und am Hals. Aber Rumpf und Extremitäten sind intakt. Die Kleidung ist zerfetzt und teilweise aufgelöst. Es handelt sich um weibliche Kleidungsstücke. Am Oberkörper ist eindeutig ein Büstenhalter abzugrenzen. Wäschezeichen finden sich nicht.

Plathe hat entdeckt, dass die Papillarlinien an den Fingerkuppen des Leichnams überraschend gut konserviert sind. Kaum zu glauben: Es wird vermutlich gelingen, durch fotografische Tricks Fingerabdrücke zu rekonstruieren – und damit hoffentlich rasch eine Identifikation zu erreichen. Der Zahnstatus und der Gebissbefund sind ebenfalls relativ gut erhalten. Allerdings findet Plathe keine Anhaltspunkte für zahnärztliche Arbeiten. Vermutlich hat die Frau schon als kleines Kind eine konsequente Kariesprophylaxe betrieben. Wahrscheinlich haben sich die besorgten Eltern intensiv um das Kind gekümmert. Eine Tochter aus sogenanntem gutem Hause?

Die Frau dürfte noch relativ jung gewesen sein, grob geschätzt um die 20 Jahre alt. Das ergibt sich aus den vorliegenden CT-Röntgenbildern. Die Wachstumsfugen aller Fingerknochen sind vollständig geschlossen. Spuren von Wachstumslinien hat Plathe an der Speiche nahe dem Handgelenk entdeckt, dies passt zu einem Lebensalter von etwas unter 20.

Vermutlich wird ihm das Landeskriminalamt sagen können, wer dieser Mensch ist. Wahrscheinlich hat man dort bereits die Vermisstensachen von jungen Frauen aus den vergangenen Jahrzehnten zusammengestellt. Dass ein DNA-Nachweis gelingen wird, ist recht unwahrscheinlich, da die Moorsäuren die DNA zerstören. Aber der Zahnstatus, die Fingerabdrücke und die von ihm erhobenen biometrischen Daten wie zum Beispiel Statur, Größe, Gewicht und Kopfform sind vielversprechend.

Woran die Frau konkret gestorben ist? Das bleibt zunächst unklar. Sicher ist, dass die Tote diverse Frakturen an Armen und Beinen, aber keine Schädelbrüche erlitten hat. Weil die Frau im Moortümpel gefunden wurde, wird Plathe noch prüfen, ob sie ertrunken ist. Er hofft für sie, dass es nicht so war. Jeder Tod ist schlimm. Aber manche Art zu sterben ist qualvoller als andere. Und das langsame Versinken im Moor …

Der Rechtsmediziner strafft die Schultern und setzt erneut entschlossen das Skalpell an. Es passt so gar nicht zu ihm, die Gedanken schweifen zu lassen, während er einen Leichnam untersucht. Üblicherweise ist er hoch konzentriert bei der Sache, ganz der erfahrene Profi, der Befunde sachlich und kühl auswertet. Emotionen? Die erlaubt er sich erst hinterher. Wenn die Obduktion abgeschlossen ist, das Protokoll diktiert. Wenn der Tod aufgeklärt ist und der Leichnam wieder im Kühlfach – und er selbst zurück am Schreibtisch oder auf dem Weg nach Hause. Heute wird es noch eine ganze Weile dauern, bis er das Institut verlassen kann. Erst muss er alles erfassen, was der Leichnam ihm gegenüber preisgibt.

Es kommt Plathe so vor, als würde der tote Körper zu ihm sprechen und ihm in einem ersten Ansatz seine Geschichte erzählen. Die letzten Augenblicke im Leben dieser jungen Frau kann er teilweise vor sich sehen. Es fehlen allerdings weiterhin eine Reihe von Puzzleteilen.

Bleibt außerdem das Rätsel um Moorleiche zwei. Sie muss noch eine Zeit lang auf ihre weitergehende Untersuchung warten. Plathe weiß bereits, dass auch diese Tote eine junge Frau ist und dass sie zahlreiche Knochenbrüche aufweist, einschließlich Schädelbrüchen. Ein Polytrauma also, das vermutlich akut den Tod hervorgerufen hat. Bei diesem Opfer wird die Obduktion wahrscheinlich deutlich länger dauern.

