Totensilber - Micha Krämer - E-Book + Hörbuch

Totensilber E-Book und Hörbuch

Krämer Micha

5,0

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Beschreibung

Nina Morettis 13. Fall Baggerfahrer Willi Wünschle liegt nach dem Besuch seiner Stammkneipe mit eingeschlagenem Schädel in seiner Wohnung. Ist ein Streit unter Betrunkenen eskaliert oder hat das Ganze etwas mit dem Gerücht um einen verfluchten Münzschatz zu tun, den der Bauarbeiter gefunden haben soll?

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Seitenzahl: 470

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Zeit:10 Std. 25 min

Sprecher:Micha Krämer
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Der Roman spielt hauptsächlich in bekannten Regionen, doch bleiben die Geschehnisse reine Fiktion. Sämtliche Handlungen und Charaktere sind frei erfunden.

Bibliografische Information der Deutschen NationalbibliothekDie Deutsche Nationalbibliothek verzeichnet diese Publikation in der Deutschen Nationalbibliografie; detaillierte bibliografische Daten sind im Internet abrufbar über www.dnb.de© 2022 CW Niemeyer Buchverlage GmbH, Hamelnwww.niemeyer-buch.deAlle Rechte vorbehaltenUmschlaggestaltung: C. RiethmüllerDer Umschlag verwendet Motiv(e) von 123rf.comEPub Produktion durch CW Niemeyer Buchverlage GmbHeISBN 978-3-8271-8433-7

Micha KrämerTotensilber

Prolog

10. Februar 1749, 13:08 Uhr/Hamm an der Sieg

Schnee lag auf den Gräbern des kleinen Friedhofes.

Trotz der tiefstehenden Februarsonne, die durch die kahlen Äste der riesigen Eichen schien, war es klirrend kalt. Das Krächzen eines einsamen Raben schallte über die Hänge oberhalb des Siegtales.

Amalie Jakobi spürte die lähmende Kälte um sie herum schon lange nicht mehr. Es war ihr auch gleichgültig, ob sie erfror. Wobei … mehr noch: Sie hoffte es sogar. Ja, es wäre ihr tatsächlich lieber, wenn der Herrgott sie endlich ebenfalls zu sich holen würde. So wie es war, würde sie nicht mehr leben wollen und auch nicht mehr können.

Nur verschwommen, durch ein Meer aus Tränen, nahm sie den Namen ihres Jungen noch wahr, den der Zimmermann mit schwarzen Buchstaben auf das einfache Holzkreuz gemalt hatte.

Fünf Kinder hatte Amalie zur Welt gebracht. Vier Mädchen und einen Jungen. Zwei der Mädchen hatte der Allmächtige bereits im Kindbett sterben lassen. Die siebenjährige Anne war im letzten Winter, ebenso wie Amalies Mann, am Fieber gestorben. Im Sommer war dann auch noch ihre älteste Tochter, die neunjährige Auguste, spurlos verschwunden. Amalie hatte bereits am Vormittag gespürt, dass etwas nicht in Ordnung war. Sie hatte gewusst, dass etwas Schlimmes geschehen war, noch bevor es zur Gewissheit wurde, dass Auguste an diesem Tag nicht mehr nach Hause kommen würde. Das Kind hatte im nahe gelegenen Wald Reisig sammeln sollen und war seitdem wie vom Erdboden verschluckt.

Amalie hatte gehört, dass Kinder verschwanden. Es gab Geschichten aus Dörfern weit weg. Finstere Gesellen, umhervagabundierende Banden raubten immer wieder Kinder, um sie zu verkaufen oder um sonst etwas mit ihnen anzustellen. Es waren böse Mächte am Werk in diesen unwirtlichen Zeiten. Dass es einmal eines ihrer Mädchen treffen könnte, daran hatte Amalie niemals einen Gedanken verschwendet.

Obwohl sie immer noch hoffte, ihre Kleine einmal wiederzusehen, so wusste sie doch, dass Auguste tot war. Sie war nicht verschleppt worden. Nein, Amalie hatte die Hand des Gevatters tief in sich drinnen gespürt, als er nach der Seele ihres Kindes griff. Genau wie vor fünf Tagen, als der Schacht im Berg einstürzte und ihr auch noch den einzigen Sohn nahm. In dem Moment, als es passierte, war ihr, obwohl sie sich Kilometer entfernt zu Hause aufhielt, die irdene Schüssel aus den Händen geglitten und in Hunderte Stücke auf dem Fußboden zersprungen.

Hans war gerade einmal vierzehn gewesen, als er von dieser Welt gehen musste. Jetzt war sie allein, und sie würde sich nicht von seinem Grab entfernen, bis es endgültig vorbei war und auch sie den eisigen Tod starb. Sie hatte gehört, dass es gar nicht so schlimm wäre, wenn man erfror. Irgendwann schlief man einfach ein und wurde nicht wieder wach.

„Amalie, bitte steh auf … du holst dir noch wer weiß was“, hörte sie die Stimme ihres Bruders Johann hinter sich sagen. Unmerklich bewegte sie den Kopf hin und her. Sie würde hier nicht weggehen. Ihr Lippen zitterten, während ihre Hände sich in die frisch ausgehobene Erde des Grabes krallten. Es würde nicht lange dauern, bis auch diese wieder gefroren war. Vor ihrem inneren Auge sah sie ihren Jungen, wie er da nun im kalten Boden lag. Erschlagen von Erz und Steinen.

„Ich werde für uns sorgen, Mama“, hatte er gesagt und war jeden Tag brav zur Arbeit in den Stollen gegangen, um nach Eisen, Blei und Silber zu graben. Seine Augen hatten geleuchtet, als er ihr am Vorabend von der Silber­ader erzählte, die er und die anderen gefunden hatten und die sie alle reich machen würde. Der arme Junge war so gutgläubig gewesen. Niemals hätte das Silber ihn und ihresgleichen reich gemacht. Nein, reich wurde nur einer, und das war der Dienstherr, in dessen Stollen die Männer das Erz abbauten.

„Amalie, du musst jetzt an dich denken. Dein Hans hätte es bestimmt nicht gewollt, dass du an seinem Grabe erfrierst“, versuchte Johann es weiter und legte seine Hand auf ihre Schulter. Sie sah auf und blinzelte in die Sonne. Sie spürte die Wut in sich. In ihr war nur noch Hass. Was wusste er schon, was ihr Hans gewollt hatte. Hans hatte bestimmt noch nicht sterben wollen. Nein, gewiss nicht.

Sie wischte Johanns Hand von ihrer Schulter, sprang auf und ging auf ihn los.

„Fass mich nicht an. Du bist schuld. Du und die anderen habt ihn mit in den Berg genommen“, schrie sie nun wie von Sinnen und schlug mit geballten Händen auf ihn ein.

„Amalie, beruhige dich. Niemand ist schuld. Niemand konnte das vorhersehen“, verteidigte er sich, während er versuchte, nach ihren Unterarmen zu greifen. Dann wurde sie mit einem Mal von hinten gepackt. Grobe Hände rissen sie von ihm weg. Sie schrie und trat um sich.

„Amalie, jetzt reicht es. Du bist ja von Sinnen. Du versündigst dich vor dem Heiland“, brüllte nun Wilhelm, einer der Dorfältesten.

Warum konnten die sie nicht einfach in Ruhe lassen?

Sie riss sich los, machte erneut einen Satz auf Johann zu und fuhr ihm mit den Fingernägeln durch das Gesicht. Er schrie schmerzerfüllt auf. Dann waren sie über ihr und warfen sie zu Boden. Ihr Blick fiel wieder auf das Holzkreuz und den Namen ihres Jungen.

„Jetzt halte doch Ruhe, du törichtes Weib“, schrie Wilhelm und schlug ihr mit der Faust ins Gesicht. Doch sie spürte keine Schmerzen. Da war nur die Wut, die sich ins Unendliche steigerte.

„Ich verfluche euch … ich verfluche euch alle! Euch und euer vermaledeites Silber! Es soll euch der Teufel holen! Verrecken sollt ihr alle an eurem Silber! Ich verfluche euch!“, kreischte sie nun aus vollem Halse und versuchte sich erneut zu befreien. Ihr Kopf fühlte sich mit einem Male an, als wolle er explodieren. Ihr Herz kam aus dem Takt … dann wurde ihr schwarz vor Augen, und sie verlor die Besinnung.

Kapitel 1

Montag, 06. Dezember 2021, 07:52 UhrKriminalinspektion Friedrichstraße/Betzdorf

„Für Dezember ist es eindeutig zu warm“, flüsterte Kriminalhauptkommissarin Nina Moretti leise zu sich selbst und beobachtete, wie die Regentropfen auf die Fensterscheibe prasselten, um dann in kleinen Rinnsalen daran herunterzufließen. Heute vor elf Jahren war ihr erster Arbeitstag in der Betzdorfer Kriminalinspektion gewesen. Ebenfalls ein Montag, aber damals war es wesentlich kälter. Am Lokschuppen, ihrem ersten Einsatzort, hatten gut und gerne zwanzig Zentimeter Schnee gelegen. An dem Tag war sie zum ersten Mal Oberkommissar Hans Peter Thiel begegnet, dem Mann, der ihr noch heute wie ein Vater war, der sich nun aber bereits seit über zehn Jahren im Ruhestand befand.