Doch etwas Wichtiges sollte er jetzt schon erledigen. Plathe streift sich die Sektionshandschuhe ab, schält sich aus seinem Sektionskittel und wäscht sich im Umkleideraum sorgfältig die Hände. Dann greift er zu seinem Mobiltelefon und wirft einen Blick auf das Display, das ihm mitteilt, dass vier Anrufe in Abwesenheit eingegangen sind und eine WhatsApp – Letztere von Corinna. Auch wenn er eigentlich dringend mit seiner Frau sprechen und den Streit gern beenden möchte: Es muss warten. Ein anderer Anruf hat Vorrang. Kai wählt die Nummer von Emma Claasen.

Kapitel 4

Lautlos gleitet die Tür zur Seite. Mit einem dynamischen Schritt tritt Emma in den Raum ein, der ihr vorkommt wie eine Mischung aus Hochsicherheitstrakt und Allerheiligstes: Hier, im Obduktionssaal im Institut für Rechtsmedizin, wird nach der Wahrheit geforscht, nach den Ursachen für Tod und Leid. Und damit wird gleichzeitig ein wichtiges Fundament gelegt, um aufzudecken, ob ein Verbrechen stattgefunden hat. Es gibt also gute Gründe für die Kriminalhauptkommissarin, diesen Ort mit positiven Gefühlen und viel Zuversicht aufzusuchen.

Doch da ist auch Beklemmung. Was hier geschieht, ist endgültig. Wer auf einem der drei Tische aus rostfreiem Stahl landet, hat sein Leben ausgehaucht. Eine Zukunft gibt es für sie oder ihn nicht mehr – jedenfalls nicht in dieser Welt.

Insofern hat es für Emma eine gewisse Symbolik, dass es ein relativ weiter Weg ist, um von der Straße in den Obduktionssaal zu gelangen. Mehrere Flure, Treppen und acht Türen hat sie passiert. Sie hat im Umkleideraum einen grünen Sektionskittel über ihre Straßenbekleidung angelegt, der ihre zierliche sportliche Figur verhüllt. Außerdem hat sie Plastik-Überschuhe und Mundschutz angezogen sowie Einmalhandschuhe übergestreift. Ein Blick in den Spiegel offenbart die Verwandlung, die die zweckmäßige Kleidung bei ihr ausgelöst hat.

Für sie fühlt es sich an, als würde sie einen Schutzschild anlegen. Professionelle Kleidung – professionelle Distanz? Doch wie bei früheren dienstlichen Besuchen in diesem Keller ist die zarte Abschirmung für die Seele schnell zerschlissen. Der Tod hat eine ganz eigene, durchdringende Macht.

Insbesondere, wenn er sich so ausdrucksstark darbietet wie im Fall der zwei Moorleichen. Die schwärzlich braunen Körper liegen zu beiden Seiten des Sektionsraums jeweils auf einem Obduktionstisch. Emma wirft einen aufmerksamen Blick auf die Toten, die als menschliche Leichname nur schemenhaft wahrzunehmen sind. Die Gestalten wirken stark ausgemergelt. Haare sind nicht mehr vorhanden. Die Reste der Kleidungsstücke sind sichergestellt. Die Sektionsschnitte ziehen sich über die Körper, vorne, hinten, an Armen und Beinen. Von den Sektionsgehilfinnen wurden sie mit sauberen Nähten sorgfältig verschlossen. Sonstige markanten Einzelheiten drängen sich beim eher flüchtigen Hinsehen nicht auf. Der Anblick wirkt irreal – ein bisschen wie zwei Wesen von einem anderen Stern. Ein Hauch von E.T. also. Einerseits ausdruckslos, andererseits empfindet Emma ihn irgendwie als gruselig. Sie trifft Plathe in dem Verbindungsraum zwischen den beiden Obduktionssälen an, wo er gerade dabei ist, seine Sektionsprotokolle zu diktieren. Emma registriert etliche lateinische Worte, offenbar Bezeichnungen für einen speziellen Knochen oder einen Organdefekt, wie sie vermutet. Ohne seinen Redefluss zu unterbrechen, bedeutet der Rechtsmediziner ihr, auf dem Stuhl ihm gegenüber Platz zu nehmen. Sie legt ihren Mundschutz ab, setzt sich hin, wartet.

Wie schon bei anderen Gelegenheiten, in denen Emma Plathe bei der Arbeit erlebt hat, ist sie fasziniert. Immer weiter geht sein Diktat der Obduktionsergebnisse – ohne dass er auch nur einmal in irgendwelche Notizen schaut. Gibt es überhaupt welche? Oder hat der Rechtsmediziner alle Details so präzise im Kopf abgespeichert, dass er sie mühelos aus seinem Gedächtnis wiedergeben kann?

Während Plathe weiter in sein Gerät spricht, studiert Emma verstohlen sein ausdrucksstarkes Gesicht. Die dichten Brauen, die an Erich Kästner erinnern, darüber die tiefen Falten, die seine Stirn in Licht und Schatten teilen, die kräftige Nase, die klugen, dunklen Augen, der intensive Blick. Er ist so in seinen Bericht vertieft, dass er alles um sich herum zu vergessen scheint. Diese Hingabe an seine Arbeit beeindruckt Emma.

»… und das Ganze bitte bis spätestens morgen um Uhr auf meinem Schreibtisch. Ende.« Plathe schaltet sein Diktiergerät ab und sieht Emma an. »Schön, dass du so schnell kommen konntest!« Er deutet auf die Arbeitsfläche neben ihm, auf der zwei zugeklappte Aktenordner liegen. »Wie du siehst, kann ich dir nichts anbieten – außer interessanten Informationen.«

»Das ist mir sehr recht.« Emma schlägt die Beine übereinander, was ihr etwas altersschwacher Stuhl mit einem Ächzen quittiert, und nickt ihrem Gegenüber aufmunternd zu. »Es kann losgehen! Ich bin gespannt.«

»Eins vorweg: Wenn du umfassende Berichte zu beiden Moorleichen erwartest, muss ich dich leider etwas enttäuschen. Ich habe ein recht präzises Bild gewinnen können, aber bislang erst die eine, die ich Moorleiche eins genannt habe, obduziert. Mit Moorleiche zwei habe ich am späteren Abend noch eine Verabredung im Sektionssaal.«

»Ich gehe davon aus, dass es bei dem Date keinen Wein und auch keine romantische Musik geben wird?« Emma schmunzelt, merkt aber sofort, dass ihre laxe Bemerkung bei Plathe nicht gut ankommt. Sein Gesichtsausdruck verfinstert sich.

»Rotwein, Musik oder sogar Wurststullen kommen vielleicht im Fernsehkrimi im Obduktionssaal vor«, stellt er klar. »Bei mir ganz sicher nicht. Und ebenso wenig bei meinen Kollegen, zumindest bei uns in Hamburg. Obwohl ich mir sagen lassen habe, dass es das eine oder andere schwarze Schaf in meiner Zunft geben soll.« Seine Miene entspannt sich nur langsam. »Sorry, aber das ist bei mir ein empfindlicher Punkt. Ein pietätvoller Umgang mit den Toten ist für mich absolut essenziell! Aber kommen wir zur Sache.«

Er beugt sich vor und fixiert Emma mit durchdringendem Blick. »Bei beiden Opfern handelt es sich um Frauen um die 20. Die Computertomographien der Leichen haben Hinweise auf etliche Frakturen gegeben. Es muss zu erheblicher äußerer Gewalt gekommen sein. Im Fall von Moorleiche zwei führte das sogar zu Schädelfrakturen, die möglicherweise unmittelbar tödlich waren. Genau weiß ich das erst, wenn ich auch diese Sektion vorgenommen habe.« Er lächelt. »Wenn du möchtest, kann ich dir dazu noch heute Abend oder gleich morgen früh die Details erläutern.«

Emma nickt. »Je eher, desto besser.«

»Mehr Einzelheiten habe ich bei Moorleiche eins. Die Frakturen der Schienbeine und Oberschenkelknochen, dazu die Rippenbrüche und eine Oberarmfraktur weisen auf massive stumpfe Gewalt hin, einerseits im Bereich der Beine, andererseits infolge eines Sturzes auf Schulter und Rumpf. Das Verletzungsmuster passt jedenfalls nicht zu einem Szenario, bei dem sie schlicht ins Moor gefallen oder gerutscht ist und anschließend unterging.« Plathe macht eine bedeutungsvolle Pause. Als er weiterspricht, ist seine Stimme ein wenig leiser, aber nicht weniger eindringlich. »Nein, offensichtlich war die junge Frau schwer verletzt, als ihr Körper im Moor versenkt wurde. Also eine spezielle Form des ›Leichendumpings‹.«