Nina beobachtete, wie auf dem Parkplatz direkt neben ihrem marinablauen VW Käfer ein roter Porsche einparkte. Es dauerte nur Sekunden, bis sich die Tür öffnete, der Fahrer hinaushechtete und dann im Laufschritt zum Hintereingang der Wache lief. Dabei hielt er sich den alten Lederranzen, den er vermutlich schon seit der Grundschule besaß, über den Kopf.

Nina mochte Kriminaloberkommissar Thomas Kübler und seine zuweilen etwas tollpatschige Art. Sie würde ihn auch nicht einfach nur als einen Kollegen bezeichnen. Nein, Thomas war ein Freund und einer der wenigen Menschen, denen sie blind vertraute. Ihr Augenmerk fiel auf einen dunkelblauen neueren Alfa, der nun auf den Parkplatz hinter dem Kommissariat bog und direkt neben Küblers Dienstporsche parkte. Das Einzige was man vom Fahrer außer den Spitzen seiner Schuhe sah, war sein Schirm, der aus der geöffneten Tür aufgespannt wurde. Während Kübler eben versucht hatte, unter dem Regen hindurchzurennen, bewegte sich Kriminalkommissar Marcello Berlutschi eher entspannt, aber mit sicherem Schritt und dem Regenschirm in der Hand, zum Eingang.

Kübler und Berlutschi, zwei Polizeibeamte, wie sie unterschiedlicher nicht sein konnten. Und dennoch mochte sie beide.

Das Röcheln der alten Kaffeemaschine signalisierte das Ende des Brühvorganges. Nina griff sich ihre Tasse vom Schreibtisch, sah kurz hinein und stellte fest, dass es demnächst wohl noch einmal an der Zeit war, sie auszuspülen. Aroma hin oder her. Als sie sich eingoss, hörte sie, wie es hinter ihr an der Tür klopfte, die daraufhin geöffnet wurde.

„Moin, Tom“, begrüßte sie den Kollegen Kübler, der sich schüttelte wie ein nasser Hund.

„Bah … was für ein Dreckswetter! Moin, Nina“, erwiderte Kübler, stellte seinen Ranzen ab und schlüpfte dann aus seiner sandfarbenen amerikanischen Armeejacke, bei der es sich um exakt das gleiche Modell wie das des Fernsehkommissars Schimanski aus den Achtzigern handelte. Nur dass Schimi damit auch noch irgendwie cool gewirkt hatte. Kübler sah damit aus wie … na wie Kübler eben.

Nina erwiderte nichts. Thomas hätte auch was zu motzen, wenn es schneien oder wenn die Sonne scheinen würde.

„Liegt heute schon irgendetwas an?“, erkundigte er sich, während er die Jacke an der Garderobe hinter der Tür aufhängte.

Als Nina schon erwidern wollte, dass es immer noch äußerst ruhig sei, klingelte das Telefon auf ihrem Schreibtisch.

Sie nahm den Hörer ab und hörte zu, was der wachhabende Kollege ihr zu erzählen hatte.

„Okay, Kübler und ich fahren da mal hin und sehen uns das an“, erklärte sie und legte dann auf.

Thomas blickte sie fragend an.

„Du kannst die Jacke gleich wieder anziehen, mein Lieber. Am Alsberg wurde ein alleinstehender Herr tot in seiner Wohnung aufgefunden“, sagte sie und bemerkte sofort, dass es ihm missfiel.

„Eigentlich hatte ich gedacht, ich schaffe es heute endlich mal einen Teil des Aktenbergs abzuarbeiten“, jammerte er und deutete auf drei dünne Mappen auf seinem Tisch.

„In Ordnung … ich nehme Marcello mit“, gab Nina klein bei.

Kübler war das, was man gemeinläufig als einen Stubenhocker bezeichnen würde. Der Typ war glücklich, wenn er den ganzen Tag einfach nur im Büro an seinem Computer rumhängen durfte. Recherche im Netz und das Aufarbeiten und besorgen von Daten. Darin war er, das würde sie sofort unterschreiben, einer der Besten. Ninas Ding war das nicht und würde es vermutlich auch nie werden. Sie musste raus. Wenn sie mehrere Stunden am Schreibtisch saß, hatte sie immer das Gefühl, dass der Raum von Minute zu Minute kleiner wurde und ihr früher oder später die Decke auf den Kopf fallen würde, wenn sie nicht schleunigst das Weite suchte.

Kübler nickte zufrieden. Nina griff sich ihre Jacke und verließ mit der Tasse Kaffee in der Hand das Büro.

Im Flur traf sie, wie erwartet, auf Marcello Berlutschi, der sich gerade anschickte, sein Büro zu betreten. Der junge Kommissar trug wie immer einen seiner sehr teuer aussehenden Anzüge. Wobei die Teile vermutlich nicht nur so aussahen, sondern es tatsächlich auch waren. Darüber einen ebenfalls sehr eleganten Mantel. Seine schwarzen Schuhe wirkten, als habe er sie heute Morgen erst neu gekauft. Der Bursche hatte Stil, das musste man ihm lassen.

„Guten Morgen, Nina“, begrüßte er sie freundlich.

„Moin Marcello, du kannst gleich wieder umdrehen, wir beide müssen zu einem Leichenfund“, erklärte sie ihm knapp. Anders als Kübler vorhin nickte Marcello lächelnd, zog die Bürotür wieder zu und machte auf dem Absatz kehrt.

Zwei Minuten später fuhren sie vom Parkplatz der Wache.

„Wo geht es hin?“, fragte Marcello, während Nina sich in den zähfließenden Verkehr auf der Friedrichstraße einfädelte und dann den Blinker direkt wieder nach rechts in Richtung Hellerbrücke setzte.

„In einer Wohnung am Alsberg wurde ein älterer Herr tot aufgefunden … mehr weiß ich auch noch nicht“, erklärte sie ihm das Wenige, was sie wusste, mit einem Satz.

Einsätze wie diese kamen sehr oft vor. In den wenigsten Fällen war es Mord, wenn sie zu einem Toten gerufen wurden. Sie waren immer dann an der Reihe, wenn der Arzt vor Ort sich nicht zu einhundert Prozent sicher war, an was das Opfer verstorben war. Zum Beispiel, wenn junge, auf den ersten Blick kerngesunde Menschen einfach so aus den Latschen kippten. Da konnte der Mediziner nicht einfach so natürliche Todesursache ankreuzen. Nein, in solchen Fällen kam dann die Kriminalpolizei ins Spiel. Nina und Marcello würden gleich entscheiden müssen, ob es Anhaltspunkte auf ein Verbrechen gab. Schon beim geringsten Zweifel würde sie, beziehungsweise der Staatsanwalt, eine Obduktion des Toten anordnen.

Dass der Herr in seinen Fünfzigern vermutlich nicht an einem Herzinfarkt verstorben war, erkannte Nina auch ohne ein Medizinstudium nach nur einem Blick. Der Mann lag mitten in seinem Wohnzimmer in einer riesigen Lache Blut um seinen Kopf.

„Sieht nach einem Kampf aus“, stellte Marcello fest, während Nina bereits zum Telefon griff, um die Kollegen der Spurensicherung zu verständigen.

Beim Telefonieren ließ sie ihren Blick durch die Wohnung schweifen. Helmut Willi Wünschle war weder reich noch besonders ordentlich gewesen. Die überall gegenwärtigen leeren Flaschen, die Fastfood-Verpackungen und zerknüllten Zigarettenschachteln ließen darauf schließen, dass hier schon lange nicht mehr aufgeräumt worden war. Vom Putzen oder Staubsaugen einmal ganz zu schweigen. Die Möbel entsprachen dem Chic der Achtziger- und Neunzigerjahre des letzten Jahrhunderts. Dunkles Holzfurnier auf Spannplatte. Die Schränke waren aufgerissen und wie es schien durchsucht worden. Der Inhalt verteilte sich über den gesamten Fußboden und auch über die Leiche. Ein Indiz dafür, dass die Bude erst nach dem Tod des Mannes auf links gedreht worden war.

Die Damen und Herren von der Spurensicherung würden eine Menge Zeit mitbringen müssen.

„Auf den ersten Blick würde ich auf Raubmord tippen“, meinte Marcello, nachdem Nina aufgelegt hatte.

„Na … ob hier was zu holen war? Das Wertvollste, was ich gerade so sehe, ist das Leergut“, erwiderte sie skeptisch und beäugte gegen das Licht der Deckenlampe das Innere einer Bierflasche. Sie hasste es, wenn Menschen ihre Zigarettenkippen in Flaschen oder halb vollen Gläsern und Tassen entsorgten. Einfach widerlich!

„Wer hat ihn denn gefunden?“, erkundigte Nina sich bei Polizeimeister Jürgen Wacker, der mit einer jungen Kollegin im Flur der Mansardenwohnung stand und sich unterhielt.

„Sein Chef. Der Franz Hinterstaller“, wusste der Uniformierte.