Plathe registriert, wie sich die linke von Emmas scharf gezogenen Augenbrauen wie zu einem antiken Spitzbogen hebt. Ein Ausdruck der Überraschung. Doch er kennt sie mittlerweile gut genug, um zu wissen, dass sie sich niemals lange irritieren lässt. Sie ist schlau und verfolgt ihre Ziele mit Entschlossenheit, bleibt dabei bei aller Präzision und Gewissenhaftigkeit gleichwohl empathisch – und handelt niemals voreilig.

Doch bei aller Geduld gibt es bei ihrem Fall eine Frage, die als Erstes geklärt werden muss. Die Antwort ist entscheidend, um Anhaltspunkte zu erlangen, die auf die Identität der Toten hindeuten könnten. »Wie lange haben die Frauen im Moor gelegen?« Die Kommissarin korrigiert sich sofort. »Was ich meine, ist: Wann sind sie gestorben? Wir wollen die Vermisstendateien durchforsten. Dafür brauchen wir Hinweise, in welchem Zeitraum wir suchen müssen.« Plathe fährt sich mit der Hand über seinen Bart. Emma mag das kraspelnde Geräusch, das dabei entsteht.

»Im Hinblick auf die Tatzeit fällt es mir schwer, Aussagen zu treffen«, bekennt Plathe. »Das ist extrem unsicher.«

»Warum?«

Der Rechtsmediziner steht auf, beginnt, auf und ab zu laufen. Dabei bietet der kleine Raum nicht viel Möglichkeiten. Drei Schritte in die eine Richtung, eine Drehung, die bei seiner Größe von 1,90 Meter und seiner Handballerstatur nicht gerade anmutig, aber athletisch wirkt, dann drei Schritte zurück. »Das Problem ist, dass Moorleichen ihre Liegezeit sehr gekonnt verbergen«, erklärt er.

Sie überlegt. »Etwa so, als wäre der Körper tiefgefroren? Nur unter anderen Bedingungen?« Plathe bleibt vor ihr stehen und verschränkt die Hände. Emma fällt wieder einmal auf, wie kräftig sie sind.

»Ganz entfernt kann man das vergleichen«, meint der Experte. »Aus diesem Grund kann es bezüglich der Liegezeit im Moor zu erheblichen Fehleinschätzungen kommen. Bei einer jungen Frau aus dem Uchter Moor südlich von Nienburg hat sich die Hamburger Rechtsmedizin früher mal ziemlich blamiert. Denn die lag nicht die zunächst geschätzten drei Jahrzehnte im Moor, sondern etwa 3.000 Jahre.« Er schmunzelt. »Also nur ganz knapp daneben. Sie haben den Fall später in unserer Fachzeitschrift ›Rechtsmedizin‹ veröffentlicht. Es war eine Moorleiche aus der vorrömischen Eisenzeit.«

»Darüber habe ich damals gelesen.« Emma nickt. Natürlich will Kai einen solchen Irrtum vermeiden, trotzdem braucht sie einen ungefähren Ansatz. Also muss sie drängeln. »Du kennst dich doch mit derartigen Funden gut aus. Ist es nicht so, dass niemand sonst so viele Moorleichen untersucht hat wie du?«

Plathe beugt sich vor, öffnet einen der beiden Aktenordner auf dem Tisch und wirft einen Blick auf die Bilder vom Auffindungsort und aus dem Sektionssaal. »Kein erfahrener Rechtsmediziner würde sich da momentan festlegen. Aber um dir eine sehr grobe Orientierung zu geben: Vom Zustand der Leichen her tippe ich auf zwei bis drei Jahrzehnte Liegezeit. Also wäre es nicht verkehrt, die Vermisstensachen um das Jahr 2000 und noch zehn Jahre davor zu prüfen.«

Emma federt auf ihrem Stuhl, der bedenklich laut knarrt. »Das ist doch mal ein Hinweis! Damit kommen wir bestimmt weiter.« Mit vier Schritten ist sie an der Tür. Plathe fällt wieder einmal auf, mit welcher katzenhaften Geschmeidigkeit die Kommissarin sich bewegt. Sie hat die Hand schon an der Türklinke, als sie sich noch mal umdreht. »Gibt es sonstige Ermittlungshilfen? Individuelle Merkmale oder Besonderheiten? Kleidung?«

Plathe ist schon dabei, seinen Obduktionskittel überzustreifen. Er gönnt sich wirklich keine Pause. »Es gibt tatsächlich eine Besonderheit, die vielleicht ein Angehöriger wiedererkennt. Moorleiche zwei trug eine silberne Kette mit einem Anhänger, einer D-Mark-Münze.«

»Das würde ja auch zu der von dir benannten Zeit passen. Bestens!« Emma beobachtet, wie Plathe hinter seinem Körper hantiert, um die Bänder, die seinen Kittel am Rücken und im Nacken zusammenhalten, zuzuschnüren. »Darf ich?« Sie tritt hinter ihn und bindet die obere Schleife. Er hält still und atmet ihren Duft ein. Irgendetwas Zartes, vielleicht ein Shampoo mit Honignote? Als sie ihre Hände sinken lässt, dreht er sich um, geht einen halben Meter zurück. Er räuspert sich.

»Ansonsten kann ich dir im Moment so viel sagen: Zwei Frauen um die 20 mit jeweils einem schweren Polytrauma. Die sind sicher nicht beim naturkundlichen Spaziergang ins Moor gestürzt. Am ehesten hatten sie einen Verkehrsunfall als Fußgänger oder Radfahrer. Und dann hat man die Körper im Moor versenkt, um alle Spuren zu verwischen.« Plathe verschränkt die Arme. »Vermutlich ist das alles vor dem Gesetz schon verjährt. Ihr müsst rauskriegen, wer die Opfer sind, was ihnen passiert ist – und wer dafür verantwortlich ist! Diese Tat ist schlicht böse. Der Täter wollte die beiden jungen Frauen für immer verschwinden lassen.«

Kapitel 5

20 bis 30 Jahre! So lange also haben die beiden Toten in ihrem feuchten Grab gelegen. Es ist nicht der Zeitraum, den Emma typischerweise mit Moorleichen verbinden würde. Die hätte sie gedanklich eher irgendwo ins frühe Mittelalter gepackt. Menschen in schwerer Leinenkleidung, vielleicht einen grob geflochtenen Korb dabei zum Beeren-, Kräuter- oder Pilzesuchen. Aber niemand in Jeans und aus der Zeit, als sie selber noch zur Schule ging.

»Wir reden also etwa über die Jahre von 1993 bis 2003«, hat sie den Kollegen aus ihrem Team mitgeteilt und diese gebeten, sich die Vermisstenakten aus jener Zeit im Raum Hamburg genau anzuschauen. Damit würden sie anfangen. Und wenn sie keinen passenden Fall finden sollten, erweitern sie den Zeitraum und den Radius. Es ist ja nicht gesagt, dass die Toten aus der Hansestadt oder dem Speckgürtel kommen. Theoretisch ist ganz Deutschland denkbar, vielleicht sogar Europa und Nordamerika. Jedenfalls sind die jungen Frauen keine Asiatinnen oder Afrikanerinnen und nicht aus Südamerika, hatte Plathe der Kommissarin vorhin noch mit auf den Weg gegeben.

»Wir können wohl annehmen, dass die jungen Frauen in etwa gleichzeitig verschwunden sind«, hat Emma die Kollegen informiert. »Das dürfte die Suche deutlich eingrenzen.«

Besser ist es. Wenn sie sich durch alle Fälle zu ackern hätten, die in den vergangenen Jahrzehnten allein in Hamburg beim Landeskriminalamt aufgelaufen sind, müssten sie mehrere Hundert überprüfen. Aber hier liefern ja zunächst der ungefähre Zeitraum und das Geschlecht hinreichend Kriterien zur Eingrenzung. Und eben die Tatsache, dass es sich um zwei Vermisste ähnlichen Alters handeln dürfte. »Es wäre super, wenn ich zeitnah Ergebnisse bekäme«, hat Emma ihrem Kollegen Oliver Neumann noch mit auf den Weg gegeben, der erst mal Richtung Kaffeemaschine geschlurft war.