„DER Franz Hinterstaller … dieser Bauunternehmer?“, war Nina sichtlich überrascht.

„Ja, genau der. Der Willi, hat bei ihm gebaggert“, war Wacker wohl bestens informiert.

„Der Willi? Kanntest du den Toten?“, wunderte sich Nina.

„Klar … man kennt halt seine Pappenheimer“, meinte Wacker und grinste.

„Ach so … du kanntest den Willi und ich muss dir jetzt hier trotzdem alles aus der Nase ziehen, oder wie?“, wurde sie gerade irgendwie etwas pampig. Sie hasste solche Konversationen. Konnte Jürgen ihr nicht einfach und ohne dass sie ihn zigmal fragen musste erzählen was er wusste.

„Was bist du denn so gereizt?“, schoss der allerdings direkt einmal zurück.

„Ich? Nee du … ich bin nicht gereizt. Ich mach hier nur meine Arbeit. Also, Jürgen, was weißt du über den Toten?“, blieb sie sachlich und lauschte dann den Ausführungen des älteren Kollegen.

Helmut Willi Wünschle war sechsundfünfzig Jahre alt, ledig und besaß, da war Jürgen sich sicher, keinen Führerschein mehr. Den hatten er und die Kollegen nämlich bereits vor Jahren einkassiert. Willi habe wohl immer eine Menge Durst gehabt, meinte Jürgen. Eine, wie Nina fand, sehr nette Beschreibung für einen Alkoholiker.

„Und der ist trotzdem Bagger gefahren?“, hakte sie erstaunt nach.

„Ja, Baggern konnte der Typ wie kein Zweiter. Der hat bei meinem Schwager damals die Baugrube für dessen Zweifamilienhaus ausgeschachtet. Das ging ruckzuck. Saubere Arbeit. Da gab es nix zu meckern. Wobei ich jetzt nicht weiß, ob der auch schon morgens gesoffen hat. Wenn wir ihn dann mal sturzbetrunken aufgelesen haben, war es nämlich zumeist schon zu fortgeschrittener Stunde“, bestätigte er.

„Was heißt jetzt aufgelesen?“, erkundigte sie sich.

„Na ja … man hilft, wo man kann. Es kam halt gelegentlich vor, dass man ihn gesehen hat, wie er nachts zu Fuß die Steinerother Straße hinaufgetorkelt ist“, meinte Wacker und verdrehte die Augen.

„Ach so … ihr macht nebenher auch noch Taxifahrten mit dem Streifenwagen“, stellte sie sarkastisch fest.

„Nein, machen wir nicht. Aber bevor wir nachher noch jemanden von der Straße abkratzen müssen, fahren wir ihn, wenn es auf dem Weg liegt, lieber nach Hause“, knirschte er und fügte dann noch an: „Dich und deinen Gatten haben Horst und ich im Übrigen auch schon mal ziemlich angezählt aufgelesen und nach Hause gebracht, liebe Frau Moretti.“

„Das war an Karneval, das zählt nicht“, blockte sie ab.

„Na, wenn du meinst“, grinste Jürgen.

„Warum war der Hinterstaller eigentlich hier … und wo ist der jetzt?“, wechselte sie das Thema.

„So wie Hinterstaller sagt, ist der Willi heute Morgen nicht zur Arbeit gekommen. Ans Telefon ist er auch nicht gegangen. Angeblich wurde er aber heute dringend gebraucht. Die haben wohl akuten Fachkräftemangel“, wusste Wacker.

„Ja, und wo ist er jetzt?“, hakte sie noch einmal nach.

„Ja, was weiß ich … vermutlich in seiner Firma“, erwiderte Wacker.

„Und warum ist der nicht hier und wartet, bis wir ihn befragen?“, wurde sie deutlicher.

Wacker sah genervt zur Zimmerdecke und stöhnte dabei, während seine junge Kollegin ziemlich eingeschüchtert wirkte.

„Okay, Jürgen, Marcello und ich fahren jetzt zu ihm hin und befragen ihn. Ihr haltet hier die Stellung und wartet auf die Kollegen von der Spurensicherung und den Gerichtsmediziner“, resignierte sie und gab Marcello einen Wink, er möge ihr folgen.

Die Bauunternehmung Hinterstaller befand sich im unweit gelegenen Industriegebiet Dauersberg. Nina parkte ihren VW Käfer direkt vor dem Bürogebäude neben einer Mercedes S-Klasse aus den Siebzigerjahren und stieg aus.

„Schicke Kutsche“, fand Marcello und betrachtete den schweren dunkelblauen Mercedes.

„Protzkarre“, fand Nina und ließ ihren Blick über das Firmengelände schweifen.

Der Platz hinter der Werkstatthalle stand voll mit Baugerät und Lastwagen. Sie zählte alleine sechs Bagger in verschiedenen Größen, gut ein Dutzend Lastwagen und diverse andere schwere Baumaschinen wie Radlader und Straßenwalzen. Die meisten der Geräte machten einen modernen und sehr neuwertigen Eindruck auf sie.

„Meinte Jürgen nicht eben, der Hinterstaller hätte derzeit viel Arbeit?“, raunte sie Marcello zu, während sie auf den Eingang zugingen.

Er schüttelte den Kopf.

„Nein, Polizeihauptmeister Wacker sprach von Fachkräftemangel. Wobei mich das um diese Jahreszeit wundert, da die meisten Baustellen doch im Winter ruhen. Sollte es da nicht genügend Bauarbeiter geben, die nichts zu tun haben?“, meinte der junge Italiener und blickte missbilligend auf seine Schuhe und den geschotterten und teils auch schlammigen Boden. Nina konnte sich ein Grinsen nicht verkneifen. Im Gegensatz zu ihren Sneakern würde man Marcellos italienische Nobeltreter bestimmt nicht einfach mit in die Waschmaschine werfen können.

„Guten Morgen“, grüßte sie freundlich, als sie das Bürogebäude betraten. Im Eingangsbereich hinter einem Tresen saßen zwei Damen. Die eine, eine recht hübsche junge Brünette, starrte auf einen Monitor und aß dabei. Nina würde dem Geruch und der Optik nach auf ein Käsebrot tippen. Die andere, eine Frau um die fünfzig mit wasserstoffblonden Haaren, telefonierte und grüßte knapp mit einem Kopfnicken.

„Einen wunderschönen guten Morgen, die Damen“, sagte nun auch Marcello und trat aus Ninas Schatten. Die Jüngere lächelte nun, würgte den Bissen, den sie gerade im Mund hatte, herunter und erwiderte das „Guten Morgen“. Dabei war ihr Blick starr auf Marcello gerichtet. Nina hingegen schien nur Luft für sie zu sein.

Sie zog daher ihren Dienstausweis aus der Jackentasche und hielt ihn ihr hin. Dabei fiel Ninas Blick auf ein Namensschild auf der Theke.

„Frau Nadine Grassmann, Auszubildende“, stand darauf.

„Kriminalhauptkommissarin Moretti, mein Kollege Kriminalkommissar Berlutschi. Wir würden gerne mit Herrn Hinterstaller sprechen“, stellte sie sich jetzt erst einmal vor und äußerte ihr Anliegen.

Die Azubine wandte nun endlich ihren Blick von Marcello ab, betrachtete kurz den Ausweis und sah dann auf ihren Monitor.

„Haben Sie einen Termin?“, erkundigte sie sich und tippte dabei kopfschüttelnd auf ihrer Tastatur herum.

„Sicherlich, Frau Grassmann. Wo wir beide erscheinen, haben wir immer einen Termin“, behauptete Nina.

Nadine Grassmann schüttelte noch immer ihren hübschen Kopf. Den verbalen Seitenhieb hatte sie schon einmal nicht verstanden.

„Nein … hier ist kein Termin eingetragen“, stellte sie daher fest.

Nina blickte zu der Älteren, die immer noch telefonierte. So wie die rumsäuselte, war das Gespräch zu einhundert Prozent privater Natur. Zumindest konnte Nina sich nicht vorstellen, dass man mit einem Geschäftspartner über die Konsistenz der Schnitzelsoße und Pommes der örtlichen Gastronomen diskutierte.

„Hören Sie, Frau Grassmann, es interessiert mich nicht, was da in Ihrem Computer steht. Ich muss jetzt mit Herrn Hinterstaller sprechen. Sofort und ein bisschen zügig“, erwiderte Nina barsch.

Das Fräulein Grassmann schien sichtlich empört über diese Aussage und schüttelte nun noch heftiger ihr hübsches Köpfchen.

„Wo befindet sich das Büro Ihres Chefs?“, mischte sich Marcello ein. Obwohl der Bursche dabei lächelte, hatte sein Auftreten etwas Bestimmendes.

„Das ist oben … aber ich kann Sie da nicht einfach  … Herr Hinterstaller befindet sich in einer Videokonferenz“, erwiderte die Azubine und blickte kurz die Treppe hinauf in die zweite Etage.