Er hat wohl nicht angenommen, dass sie zumindest den Beginn seiner gegrummelten Antwort noch mitbekommen könnte. »Auf einen Tag mehr oder weniger …« Dann war er außer Hörweite.

Doch die Kommissarin ahnt, was er damit sagen wollte: dass es bei einem Langzeit-Vermisstenfall nicht darauf ankommt, ob es etwas schneller oder langsamer geht. Das ist allerdings ein Trugschluss. Jeder Tag, sogar jede Stunde zählt. Die Angehörigen, die jemanden schmerzlich vermissen, kommen erst dann zur Ruhe, wenn sie Gewissheit haben, welches Schicksal ihre Liebsten ereilt hat. Es ist ein schmerzlicher Weg. Und die Familie hat es verdient, dass das Leid beendet wird – so früh es geht.

Emma weiß nur zu genau, wie unendlich weh es tun kann, wenn man einen geliebten Menschen verliert. Sie hat es selber erleben müssen.

Tatsächlich hat es sich lange Zeit angefühlt, als wäre sie geteilt worden und eine Hälfte von ihr wäre tot. Denn es war der Mensch, der ihr so nahegestanden hat wie kein anderer: ihre Zwillingsschwester Laura. Sie hat mit 14 Jahre Suizid begangen, nachdem sie sich lange abgemüht hat, mit einem Leben im Rollstuhl zurechtzukommen. Sie hat gekämpft, mit bewundernswerter Tapferkeit. Aber schließlich hat sie das Handtuch geworfen, ausgelaugt, traurig, verzweifelt.

Drei Jahre vorher ist sie bei einer Fahrradtour von einem Wagen erfasst worden. Der Fahrer hat ihr die Vorfahrt genommen. Es war ein SUV, das konnte Laura noch sehen, bevor sie das Bewusstsein verlor. Der Fahrer hat Unfallflucht begangen und das Kind einfach auf der Straße liegen lassen. Die schweren Verletzungen an der Wirbelsäule haben zu einer Querschnittslähmung geführt – und schließlich zu dem Entschluss, dass Laura nicht mehr leben wollte.

Es war so typisch für ihre Schwester, dass sie niemandem anvertraut hat, wie sehr sich ihre tiefe Verwundung vom Rückgrat immer weiter in ihre Seele gefressen hat. Sie hat wohl niemanden damit belasten wollen und so getan, als sei alles in Ordnung. Keine Vorwarnung, dass sie mit dem Gedanken spielt und schließlich die Entscheidung gefällt hat, ihrem Leben ein Ende zu setzen. Sie hat gelächelt. Bis zum Schluss.

Und dieser plötzliche Verlust ihrer Schwester hat Emma für sehr lange Zeit den Boden unter den Füßen weggezogen. Natürlich ist Lauras Tod für ihre Eltern und ihren Bruder Emil ebenfalls entsetzlich gewesen. Doch Emma hat das Gefühl gehabt, dass es sie als Zwilling vielleicht noch etwas härter getroffen hat. Es tat so weh!

Sie hat sich eine Weile wie amputiert gefühlt. Und zugleich hat dieses Unrecht, das sie durch den Unfallfahrer und seine Flucht erlebt hat, in ihr die Entscheidung reifen lassen, Polizistin werden zu wollen – um für die Wahrheit zu kämpfen und diejenigen zu fassen, die Straftaten begehen und andere Menschen leiden lassen. Sie will dafür sorgen, dass sie sich vor Gericht verantworten müssen. Schließlich hat sie ihr Weg über mehrere Abteilungen bei der Kriminalpolizei zur Mordkommission geführt. Hier, so fühlt sie immer wieder, hat sie ihre Bestimmung gefunden.

Sie will gerade einige Recherchen am Computer vornehmen, als ihr Handy klingelt. Es sind die ersten Töne von Edvard Griegs »Peer Gynt«, einer Melodie, die sie schon immer besonders berührt hat. »Vielleicht haben wir bereits etwas. Es könnte ein Treffer sein!«, ruft Lisa Nguyen, die erst vor wenigen Wochen zum Ermittlerteam gestoßen ist, aufgeregt ins Telefon. Emma merkt, dass die 28-Jährige sich Mühe gibt, ihre Begeisterung ein wenig im Zaum zu halten. Richtig so. Es könnte sich ja herausstellen, dass die vermeintlich heiße Spur gar keine ist. Die Enttäuschung wäre umso größer, je mehr man sich mitreißen lässt.

»Erzähl mal!« Emma gibt ihrer Stimme bewusst einen aufmunternden, aber nicht zu euphorischen Klang. Sie will die Kollegin nicht unter Druck setzen.

»Es gab im September 1999 eine Vermisstenmeldung – oder besser gesagt zwei, die gewissermaßen parallel eingingen. Zwei Frauen, beide 19 Jahre alt. Sie sind in der Nacht vom 14. auf den 15. September verschwunden. Sie waren auf dem Rückweg von einer Feier, wollten wohl mit ihren Fahrrädern von einem Haus in der Nähe der Strandperle an der Elbe nach Blankenese fahren. Seitdem gab es kein Lebenszeichen mehr von ihnen.«

»Das könnte wirklich unser Fall sein!« Emma ist elektrisiert. »Der Gerichtsmediziner hat das Alter der Moorleichen auf etwa 20 Jahre geschätzt. Und sie sind etwa 20 bis 30 Jahre lang tot. Das würde hinkommen. Wie sind denn die Personalien der Vermissten? Wir müssen uns ihre Zahnarztunterlagen besorgen. Vielleicht sind wir auf der richtigen Fährte.«

In dem Fall wäre es bald an Emma, den Angehörigen der verschollenen jungen Frauen mitzuteilen, dass das Schicksal ihrer Liebsten geklärt ist. Sie hätten endlich Gewissheit. Aber sie hätten dann auch keinerlei Hoffnung mehr. Sondern nur noch den Schmerz, weil die, die sie lieben, nicht mehr da sind.

Kapitel 6

Diese intensiven, klugen blauen Augen scheinen sie zu fixieren. Seit ein paar Minuten schon starrt Emma auf das Foto von Sophia Haferkamp und hat das Gefühl, als schaue die junge Frau sie ebenfalls konzentriert an.

Es ist ein Blick aus dem Jenseits. Denn sie haben die Gewissheit: Sophia ist eine der zwei Frauen aus dem Moor. Sie wurde gerade mal 19 Jahre alt. Sie hatte Schmerzen. Sie hat gelitten. Sie ist qualvoll gestorben.

Rechtsmediziner Plathe hat gesagt, er könne noch nicht endgültig bestimmen, ob sie bei Bewusstsein gewesen ist, als sie im Moor versank. Das müssen weitere aufwendige Untersuchungen ergeben. Doch nach allem, was sie jetzt schon wissen, ist das Leid greifbar.

Emma ist gefangen von dem Blick der Frau auf dem Foto, die so wach und so lebensbejahend aussieht. Es tut ihr beinahe weh zu wissen, was Sophia widerfahren ist. Das Gleiche gilt für die andere Tote, die sie mittlerweile als Carola Fuhrmann identifiziert haben.

Dass Emma von dem frühen Sterben der beiden jungen Frauen so berührt ist, ist gut und schlecht zugleich. Es gibt Kollegen, die energisch davon abraten, das Schicksal jener Menschen, deren Tod oder Verletzung und Verschwinden sie untersuchen, bei den Ermittlungen zu dicht an sich herankommen zu lassen. »Vermeide unbedingt, dass dein emotionaler Panzer zerstört wird«, ist Emma ein ums andere Mal gewarnt worden. Sie weiß, dass die Kollegen es gut meinen. Es belastet, wenn man die Fälle mit nach Hause und mit in den Schlaf nimmt. Doch andererseits hat sie festgestellt, dass es genau diese Nahbarkeit ist, die sie noch mehr anspornt, ihr Bestes zu geben. Und daran kann nun wirklich nichts Verkehrtes sein. Sie will die Verbrechen aufklären. Sie will die Täter ausfindig machen.