„In Ordnung, Frau Grassmann. Machen Sie sich keine Umstände. Wir finden selbst hinauf“, fand Nina und setzte sich unter dem Protest der jungen Dame in Bewegung. Nein, das alles hier missfiel Nina außerordentlich. Zuerst entfernte sich dieser Hinterstaller vom Tatort, und jetzt war er nicht zu sprechen. Sie hasste es, wenn andere Menschen sie behandelten, als wäre sie eine Bittstellerin. Da hörte dann bei ihr auch schnell die Freundlichkeit auf. Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte sie, gefolgt von Marcello und dem anhaltenden Gezeter von nun beiden Damen, die Treppe hinauf und riss die erstbeste Türe auf. Eindeutig die Toilette. Hinter der nächsten wurde sie fündig. Franz Hinterstaller saß an seinem Schreibtisch rauchte Zigarre, und sprach gerade mit seinem Computer. Schlagartig verstummte er und sah sie zuerst überrascht und dann ziemlich zornig an.

„Was fällt Ihnen ein, hier einfach …“, blaffte er und wandte sich dann wieder dem Monitor zu, auf dem sich oben eine Webcam befand. „Entschuldigen Sie, Andrea  … ich melde mich gleich wieder bei Ihnen.“

„Beeilen Sie sich. Ich warte“, knirschte eine männliche Stimme, mit eindeutig italienischem Akzent, ziemlich ungehalten. Hinterstaller klickte mehrfach mit der Computermaus, sprang dann auf und kam wie ein wütender Bär um den Schreibtisch herum auf sie zu gestürmt.

„Ich hoffe, Sie haben einen guten Grund …“, setzte er an und wäre dann beinahe gegen Ninas ausgestreckten Arm mit dem Dienstausweis gerannt.

„Polizei?“, erkundigte er sich verwundert und schaltete dann sichtlich einen Gang zurück.

„Kriminalhauptkommissarin Moretti, mein Kollege Kommissar Berlutschi“, stellte sie sich vor.

Franz Hinterstallers Augen huschten mehrfach zwischen ihr und Marcello hin und her.

„Entschuldigen Sie, Herr Hinterstaller. Ich habe den Herrschaften gesagt, dass Sie nicht zu sprechen sind …“, quasselte die Azubine nun hinter Nina.

„Sind Sie doof? Natürlich bin ich für die Polizei zu sprechen. Und jetzt sehen Sie zu, dass Sie wieder an Ihre Arbeit gehen, Sie dumme Gans“, fuhr er das Mädchen an.

Nina hielt die Luft an und ballte ihre Faust. Dass Franz Hinterstaller ein arroganter und auch grober Klotz sei, hatte sie schon mehrfach gehört. Auch sagte man ihm politisch recht radikale Ansichten nach. Zumindest glaubte sie sich an so etwas zu erinnern. Hatte Klaus dies nicht neulich erwähnt? Egal! Persönlich getroffen hatte sie den Mann mit dem süddeutschen Akzent auf alle Fälle noch nie.

„Entschuldigen Sie, Frau Kommissar, aber man findet heutzutage einfach kein ordentliches Personal mehr“, säuselte er nun und deutete auf einen großen Besprechungstisch links vor dem Fenster. Dass dieser Mann, so wie der gerade die Auszubildende angegangen war, keine Mitarbeiter fand, war ihr schon klar. Bei dem Ton hielt es vermutlich niemand lange aus.

„Sie können sich bestimmt denken, warum wir hier sind?“, begann Nina, während sie am Tisch Platz nahm.

„Ja, natürlich … schlimme Sache, das mit dem Willi  … ganz schlimme Sache. Sehr zuverlässiger Mann“, säuselte er nun recht theatralisch. Nina sah kurz zu Marcello. Ihr Neffe verzog keine Miene. Wer den Burschen nicht näher kannte, würde glauben, dass der ein eiskalter, bis obenhin zugeknöpfter Typ war. Nina mochte den Jungen, der sie ein wenig an ihren Papa erinnerte. Ja, Marcello sah seinem Großvater sogar ein bisschen ähnlich. Wobei der niemals solch teure Klamotten getragen hätte.

„Sie haben den Toten heute Morgen gefunden?“, fragte Nina, obwohl sie das ja längst wussten.

„Ja … das war so gegen halb acht. Ein Schock, Gnädigste. Wahrhaft ein Schock“, fand er.

„Kommt es häufiger vor, dass Sie Ihre Mitarbeiter morgens um halb acht persönlich zu Hause aufsuchen?“, erkundigte sie sich, da ihr dies schon merkwürdig vorkam.

„Nein, natürlich nicht“, meinte Hinterstaller. Nina beobachtete ihn genau. Sie würde Hinterstaller auf Mitte bis Ende fünfzig schätzen. Er und der tote Willi könnten der gleiche Jahrgang sein.

Der Mann war groß und hatte in etwa die Gestalt eines Grizzlybären. Wobei Gesicht und Nase ebenfalls an einen Bären erinnerten. Ja, würde sie ihn als Karikatur zeichnen müssen, würde der Hüne die Gestalt eines Bären bekommen. Sein hellgrauer Anzug wollte so gar nicht zu seinem restlichen Erscheinungsbild passen. Eine Latzhose und ein kariertes Flanellhemd ständen ihm vom Typ her wahrscheinlich besser.

„Und was haben Sie dann heute Morgen bei dem Herrn Wünschle gewollt?“, blieb sie hartnäckig.

Hinterstaller verdrehte die Augen, als wollte er sagen, dass Nina dies doch gefälligst zu wissen hätte. Klar wusste sie ja auch bereits das, was der Kollege Jürgen Wacker ihr vorhin berichtet hatte. Doch sie wollte es eben von Hinterstaller selbst hören.

„Also, Frau …“, er zögerte kurz.

„Moretti“, half sie ihm.

„Also, Frau Moretti. Der Willi … also der Herr Wünschle  … der arbeitet bereits seit weit über zwanzig Jahren für mich. Ein Mann der ersten Stunde. Damals bin ich selbst noch den Bagger gefahren. Aber egal … Fakt ist, dass er in all den Jahren nicht ein einziges Mal verpennt hat oder zu spät war. Ich sagte ja schon … ein zuverlässiger Mann. Ich wüsste auch nicht, wann der das letzte Mal krank war. Auf alle Fälle war der heute Morgen nicht an der Bushaltestelle, als die Kollegen ihn auflesen wollten. Selbst zur Baustelle fahren darf … durfte er ja nicht. Wegen seinem Lappen … Sie verstehen?“, fragte er.

Nina schüttelte den Kopf, obgleich sie genau wusste, was Hinterstaller meinte. Dennoch stellte sie sich jetzt einfach einmal dumm.

„Nein, keine Ahnung“, log sie.

„Der Willi hatte keinen Führerschein mehr. Er hat sich halt einmal zu viel mit Alkohol am Steuer erwischen lassen“, verharmloste Hinterstaller das Ganze auch noch. Natürlich würde der nicht vor der Polizei zugeben, dass er davon wusste, dass sein Baggerfahrer gesoffen hatte. Als Arbeitgeber hätte er dem Mann dies nämlich nicht durchgehen lassen dürfen.

„War der Wünschle Alkoholiker?“, erkundigte sie sich dennoch.

„Alkoholiker? Der Willi? Nein, der hat tagsüber keinen Schluck angerührt. Abends ging er dann gerne mal ins Wirtshaus, das schon … aber deshalb ist man ja kein Alkoholiker. Denken Sie, ich hätte den Mann ansonsten mit einem schweren Kettenbagger hantieren lassen? Na  … des würd i nie tun“, winkte er ab. Nina glaubte ihm kein Wort.

„Aber egal, heute morgen war er nicht an der Haltestelle. Ans Telefon ging er auch nicht. Die Jungs sind dann zu ihm nach Hause und haben geklingelt. Darauf hat er aber auch nicht reagiert, obwohl in der Wohnung Licht brannte“, berichtete er weiter und sah dann in Gedanken aus dem Fenster.

„Was war dann, Herr Hinterstaller? Wie kamen Sie ins Spiel?“, blieb Nina am Ball.

„Na, ist doch klar. Die Männer haben mich angerufen, und ich bin sofort hin. Sind ja nur ein paar Meter bis zum Alsberg“, erwiderte er.

„Wie sind Sie in die Wohnung gekommen?“, war Marcello dieses Mal ein wenig schneller als Nina.

„Ja, wie wohl? Durch die Tür. Ich hab aufgeschlossen und bin rein“, blaffte Hinterstaller.

„Sie hatten einen Schlüssel?“, wunderte sich Nina.

„Natürlich. Ich besitze zu den meisten meiner Immobilien Ersatzschlüssel. Meine Mieter haben da vollstes Vertrauen in mich“, antwortete er.

Nina bemerkte ein Lächeln auf Marcellos Gesicht. Der fand gerade etwas lustig. Das war unübersehbar.

„Ich nehme mal an, Herr Wünschle wusste, dass Sie einen Schlüssel zu seiner Wohnung besitzen“, hakte Nina noch einmal nach, obwohl sie glaubte, dies bereits aus Hinterstallers Aussage herausgehört zu haben.

„Ja natürlich. Der arme Kerl hatte ja auch sonst niemanden, dem er einen Schlüssel hätte anvertrauen können. Wobei … nein … ich glaube, die Nachbarin in der Wohnung unter ihm, die besaß auch noch einen. Frau Schmidt oder so“, antwortete er.

„Als Sie die Wohnung betraten, was war da das erste was Ihnen auffiel … was ging Ihnen durch den Kopf?“, interessierte es Nina.

Hinterstaller überlegte einen Moment, bevor er antwortete.

„Ich habe gedacht, wie kann ein Mensch so leben!“

„Und was kam Ihnen in den Sinn, als Sie Wünschle entdeckt haben?“, erkundigte sie sich weiter.

„Scheiße! Ich habe nur gedacht, was für eine verdammte Scheiße. Dann habe ich den Notarzt und Ihre Kollegen angerufen“, flüsterte er und schluckte.

„Kam Ihnen ein Gedanke, was da passiert sein könnte?“, fragte Nina.

Hinterstaller hob die Schultern.

„Ja schon … es war ja ziemlich offensichtlich, was da passiert ist“, fand er.

„Ach ja, was ist denn da passiert?“, war Marcello wieder schneller als Nina.

„Na, was wohl? Diese Idioten haben sich im Suff geprügelt, und am Ende war einer tot“, blaffte er.

„Wen meinen Sie mit Idioten?“, hakte Nina sofort ein.

„Na … den Willi und seine Kneipenkumpels. Dieses verdammte Gesocks. Alles Assis und Tagdiebe. Sitzen den ganzen lieben langen Tag im Wirtshaus und saufen. Und wenn sie da nichts mehr bekommen, geht es woanders weiter. Ich habe es dem Willi tausendmal gesagt, dass er sich von diesen Pennern fernhalten und nicht ausnützen lassen soll. Der Willi hat gut verdient bei mir  … und er war einer, der gerne gegeben hat. Wenn der am Zehnten seinen Lohn bekam, hat der Depp die ganze ekelhafte Bagage mit ausgehalten, bis er dann selber wieder pleite war. Stellen Sie sich das einmal vor. Aber na ja, der hat ja wie gesagt auch sonst niemanden gehabt, die arme Sau“, seufzte Hinterstaller.

„In welchen Gastwirtschaften verkehrte Herr Wünschle denn für gewöhnlich?“, fragte sie und musste dabei wieder eine Faust in der Tasche machen. Hinterstaller war ein Widerling sondergleichen. Ja, Worte wie Penner, Assi, Idiot oder auch Gesocks konnten einem schon mal über die Lippen kommen. Aber doch nicht gleich mehrere dieser Schimpfwörter in einem Satz. Seit sie hier waren, zog dieser Typ permanent andere in den Dreck. Nina war sich sicher, dass die nächste Person, auf die der Grizzlybär traf oder mit der er telefonierte, sich die übelsten Schimpfwörter über die beiden Drecksbullen, oder wie auch sonst er sie und Marcello titulieren würde, anhören musste. Vorne hui und hinten pfui.

„Keine Ahnung, in welchen Spelunken der sich rumtreibt. Ich für meinen Teil halte mich von solchen Etablissements fern“, behauptete er. Nina glaubte ihm. Ja, der Hinterstaller würde vermutlich tatsächlich in ganz anderen Schuppen verkehren. Läden, in denen man für genug Geld nicht nur ein Bier oder einen Whisky-Cola bekam.

„Nun gut, Herr Hinterstaller. Fürs Erste war es das. Wir würden uns dann später noch einmal, wenn wir uns ein genaueres Bild der Lage gemacht haben, gerne mit Ihnen unterhalten. Ich hoffe, Sie planen in den nächsten Tagen nicht zu verreisen?“, schloss sie die erste Befragung ab. Sie war sich sicher, dass dies nicht das letzte Zusammentreffen mit dem Herrn war.

„Nein, die nächsten Tage nicht. Aber an Weihnachten fahre ich selbstverständlich wie jedes Jahr nach Hause zur Familie“, beschied er sie.

„Von wo aus Bayern stammen Sie?“, interessierte es Nina.

„Ich? Aus Bayern? Na. Da muss ich Sie enttäuschen. Ich bin Österreicher! Aus Linz an der Donau“, lachte er auf.

„Oh, aus Österreich. Ich hätte gewettet, Sie stammen aus Bayern“, fand sie.

„Na … aber ist ja auch Wurscht. Wir Österreicher waren sowieso immer schon die besseren Deutschen“, lachte er schallend, und Nina wusste nicht, ob sie ebenfalls lachen, weinen oder direkt kotzen sollte.

Kapitel 2

Montag, 06. Dezember 2021, 09:48 UhrNeue Straße/Kausen

Alexandra Kübler hockte mit angezogenen Beinen in dem kleinen Erker und blickte über das Naturschutzgebiet Seiferwald, das direkt an das Haus grenzte, in dem sie mit ihrem Mann Thomas und den beiden Kindern lebte. Es war diesig draußen. Nebel stieg aus dem Wald. Die Häuser der kleinen Ortschaft Molzhain auf dem gegenüberliegenden Hang konnte sie heute nur schemenhaft erkennen.

Alex fühlte sich mies wie lange schon nicht mehr. Dabei hatte der Tag eigentlich ganz gut begonnen. Am Morgen hatten sie es, bevor Thomas zur Arbeit und die Kinder zur Schule mussten, trotz des alltäglichen Wahnsinns geschafft, gemeinsam zu frühstücken. Die Kinder hatten sich riesig über die Geschenke gefreut, die der Nikolaus ihnen in der Nacht in ihre Stiefel gesteckt hatte.

Nachdem alle das Haus verlassen hatten, war sie dann mit einer großen Tasse Kaffee nach oben in die Galerie über dem Wintergarten gegangen, um zu malen. Die Küche würde sie später klar Schiff machen. Die lief ihr nicht weg. Alles war gut gewesen bis zu dem Moment, als die Postbotin an ihrer Haustüre klingelte.

Sie hatte gleich so ein blödes Gefühl gehabt, als die ihr das Einschreiben reichte und sich den Empfang quittieren ließ. Briefe per Einschreiben von unbekannten Anwälten waren niemals gut.

Noch einmal las sie die Zeilen. Dabei musste sie sich immer wieder die Tränen aus dem Gesicht wischen. Sie blickte zu Oscar und Alba, den beiden Hunden, die vor ihr auf dem Fußboden lagen und sie beobachteten. Ein wirklicher Trost waren die beiden ihr jetzt auch nicht. Sie musste mit jemandem reden. Einem Menschen … und nicht mit den Hunden. Und es gab nur eine einzige Person, mit der sie über alles sprechen konnte. Dummerweise war die gerade auf der Arbeit. Entschlossen griff sie nach dem Telefon und wählte die Nummer von Thomas.

„Kriminaloberkommissar Kübler“, meldete er sich bereits nach zweimal Tuten.

„Ich bin’s“, schniefte sie.

„Ach du … warum rufst du vom Festnetz an?“, fragte er verwundert.

„Mein Handy liegt oben im Atelier“, antwortete sie mit einem Kloß im Hals.

„Sag mal Schatz … weinst du?“, flüsterte er.

Sie nickte und schniefte erneut.

„Alex, ist was?“, fragte er besorgt.

„Mausbär, kannst du bitte nach Hause kommen?“, schluchzte sie.

„Ähm … ja … wieso … was ist denn passiert?“, stammelte Thomas.

„Oma ist gestorben“, presste sie heraus.

„Was? Aber … wie kann das sein? Ich habe doch vor zehn Minuten noch mit ihr telefoniert?“, peilte ihr Mann mal wieder gar nichts.

„Nein, nicht deine Mutter. Meine Oma Fini aus Münster“, wurde sie nun etwas lauter.

„Ähm … ja … aber“, stotterte er.

„Kannst du nicht nach Hause kommen?“, fragte sie noch einmal.

Sie wollte jetzt nicht alleine sein.

„Aber Schatz … du kanntest deine Oma Josefine doch gar nicht. Du hast die Frau seit über zwanzig Jahren nicht mehr gesehen“, versuchte er sie wohl gerade zu beruhigen.

„Trotzdem war sie meine Oma“, wurde Alex nun langsam wütend. Konnte der jetzt nicht einfach nach Hause kommen und sie mal in den Arm nehmen?

„Okay, Schatz … ich mach das hier nur gerade fertig und komm dann mal eben nach Hause“, stöhnte er.

„Danke, Mausbär … bis gleich“, schniefte sie noch einmal und legte dann auf.