Das Leben ist zerbrechlich.

Emma hat diesen Satz zuletzt als Buchtitel gelesen. Er bezeichnete eine Sammlung wahrer Fälle. Insgeheim hat sie den Autor, einen pensionierten Hamburger Richter, zu diesem gelungenen Titel beglückwünscht. Es ist so wahr! Als Kriminalhauptkommissarin bei der Mordkommission ist ihr nur zu bewusst, wie zerbrechlich das Leben ist. Wie schnell und unerbittlich das Schicksal zuschlagen kann.

Das Schicksal. Der Sensenmann. Der Mörder.

Aber so weit sind sie noch lange nicht. Sie haben zwar ihre Erkenntnisse darüber, wie die Opfer zu Tode gekommen sind, nämlich durch massive, stumpfe Gewalt, aber sie wissen nicht genau, was die Ursache war. Ein Sturz, ein Autounfall? Ein ganz anderes Geschehen? Womöglich wirklich ein Mord? Auch der Tod durch eine Kollision mit einem Auto könnte absichtlich und heimtückisch herbeigeführt worden sein. Alles ist möglich. Emma muss es herausfinden.

Die Kommissarin greift zum Telefon. Jetzt gilt es, in die jüngere Vergangenheit einzutauchen.

Gut zwei Stunden später hat sie einen Berg Akten vor sich auf dem Schreibtisch liegen, der ihr fast die Sicht zur Tür nimmt. Zwölf Ordner sind es, das Extrakt zweier Leben und der Bemühungen, Klarheit in das Schicksal der beiden Frauen zu bringen.

Schon damals, einige Zeit nach deren spurlosem Verschwinden, ist für diesen Fall ein Ermittlungsteam bei der Mordkommission gebildet worden. Emma guckt sich die Namen der seinerzeit zuständigen Kollegen an. Zwei von ihnen, ein Karsten Melcher und ein Stephan Johannsen, sind noch nicht pensioniert und offenbar gerade im Dienst. Sie versucht es zuerst bei Melcher.

Es dauert nur wenige Minuten, bis der Kommissar in einem Tempo, als habe er seit Jahren auf ihren Anruf gewartet, in ihr Büro marschiert und sich auf den Stuhl ihr gegenüber fallen lässt. Melcher ist ein Typ mit grauem Haar und Vollbart. Eine Lesebrille baumelt an einer Schnur um seinen Hals. Seine Stimme ist eindringlich, sein Blick fest. Und sein Gedächtnis offenbar vorzüglich. Nicht ein einziges Mal muss er in die Akten schauen, um die Erinnerungen an den Fall aufzufrischen.

»Das war wirklich ungewöhnlich«, erzählt Melcher. »Keinen von uns hat die Sache kaltgelassen. Zwei junge Frauen, spurlos verschwunden! Zuerst haben wir natürlich versucht abzuklären, ob sie sich freiwillig abgesetzt haben könnten. Liebeskummer, Probleme in der Schule, Stress im Elternhaus –so was in der Art. Aber es sprach nichts dafür, dass es einen Anlass für sie gegeben haben könnte, von zu Hause zu verschwinden.«

»Sie haben sich also intensiv mit dem Elternhaus und dem Umfeld auseinandergesetzt?«, hakt Emma nach. »Das Leben der beiden ausgiebig beleuchtet?«

Melcher nickt so nachdrücklich, dass er die Lesebrille um seinen Hals in Schwingung bringt. »Das will ich wohl meinen. Natürlich haben wir uns mit den Familien und den Freunden befasst. Da schien alles wirklich beneidenswert harmonisch zu sein. Und die Angehörigen waren glaubhaft in äußerstem Maße besorgt darüber, dass Sophia Haferkamp und Carola Fuhrmann nicht nach Hause gekommen waren. Sie konnten sich das Verschwinden nicht erklären – außer dass etwas Schlimmes passiert sein muss. Ich erinnere mich vor allem an die Mutter von Sophia, die nur noch ein Nervenbündel war. Oder besser gesagt: ein heulendes Elend.«

Emma kann sich das vorstellen. Sie selbst hat schon öfter mit vollkommen aufgelösten Angehörigen zu tun gehabt. »Und die Väter? Die Geschwister?«