Thomas Kübler legte den Hörer auf, lehnte sich zurück und atmete mehrmals tief ein und aus. Diese Frau würde ihn irgendwann noch einmal in den Wahnsinn treiben. Dennoch liebte er sie so wie sie war. Er sah auf die alte Swatch an seinem Handgelenk. Es war noch nicht einmal zehn Uhr. Eigentlich viel zu früh für die Mittagspause. Er seufzte, erhob sich und ging zur Garderobe. Oma Fini war also gestorben. Thomas kannte Alexandras Oma nur aus Erzählungen. Josefine Theobald war die Mutter von Alexandras ebenfalls verstorbenem Vater. Alex war sechs gewesen, als ihr Papa tödlich verunglückte. Bei der Beerdigung damals hatte sie die Oma aus Münster laut ihren Angaben das letzte und auch einzige Mal gesehen. Die Alte hatte sich zu ihren Lebzeiten einen feuchten Kehricht um ihre Enkelin gekümmert. Weshalb es Thomas gerade schleierhaft war, warum seine Frau solch einen Aufstand machte. Allerdings würde es ihn schon interessieren, woher sie davon erfahren hatte. Erst neulich hatten sie noch darüber gesprochen, dass Alexandra eigentlich gar keine Verwandten hatte. Außer ihrer Mutter und dem Stiefvater, zu denen sie keinen wirklichen Kontakt mehr pflegte, seit Alex mit fünfzehn von zu Hause abgehauen war. Die Mutter rief alle Jubeljahre einmal an. Meist an Weihnachten oder an Alexandras Geburtstag. Nicht mehr und nicht weniger.

Kurz überlegte er, sich bei Kriminalrat Dirken abzumelden, verwarf den Gedanken dann aber. Warum so kompliziert? Falls jemand fragte, war er dienstlich unterwegs, um etwas zu recherchieren. Derzeit war es eh ruhig. Da würde ihn im Büro so schnell niemand vermissen. Er ging zu seinem Wagen, startete den Motor und fuhr los. An der Steinerother Straße zwischen der Abzweigung Alsberg und Dauersberg kam ihm ein hellblauer VW Käfer entgegen. Nur zehn Sekunden später klingelte sein Mobiltelefon. Na super. In solchen Momenten wünschte er sich seinen mausgrauen VW Golf zurück. Den hätte Nina bestimmt nicht im fließenden Verkehr entdeckt.

„Sag mal … der rote Porsche … das ist doch gerade Kübler gewesen“, meinte Nina, griff das Mobiltelefon aus der Halterung und wählte die Nummer des Kollegen.

„Du weißt schon, dass es während der Fahrt verboten ist?“, fragte Marcello.

„Ja, und ich hoffe doch sehr, dass du mich nicht bei den Kollegen verpfeifst“, erwiderte sie und steckte das Telefon, nachdem sie gewählt hatte, wieder zurück. Diese Sache mit dem Freisprechen funktionierte tatsächlich mittlerweile auch in ihrem kleinen Maggiolino, obwohl das Fahrzeug aus der ersten Hälfte der Siebziger stammte. Klaus, Ninas Mann, hatte das moderne Autoradio mit Retro-optik irgendwann einmal nachgerüstet, da es ihn ebenfalls nervte, wenn sie mit dem Telefon am Ohr Auto fuhr. Der Nachteil war, dass sie seitdem keine Kassetten mehr hören konnte. Noch nicht einmal eine CD passte in das moderne Teil. Für sie als Technikverweigerin ein echter Rückschritt. Theoretisch müsste sie noch nicht einmal mehr von Hand wählen, da das Telefon neuerdings auch auf Sprache reagierte. Allerdings verstand das dumme Ding sie nicht immer korrekt und rief dann Leute an, die sie gar nicht hatte anrufen wollen.

„Kübler“, meldete sich die Stimme aus dem kleinen Lautsprecher neben dem Tacho.

„Hallo Tom. Hier ist Nina. Sag mal … kann es sein, dass du mir gerade an der Steinerother Straße unterhalb des Umspannwerks entgegengekommen bist?“, erkundigte sie sich, obgleich sie ihn ganz sicher erkannt hatte.

„Ja“, antwortete Thomas allerdings lediglich. Eigentlich hatte ihre Frage indirekt darauf abgezielt, zu erfahren, wo er hinwollte.

„Darf ich fragen, wo du hinwillst?“, hakte sie deshalb nun direkt nach.

„Ich muss kurz nach Hause. Bin dann gleich wieder im Büro“, antwortete er wieder ausweichend. Fürs Erste würde sie es auch dabei belassen. Kübler war ein alter Quasselkopf, der würde ihr schon noch erzählen, was los war. Und wenn der es nicht sagte, dann seine Frau. Alexandra und Nina waren, trotz des Altersunterschieds, beste Freundinnen. Wieder kam ihr ihr erster Betzdorfer Fall von vor elf Jahren in den Sinn. Alex war damals eine wichtige Zeugin gewesen. Sie kannten sich also nun bereits seit elf Jahren.

„Okay, Tom. Wir sehen uns dann später. Solltest du vor mir wieder im Büro sein, dann schau dir bitte mal den Herrn Franz Hinterstaller an. Sieh mal, was wir über den haben und auch mal, was der so auf der hohen Kante hat“, bat sie ihn und legte dann auf.

„Warum soll sich Kübler den Hinterstaller ansehen?“, erkundigte Marcello sich.

„Keine Ahnung, mein Lieber. Ist nur so ein Gefühl. Aber ich bin mir ganz sicher, dass ich ihm meinen Haustürschlüssel nicht anvertrauen würde“, erklärte sie und bemerkte wieder sein Grinsen.

„Gib es zu, Marcello … genau das hast du vorhin doch auch gedacht, als er erzählte, wie sehr seine Mieter ihm trauen“, glaubte sie zu wissen.

„Ja, genau das habe ich überlegt“, bestätigte er.

Nina stoppte den Wagen vor dem Haus, in dem letzte Nacht Willi Wünschle verstorben war.

„Na, hier ist ja ein Betrieb“, fand Marcello, als sie ausstiegen.

Nina zählte zwei Streifenwagen, einen Transporter der Spurensicherung, zwei zivile Einsatzwagen und das Himmelstaxi von Bestatter Henning Himmrich.

Der kleine Mann mit dem gezwirbelten Schnurrbart lehnte an dem großen Mercedes-Leichenwagen und unterhielt sich mit einem Uniformierten.

„Moin, Henning, moin, Horst“, grüßte sie die beiden.

„Moin moin, Nina“, grüßte der Bestatter friesisch echt zurück und lächelte. Nina war es ein Rätsel, wie ein Mensch mit Hennings Beruf immer so gut gelaunt sein konnte. Doch vermutlich war dies seine Art, die Dinge, die er tagein, tagaus sah, zu verarbeiten. Und wenn sie ehrlich zu sich selbst war, ging es ihr ähnlich. Das Motto, jeden Tag zu leben, als sei es der letzte, kam einem in einem Beruf, in dem man ständig mit dem Tod konfrontiert wurde, öfter in den Sinn, als einem lieb war.

„Warst du in Urlaub in Friesland?“, erkundigte sie sich jetzt einfach mal.

Henning sah sie erstaunt an.

„Nein … das war dienstlich … aber woher weißt du das?“, fragte er.

„Na, wegen dem Moin moin“, gestand sie.

„Ach so … das … nein. Aber ich war letzte Woche auf Langeoog, einen Kunden abholen. Der arme Mann hatte im Urlaub einen Infarkt. Ich soll dich übrigens von dem Inselpolizist grüßen … wie hieß der noch … das war so ein Älterer … bisschen füllig“, überlegte er.

„Onno. Polizeihauptmeister Onno Feddersen“, half sie ihm.

„Genau … Feddersen, so hieß der Mann. Auf alle Fälle soll ich dich von ihm grüßen“, strahlte Henning.

Nina verabschiedete sich und folgte Marcello, der bereits vorgegangen war, nach oben in die Wohnung des Verstorbenen.

Neben dem Toten kniete eine Gestalt im weißen Einwegoverall.

„Guten Morgen, Sebastian“, grüßte Nina wie immer und war erstaunt, dann in das Gesicht einer fremden Frau zu blicken, als der oder vielmehr die Angesprochene sich zu ihr umdrehte.

„Guten Morgen. Kunze mein Name. Ich bin die Neue … ich komme jetzt öfters“, antwortete die Frau um die dreißig und mit unzähligen Sommersprossen rund um die Nase.

„Ohh … entschuldigen Sie, Frau Kunze, ich hatte Herrn Doktor Wagner erwartet“, entschuldigte Nina sich.

„Der kommt nicht mehr. Herr Doktor Wagner geht zum Ende des Jahres in den wohlverdienten Ruhestand. Bis dahin nimmt er noch seinen Resturlaub, und dann war es das“, erklärte die Neue ihr freudig, was Nina in Anbetracht des Toten zwischen ihnen irgendwie unangebracht schien. Ja, einige Menschen stumpften angesichts des Todes auch ziemlich ab.

„Gut, Frau Kunze, was können Sie mir denn über den Toten sagen?“, kam Nina zur Sache.

„Todesursache war vermutlich der Bruch der oberen Halswirbel … wobei die Fraktur am Hinterkopf auch nicht von schlechten Eltern ist“, berichtete sie ziemlich flapsig.

„Genickbruch?“, war Nina erstaunt.

„Ja, ziemlich eindeutig“, bestätigte die Gerichtsmedizinerin und bewegte dann den Kopf des Toten hin und her.

Nina musste schlucken. Frau Kunze schien zumindest keine Berührungsängste zu haben.

„Todeszeitpunkt?“, fragte Nina weiter.

„Dreiundzwanzig Uhr siebenundvierzig“, kam es wie aus der Pistole geschossen.

„Und das konnten Sie wie genau feststellen?“, war Nina nun doch sehr überrascht.

Frau Kunze lächelte.

„Ein Klassiker … wie im Krimi. Beim Sturz auf den Wohnzimmertisch wurde seine Armbanduhr beschädigt und ist stehen geblieben“, sagte sie und reichte Nina einen durchsichtigen Beutel mit einer teuer wirkenden Armbanduhr darin. Nina betrachtete das gute Stück, dessen Zeiger auf exakt der genannten Uhrzeit stehen geblieben war.

„Alle Achtung. Eine Rolex“, stellte sie fest und hielt den Beutel Marcello hin.

Dieser nahm die Uhr entgegen, wog sie in der Hand und betrachtete sie kurz.

„Die bekommst du bei uns zu Hause auf dem Schwarzmarkt für dreißig Euro inklusive gefälschtem Echtheitszertifikat“, sagte er und gab die Uhr an die Gerichtsmedizinerin zurück.

„Darf ich fragen, wo dieses Zuhause ist, Herr …“, erkundigte sich Frau Kunze und strahlte mit einem Mal irgendwie.

„Marcello Berlutschi. Carabinieri Napoli“, stellte er sich vor.

„Sie kommen aus Neapel? Das ist ja cool. Und was machen Sie dann hier?“, wollte Frau Kunze wissen, und Nina war sich ziemlich sicher, dass die den Jungen gerade anhimmelte.

„Der Herr Berlutschi ist hier zum Schüleraustausch und muss sich jetzt wieder, genau wie wir beide, um seine Arbeit kümmern“, musste Nina jetzt einmal ein Machtwort sprechen. Sie befanden sich hier bei einer Mordermittlung und nicht auf dem Abschlussball.

Außerdem war Marcello in festen Händen, da wurde nicht rumgebaggert.

„Frau Kunze, Sie sagten, Herr Wünschle habe sich das Genick gebrochen. Haben Sie eine Vermutung, wie es dazu kommen konnte?“, kam Nina nun wieder zum Wesentlichen.

„Ich würde behaupten, er ist mit dem Hinterkopf auf die Kante des Wohnzimmertischs geschlagen. Daher auch die Platzwunde“, erklärte sie und deutete auf eine Stelle an dem niedrigen Tisch mit der gekachelten Platte. Ein selten hässliches Exemplar. Ninas Eltern hatten bis vor einigen Jahren einen ähnlichen Tisch besessen. An dem ihrer Eltern hatte sich allerdings kein Blut befunden.

„Das würde bedeuten, er ist nach hinten gestürzt und hat nicht versucht, sich dabei zu drehen und mit den Händen abzufangen“, hakte Nina nach.

„Ja, auf den ersten Blick könnte es auch ein Unfall gewesen sein“, überlegte die Gerichtsmedizinerin.

„Sie meinen, dass er von alleine ohne Fremdeinwirkung hingefallen ist?“, überlegte Nina laut.

„Kann ich so noch nicht genau sagen. Am besten, Sie warten den endgültigen Obduktionsbericht ab. Aber er wurde definitiv nicht erschlagen, sondern ist gestürzt, hat sich den Kopf angeschlagen, und dabei ist das Genick gebrochen. Allerdings dürfte er noch einen Moment gelebt haben, da er doch noch sehr stark geblutet hat“, bestätigte Frau Kunze noch einmal.

Nina nickte. Das Gleiche hatte sie sich auch gedacht, als sie am Morgen das viele Blut gesehen hatte. Willis Herz musste noch eine Zeit lang geschlagen haben. Es würde aber wohl tatsächlich das Beste sein, die Obduktion abzuwarten, anstatt weiter zu mutmaßen. Nina war sich sicher, dass Willibald Wünschle entweder nicht alleine gewesen war, als er starb, oder dass jemand kurz nach seinem Tod in der Wohnung war. Irgendwer hatte, nachdem Willi Wünschle bereits da auf dem Boden lag, die Bude durchsucht. Aber nach was? Sein Chef Hinterstaller besaß einen Schlüssel. Er hatte den Toten gefunden und war zu diesem Zweck in der Wohnung gewesen. Könnte er die Wohnung so verwüstet haben? Hatte er etwas gesucht, das Wünschle vor ihm versteckt hielt? Der Herr Hinterstaller war nicht ganz koscher. Wenn der keinen Dreck am Stecken hatte, würde sie einen Besen fressen. Sie würde ihn auf alle Fälle nicht aus dem Kreis der Verdächtigen ausschließen.

„Nina, kommst du mal?“, fragte Torsten Liebig sie aus dem Flur.

Sie nickte und folgte ihm in die Küche. Hier sah es noch schlimmer aus als im Wohnzimmer. Außerdem roch es ziemlich muffig. Auf der Spüle stapelte sich benutztes Geschirr. Unterhalb des Fensters, direkt vor der Heizung, quollen mehrere Mülleimer über. Auch hier Säcke mit leeren Fast-Food-Verpackungen. Das meiste Pizzaschachteln oder diese weißen Styroporschalen, wie es sie beim Metzger-Imbiss gab.

„Schau mal hier“, meinte Torsten und deutete auf eine Tube mit Metallpolitur.

„Und? Was soll mir das sagen?“, erkundigte sie sich.

Torsten griff nach einer Tüte, in der sich Unmengen an benutzten Papiertüchern befanden.

„Was ist das?“, begriff sie immer noch nicht, was der Kollege von ihr wollte.

„Hier hat jemand sein Silber poliert. Eine ziemliche große Menge stark verdrecktes und oxidiertes Silber“, erklärte er und hielt Nina eines der verschmutzen Papiertücher hin.

„Was denn für Silber?“, fragte sie und sah sich um. Die Bude sah nicht aus, als gäbe es hier große Bestände an Tafelsilber. Im Gegenteil, das meiste Besteck, das sie entdeckte, war aus Plastik und stammte wohl aus den diversen Fast-Food-Restaurants der Stadt.

„Genau das wollte ich dir zeigen. Es gibt hier nirgends Silber“, bestätigte Torsten das, was sie vermutete.

Thomas ließ den Brief des Notars und Rechtsanwaltes Buchner aus Münster sinken und sah zu seiner Frau Alexandra, die ihm gegenüber in dem Erker hockte, aus dem Fenster guckte und an einem Joint zog. Ja, er wusste, dass sie gelegentlich wegen ihrer Hyperaktivität Cannabis konsumierte. Dass sie es tat, wenn er dabei war, war hingegen neu. Zum Glück beruhigte sie das Zeug einigermaßen, weshalb er diesbezüglich einfach seine Klappe hielt.

„Schatz … wenn deine Oma Kontakt zu dir hätte haben wollen, wäre es da nicht an ihr gewesen, sich zu Lebzeiten mal bei dir zu melden? Du warst ein Kind und sie die Erwachsene. Da konnte sie nicht verlangen, dass du die Initiative ergreifst“, machte er seinen Standpunkt klar.

„Aber jetzt ist sie tot und hat mir ihren ganzen Krem­pel vererbt … und ich war noch nicht einmal auf ihrer Beerdigung“, schluchzte Alexandra.

„Ja, natürlich nicht. Wie solltest du es auch wissen, wann und wo sie beerdigt wurde? Außerdem hat sie ihren Besitz nicht direkt an dich vererbt, sondern einfach, so wie ich das lese, gar nichts gemacht. Der Anwalt hat dich lediglich als einzige Nachfahrin von Oma Fini ermittelt. Das ist ein Unterschied. Da steht ja auch noch nicht einmal, dass du überhaupt etwas bekommst. Das kann auch bedeuten, dass du ihre Schulden geerbt hast … soweit sie welche hatte“, erklärte er ihr sachlich, was ihm durch den Kopf ging.

Alex riss erschrocken die Augen auf. „Du meinst … Oma Fini und ihr Anwalt könnten uns über den Tisch ziehen wollen?“, stieß sie aus.

„Keine Ahnung, Schatz. Aber wenn dem so ist, werde ich es herausfinden und verhindern. Mach dir einfach keine Sorgen und lass mich das machen. Ich muss ja gleich wieder zur Arbeit. Dann schau ich mal, was ich über deine Oma herausfinden kann“, versprach er.

„Wie, du musst wieder los?“, war sie sichtlich enttäuscht. Sie drückte den Joint aus, rutschte von der Erkerbank und war in zwei Sätzen bei ihm, sprang ihm auf den Schoß und begann ihn zu küssen

„Ähm … was gibt das jetzt?“, fragte er, als sie damit begann, sein Hemd aufzuknöpfen.

„Mausbär … so viel Zeit muss jetzt einfach noch sein“, fand sie.

Thomas erwiderte nichts. Aber er müsste das unbedingt einmal googeln, ob es mit dem Cannabiskonsum zusammenhing, dass seine Frau gelegentlich so rollig wurde.

„Also, ich glaube nicht, dass bei dem Typen etwas zu holen war“, fand Nina, als sie mit Marcello den Tatort am Alsberg verließen.

„Vielleicht hat Kim recht und es war tatsächlich nur ein Unfall. Dieser Willi ist betrunken über seine eigenen Füße gestolpert und hat sich den Hals gebrochen. Im wahrsten Sinne des Wortes dumm gelaufen“, meinte Marcello und sah aus dem Fenster.

„Kann sein, muss aber nicht. Aber weißt du, was ich mich gerade frage?“, erwiderte sie.

Er sah sie auffordernd an. „Nein. Gedankenlesen war noch nie meine Stärke.“

„Ich frage mich, wer zum Teufel Kim ist“, antwortete sie.

„Na die … die neue Gerichtsmedizinerin. Kim Kunze“, erklärte er.

„Ach, die heißt Kim? Seid ihr beiden schon ganz dicke oder wie?“, zischte sie.

„Nein, liebe Tante Nina, sind wir nicht. Sie hat mir nur vorhin noch ihre Visitenkarte zugesteckt, als du mit Torsten und Mario in der Küche warst“, verteidigte er sich, grinste aber dabei.

„Du sollst mich nicht Tante nennen“, stellte sie wiederholt klar. Sie hasste es wie die Pest, wenn er dies tat, wusste allerdings auch, dass er sich einen Spaß daraus machte. Immerhin tat er es nicht, wenn andere zuhörten.

„Ja … und du sollst nicht immer das Schlechteste von anderen denken“, erwiderte er.

„Das ist aber unser Job … Das kann man nicht so einfach ablegen“, widersprach sie.

„Ist ja auch egal“, winkte er ab und erkundigte sich dann: „Was steht denn jetzt an?“

„Ich setze dich im Büro ab und mache dann eine Kneipentour“, antwortete sie lapidar.

„Alleine?“, war er erstaunt.

„Nein, aber dich kann ich in deinem schicken Fummel ja unmöglich mitnehmen. Die Herren, mit denen ich ins Gespräch kommen möchte, mögen keine Typen, die aussehen wie Politiker oder Wallstreet-Banker“, beschied sie ihn.

„Und wer soll dich statt meiner begleiten?“, wunderte er sich.

Oberkommissar a. D. Hans Peter Thiel stand am Fenster und sah hinaus in den Garten. Eigentlich hatte er das Vogelhaus aufgestellt, um den Singvögeln, die auch im Sommer den Garten bevölkerten, über die kalte Jahreszeit zu helfen. Doch bereits seit einigen Tagen belagerten gleich fünf dicke, fette Elstern das Futterhaus und stopften sich die Mägen voll. Nein, so war das ganz und gar nicht angedacht gewesen.

Diese schwarz-weiß gefiederten Banditen nervten ihn mit ihrer Anwesenheit. Wie in drei Teufels Namen könnte er diese Mistviecher also wieder loswerden? Klar könnte er den Akkuschrauber aus dem Keller holen und das Vogelhaus kurzerhand abmontieren. Dann allerdings würden die Rotkehlchen und Kohlmeisen ebenfalls in die Röhre gucken. Mehrfach war ihm der Gedanke gekommen, an den Safe im Schlafzimmer zu gehen und die nicht registrierte 9mm Sig Sauer herauszuholen. Er musste die Biester ja nicht alle abknallen. Rabenvögel, zu denen die Elstern ja auch gehörten, waren schlau. Die würden es sich schon merken, wo einer ihrer Artgenossen sein Leben gelassen hatte, und den Ort vermutlich dann meiden. Andererseits hörte er jetzt bereits schon das Geschrei der Nachbarn und seiner besseren Hälfte Inge Moretti. Nein, die Biester abknallen war auch nicht der wahre Jakob.

Er seufzte, wandte sich ab und ging in die Küche, wo seine Inge gerade damit beschäftigt war, Kartoffeln zu schälen.

„Kann ich dir irgendetwas helfen?“, erkundigte er sich bei ihr.

Inge überlegte kurz und schüttelte dann den Kopf.

„Kann es sein, dass dir langweilig ist?“, fragte sie und lächelte.

„Mir? Langweilig? Nein! Wie kommst du darauf?“, tat er überrascht.

„Nur so“, meinte sie.

Hans Peter trat ans Fenster und sah hinaus in den Vorgarten. Er könnte natürlich dort noch ein zweites Vogelhaus montieren. Vielleicht eines mit einem Gitter drum herum, durch das zwar die Singvögel hindurchpassten, die Elstern aber nicht. Ja, das wäre eine Idee. Am besten, er schaute einmal im Internet nach, ob es da nicht etwas Fertiges zu kaufen gab. Klar wusste er schon, wie ein Akkuschrauber funktionierte. Auch eine Säge konnte er bedienen. Dennoch war er nicht der geborene Handwerker. Sein Leben lang hatte er damit verbracht, Verbrecher zu jagen. Das konnte er gut. Auch wenn man ihn heute zum alten Eisen zählte.

Früher, in den ersten Jahren nach seinem Pensionsantritt, hatte Staatsanwalt Lambrecht ihn noch gelegentlich als externen Berater eingesetzt. Doch seit dieser sich ebenfalls im Ruhestand befand, war es damit vorbei. Der Neue, ein gewisser Doktor Flender, hatte keinen Bedarf mehr an einem erfahrenen Ermittler, wie Thiel einer war. Nun gut, mit diesem Jungspund hatte er im Gegensatz zu Lambrecht auch keine Leiche im Keller gehabt. Wenn Thiel damals gewollt hätte, wäre Lambrecht die längste Zeit Staatsanwalt gewesen. Was er allerdings niemals in Erwägung gezogen hatte, da Lambrecht ihn und somit auch seine Pensionsansprüche im Gegenzug ebenfalls mit in den Abgrund hätte ziehen können. Thiel hatte gehört, dass Lambrecht seinen Lebensabend auf irgendeiner Insel in Indonesien genoss. Der hatte Deutschland tatsächlich den Rücken gekehrt und sich aus dem Staub gemacht. Das Einzige, was er wohl hiergelassen hatte, war seine Frau. Für Thiel, der den gealterten Casanova seit Jahrzehnten kannte, nicht wirklich überraschend. Vor seinem inneren Auge sah er ihn gerade am Strand mit ein oder zwei Hula-Hula-Schönheiten. Nein, sein Ding wäre so etwas nicht. Aber jedem das Seine.

„Na, sieh mal an. Was will Nina denn hier?“, hörte er Inge neben sich sagen. Thiel war so in Gedanken gewesen, dass er den hellblauen Volkswagen, der gerade in die Einfahrt bog, erst jetzt, da seine bessere Hälfte es erwähnte, bemerkte.

Er schielte zur Küchenuhr. Es war kurz vor Mittag.

„Vermutlich treibt sie wieder einmal der Hunger an Mutters Herd“, stellte er fest und erntete direkt einen bösen Blick von Inge.

„Ja, was denn … ist doch wahr“, schimpfte er und machte sich auf den Weg zur Haustüre, um seiner ehemaligen Lieblingskollegin und einzigen Tochter seiner Angebeteten zu öffnen. Was im Grunde auch Unfug war, da Nina einen Haustürschlüssel besaß.

„Moin, Thiel“, grüßte sie ihn grinsend, während sie die Stufen zur Eingangstür hinaufstieg.

„Moin, mein Engel“, erwiderte er, da er genau wusste, dass sie dies nicht mochte.

Diesmal grinste sie nur, schob sich an ihm vorbei in den Flur und dann in die Wohnung. Dabei behielt sie ihre Jacke an, die sie ansonsten für gewöhnlich an der Garderobe hinter der Tür aufhängte. Nina plante also nicht, länger zu bleiben.

„Hey Mama, ich wollte nur eben schnell Hallo sagen und fragen, ob ich mir den alten Griesgram einmal ausborgen darf?“, hörte er sie sagen und wunderte sich. Nina brauchte ihn. Das war nicht ungewöhnlich, aber in letzter Zeit eher selten geworden. Zumeist meldeten sie und ihr Mann sich nämlich nur, wenn sie wieder einmal einen Babysitter für die Zwillinge benötigten.

„Da muss ich dich enttäuschen, mein Engel. Der ältere Herr hat nämlich überhaupt keine Zeit“, musste er jetzt einfach einmal klarstellen. Er hasste es, wenn andere über ihn bestimmten oder einfach voraussetzten, dass er Zeit habe, nur weil er Pensionär war.

„Oh, das ist schade. Ich hätte eigentlich deinen kriminalistischen Beistand benötigt … aber nun gut … dann eben nicht“, erwiderte sie, gab ihrer Mutter einen Kuss auf die Wange und machte Anstalten zu gehen.

„Nun gut, Nina … warte, Nina. Ein Stündchen hätte ich eventuell“, rief er ihr hinterher und fügte dann noch an: „Also, falls deine Mutter mich gerade nicht benötigt.“

Inge fuhr herum, sah ihn mit großen Augen an und deutete auf die Tür. Ja, das war eindeutig. Sie wollte ihn loswerden. Zumindest für den Moment. Und wenn er ganz ehrlich war, fand er es wunderbar, dass Nina ihn wieder einmal brauchte. Er hatte mehr Zeit, als er derzeit vertragen konnte. Doch zugeben würde er dies nicht.